ed 12/2014 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Fünfundzwanzigste Etappe: Ein harter Aufstieg, ein vergeblicher Calderón-Monolog
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


panama: Eigenversorgung statt Almosen
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
spanien: Val d`Aran - Tal der Freiheit
WOLFGANG HÄNISCH
[art. 3]
kolumbien: Ausgekokst – mein Drogentrip
ZDFneo, 4 Folgen à 43min
[art. 4]
brasilien: Brasilien trocknet aus (Teil 2)
São Paulo geht das Wasser aus
THOMAS MILZ
[art. 5]
helden brasiliens: Das Feld der Ehre
Zu Besuch in Campo Bahia
THOMAS MILZ
[kol. 1]
hopfiges: Eine Malta bitte
Malzbier (?) aus dem Hause Montseny
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
lauschrausch: Addys Mercedes trifft Martin Morales und Kollegen
TORSTEN EßER
[kol. 3]





[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [25] [24] [23] [22] [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Fünfundzwanzigste Etappe: Ein harter Aufstieg, ein vergeblicher Calderón-Monolog
 
Am 25. Juni 2013. Heute schaffen wir es, sehr früh aufzubrechen, halb sechs, der Vollmond steht noch am Himmel über dem Tal von Villafranca del Bierzo, als wir die ersten Schritte bergauf Richtung Westen machen. Für die erste Hälfte der heutigen Etappe nach La Faba gibt es zwei Varianten: entweder auf einem Fußgängerpfad knapp zehn Kilometer immer entlang der autobahnartigen Nationalstraße 6 (bequem und furchtbar) oder elf Kilometer "Camino Duro" (teils extrem steil bergauf, das totale Gegenteil von bequem, dafür aber ultra-romantisch).

Gestern Abend haben wir unsere Gastgeber in der Pilgerherberge von Villafranca gefragt, welchen der beiden Wege sie uns empfehlen würden.

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Eigentlich entscheiden wir uns ja immer für Romantik, aber die abschreckenden Beschreibungen des Schwierigkeitsgrads der zweiten Variante hatten uns verunsichert. Das Ergebnis unserer Befragung war verblüffend. Während das Mädel uns eher zur bequemen Autobahn-Variante riet, blickte ihr Partner uns prüfend an und meinte dann: "Ihr schafft das, wählt lieber die harte Tour…"

Und die liegt jetzt vor uns im Dämmerlicht. "Das ist doch kein Weg, das ist ne Kletterwand – ohne Griffe!", entfährt es meiner noch etwas verschlafenen Begleiterin Cayetana beim Anblick des Bergpfades, der hinter den letzten Häusern von Villafranca so steil empor steigt wie kein anderer Wegabschnitt bisher. Es ist jetzt 6 Uhr und der Sonnenaufgang kündigt sich an. Da kommen uns von oben zwei Pilgerinnen mittleren Alters entgegen gerutscht, eine von ihnen mit Tränen der Wut und Enttäuschung, die andere murmelt im Vorbeistolpern irgendwas von "unmöglich". Wir blicken uns an, zweifelnd, doch dann geben wir uns einen Ruck. Mit Rucksack auf dem Rücken kann man diesen Anstieg definitiv nicht aufrecht gehend schaffen.

Wir ziehen uns die ersten Meter an den Zaunpfählen hoch, die links am Wegesrand stehen, als wären sie ein Klettergerüst. Dann krabbeln wir auf allen Vieren den steinigen Pfad empor, rutschen dabei öfter mal einen Meter zurück. "Gottseidank sieht uns hier keiner, das muss total bescheuert aussehen", keucht Cayetana neben mir. Innerhalb von anderthalb Kilometern steigt man hier von 500 auf fast 900 Höhenmeter. Die "Krabbelstrecke" kommt uns endlos vor. Doch plötzlich sind wir oben, in Schweiß gebadet, außer Atem und stolz, diesen heftigsten aller Camino-Aufstiege bewältigt zu haben. Hier auf dem Bergrücken steigt der Weg zwar noch weiter leicht an, aber das kommt uns nun wie ein Spaziergang vor. Im Licht der aufgehenden Sonne, die den kurz zuvor noch dominierenden Vollmond verdrängt, bieten sich uns grandiose Ausblicke nach Süden, zurück auf das dreiecksförmige Tal von Villafranca, und nach Westen. Tief unter uns im Abgrund die Tunnel der autobahnähnlichen Nationalstraße. Wir blicken uns an und sind heilfroh, dass wir den Weg da unten nicht gewählt haben. Dort wären im Minutentakt dröhnende Lastwagen dicht an uns vorbei gesaust.

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Hier oben gibt es nur Vogelgezwitscher und taumelnde Schmetterlinge. Und als es beginnt, heiß zu werden, bietet uns wie bestellt ein schöner Wald aus hoch gewachsenen Esskastanien Schatten und Kühle. In diesem Märchenwald treffen wir auf Catherine und Magdalene, zwei Pilgerinnen aus Irland, die mit enormem Tempo marschieren, und auf Gabriel aus Valencia, der gemütlicher unterwegs ist. Trotz des ungleichen Schritt-Tempos formen wir zu fünft eine kurze Schicksalsgemeinschaft. An einer Weggabelung zeigen plötzlich gelbe Pfeile in beide Richtungen. Ratlos diskutieren wir, welche nun die richtige sei. Schließlich spricht alles dafür, dass es der Pfad Richtung Nordwesten sei muss. Mit dem anderen Pfeil will irgendjemand die Pilger nordöstlich zu seiner Bar nach Pradela locken. Und ein paar werden sicher über diesen Umweg in seine Falle laufen. Leider ist solche Irreführung von Pilgern aus niederen kommerziellen Motiven inzwischen kein Einzelfall. So ein gelber Pfeil ist schnell auf einen Stein gepinselt und zeigt dann manchmal in Richtung einer Gaststätte, die weitab des offiziellen Weges liegt.

Jetzt müssen wir uns auf den steilen Abstieg durch loses Geröll konzentrieren. Catherine rutscht mutig als erste voran abwärts und ruft mahnend zu Gabriel, der als letzter unsere Fünferkette beschließt: "Wenn ich falle, ist nicht so schlimm. Aber Gabriel muss aufpassen: wenn er stürzt, fallen wir alle wie Dominosteine in den Abgrund!" Gabriel wirkt sichtlich gestresst aufgrund dieser auf ihm lastenden Verantwortung. Aber alles geht gut, ganz ohne Domino-Effekt, obwohl wir den gerölligen Pfad mehr runter rutschen als gehen. Unten in Trabadelo belohnen wir uns im Café der Pilgerherberge mit großzügigen Stücken "Tarta de Santiago", einer köstlichen Mandeltorte, die man in den USA im Regal für "energy food" einsortieren würde. Danach wandern wir mit gebremstem Tempo durch ein idyllisches, sehr waldreiches Tal, vorbei an zahlreichen Kühen und Kapellen.

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Während des Aufstiegs zum heutigen Ziel La Faba erzähle ich Cayetana, dass man in der von Schwaben betriebenen Pilgerherberge von La Faba gratis übernachten darf, wenn man fehlerfrei ein Gedicht eines schwäbischen Dichters rezitieren kann. Da ich aber nun mal spanische Literatur studiert habe, will ich die schwäbischen Herbergsväter mit einem Werk des großen Calderón de la Barca überraschen: dem berühmtesten Theater-Monolog der spanischen Literaturgeschichte, dem Kerker-Monolog des Prinzen Segismundo aus "Das Leben ist ein Traum" (La Vida es Sueño; uraufgeführt im Jahr 1635). Cayetana ist begeistert von der Idee und so spreche ich ihr die Verse des Monologs ein paar Mal vor, allerdings immer keuchender, denn der düstere Waldweg ist sehr steil und zudem rutschig und voller Pferdeäpfel, erfordert also "högschde" Konzentration.

Endlich stehen wir dreckig und verschwitzt vor dem schwäbischen Empfangskomitee, das ankommenden Pilgern die Betten-Nummer zuweist und jeweils fünf Euro dafür einsammelt. Ich erinnere sie an das Versprechen der Gratis-Übernachtung bei gelungener Gedichtrezitation und lege los. Mit theatralischer Pose schmettere ich auf Spanisch die ehrwürdigen Barockverse des genialen Calderón in das Licht der Abendsonne. Die beiden Schwaben vor mir rutschen nervös auf ihren Stühlen, denn der Calderón-Monolog ist recht lang und ich sehe keinen Grund, meine feierliche Rezitation zu beschleunigen. Nach dem letzten Vers ("…denn das ganze Leben ist ein Traum…") applaudieren Cayetana und zwei neben ihr wartende Spanier, aber die beiden Schwaben schauen streng und der eine meint: "Sie wissen, dass die Frei-Übernachtung nur fürs Zitieren schwäbischer Dichter gilt – und das ist hier wohl nicht der Fall." Cayetana stemmt empört die Hände in die Hüften und flüstert mir zu: "Da sieht man wieder, wie geizig diese Schwaben sind. Was bilden die sich bloß ein? Sind wir hier im Schwabenland oder in Spanien? Und überhaupt: so einen Mega-Dichter wie unseren Calderón haben die nun echt nicht zu bieten." (Allerdings werde ich den Verdacht nicht los, dass Cayetana selbst diesen Monolog bis heute gar nicht kannte).

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Mit den Nummern für die Betten erhalten wir den Hinweis, dass Frauen- und Männerschlafsaal hier strikt getrennt sind. Daher wundere ich mich, als fünfzehn Minuten später eine Invasion von drei Frauen in unseren Männerschlafsaal eindringt – und die vierte ist meine andalusische Begleiterin. Cayetana wirft achselzuckend ihren Rucksack aufs obere Bett und meint: "Die Geschlechtertrennung wurde soeben aufgehoben, weil der Frauenschlafsaal total überfüllt ist."

Um halb neun abends sitzen wir in der Kapelle und nehmen teil an der Pilgerandacht. Tiefste Stille. Alle versuchen auf ihre Art mehr oder weniger erfolgreich zu meditieren. Plötzlich donnert der Klingelton von Cayetanas Handy durch das sakrale Schweigen - die Melodie von Shakiras "Ojos Así"! Verzweifelt kramt sie in den Tiefen ihres Rucksacks, der ganze Refrain wird abgespielt, bevor sie es endlich findet und ausschalten kann. Cayetana ist rot wie eine Chilischote und murmelt eine Entschuldigung. Der Priester lächelt gnädig (er scheint Shakiras Lied über schwarze Augen auch zu kennen) und fragt unsere Klingelton-Sünderin, ob sie Englisch könne und ob sie bereit für eine kleine Buße sei. Cayetana nickt stumm – was bleibt ihr auch anderes übrig? Zur Strafe muss sie nun die Pilgererfahrungen der englischsprachigen Pilger ins Spanische übersetzen und die Worte des Priesters ins Englische. "Voll anstrengend", stöhnt sie nach der Messe.

Es ist schon fast halb zehn und da unsere Herberge um 22 Uhr die Pforten schließt, muss das Abendessen teilweise ausfallen. Für das übliche 3-Gänge-Pilgermenü bleibt jedenfalls keine Zeit, deshalb bestellen wir in der einzigen Bar des Dorfes La Faba nur eine "Blitz-Linsensuppe", allerdings eine riesige Portion, die wir hastig innerhalb von zehn Minuten in uns hinein löffeln. Dann folgt ein Wettrennen – so gut das mit einem Topf Linsensuppe im Bauch geht – zurück zur Herberge, wo wir um drei Minuten vor 22 Uhr unter dem gestrengen Blick der schwäbischen Türhüterin einlaufen. Diese Nacht hat Cayetana keinen Traum, an den sie sich erinnern könnte. Dafür spricht sie im Schlaf: "…das ganze Leben…ist doch alles bloß ein Traum…" Viva Calderón!

Text und Fotos: Berthold Volberg

Der Monolog aus Calderons "La Vida es Sueño" (Das Leben ist ein Traum)

Tipps und Links: Etappe von Villafranca nach La Faba: 24 Kilometer

www.ccbierzo.com

Unterkunft und Verpflegung:
Unterkunft in La Faba: Pilgerherberge des deutschen (schwäbischen) Jakobsvereins "Ultreya", neben der von dieser Gesellschaft renovierten Kapelle San Andrés (sehr schöne Pilgermesse gehalten von Franziskanermönchen wochentags 20.00 Uhr), Tel. 630-836865: Küche, Heizung, Waschmaschine, Terrasse. Freundliche Aufnahme. Übernachtung: 5 Euro. Wer ein Gedicht eines schwäbischen (und nur schwäbischen!) Dichters rezitieren kann, darf kostenlos übernachten. Schließt 22.00 Uhr.

Verpflegung in La Faba: Die Dorf-Bar (sie hat keinen Namen, denn es gibt nur eine, am der Pilgerherberge entgegen gesetzten Ortsende): Pilgermenü mit drei Gängen für 10 Euro, sehr große Portionen, empfehlenswert v.a. die Linsensuppe, sehr herzliche Bedienung.

Kirchen:
Kapelle San Andrés in La Faba: am Ortseingang rechts, erbaut im 18. Jahrhundert, einfaches Gebäude aus Bruchsteinen mit Glockenwand. Im 20. Jahrhundert in ruinösem Zustand und vom Jakobsverein "Ultreya" restauriert.

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Panama: Eigenversorgung statt Almosen
 
Für die verarmte Landbevölkerung Panamas sind Lebensmittel kaum zu bezahlen. Doch wer ein Stückchen fruchtbares Land besitzt, kann sich selber versorgen. Man muss nur wissen, wie.

Der Rauch des offenen Herdfeuers brennt in den Augen. Während Nicasia Perez mit der einen Hand in dem verbeulten Topf rührt, wedelt sie mit der anderen die Rauchschwaden weg. Sie würde nicht auf die Idee kommen, über den Rauch des Kochfeuers zu klagen. Im Gegenteil, sie ist froh, dass er sie heute schon zum zweiten Mal beißt und es am Abend noch einmal tun wird. "Noch vor zwei Jahren hatten wir nicht genug zu essen. Es war eine schwere Zeit, die Kinder weinten vor Hunger. Mein Mann ging als Tagelöhner zu einem reichen Rancher, aber das Geld, das er da verdiente, reichte einfach nicht."

Nicasia Perez lebt in der Provinz Veraguas, gut fünf Autostunden nördlich von Panama City. Die Hauptstadt Panamas ist eine glitzernde Metropole mit einem ganzen Wald von Hochhäusern, mit einer nagelneuen Promenade, mit kostenlosem WLAN und Fitnessgeräten, Fahrradwegen und Behindertenparkplätzen. Dank des Kanals und der vielen Banken ist Panama nach Chile das reichste Land Lateinamerikas. Eigentlich müssten hier drei Mahlzeiten täglich für jeden Einwohner eine Selbstverständlichkeit sein. Doch der Reichtum konzentriert sich in der Hauptstadt. Schon ein paar Kilometer außerhalb scheint es, als wäre man auf einem anderen Kontinent. In das Panama von Nicasia Perez führt statt einer Straße ein holpriger,  ausgewaschener Weg und es gibt weder eine Telefonleitung noch Strom. Hier lebt die 43-jährige mit ihrem Mann und drei ihrer sechs Kinder in einer Hütte aus ungehobelten Holzbrettern. Nur eines erinnert hier an die Hauptstadt: der Preis für Lebensmittel. Wegen der langen Wege kosten sie im Dorfladen oftmals sogar mehr als in den Supermärkten Panama Citys.

Der Weg von Nicasias Hütte zur ihrer Nachbarin führt über ein Brett, das über einem Bach liegt und dann einen steilen, matschigen Pfad hinauf. Und: er führt durch ein Feld. Das ist neu. Vor zwei Jahren hat Nicasia mit Hilfe ihrer Nachbarn angefangen, den einen Hektar Land, den sie besitzt, zu bewirtschaften. Pablo Miranda zeigte ihr, wie sie auf dem Brachland Bohnen, Yucca und Bananen anbauen konnte. "Ich habe von den Promotoren gelernt, dass man nur gesund bleibt, wenn man auch Gemüse und Obst isst. Und dass mein Land mir das schenkt, wenn ich es richtig pflege und wertschätze. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nichts, absolut nichts über gesunde Ernährung und den Feldanbau gewusst."

"Ich möchte mit Euch darüber reden, wie viele verschiedene Dinge unsere Erde hervorbringt", beginnt Generosa Franco den heutigen Workshop. Im Schatten des Vordachs ihrer Hütte hat sie auf einem großen Tisch mehr als 20 verschieden Früchte, Kräuter und Samen ausgebreitet. Sie beginnt, die Namen aufzuzählen und zeigt sie noch einmal auf dem handgemalten Plakat an der Wand. Unter jeder einzelnen Zeichnung steht in sauberer Schulmädchenschrift die Bezeichnung der Pflanze. Generosas Enkelin hat das Plakat beschriftet, die 58-Jährige selbst kann gerade einmal ihren Namen schreiben. Aber sie kennt Anpflanzmethoden, die Bedeutung von Regenwürmern, kann organischen Dünger ansetzten und sogar aus Heilpflanzen Mittel gegen Kopfschmerzen und Bauchkrämpfe herstellen. Alles, was Generosa und Pablo über den Feldanbau wissen, haben sie in den letzten drei Jahren bei PRODESO gelernt. Die panamesische Partnerorganisation von "Brot für die Welt" hat das Paar und 60 weiter interessierte Landbewohner zu Promotoren ausgebildet, die nun ihr Wissen an ihre Nachbarn weiter geben.

Die Erde in der Provinz Veraguas ist fruchtbar, es gibt genug Regen und unter der tropischen Sonne wachsen die Pflanzen so schnell, dass man ihnen dabei beinahe zuschauen kann. Wie kann es sein, dass Menschen, die hier ein Stück Land besitzen, hungern müssen? "Ich habe einfach nicht gelernt, wie man Lebensmittel anbaut", versucht Nicasia Perez das zu erklären. "Meine Eltern wussten nichts vom Feldanbau. Sie waren ebenso Tagelöhner, wie wir es wurden." Nicasia gehört dem indigenen Volker der Ngöbe-Buglé an. Ihre Großeltern haben sich noch von dem ernährt, was sie im Wald fanden. Sie pflückten wild wachsende Früchte und gruben nach essbaren Wurzeln. Doch dann kamen die Rinderzüchter, rodeten den Wald und nahmen den Ngöbe-Buglé ihre Lebensgrundlage. Es gibt in den Dörfern einfach kein Wissen um den Anbau von Lebensmitteln, das von Generation zu Generation weiter gegeben werden könnte. Und so verdingen sich die Menschen hier heute für eine Handvoll Dollar als Tagelöhner. "80 Dollar hat mein Mann im Monat bei dem Rancher verdient", erinnert sich Nicasia. Für 80 Dollar bekommt sie im Dorfladen 50 Kilo Reis. Das reicht kaum, um ihre achtköpfige Familie halbwegs satt zu bekommen. Und ist viel zu wenig, um sich ausgewogen und gesund zu ernähren. "Dabei sind Obst und Gemüse so wichtig für die Entwicklung der Kinder", hat Nicasia von den Promotoren gelernt.

Weil die verarmte Landbevölkerung von ihrem Verdienst nicht leben kann, hat Panama ein staatliches Unterstützungsprogramm aufgelegt: jede bedürftige Familie erhält monatlich 50 US$ für Lebensmittel. Nicasia schnaubt bei dem Gedanken geradezu wütend durch die Nase. "50 Dollar? Die reichen gerade mal für zwei Tage, wenn es nicht nur Reis, sondern auch Gemüse und vielleicht ein bisschen Fleisch geben soll. 50 Dollar sind kein Ernährungsprogramm, sondern ein Witz!"

Doch seit ihre Nachbarn Generosa und Pablo die Workshops über Feldarbeit halten, ist Nicasia auf das Almosen nicht mehr angewiesen. Wer die verschiedenen Bohnen-, Mais- und Paprikasorten anbaut, die die Promotorin vor sich auf dem grob gezimmerten Tisch ausgebreitet hat und sich dazu noch ein paar Hühner hält, für den ist Mangelernährung kein Thema mehr. Mit dem, was sie hier lernt, kann Nicasia nicht nur ihre Familie ausgewogen ernähren, sondern sogar Geld für Medikamente einsparen. Heute lernt sie zum Beispiel, wie man aus Beifuß ein Mittel gegen Menstruationsbeschwerden herstellt. "Ihr nehmt eine Handvoll Blätter und übergießt sie mit kochendem Wasser. Lasst sie drei Minuten lang ziehen und seiht sie dann ab", erklärt Generosa und Nicasia lehnt sich noch ein wenig weiter vor um wirklich nichts zu verpassen.

"Mein Leben hat sich sehr verändert, seit ich gelernt habe, mich selber zu versorgen." Am Anfang habe sie nicht geglaubt, dass das wirklich möglich sei, erinnert sich Nicasia. "Aber nach und nach lernte ich immer neue Pflanzenarten kennen und wie man sie anbaut. Inzwischen wachsen 15 verschiedene Produkte auf meinem Land. Vor zwei Jahren war es nicht ein einziges!" Ihr kleines Stückchen Land wirft nicht nur genug ab, um die ganze Familie satt zu kriegen, Nicasia kann sogar Lebensmittel an die Nachbarn verkaufen – pro Tag bringt das ungefähr 10 Dollar ein, schätzt sie.

Ihr Mann hat seinen Tagelöhnerjob längst aufgegeben und arbeitet stattdessen auf seinem eigenen Stück Land. "Wir müssen nicht nur kaum etwas für Lebensmittel ausgeben, sondern verdienen auch noch plötzlich so viel wie nie zuvor." Ihr Geld legt Nicasia zukunftsträchtig an: "Meine älteren Kinder mussten die Schule früh verlassen um mitzuverdienen, aber jetzt können wir es uns leisten, unsere Tochter Ilsa Familienwissenschaften studieren zu lassen." Und die staatliche Unterstützung zum Kauf von Lebensmitteln? Die investiert Nicasia nun in Busfahrkarten und Bücher.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: panama]





[art_3] Spanien: Val d'Aran - Tal der Freiheit
 
Vor 70 Jahren, im Oktober 1944, versuchten tausende von republikanischen Spaniern und Spanierinnen durch eine Invasion von Frankreich aus über die Pyrenäen nach Spanien, Francos Diktatur zu erschüttern und dem Lauf der Geschichte so ihren Willen aufzuzwingen. Die folgende historische Reportage ist eine Hommage an diese von der Geschichte vergessenen Kämpfer und beschreibt ihren Versuch der Wiedereroberung eines freien Spaniens und sein tragisches Scheitern. Dabei konzentriert sich die Darstellung auf einige wichtige Episoden.

August 1944, Midi:
Der nationale Aufstand des maquis, der französischen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzung, ist in vollem Gange: Am 9.August wird als erstes Dorf Rabouillet befreit, danach die Stadt Foix (Ariege) von ausschließlich spanischen Einheiten, so dass am 20.August die faschistischen Besatzer fluchtartig den Midi verlassen. In Südfrankreich kämpften ca. 10.000 Spanier in den Reihen des maquis, sie befreiten siebzehn Städte.

25.August, Paris:
Bewaffneter Aufstand gegen die Wehrmacht im besetzten Paris. General von Choltitz, Kommandeur für den Großraum Paris, wird von einem spanischen Stoßtrupp gestellt. Um den Regeln des Kriegsrechts zu entsprechen, muss erst ein französischer Offizier hinzugeholt werden, dem sich von Choltitz dann ergeben kann. Man schätzt, dass auch an der Befreiung von Paris ca. 4000 Spanier beteiligt waren.

Mussolini war geschlagen, das Ende des Hitler-Faschismus rückte schnell näher, Guerilla-Bewegungen befreiten Jugoslawien und Griechenland. Euphorie machte sich unter den Spaniern im Exil breit. In diesem Sommer marschierten sie siegreich an der Seite ihrer französischen Kameraden und waren davon überzeugt, dass auch die Tage Francos gezählt waren. Franco und seine Komplizen sollten für die tausend Tage des Bürgerkriegs, der 1936 begonnen hatte und die fünf langen Jahre des Exils seit 1939 bezahlen.

Im Kampf gegen die deutsche Besatzung hatte sich die guerrilleros mit der Union Nacional Espagnol (UNE) eine eigene politische Organisation geschaffen, in der die Parteien und Organisationen, die bereis die Volksfront von 1936 - 1939 getragen hatten, zusammengeschlossen waren. Auch militärische Strukturen hatten sich herausgebildet: Neben den "gemischten " Einheiten (Franzosen und Spanier) wurde das 14.Corps der bewaffneten guerrilleros wiedergegründet - ausschließlich aus spanischen Kämpfern bestehend. Das 14.Corps war ursprünglich 1937 während des Bürgerkriegs entstanden, um militärische Operationen hinter den Linien der franquistischen Armee durchzuführen. Im Mai 1944 wurde das 14.Corps in die "Agrupacion de Guerrilleros Espanoles AGE" (Zusammenschluss der spanischen guerilleros) umbenannt.

Die Vorbereitung der Operation "Reconquista de Espana"(Wiedereroberung Spaniens) hatte begonnen. Das strategische Konzept war, auf der gesamten Länge der Pyrenäen mit bewaffneten Guerilla-Einheiten nach Spanien einzudringen, eine provisorische Regierung zu installieren und damit die Initialzündung für einen Volksaufstand gegen Franco zu geben.

Gleichzeitig sollte durch die Aktion Druck auf die Alliierten ausgeübt werden, um sie dazu zu bewegen, gegen Franco vorzugehen.


Quelle: rincondelvago.com

Anfang bis Mitte Oktober 1944:
An über 30 Stellen von Perthus im äußersten Osten bis Hendaye im äußersten Westen der Pyrenäen überschreiten Guerilla-Einheiten die Grenze. Meist ziehen sie sich nach Gefechten mit der Guardia Civil schnell zurück. An die zehntausend guerrilleros beteiligen sich an diesen Kämpfen - reine Ablenkungsmanöver, denn die eigentliche Hauptoperation steht noch bevor.

19.Oktober 1944, 6 Uhr morgens:
4000 guerrilleros überschreiten an der Pont de Rei und an anderen Stellen die französische Grenze und rücken in das Val d'Aran vor.


Grenzstein zwischen Spanien und Frankreich damals... und heute
Quelle: Foto links: perseguitsisalvats.cat; Foto rechts: Gisela Vomhof

Das Arantal ist von Oktober bis Mai von den umliegenden spanischen Provinzen durch Schneeverwehungen abgeschnitten. Einzig über den Pass von Banaigua und durch den, allerdings noch im Bau befindlichen, Tunnel Alfons XIII. kann zu dieser Jahreszeit das Val d'Aran erreicht werden. Es ist die 204. Division der guerrilleros, die den Hauptschlag ins Val d'Aran führt. Sie besteht aus 11 Brigaden zu je 300 Mann, aufgeteilt in Bataillone von 100 Mann und diese wiederum in Kompanien zu 30 Männern (Die Nummerierung der Einheiten orientiert sich an derjenigen der republikanischen Armee des spanischen Bürgerkriegs ). Hauptziele dieser Aktion sind die Sicherung der Verbindungslinien nach Frankreich (vor allem der Brücke Pont de Rei), um Nachschub und Verstärkungen heran führen zu können, die Einnahme der Passstraße von Bonaiguna und der beiden Zugänge zum Tunnel Alfons XIII., um das Vordringen franquistischer Truppen zu verhindern.

Und schließlich die Besetzung von Vielha, Hauptort des Val d 'Aran, um dort die provisorische Regierung einzurichten.

Brücke Pont de Rei 2013
Quelle: Gisela Vomhof

Infokasten:
Aufruf der UNE an die Bevölkerung : "Kein anständiger Spanier kann sich dem Hilferuf des Vaterlands verweigern, wir wollen, dass sich alle brüderlich vereinen und es als Ehre ansehen, sich an der nationalen Anstrengung zu beteiligen. Der beharrliche Kampf unseres Volkes  und die Niederlage Hitlers werden zum Untergang Francos und der Falange führen und aller, die dazu beigetragen haben, Spaniens Martyrium zu verlängern. Wir stehen vor der entscheidenden Schlacht, wir müssen darauf vorbereitet sein, und vorbereitet sein heißt vereint, vereint nicht in passiver Lähmung, sondern im gemeinsamen Kampf, der uns stark macht. Es lebe der Kampf! Nieder mit Franco und der Falange! Es lebe die nationale Union aller Spanier!"

Auf dem Weg nach Vielha mussten verschiedene Orte, in denen Guardia civil und Einheiten der franquistischen Armee stationiert waren, eingenommen werden.

19.Oktober 1944, morgens, bei der Ortschaft Es Bordes:
Die 410. Brigade rückt auf Es Bordes vor.

Infokasten:
Es Bordes ist auf Grund seiner Lage und Bedeutung seit Jahrhunderten Schauplatz bewaffneter Auseinandersetzungen. Hier kreuzen sich zwei wichtige Handelswege, der eine nach Louchon in Frankreich, der andere nach Benasque im spanischen Aragon. Außerdem ist Es Bordes der Gerichtssitz des Arantals.

Nach Es Bordes führt eine Straße mit unzähligen Kurven. Hänge schwarzer Schieferdächer sind das erste, was man von Es Bordes sieht. Die 410. Brigade erreicht den Ort im Morgengrauen und trifft auf die 42. Division der franquistischen Gebirgsjäger Urgel. Ein heftiges Gefecht entbrennt. Die guerrilleros unter dem Kommando des Anarchisten Joaquin Ramos, setzen den Franquisten zu. Deren Kommandeure Rivadulla und Gestal geben Fersengeld. Darauf kapitulieren die 80 Soldaten,die unter ihrem Kommando standen.

Die guerrilleros dagegen rücken weiter auf den Ort vor, am Ortsschild prangen noch die Pfeile der Falange. Es ist nichts zu hören, weder Stimmen noch Schritte, sämtliche Läden sind geschlossen, die Türen verrammelt, die Hunde weggesperrt. Aber aus den Schornsteinen steigt Rauch auf. Der Glockenturm der alten romanischen Kirche erhebt sich über den schwarzen Schieferdächern. Der Platz, an dem die Kirche steht, ist die einzige ebene Stelle des Dorfes. Er wird von den guerrilleros umstellt. Das Rattern eines Maschinengewehrs zerreißt die Stille, ein guerrillero wird getroffen, seine Kameraden verfluchen die Faschisten, die sich auf dem Kirchturm verschanzt haben.

Sie schieben einen Karren auf die Mitte des Platzes und schießen aus dieser Deckung heraus unaufhörlich auf den Kirchturm.

Einschußlöcher am Kirchturm von Es Bordes
Quelle: Gisela Vomhof

Andere sprengen ein Loch in die Außenmauer der Kirche, eine Explosion, dann noch eine, schließlich hallen Schüsse durch das leere Kirchenschiff, die Kirchentür wird von innen aufgestoßen, eine Stimme : "Wir sind drinnen!". Ein letztes, heftiges Feuergefecht, dann erscheint in einem Fenster des Glockenturms eine weiße Fahne. Etwas später werden die Gefangenen herausgeführt. Bei Einbruch der Dunkelheit ist Es Bordes in den Händen der guerrilleros.

Sie halten den Ort neun Tage lang, trotz zahlreicher Versuche der lokalen Miliz und der Guardia civil ihn zurückzuerobern. In den ersten Tagen der Reconquista erobern die guerrilleros achtzehn Ortschaften im Val d'Aran.

September 2013, Es Bordes:
Der Friedhof von Es Bordes ist ein stiller Ort, abseits des Dorfes, nur das Rauschen der Garonne ist zu hören. Hier liegen die Toten der Schlacht um Es Bordes.

Quelle: Gisela Vomhof

In insgesamt 15 Särgen ruhen sechs guerrilleros, sieben Soldaten und zwei Angehörige der Guardia Civil.

16.Oktober 1944, abends:
Die 11.Brigade der guerrilleros ist am Stützpunkt Hospice de France angekommen. Am folgenden Nachmittag macht sie sich auf den Weg über die Berge.

Ihre Mission: Den nördlichen Ausgang des Tunnels zu besetzen und dann weiter nach Vielha vorzurücken.

Tunneleingang damals...
Quelle: perseguitsisalvats.cat

Infokasten:

Der Tunnel von Vielha wurde bereits 1925 projektiert. Doch erst am 9.Dezember 1941 kam es zum Tunneldurchstoß. Offiziell eingeweiht wurde er 1948, konnte aber bis 1965 nicht befahren werden, da er weder beleuchtet noch gepflastert war. Im Jahr 2000 dann war der Ausbau in der heutigen Form abgeschlossen.

Ihr Marsch dauert 28 Stunden. Dabei durchqueren sie zwei Täler und überwinden 2200 Meter Höhenunterschied.

...Tunneleingang heute
Quelle: Gisela Vomhof

18.Oktober 1944, 6 Uhr:
Starker Nebel zieht auf und verhindert den Weitermarsch.

18.Oktober 1944, 13 Uhr:
Weitermarsch. Eine sibirische Kälte breitet sich aus, welche die Uniformen steif werden lässt vom Frost. Ein Schneesturm tobt, die Temperatur sinkt weiter bis unter -20 Grad Celsius.

Guerrrilleros beim Aufstieg
Quelle: Jean Costumero

Die ersten Männer klagen über Erfrierungen, der Kommandeur bemerkt, dass die Tinte in seinem Füllfederhalter gefroren ist. An ein Weiterkommen ist nicht zu denken. Die guerrilleros beschließen, zu ihrem Ausgangspunkt, dem Hospice de France zurückzukehren. Der nördliche Tunnelausgang kann nicht besetzt werden und die 11.Brigade fällt für den Sturm auf Vielha aus.

18.Oktober 1944, südlicher Tunneleingang:
Die 21. Brigade der guerrilleros besetzt geräuschlos den Hang, der dem Tunneleingang gegenüber liegt. Durch ihre Feldstecher sehen sie: Etwa hundert Männer arbeiten dort. Zwischen ihnen verteilt stehen etwa fünfzehn Infanteristen, die sie ohne großes Interesse bewachen. Unter den guerrilleros herrscht Fassungslosigkeit: "Das sind Strafgefangene, das sind unsere Leute, Republikaner! So ein Glück hatten wir noch nie. Als existierte Gott nicht nur, sondern hätte auch noch die Seiten gewechselt."

Sie steigen den Hang hinab, umrunden den Berg, um auf die andere Seite zu kommen. Problemlos entwaffnen sie die Wachen und der Kommandeur tritt in die Mitte des Platzes, um zu den Strafgefangenen zu sprechen: "Genossen, wir gehören der antifranquistischen Union Nacional Espanola an, in der sich alle demokratischen Gruppen vereint haben, um gegen Francos Tyrannei zu kämpfen. Schließt euch uns an!" Niemand rührt sich, keiner sagt ein Wort. "Der entscheidende Kampf hat begonnen, Francos Diktatur steht vor dem Ende. Die ganze Welt schaut jetzt auf Spanien. Mit Hilfe der Alliierten und vor allem mit der des spanischen Volkes wird die Union Nacional bald die Macht übernehmen und die Demokratie in Spanien wiederherstellen." Die, die am weitesten entfernt waren, hatten während der Rede ihre Schaufeln und Spitzhacken fallen lassen und jetzt flüchten sie den Hang hinauf, ein Abhang voller grauer Gestalten, die eilig davonlaufen. "Kommt zurück, ihr Idioten! Wir sind Republikaner wie ihr, wir sind aus Frankreich gekommen, um euch zu befreien, ihr Dummköpfe!"

Einige Männer kehren um, sie steigen einzeln den Berg hinunter, langsam, vorsichtig. Der erste, der unten ankommt, ist um die dreißig und hat einen Madrider Akzent. "Was habt ihr euch den gedacht? Ich begreife euch nicht !" Der Mann senkt den Kopf, als wäre er selbst überrascht, wie sehr er sich schämt: "Wir wussten nicht, wer ihr seid, wir hatten Angst. Es hätte eine Falle sein können ..." Trotzdem schließen sich den guerrilleros letztendlich lediglich vier Männer an, dazu noch Waffen für neun, das ist die ganze Ausbeute.

Der Südeingang des Tunnels kann ebenfalls nicht besetzt werden, in den nächsten zwei Tagen rücken tausende Franco-Soldaten durch den halbfertigen Tunnel Richtung Vielha vor. Die ersten franquistischen Truppen gehen bereits am Nachmittag des 19. Oktobers am Pass von Bonaiguna in Stellung.

Insgesamt 40.000 Mann warf Franco in die "Schlacht" gegen 4000 guerrilleros - der Schreck war ihm gehörig in die Glieder gefahren.

Dieser Übermacht an Menschen und Material hatten die guerrilleros nichts entgegenzusetzen.

Guardia civil auf dem Bonaigua-Pass
Quelle: perseguitsisalvats.cat

Am 27.Oktober erfolgte der Befehl zum Rückzug, am 29. hatte der letzte guerrillero das Arantal verlassen.

Epilog:

"Bei der Beurteilung der Invasion im Val d'Aran hilft uns ein Begriff aus der katalanischen Sprache, für den es weder im Spanischen noch im Französischen eine wörtliche Übersetzung gibt: "seny" - er meint das Gleichgewicht zwischen übertriebener Arglosigkeit und übertriebener Boshaftigkeit.(...) Unglückliche guerrilleros, die den blinden Schauspielern eines surrealistischen Dramas gleich, das Licht der Freiheit vergeblich auf halsbrecherischen Bergpfaden, Schmugglerrouten oder alten Königswegen suchten. Durch Schlammlöcher kriechend und über Felsen hinweg, wollten sie der republikanischen Brüderlichkeit Leben einhauchen, Wälder und Täler durchstreifend, forderten sie eine gerechtere Welt. Guerrilleros voller Illusionen, enttäuscht, verzweifelt, müde vom Nächtigen unter freiem Himmel, mit zerschundenen und erfrorenen Füßen, ausgemergelt, zerzaust, zerkratzt, nur halb bekleidet, ähnelten sie eher Vagabunden als guerilleros. Aber sie waren es dennoch, die die Armee, die Guardia civil und die bewaffnete Polizei in Schach hielten. Gab es denn jemals in den ganzen vierzig Jahren eine Widerstandsaktion gegen den Generalissimus, die ihn zwang, in einer Woche 40.000 Soldaten zu mobilisieren? Nein. War der Caudillo während seiner ganzen Diktatur jemals so in Panik wie im Herbst 1944? Nein." (Ferran Sanchez Agusti, Historiker)

"Was keiner der Historiker erklärt, die sich abfällig über die Invasion im Val d'Aran äußerten, das ist die Tatsache, dass die Männer dieser Guerilla-Einheiten eine tiefe Überzeugung hatten, die Überzeugung, im Sinne der Geschichte zu handeln. Die Überzeugung, dass ihre Sache gerecht war, den Glauben in die Kraft der Organisation und den Kampf. Nicht mehr und nicht weniger!" (Narcisse Falguera, Chef des Generalstabs der 11.Brigade der Guerrilleros Espanoles während der Operation im Val d'Aran)

Nach Motiven aus den Arbeiten von Jean Ortiz, Ferran Sanchez Agusti, Narcisse Falguera, Jean Costumero, Claude Delplat, Almudena Grandes

Text: Wolfgang Hänisch
Fotos: Bilder 2, 7, 10 perseguitsisalvats.cat
Bilder 3, 4, 5, 6, 8 Gisela Vomhof
Bild 1 rincondelvago.com
Bild 4a Ferran Sanchez Agusti
Bild 9 Jean Costumero

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Kolumbien: Ausgekokst – mein Drogentrip / ZDFneo, 4 Folgen à 43min
 
Zehn Jahre lang war der Schauspieler Rainer Meifert kokainabhängig und dieser Konsum hat ihn nach eigenen Angaben „fast zerstört“. Karriere, Beziehungen, Freundschaften  – plötzlich stand für ihn alles auf dem Spiel.


Foto: Rainer Meifert (links) im Gespräch mit einem Kommandant der kolumbianischen Drogenpolizei auf einer Kokaplantage. / © ZDF und Daniel van Moll

Vor rund einem Jahr hat Rainer Meifert den Schlussstrich gezogen und sich öffentlich zu seiner Sucht bekannt. Jetzt ist er seit einem Jahr clean und unternimmt – um sich für immer vor dem Rückfall in die Sucht zu schützen – für ZDFneo ein ungewöhnliches Experiment. Ein Experiment, das ihm die Augen öffnet, was seine Drogensucht und die anderer global anrichtet.

Ein Experiment, das ihn über die Grenzen von Deutschland hinweg an die Grenzen seiner Belastbarkeit führt – auf der Spur der Droge vom Ende, von ihm dem Verbraucher, zurück zum Anfang, dem Bauern auf der Kokaplantage. Konfrontiert mit Verbrechen, mit Gefahr, mit viel menschlichem Leid stellt sich für ihn am Ende seiner Reise die Frage: zieht er jemals wieder eine Line, deren Preis er nun in Menschenleben umrechnen kann – und nicht nur in Euro?

Übersicht über die Inhalte


Foto: Rainer Meifert (Mitte) prüft ein Kilogramm beschlagnahmtes Kokain, gemeinsam mit Polizeidirektor Olaf Schremm und einem LKA-Beamten des Rauschgiftdezernats in Berlin. / © ZDF und Daniel van Moll

Folge 1
Rainer Meifert macht mit seiner Kokain-Vergangenheit reinen Tisch: Er liefert intime Geständnisse und trifft unter anderem Freunde und Bekannte aus seiner Drogenzeit, die er bislang gemieden hat – aus Angst davor, wieder rückfällig zu werden.

Folge 2
Rainer Meifert begibt sich auf die Spuren des Kokains! Dazu taucht er in die Berliner Drogenszene ein, trifft Fahnder des LKA und Ermittler von Europol. Er spricht mit Hintermännern im globalen Kokain-Geschäft und begleitet einen ehemaligen Schmuggler bei einer nachgestellten Kurier-Fahrt über die niederländische Grenze.


Foto: Rainer Meifert (links) trifft auf den ehemaligen Drogenpolizisten John Martin (rechts), der im Einsatz auf einer Kokaplantage durch eine Landmine sein linkes Bein verlor. / © ZDF und Daniel van Moll

Folge 3
Es nach Bogotá in Kolumbien. In der Welthauptstadt des Kokains trifft Rainer Meifert neben dem ehemaligen Präsidenten Cesar Gaviria auch Täter und Opfer des andauernden Drogenkrieges und begibt sich mit Sondereinheiten der Polizei nachts auf Streife im größten Drogen-Slum des Landes. Dieser „Drogentrip“ öffnet Rainer Meifert immer mehr die Augen und ihm wird bewusst, welche Konsequenzen nicht nur sein Kokain-Konsum in Europa für die Menschen in Kolumbien hat.

Folge 4
Rainer Meifert taucht immer tiefer in den Sumpf von Kokain, Macht und Gewalt in Kolumbien ein. Mit Sondereinheiten der Anti-Drogenpolizei des Landes besucht er abgelegene Kokafelder, Labors und trifft auf Farmer, die unter Androhung von Gewalt, zum Anbau der Kokapflanze gezwungen wurden.

Nach einem intimen und tränenreichen Gespräch mit einer früheren Kindersoldatin, wird Rainer Meifert erst vollends bewusst, welches Elend hinter dem weltweiten Drogenkonsum steckt und welche Auswirkungen seine eigene Kokainsucht auf dieses Land hatte.


Foto: Rainer Meifert (2.v.r.) besucht gemeinsam mit Einheiten der Anti-Narcotics Drogenpolizei ein kolumbianisches Koka-Labor. / © ZDF und Daniel van Moll

Eine Frage an Rainer Meifert:
Was war bei den Dreharbeiten das nachhaltigste Erlebnis für Dich?

Die Zeit in Kolumbien war sehr intensiv und hat mich nachhaltig geprägt. Ich habe so viele Opfer des Drogenkrieges getroffen, deren Schicksale mich sehr berührt haben.

Ohne unseren Konsum in den Industrieländern wäre Sara wahrscheinlich nicht elf Jahre lang Kindersoldatin gewesen, John hätte noch alle Gliedmaßen und Américo und seine Familie müssten sich nicht zu dreiundzwanzig Mann drei Betten teilen. Von den vielen Toten seit Beginn des Drogenkrieges, wage ich gar nicht zu sprechen.

Ich habe in Kolumbien gemerkt, dass ich, wie wahrscheinlich die meisten anderen Deutschen, rein gar nichts darüber wusste was in diesem Land vor sich geht.

Was auch sehr abschreckend für mich war, war die Demonstration der Kokainproduktion bei der Antidrogenpolizei. Ich hätte mich am liebsten übergeben, als ich gesehen habe, wie viel Benzin, Zement und Chemie ich mir beim Kokainkonsum schon durch die Nase gezogen habe. Das habe ich nicht gewusst!


Foto: Rainer Meifert (links) und sein Guide Sune (rechts) im Gespräch mit einer durch den Kokainhandel vertriebenen Familie in den Slums von Bogotá. / © ZDF und Daniel van Moll

Ausstrahlungstermin
Folge 1-4 werden am 4.12. ab 23.50 Uhr in ZDFneo wiederholt.

Mediathek
In der Mediathek sind die Folgen ein Jahr lang nach der ersten Ausstrahlung im November 2014 abrufbar:
Folge 1 / Folge 2 / Folge 3 / Folge 4

Webiste
www.zdf.de/ausgekokst-mein-drogentrip/ausgekokst-mein-drogentrip-35526728.html

Fotos: © ZDF und Daniel van Moll

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: kolumbien]






[art_5] Brasilien: Brasilien trocknet aus (Teil 2) (Teil 1)
São Paulo geht das Wasser aus

Brasilien trocknet aus. Zwar hat das Land die größten Süßwasserreserven der Welt, hauptsächlich im Amazonasgebiet. Im bevölkerungsreichen Südosten wird die Lage jedoch kritisch, in São Paulo beginnt bereits die Rationierung. Und in Rio de Janeiro und Minas Gerais könnte es bald schon genauso kommen.

Auch in der Amazonasregion selbst weitet sich die Trockenheit aus. Der Grund hierfür ist der Rückgang des Regenwaldes: Zwanzig Prozent des ursprünglichen Regenwaldes ist bereits abgeholzt, weitere zwanzig Prozent sind akut bedroht. Die Natur sei "am tipping point", dort, wo das System kippt und es kein Zurück mehr gibt, glaubt der Wissenschaftler Antonio Nobre vom staatlichen Klimadienst INPE.



Die Probleme am Amazonas haben einen direkten Einfluss auf den Regen im Süden und Südosten des Landes. Normalerweise ziehen die über dem Amazonas gebildeten Regenwolken nach Süden, wo sie auf Kaltluftströme aus Argentinien treffen und abregnen. Doch zuletzt funktionierte das System nicht mehr.

So haben sich die rund um die 20-Millionen-Metropole São Paulo gelegenen Reservoirs über das Jahr 2014 hinweg immer mehr geleert. Das Cantareira-Reservoir, verantwortlich für die Versorgung von fast 10 Millionen Paulistanos, hat lediglich noch 9% seines ursprünglichen Volumens. Um überhaupt noch Wasser für die Bevölkerung fördern zu können, wurden Spezialpumpen installiert, die für einen Einsatz knapp über der Bodenschlamm-Grenze konzipiert sind.



Selbst wenn es in der Stadt, so wie in den letzten Wochen häufig passiert, kräftig regnet, bekommen die nördlich gelegenen Reservoirs nichts davon ab. Aus Rationalisierungsgründen wird in manchen Stadtteilen seit Wochen nachts das Wasser abgestellt. Zudem hat der Wasserversorger bereits den Leitungsdruck vermindert, um den Durchfluss zu senken. Geplant ist auch, dass demnächst das Wasser eines Flusses im Bundesstaat Minas Gerais nach São Paulo umgeleitet werden soll.

Doch selbst wenn die Stadt in diesen Wochen noch glimpflich davon kommt und das Wasser im gerade beginnenden Sommer mit seinen Platzregen ausreicht, dürfte ab Mitte 2015 dann endgültig Schluss mit Wasser sein. Dabei gäbe es in der Stadt selber Alternativen zu den Reservoirs. Rund 300 Flüsse liegen im Stadtgebiet unter Kilometern von Asphalt begraben. Egal, wo man sich in São Paulo befindet – man ist niemals weiter als 200 Meter von einem Flusslauf entfernt.



Auch Quellen gibt es im Überfluss. Wo gebaut wird, muss das Grundwasser abgeleitet werden. So fließen Millionen Liter über die Straßen, versickern ungenutzt in den Gullis. Erst jetzt, da die Knappheit droht, wird man sich bewusst, welche Schätze man eigentlich verschleudert. Vielleicht lernen die Paulistanos ja was daraus bevor die Stadt wirklich austrocknet.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[kol_1] Helden Brasiliens: Das Feld der Ehre
Besuch in Campo Bahia

Irgendwie kennt man das Bild. Selbst wenn man, so wie ich, zum ersten Mal an der Fähre steht, die einen von Santa Cruz Cabrália hinüber nach Santo André bringt.
 
Immerhin sind Deutschlands Fußballgiganten ja ständig mit dieser Fähre gefahren. Selbst den Fährmann, der einen mit lockeren Sprüchen unterhält, hab ich schon im Fernsehen gesehen.



Die Küstenstraße, die über 25 Kilometer von Porto Seguro hier raus führt, ist immer noch mit schwarz-rot-gold-bemalten Laternenmasten gesäumt. Hier und da weht am Wegesrand noch eine deutsche Fahne.
 
Auch in Santo André, dem 700-Einwohner-Dorf, in dem das deutsche Quartier Campo Bahia liegt, findet man noch viele Spuren der Weltmeister. Angefangen bei den Schaulustigen, die den Eingang des WM-Quartiers fotografieren



Das Campo Bahia ist mittlerweile für das zahlungskräftige Urlaubspublikum geöffnet. Rund 500 Euro muss man für eine Nacht in der Luxus-Herberge berappen. Dafür schläft man dann in denselben Betten wie Deutschlands Helden.
 
Abends erwartet einen zudem die WM-Bar am Pool, über deren Monitoren immer noch die während der WM von den Spielern getwitterten Fotos laufen. Oder man geht die 20 Meter hinunter zum Strand, wo einen die Atlantikwellen begrüßen.



Der Strand ist meist leer, keine Schweinsteigers und Neuers geben Autogramme, kein „Joggi“ Löw rennt durch den Sand. Es ist Ruhe eingekehrt, jetzt in der Nebensaison. Ab Mitte Dezember sollen dann die Weihnachtsgäste kommen, die anschließend im Februar von den Carnavals-Touristen abgelöst werden. Im Moment jedoch habe ich den Strand für mich.
 
Im Dorf selber zucken die meisten mit den Schultern, wenn ich sie nach dem Erbe, das die Deutschen zurück gelassen haben, frage. Oder man bekommt den Dorfbolzplatz gezeigt, der früher ein Sandplatz war.



Zwar haben die Deutschen versprochen, einen erstklassigen Rasenplatz als Geschenk zu hinterlassen, doch der Platz ist unbespielbar, derart schlecht wurde der Rasen verlegt. Lieber kicken die Kids auf dem kleinen Sandplatz nebenan. Der Dorfverein stöhnt, man sei dank des unbespielbaren Trainingsplatzes mittlerweile abgestiegen. Man zürnt. Ich schweige betreten.



Auch das Schulprojekt, das die Deutschen finanzieren wollten, käme nicht voran, so hört man im Ort. In der Schule nachgefragt, erfahre ich, dass man wohl erst im Januar 2015 mit dem Projekt starten könne. Noch sei man dabei, das Projekt gemeinsam mit den Deutschen auszuarbeiten.
 
Hier und da ein Daumen hoch, „tudo bem?“. Ja, alles „tudo bem“. Wir sind jetzt Weltmeister, und zumindest in den nächsten vier Jahren bleiben wir das auch. Und Santo André wird auf Ewigkeit als das Quartier der Weltmeister in Erinnerung bleiben, dem ersten europäischen Team, das in der Neuen Welt diesen Titel holen konnte.



Ich treibe im Meer, die Zehenspitzen Richtung Wolken zeigend. Sanft zieht die Küstenlinie durch mein Blickfeld. In Deutschland läuft gerade „Die Mannschaft“ an, die DFB-Doku zur WM. Und zum Campo Bahia. Man friert bestimmt in der Schlange vor dem Kino, denke ich. Sei es drum, ich tauche noch ein wenig durch die Wellen. Spaß muss sein.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_3] Hopfiges: Eine Malta bitte
Malzbier (?) aus dem Hause Montseny
 
Die Zeitrechnung wird immer abgefahrener... Beim Googlen nach einer Malta stoße ich recht schnell auf zwei sehr vertraute Logos: Das der Brauerei Polar aus Venezuela und das der Brauerei Gallo in Guatemala. In Venezuela war eine meiner Nichten dem Polar-Malzbier verfallen. Was ein Wunder, hat doch ihre Mama der Kleinen das "Maltín mit dem Eisbär" über die Brust verabreicht.

Bei Gallo durfte ich vor gut einem Viertel-Jahrhundert als Brauerei-Praktikant alles verkosten, was es zu verkosten gab. So auch das Malzbier mit dem Konterfei des Hahns. Zwei Jahre zuvor hatte ich für ein halbes Jahr die Deutsche Schule in Guatemala-Stadt besucht. Mit meinem damaligen Stand des Weltbegreifens kam mir das Leben rund um den Schul-Campus sehr rückständig vor, so ca. ein Viertel-Jahrhundert eben. Die Gallo-Website nun, auf die mich meine Online-Suche geführt hatte, war erstaunlich zeitgemäß.



Vor allem schien die Brauerei seit meiner Zeit vor Ort, in der sie eine komplette Modernisierung erfahren hatte, erneut mit den neusten Tanks und Brauanlagen ausstaffiert worden zu sein. Erstaunt klickte ich das Video "Yo creo en Ti" an und… da waren sie wieder, die 25 Jahren Unterschied. Der Werbespot über 4:48min Länge zeigt Land und Leute bei Arbeit, Sport, Katastrophen, Familienleben. Und viele, viele Kinder.

Nach unfassbar ewigen drei Minuten spannen die Filmemacher den Betrachter nicht länger auf die Folter und verraten den Grund des Videos: 125 Jahre Cervecería Gallo. 30 Sekunden später jubeln die Kinder des Landes um so mehr und feiern das Bier des Landes. – Wäre am Kinder-Hotspot Prenzlauer Berg so aktuell politisch undenkbar.

Zurück ins Heute
Spanien befindet sich nach wie vor in einer erfreulich kreativen Schaffensphase in Sachen Bier. Und trotzdem bin ich verwundert, als ich das Etikett der Malta Montseny studiere. Das Malzbier soll 5,1% vol. Alkohol haben. Irgendwas muss ich da missverstanden haben. Ein Getränk für Jung und Alt mit besonderer Vorliebe unter jungen Müttern ist das definitiv nicht.

Der Blick auf die Website gibt Aufklärung. Das MALTA ist ein BARREL AGED PALE ALE. Ein Obergäriges, das ein Jahr im Eichenfass reifen durfte. Letzteres verleihe dem Bier seine Wärme, so steht es jedenfalls geschrieben.

Hätte ich es nicht kühlen dürfen? Egal! Der lange Reifeprozess im Eichenfass macht mich neugierig. Und ich mag nicht mehr warten, bis sich das Montseny Malta wieder erwärmt hat.

Schnuppernd mach ich mich auf die Suche nach dem malzigen Akzent. Finde ihn auch prompt, entzückender Weise eingebettet in einen Mix aus dunklen Beeren und umhüllt von einem angenehme Bitterboten sendenden Schleier.

Was die Nase verspricht, hält sich im Mund. Sanfte Noten von Casis und Malz verzaubert mit einer ausgewogenen Bitterkeit. Während im Abgang der dezent süßliche Einfluss schnell versiegt, hält sich der Bitterbote untermalt von einem malzig-holzigen Hauch.

Bislang war ich kein ausgesprochener Fan von mittel- bis dunkelbraunen Bieren. Aber die Montseny-Brauerei, die sich dem Craft Beer, also der handwerklichen Herstellung ihrer Biere verschrieben hat, erwischt mich aufs Neue, wie schon bei den beiden anderen (Montseny NEGRA und Montseny Lupulus).*

Ob es an dem Wasser des Montseny-Gebirges liegt, an der hohen Kreativität ihrer Braumeisterinnen, oder ob diese einfach meinen Geschmack treffen, weiß ich nicht. Wohl aber, dass ich mich unglaublich auf meinen nächsten Spanien-Trip freue. Und wenn ich dann in Barcelona gen Norden fahre in Richtung Figueres, werde ich auf halber Strecke die A7 verlassen und schauen, ob ich in der jungen Brauerei dem Team ein wenig über die Schulter schauen darf, mich aber zumindest für die gesamte Zeit meines Aufenthalts mit MALTA, NEGRA, BLAT, ECOLUPULUS oder einem der mir noch nicht bekannten Sorten eindecken. Vor lauter Freude entschlüpft mir schon jetzt ein katalanisches ¡Salut i força al canut!


Bewertung Montseny NEGRA
1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Foto: Dirk Klaiber

* Hopfiges: Montseny NEGRA aus Katalonien
http://caiman.de/10_14/kol_3/index.shtml

Hopfiges: Montseny Lupulus aus Katalonien
http://caiman.de/08_14/kol_2/index.shtmlw

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_3] Lauschrausch: Addys Mercedes trifft Peru 70's
 
Wer dem Winter, zumindest akustisch, entfliehen möchte, dem sei das neue Album von Addys Mercedes empfohlen. Auch sie hatte eine Winterflucht im Sinn als sie den gleichnamigen Titel ihres Albums  "Locomotora A Cuba" schrieb: "Ich träume sehr oft nach Kuba zu gehen, ohne fliegen zu müssen. Deswegen habe ich meine Lokomotive in meinem Kopf entwickelt, und wenn mir zu kalt hier wird, nehme ich meine Lokomotive und fahre nach Kuba." In diesen Zug, der zwischen europäischen und kubanischen Städten hin- und hersaust, hat die in Essen lebende Sängerin alle Dinge hineingepackt, die sie aus ihrer Heimat vermisst: z.B. typische Speisen, Tänze, Domino spielende Männer etc.

Locomotora a Cuba
Addys Mercedes
Media Luna (Indigo)
ASIN: B00MRHLLT8

Die thematische und musikalische Bandbreite des Albums überrascht: vom nachdenklichen Stück über vom Vater verlassene Kinder ("Querer de segunda mano") über eine Folk-Ballade mit nostalgischen Geschichten aus ihrer Heimatstadt Moa ("Ahí"), Latino-Poprock ("No queda nada") und eine vertonte Fabel von der Biene und dem Fuchs (("Moraleja de zorra y abeja") bis zur Ballade über das Schicksal eines schwarzen Sklaven ("Negrito congo") ist alles vorhanden.

Komplexe Arrangements wechseln sich ab mit eingängigen Popmelodien. Die tanzbare Singleauskopplung "Rompe el caracol" ist eine Aufforderung ans Publikum, sich zu bewegen. Das Stück entstand, weil ihr deutsches Publikum zwar sehr gut zuhören kann, sich aber nicht traut zu tanzen: "Das habe ich so oft erlebt und ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht. Und dann kam diese Idee für dieses Lied 'Komm aus deinem Schneckenhaus', damit die Leute ein bisschen den Moment genießen, weil das Leben einfach so kurz ist." Wie ein roter Faden zieht sich die Sehnsucht nach Kuba durch die Eigenkompositionen von Addys Mercedes, sei es im nostalgischen "Mi carrito de cartón" über ein Kinderspielzeug oder im traurigen Gesangsstück "Atrapa los sueños" über eine Abreise (aus Kuba). Mir persönlich gefällt es, schützt es doch vor inhaltlicher Verflachung, die wir derzeit bei einigen anderen kubanischen Sängern erleben.


Im Jahr 1968 übernahmen mit einem Staatsstreich junge, eher linksgerichtete Militärs in Peru die Regierung, die einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus ausprobieren wollten. Neben einer Nationalisierung bestimmter Industrien und dem Ausbau des Bildungswesens kam es auch zu einer Aufwertung des indigenen Erbes sowie zu einer zunächst liberaleren (Kultur-)Politik, die trotz der Abneigung gegenüber dem Kulturimperialismus der USA den Zufluss von angloamerikanischer Musik erleichterte. Doch schon bald (ab Ende 1969) kam es auch gegen moderne, junge Musiker zu Repressionen, ein weiterer Putsch setzte dem Experiment 1975 ein Ende, bis Peru 1980 zur Demokratie zurückkehrte.

Peru Bravo
Diverse
Tigers Milk (Alive)
ASIN: B00LMPG10U

Neben dem Label "Vampi Soul" veröffentlicht nun auch "Tiger's Milk Rec." Retro-Musik aus Peru. Der peruanische Starkoch Martin Morales und seine Label-Kollegen haben auf ihrem 2. Release "Peru Bravo" den Schwerpunkt auf psychedelischen Rock, Funk- und Soultitel aus den Jahren 1968-74 gelegt, nachdem sie auf "Peru maravillosa" (siehe caiman 01/2014) schon die eher lateinamerikanischen Klänge dieser Zeit präsentierten. Latin-Rock à la Santana war schwer angesagt zu dieser Zeit – seine geplante Tournee nach Peru wurde allerdings von der Regierung ohne Angabe von Gründen abgesagt – was man gut hört z.B. bei "Outasite" von Thee Image, einem percussionlastigen auf englisch gesungenen Titel, oder bei der bekanntesten Band aus dieser Epoche, Traffic Sound, die die erste LP mit 100% peruanischem Rock einspielte.

Eher aus der Soul-Funkrock-Ecke kommen Los Holy’s, die mit "Cissy Strut" eine gelungene und schnellere Latin-Rock-Coverversion des gleichnamigen Instrumental-Hits der US-Funk Band The Meters vorlegen, sowie die Band Black Sugar oder Jean Paul "El Troglodita", dessen Aufnahme hier allerdings in den Höhen stark verzerrt klingt. Los Belking’s, die immer noch aktiv sind und denen das Label "Nuevos Medios" im Jahr 2003 schon eine Wiederveröffentlichung gewidmet hat, sind mit einem Instrumental vertreten, in dem sich funky Bläsersätze und Hammondorgel ausgewogen abwechseln, absolut tanzbar. Die "Psycho-Fraktion" wird von der auch überregional erfolgreichen Band Laghonia mit ihrem Garagensound angeführt, mit einem Latin-Rock-Titel von Telegraph Avenue weitergedreht, dessen Mittelteil klingt wie "Die Internationale" auf Quechua(?) und endet schließlich in zwei Coverversionen - Steppenwolf’s "Sookie" mit Latin-Einfluss und Jimi Hendrix’s "Hey Joe" mit Percussion und spanischem Text (m.E. der beste Titel des Albums) sowie dem Titel "El sermón" von Los Comandos, der Latin-Rock mit einem jazzig-psychedelischen Flötensolo verbindet. Absolut empfehlenswert!

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 12/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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