ed 10/2014 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Dreiundzwanzigste Etappe: Romantische Bergdörfer, die tote Schlange der Versuchung und der Eintritt ins Paradies
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


bolivien: Kartoffelvielfalt in den Anden
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
spanien: San Cristóbal de La Laguna
Europäische Stadt in Afrika als Modell für spanische Städte Amerikas
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
peru: Sechín und die Schrecken einer Schlacht
NIL THRABY
[art. 4]
helden brasiliens: Brasilien am Scheideweg
Kommt Marina oder bleibt Dilma?
THOMAS MILZ
[kol. 1]
traubiges: Zwei Meisterwerke in einem
Niepoort Fabelhaft ‚Maueredition’ 2012
LARS BORCHERT
[kol. 2]
hopfiges: Montseny NEGRA aus Katalonien
Irischmundendes Beisamensein
DIRK KALIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Bruno Böhmer Camacho Trio
The Columbian Project
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [23] [22] [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Dreiundzwanzigste Etappe: Romantische Bergdörfer, die tote Schlange der Versuchung und der Eintritt ins Paradies
 
Am 21. Juni 2013. Nach einer weitgehend schlaflosen Nacht in der Pilgerherberge von Astorga brechen wir ziemlich spät auf. Es ist schon deutlich nach 7 Uhr und meine junge Begleiterin Cayetana und ich wollen erstmal richtig frühstücken, bevor wir das Städtchen verlassen. Als wir endlich auf dem Weg sind, ist es schon kurz nach 8 Uhr. Wir marschieren durch eine schöne Allee gen Westen und reihen uns ein in eine lange Kolonne von Pilgern. Langsam beginnen wir mit dem Aufstieg in die Montes de León. Finstere Wolken ballen sich über der Heidelandschaft, während der Blick auf den schneebedeckten Teleno frei bleibt. Der Himmel kann sich nicht entscheiden, ob er uns neuen Regen schicken soll oder sich damit begnügt, uns mit kalten Fallwinden, die ab und an Sturmintensität erreichen, den Aufstieg zu erschweren.

[zoom]
[zoom]

Nachdem wir zwei Wochen lang die endlose kastilische Steppe auf fast gleich bleibendem Niveau von 650 bis 750 Metern durchwandert haben, werden wir die nächsten beiden Tage den Höhenunterschied-Rekord des Jakobswegs bewältigen müssen: insgesamt fast 800 Meter Aufstieg und 1200 Meter Abstieg! Allein bei diesen Zahlen kann einem schon schwindelig werden. Keuchend kämpfen wir uns heran an die 1000-Meter-Schwelle. Wir nähern uns einer kleinen italienischen Pilgergruppe bestehend aus Mönchen und Nonne, die wir wenig später überholen. Die Italiener singen (!) den Rosenkranz mit Stimmen, deren Schönheit durch die keuchende Anstrengung des Aufstiegs ein wenig beeinträchtigt wird. "Wie übertrieben", knurrt Cayetana, "als ob dieser Aufstieg nicht schon Folter genug wäre! Wir kriegen kaum noch Luft, aber die Herrschaften, die sich für ganz heilig halten, müssen dazu noch singen." Ob mit Gesang oder ohne, ein solcher Aufstieg führt fast jeden Pilger an seine Grenzen. Umgeben von Bergeinsamkeiten und zurück geworfen auf sich selbst und einen steilen, steinigen Pfad des Schweigens gerät man in die Tiefen der Selbsterforschung und stolpert irgendwann über die Frage "Warum um Himmels Willen mache ich das hier überhaupt?" Aber ob und wie man diese Frage für sich beantwortet, ist am Ende fast egal. In jedem Fall spürt man nach einer solchen Bergetappe den Triumph des Ankommens, den Sieg über sich selbst doppelt. Die letzten Kilometer unseres heutigen Weges führen uns durch dichten Wald, aber die Sonne hat sich für heute im Wetterkampf durchgesetzt und ihre Strahlen dringen durchs Blätterdach.

[zoom]
[zoom]

Auf fast 1200 Meter Höhe erwartet uns Rabanal del Camino, ein Bergdorf wie aus einem alten Bilderbuch, ein Ort, der aus der Zeit gefallen scheint. Alte Bruchsteingemäuer, die hier seit Jahrhunderten Stürmen und Winterkälte trotzen. Überall halb überwucherte Zäune, moosbedeckte Mauern und verwunschene Gärten, Pferde, die friedlich unter tausend Jahre alt aussehenden Bäumen grasen, und grandiose Ausblicke mit den Gipfeln der Montes de León ringsumher. "Was für ein cooles Dorf!", ruft Cayetana entzückt, ohne darüber nachzudenken, wie absurd das Adjektiv cool im Zusammenhang mit diesem archaischen Ort ist. Danach tauft sie es "das Dorf von Asterix" (das könnte schon eher zutreffen, denn diese Höhenlage konnten weder die Römer noch die Araber jemals wirklich beherrschen). Im romantischen Ambiente dieses Druiden-Dorfs wirkt das eklige Wort "Shop", angebracht am Dorfladen unter dem spanischen "Tienda", wie eine verbale Attacke aus einer anderen Galaxie.

[zoom]
[zoom]

Als wir an der Pilgerherberge "El Pilar" ankommen, wird dort gerade eine ganze Herde von Transportpferden von Pilgerrucksäcken befreit. "Die faulen Säcke – wer seinen Rucksack nicht selbst den Berg hoch trägt, darf eigentlich nur eine halbe Pilgerurkunde bekommen!" So das harte Urteil von Cayetana angesichts dieser immer mehr in Mode kommenden Gepäcktransporte, von denen viele Pilger Gebrauch machen, wenn Bergetappen wie diese zu bewältigen sind.

Nach der Eroberung eines Hochbetts sitzen wir im schönen Innenhof der Herberge zwischen Wäscheleinen und wundern uns, dass die intensive Sonne des frühen Nachmittags die Temperaturen auf immerhin über 20 Grad steigen lässt. Cayetana schlendert zur Theke der Freiluftbar, um etwas zu Knabbern und ein Glas Wein zu besorgen. Sie kommt zurück mit 6 Gläsern Roséwein. Grinsend stellt sie je 3 vor jedem vor uns ab und verkündet achselzuckend ihre Entschuldigung: "Der Wein war voll billig, nur 80 Cent das Glas – und schmeckt super!" Wir lehnen uns zurück, räkeln uns in der Gebirgssonne und beobachten Bergfinken und Spatzen, die auf Theke und Tischen herum hüpfen. Soviel Idylle ist kaum zu ertragen.

Zufällig belausche ich ein Gespräch von deutschen Pilgerkollegen, die neben uns mit Designer-Sonnenbrillen ins tiefste Himmelsblau starren. Sie kommt aus Stuttgart, trägt die edelsten Outdoor-Klamotten, die man aktuell erwerben kann, und meint in diesem Moment zu ihrem Tischnachbarn, den sie offenbar gestern kennen gelernt hat: "Ja, weißt Du, eigentlich könnte ich mir die teuersten Urlaube in 5-Sterne-Ressorts leisten, bin schließlich fast Millionärin. Vor zwei Jahren war ich im Riu Palace auf Gran Canaria. All dieser Suiten-Schnickschnack ist ab und zu ganz nett, aber in diesen 5-Sterne-Buden trifft man ja nur total langweilige Leute! Hier dagegen (dabei macht sie eine die Luft umarmende Bewegung) in diesen 5-Euro Herbergen am Camino, da kannst Du jeden Tag auf die interessantesten Typen treffen…" Ob sie damit auch ihr Gegenüber meint oder eher nicht, wird nicht ganz klar.

Beim Abendessen im einzigen richtigen Restaurant des Örtchens, das passender Weise "die Zuflucht" (El Refugio) heißt, meint Cayetana nach einem ihrer seltenen Momente längeren Nachdenkens: "Jetzt im Sommer ist es hier im Dorf ganz schön, aber im Winter, wenn alles im Schnee versinkt, müssen die Leute krass depressiv werden…" Ich stimme ihr zu und bin überzeugt, dass dieses entlegene Bergdorf ohne die massive Renaissance des Jakobswegs wahrscheinlich komplett ausgestorben wäre. Ringsumher kreisen die Gespräche der anderen Pilger um den steilen Aufstieg zum Eisenkreuz, der morgen alle erwartet. Die Bergetappe von Rabanal zur Cruz del Ferro gehört neben den Montes de Oca und dem Aufstieg nach La Faba/O Cebreiro zu den größten Herausforderungen des Camino. Wir fragen den Kellner, ob die morgige Etappe wirklich so schlimm sei. Er grinst nur und statt zu antworten verspricht er uns: "Die Aussicht ist jedenfalls der Hammer!"

Am 22. Juni um kurz vor 6 Uhr leuchten noch die Nachtlaternen im Bergdorf Rabanal, als der Himmel von Osten her schon heller wird. Diesmal haben wir es endlich nochmal geschafft, uns richtig früh auf den Weg zu machen und das wird auch nötig sein. Nicht weil die Tagesstrecke besonders lang wäre (nur 27 Kilometer), sondern weil es zunächst einen sehr steilen Aufstieg zum höchsten Punkt des Camino gibt und danach einen endlosen Abstieg.

Die gefürchteten wilden Hunde von Foncebadon werden uns nicht belästigen, aber kurz vor Sonnenaufgang hören wir kurz Wolfsgeheul. Doch bevor wir uns richtig gruseln können, steigt die Sonne mit Macht empor, vertreibt die Schatten und Geräusche der Nacht und durchflutet den Waldweg zum Gipfel mit Licht. Von der Anstrengung völlig verschwitzt, quälen wir uns die letzten Meter hinauf. Die Aussicht scheint in der Tat unendlich: unter uns ein rosa Teppich von Heidekraut und nach Norden blickend, bildet man sich ein, bis zum Meer sehen zu können.

Dann entdecken wir es: das kleine, einfache Kreuz, im Himmel über der längst aufgegangenen Sonne schwebend, befestigt an einem turmhohen Eichenmast. Und ihm zu Füßen türmen sich die unzähligen Wünsche der Pilgerscharen, die seit weit über tausend Jahren an diesem mythischen Ort einen Stein aus der Heimat nieder gelegt haben.



[zoom]

Ein gewaltiger Hügel ist so am mit 1531 Metern höchsten Punkt des Jakobswegs entstanden und jedes Jahr scheint er noch ein paar Zentimeter zu wachsen. Fast synchron greifen Cayetana und ich in die Seitentaschen unserer Rucksäcke und holen den von unseren Herkunftsorten mitgebrachten Stein hervor. Ich einen dunklen, unter einer alten Eiche in einem Stadtpark von Köln eingesammelten Stein, sie einen hell glitzernden Kieselstein, gefunden am Strand von Cádiz. Ich klettere bedächtig ein paar Schritte den Steinhügel hinauf und lege dann wie in Zeitlupe mein Mitbringsel ab. Cayetana wirft ihren Kiesel übermütig in einem hohen Bogen auf den höchsten Punkt des Hügels. Doch was bedeutet dieses seit Jahrhunderten praktizierte Ritual? In jedem dieser unzähligen Steine steckt ein Schicksal. Für die einen ist er nur das Symbol einer hier überwundenen Anstrengung, andere verbinden damit einen geheimen Wunsch, eine Bitte oder Danksagung. Viele haben auch in winziger Schrift Botschaften auf ihren Steinen hinterlassen oder den Namen des Herkunftsortes. Der Eichenpfahl ist bedeckt mit Wimpeln, Fahnen und anderen Symbolen.

Natürlich ist dies ein ganz besonderer Ort. Schon in vorchristlicher Zeit, im Römerreich legten Reisende hier bei Überquerung der Montes de León einen Tribut ab. Heute zeigt die neue, fast beängstigende Popularität des Jakobswegs hier ihre negativen Begleiteffekte. Rings um das magische Eisenkreuz campieren Imbisswagen und Kioske. Umgeben von solchem Zirkus fällt es schwer, sich auf eine mystische Meditation zu konzentrieren. Wir starren ein paar Momente in die Sonne und versuchen, intensiv um die Erfüllung eines geheimen Wunsches zu beten. Bis mich Cayetana am Ärmel zupft und flüstert, dass ihr der ganze Rummel und der Menschenauflauf am frühen Morgen zuviel wird. Wir marschieren weiter und fühlen uns irgendwie wirklich befreit nach dem Niederlegen des Steins – als ob der nicht ein paar Gramm, sondern ein paar Zentner gewogen hätte.

Bald sind wir wieder allein in den Montes de León unterwegs und berauschen uns an der Schönheit der Landschaft, die auf der westlichen Seite beim Abstieg immer üppiger wird. Verschwenderische Blütenpracht wohin man schaut. Und mittendrin immer wieder Mahnmale der Vergänglichkeit: hier ein weißes Kreuz mit dem Namen einer Pilgerin, die genau an dieser Stelle zu Tode gekommen ist: Eva. Dort ein Fahrrad mit Jakobsmuschel und Kreuz: ein Fahrradpilger, der daselbst tödlich gestürzt ist. An den Bergetappen häufen sich leider die Todesfälle auf dem Weg nach Santiago. Und Jerusalem ist weit: 5.000 Kilometer. Dafür rückt Santiago immer näher: nur noch 222 Kilometer. Der Abstieg gelingt uns keineswegs schneller als der Aufstieg, weil das Geröll auf den steilen Pilgerpfaden so gefährlich ist, dass man nur langsam und vorsichtig nach unten rutscht.

[zoom]
[zoom]

Plötzlich gleitet eine Schlange von der Böschung herunter und kreuzt vor uns den Weg. Blitzschnell greift Cayetana einen Stein vom Wegesrand und schleudert ihn mit aller Wucht auf die Schlange, dann einen zweiten. Das Symbol des Bösen zuckt noch ein paar Mal und bleibt dann zertrümmert und mit aufgerissenem Maul mitten auf dem Weg liegen. Genauer betrachtet hat die Schlange nicht gerade Furcht einflößende Dimensionen. "Eine Anakonda war das ja nicht", ist mein Kommentar. Aber Cayetana besteht darauf, dass es sich um eine gefährliche Giftschlange handelt. Adam und Eva können aufatmen. Nun ist die Schlange der Versuchung tot und wenn wir umher blicken, fühlen wir uns, als hätten wir das Paradies zurück erobert.

Cayetana fotografiert voll Stolz ihre tote Trophäe und lässt dann mit einem vorher nie bei ihr bemerkten Gesichtsausdruck den Blick über das weite Paradiestal des Bierzo schweifen.

[zoom]

Für einen Augenblick sieht sie aus wie die Jungfrau Maria, nachdem sie den Drachen der Apokalypse in den Abgrund gestoßen hat.

Blütenlawinen ergießen sich über jeden Berghang: mannshohe Erika in mattem Rosa, weißer und gelber Ginster, Zistrosen, Lilien, deren Namen wir nicht kennen. Wir erleben den Marsch durch diese Blütenpracht wie im Rausch und durchwandern heute beim Abstieg von den Montes de León die vielleicht schönste Landschaft des ganzen Camino. Und hinter diesen Bergen wird es endlich Sommer! Kein kalter Wind mehr, sondern kurz vor unserem Ziel springt das Thermometer erstmals über 30 Grad. Viel versprechend breitet sich das wunderhübsche Dorf Molinaseca vor uns aus.

[zoom]
[zoom]

Willkommen im kleinen Paradies des fast subtropischen Bierzo-Tals, das sich geschützt vor Sturm und Kälte zwischen den Gebirgszügen der Montes de León und des Kantabrischen Gebirges erstreckt. Wir schreiten über die mittelalterliche Brücke direkt in die zentrale Gasse des Ortes, wo sich Herbergen und Bars aneinander reihen und wir schnell ein Nachtlager finden.

In dieser Nacht träumt Cayetana von einer riesigen Anakonda. Die schlammverschmierte Schlange nähert sich ihr und als sie den Kopf hebt, bietet sie ihr mit dem Maul eine große, goldene Kette an.

[zoom]

Cayetana widersteht der Verlockung dieser glitzernden Gabe und schlägt mit ihrem Pilgerstab nach dem Kopf des Ungetüms. Darauf verschwindet die Anakonda blitzschnell und lässt die Kette fallen. An der Stelle blüht im Dunkel der Nacht eine weiße Lilie auf.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links: Etappe von Astorga nach Rabanal del Camino: 21,0 Kilometer
Etappe von Rabanal del Camino über Cruz del Ferro nach Molinaseca: 27 Kilometer

www.redalberguessantiago.com
www.ccbierzo.com
www.jcyl.es/

Unterkunft und Verpflegung:
Unterkunft in Rabanal del Camino: Private Pilgerherberge "El Pilar", Tel. 616-089942 Küche, Bar und Restaurant im Innenhof, Waschmaschine, Internet. Freundliche Aufnahme, preisgünstige Drinks. Übernachtung 5 Euro.

Verpflegung in Rabanal del Camino: Restaurant "El Refugio": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein) ab 12-14 Euro (z.B. Grüne Bohneneintopf, Kalbsfilet, Pudding).

Molinaseca: Private Pilgerherberge "Santa Marina", Hauptstraße am Ortsausgang Richtung Ponferrada, Tel. 987-453077 oder 653-375727: Waschmaschine und Trockner, Internet. Übernachtung 7 Euro.

Verpflegung in Molinaseca:  Restaurant "La Posada de Muriel": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein) ab 12 Euro (sehr lecker der Kuchen: Käsetorte und Schokotorte).

Kirchen:
Rabanal del Camino: Kapelle "Cristo de la Vera Cruz" am Ortseingang: 18. Jahrhundert, einfacher Baustil, trotz der Bauzeit nicht wirklich barock

Romanische Dorfkirche von Rabanal del Camino, 12. Jahrhundert (meist geschlossen)

Kirche San Nicolás in Molinaseca: klassizistisch, 18. Jahrhundert (meist geschlossen)

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Bolivien: Kartoffelvielfalt in den Anden
 
Wer in Deutschland im Supermarkt nach Kartoffeln sucht, der findet weichkochende und festkochende und insgesamt vielleicht vier, fünf verschiedene Sorten. Dabei gibt es in den Südamerikanischen Anden, der Heimat der Kartoffel, alles in allem über 5000 Sorten. Diese Vielfalt ist für die Bauern überlebenswichtig – und sie droht verloren zu gehen.


Mit einer schweren Hacke gräbt Don Demetrio sein kleines Kartoffelfeld um. Hier, in den bolivianischen Anden in Norte Potosí pfeift der Wind auf knapp 4000 Metern Höhe eisig durch die Ritzen in der Steinmauer, die den Acker eingrenzt. Kartoffeln sind das einzige Nahrungsmittel, das hier wächst.  Aber: "Dieses Jahr hat es sehr viel geregnet und die Hälfte der Knollen ist verfault. Wir haben nicht genügend geerntet, um welche verkaufen zu können", erzählt Don Demetrio etwas undeutlich – der 63-Jährige hat nur noch wenige Zähne. Sein ganzer Besitz ist ein halber Hektar Land, der, wenn es gut läuft, rund 2.000 Kilo Kartoffeln hervor bringt. Sie sind das gesamte Einkommen der siebenköpfigen Familie – und ihr Hauptnahrungsmittel. Und das wird in diesem Winter knapp: "Ich glaube, die Ernte reicht diesmal nicht einmal für unsere eigenen Mahlzeiten. Wir machen uns große Sorgen darüber, wie wir über den Winter kommen sollen. Wir brauchen Kartoffeln, die nicht so leicht verderben."

Solche Kartoffeln gibt es – in Bolivien gedeihen über 1.500 zum Teil sehr alte Sorten und irgendeine davon kommt immer mit dem gerade vorherrschenden, oft extremen Wetter klar. Peter Strack von der Hilfsorganisation terre des hommes nennt ein Beispiel: "Es gibt Kartoffeln, die besonders breite Blätter haben. Diese Kartoffelsorten gedeihen gut, wenn es besonders trocken ist, weil sie leichter Feuchtigkeit aufnehmen können. Andere wiederum verfügen über sehr kleine Blätter – die weniger anfällig für Hagel sind. Eigentlich gibt es für jede Situation eine angepasste Sorte. Was die Menschen hier früher traditionell gemacht haben, ist einfach möglichst viele unterschiedliche Kartoffelsorten anzubauen, so dass auf jeden Fall irgendetwas gedeiht." Doch selbst auf ländlichen Märkten sind inzwischen nur noch eine Handvoll Sorten zu finden. Die Überlebensstrategie, viele verschiedene Sorten anzubauen, ist verloren gegangen. Eine Folge der so genannten grünen Revolution, erklärt Peter Struck: "Man hat versucht, den Hunger in der Welt dadurch zu bekämpfen, dass man sich auf Hochleistungssorten spezialisiert, die besonders groß oder besonders marktgängig sind. Die holländische Kartoffel ist hier zum Beispiel eingeführt worden. Darüber sind die alten Sorten in Vergessenheit geraten."

Das Klima in den Anden war schon immer extrem: Trockenheit, Überschwemmungen, Kälte und Hagel wechseln einander ab. Diese Extreme haben sich durch den Klimawandel noch verstärkt. Wenn die Bauern nur eine Sorte anbauen, besteht die Gefahr, dass sie ihre gesamte Ernte verlieren und hungern müssen. Terre des hommes will deshalb gemeinsam mit Partnerorganisationen den Bauern das Wissen ihrer Ahnen um die Vielfalt der Kartoffeln zurück bringen. "Wir arbeiten in den Schulen, damit die Kinder lernen, wie wertvoll die Vielfalt ist. Sie geben dieses Wissen an ihre Eltern weiter", erläutert der Entwicklungshelfer die Strategie der Hilfsorganisation.


Auch Don Demetrios Enkelin nimmt an diesem Unterricht teil und ihr Großvater baut inzwischen mit 18 verschiedenen Kartoffelsorten eine viel größere Fülle an als noch vor ein paar Jahren. Um die Bauern zu motivieren, möglichst viele Sorten zu pflanzen, veranstaltet terre des hommes jedes Jahr einen Vielfältigkeitsmarkt mit einem kleinen Wettbewerb. Don Demetrio wird dort seine Ernte vorstellen. 85 Bauern aus vielen weit verstreut liegenden Andendörfern haben auf bunten Tüchern ihre verschiedenen Kartoffeln ausgelegt. Die Jury zählt 50 verschiedene Sorten. Der Gewinner kann auf stolze 38 davon verweisen.

Natürlich hätte Don Demetrio gerne gewonnen. Aber er ist trotzdem sehr zufrieden mit dem Tag. "Ich habe mit dem Sieger Saatgut getauscht und von ihm fünf neue Kartoffelsorten bekommen. Wenn das Wetter im nächsten Jahr wieder verrückt spielt, bin ich besser vorbereit." Durch den Tausch alter Sorten wächst die Vielfalt der Kartoffeln in Norte Potosí langsam wieder und damit auch der Schutz vor dem Hunger.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Pusisuyo

Fernsehtipp: Am Samstag, den 04.10.14 läuft um 16 Uhr in der ARD-Sendung "W wie Wissen" ein Film von Katharina Nickoleit und Christian Nusch zur Kartoffelvielfalt in den Anden.

Tipp: Katharina Nickoleit hat u.a. einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
ISBN: 978-3-89662-586-1
Seiten: 252
Verlag: Reise Know-How
4. aktualisierte Auflage 2014

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_1] Spanien: San Cristóbal de La Laguna
Europäische Stadt in Afrika als Modell für spanische Städte Amerikas

...die Stadt ist quadratisch, und ebenso lang wie breit. Es maß also (der Engel) die Stadt mit einem Stab aus Gold...
(Apokalypse 21,16)

[zoom]
[zoom]

Die erste spanische "Kolonialstadt"
Nach dem Fall Konstantinopels 1452 glaubten viele Christen in Europa, dass das letzte Zeitalter mit der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse auf Erden begonnen hätte. Viele einflussreiche Kleriker, vor allem Angehörige der Bettelorden, Dominikaner und Franziskaner, widmeten sich verstärkt dem Studium der Apokalypse des Johannes, in dem nicht nur diese letzte Schlacht, sondern auch das "Himmlische Jerusalem", die Stadt Gottes beschrieben wird, in die alle Geretteten nach dem Jüngsten Gericht einziehen werden.

Und es war ein katalanischer Franziskanermönch, Francesc Eiximenis aus Girona, der sich in seinem Werk "Regiment de la cosa publica" bei der Beschreibung einer Idealstadt direkt von der eingangs zitierten Vision in der Apokalypse inspirieren ließ. Dieses erstmals 1484 posthum publizierte Werk hatte großen Einfluss auf den Erzbischof von Toledo und späteren Regenten Kastiliens, Kardinal Cisneros – und durch ihn, den Beichtvater der Königin Isabella, auch auf die Katholischen Könige.

Nach der Eroberung von Granada und der Entdeckung Amerikas 1492 ließen sich die spanischen Könige bei der Frage, wie denn die neu zu gründenden Städte in ihren Überseeterritorien auszusehen hätten, in hohem Maß von den Angaben des Eiximenis zur christlichen "Idealstadt" leiten. Doch die erste neue Stadt, auf die diese neuen "quadratischen Vorstellungen" angewendet wurden, lag zwischen Europa und Amerika: die 1496 vom Eroberer Alonso Fernández de Lugo gegründete Hauptstadt der Kanarischen Inseln San Cristóbal de La Laguna.

Galerie

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]

[zoom]
[zoom]
[zoom]
[zoom]


Rundgang



Iglesia de la Concepción [zoom]
Kirchen, Paläste und ein Museum mit wandelndem Gespenst
Beginnen kann man eine Besichtigung dieser endgültig um 1500 nach einem von den Katholischen Königen autorisierten Plan systematisch entworfenen Modellstadt zum Beispiel mit der ältesten Kirche von La Laguna.

Die Iglesia de la Concepción wurde nach der Eroberung an der Stelle einer provisorischen Kapelle ab 1511 als Hallenkirche im Renaissancestil errichtet.

Der interessante Glockenturm, der isoliert neben der Kirche steht, wurde erst im 18. Jahrhundert vollendet und dann zum Wahrzeichen der Stadt.

Er ist sieben Stockwerke hoch und ein originelles Detail stellt die offene Turmhaube dar. Innen sind besonders die kunstvoll ornamentierten Holzdecken und das Chorgestühl aus Zedernholz sehenswert.


Glockenturm, Iglesia de la Concepción [zoom]


Und es ist ein aufregendes Gefühl, sich vorzustellen, dass in diesem Tempel schon die spanischen Konquistadoren niederknieten zum Lob des Allmächtigen, vor dem sie für das gute Gelingen beim Bau der Hauptstadt der "glückseligen Inseln" beteten – und neben ihnen lernten die missionierten Guanchen ihre ersten Gebete in Latein – sofern sie nicht auf dem Sklavenmarkt von Sevilla verkauft worden waren.

Aus Sevilla kamen auch viele der neuen Siedler und die Kunsthandwerker, die in den Kirchen von La Laguna die wunderbaren, mit bunten Ornamenten und maurischen Sternenmustern versehenen Holzdecken im Mudéjarstil anbrachten. Dabei gehören die Deckentäfelungen der Iglesia de la Concepción zu den schönsten auf Teneriffa.

Übertroffen werden sie vielleicht vom Mudéjar-Dachstuhl in der Kirche Nuestra Señora de los Dolores, die sich neben der Ruine des Klosters San Agustín befindet, das 1972 ausgebrannt ist. Ein sechzehnstrahliger Stern schmückt dort den Querbalken der prächtigen Deckenkonstruktion, die sich über dem vergoldeten Hauptaltar wölbt.
Nuestra Señora de los Dolores [zoom]

In der Harmonie der Proportionen übertreffen diese beiden Kirchen vielleicht die der "Virgen de Los Remedios" geweihten Kathedrale von La Laguna, der man die lange Bauzeit und die gewagte Stilkombination ansieht. Zunächst entstand hier 1511 eine Kapelle, erst im 17. Jahrhundert wurde sie durch eine deutlich größere Barockkirche ersetzt, die wiederum Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts erweitert und durchgängig im klassizistischen Stil umgestaltet wurde. Offiziell zur Kathedrale erhoben wurde dieser Tempel erst 1819 und die heutige Fassade wurde 1825 vollendet. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Hauptschiff nochmals verändert. Dabei setzte man ein damals neues Material ein: Beton. Von außen präsentiert sich der Bau mit der schönen Kuppel erstaunlich einheitlich.

In der Kirche Santo Domingo dagegen ziehen die modernen, im 20. Jahrhundert von Mariano Cossío gemalten, Fresken durch ihre Größe und auffälligen Farben alle Aufmerksamkeit auf sich – und lenken doch sehr ab von den alten Kunstwerken der Barockepoche, deren Skulpturen sich rund um den Altarraum konzentrieren.

[zoom] Santo Domingo
Glockenturm, Santo Domingo [zoom]


Beim Gang durch die schönen Straßen des UNESCO-Weltkulturerbes La Laguna kommt man vorbei an zahlreichen Palästen aus dem 16. - 18. Jahrhundert, die sich mit Vorliebe in sonnengelb oder atlantikblau präsentieren. Einer dieser Paläste, die 1593 erbaute Casa Lercaro, hat ein ereignisreiches Innenleben. Damit ist nicht das Museum der Geschichte Teneriffas gemeint, sondern das Gespenst der Catalina Lercaro, die in den Räumen des Palasts herum geistert – so schwören jedenfalls die verängstigten Angestellten des Museums.

Die schöne, unglückliche Catalina wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts gegen ihren Willen gezwungen, einen reichen Mann zu heiraten, der so alt war wie ihr Vater. Noch in der Hochzeitsnacht stürzte sie sich in den tiefen Brunnen im Patio, wo sie zu Tode kam.


Palastfarben: Sonnengelb und Atlantikblau [zoom]


Die Kirche verweigerte wegen des Selbstmords ein normales Friedhofs-Begräbnis, und so wurde die Unglückliche im Innenhof begraben. Seitdem wandelt ihr Geist durch die Säle des Museums, was immerhin die Besucherzahlen etwas steigen lässt. Immer wieder berichten die Angestellten, dass sich die Türen von selbst öffnen oder schließen und Schritte zu hören sind in Räumen, wo sich niemand aufhält...

Ein Schachbrett als Stadtplan
Von außen sieht der Geisterpalast Lercaro aber eher unscheinbar aus. La Laguna hat kein wirklich herausragendes Einzelmonument, es ist das harmonische Gesamtbild, das bezaubert.

Die UNESCO hat deshalb vollkommen richtig entschieden, nicht ein Bauwerk, sondern gleich die gesamte koloniale Altstadt, die erst 1843 die Hauptstadtwürde der Kanaren an Santa Cruz abgeben musste, zum Weltkulturerbe zu erklären. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass La Laguna die erste der vielen spanischen Städte in Übersee war, die planmäßig im Schachbrettmuster angelegt worden war – noch vor Santo Domingo, Lima oder Bogotá.


UNESCO-Weltkulturerbe [zoom]

Obwohl hier nicht jede Straße exakt gerade ist, ist die Grundform der Altstadt in der Tat ein Quadrat aus Quadraten, das auf einer Karte wie ein Schachbrett aussieht. Diese Form geht natürlich nicht nur zurück auf die Worte der Apokalypse und die Vorstellungen des Franziskaners Eiximenis. Es gab viele Einflüsse, die hier zusammen kamen: die Beschreibungen des "Vaters der Architektur", des römischen Architekten Vitruv, der während der Renaissance wieder entdeckt wurde, die bildgewordene Idealstadt, wie sie auf einigen einflussreichen Renaissance-Gemälden mit geraden Linien und quadratischen Stadtvierteln dargestellt wird – z. B. auf einem Werk des berühmten Piero della Francesca. Und es gab ein ganz praktisches Vorbild für La Laguna: das von den Katholischen Königen während der Belagerung von Granada zunächst nur als Feldlager 1491 errichtete Santa Fe. Nach einem Brand in diesem riesigen Heerlager wurden dort vor den Toren Granadas statt der Zelte Häuser aus Lehmmauern gebaut, wobei das ganze Areal in Quadrate unterteilt wurde.

Plaza Iglesia de la Concepción [zoom]
Inmaculada [zoom]

Bei der Planung von La Laguna war aber nicht die erstaunlich konsequent ausgeführte Schachbrettform die eigentliche Sensation, sondern die Tatsache, dass diese neue Hauptstadt einer Insel keine Hafenstadt war. Erbaut in ca. 550 Metern Höhe und 14 Kilometer vom Meer entfernt, konnte man auf Stadtmauern und militärische Bollwerke verzichten.

Dies machte La Laguna – zusammen mit der zeitgleich von Kardinal Cisneros gegründeten Universitätsstadt Alcalá de Henares – zur ersten modernen Stadt überhaupt: zu einer "Friedensstadt" ohne mittelalterliche Mauern. Es waren natürlich nicht nur edle Motive, von denen die Eroberer zu solch revolutionärer Stadtplanung gebracht wurden, sondern auch verwaltungstechnische: die geraden, geordneten Formen ermöglichten eine bessere Kontrolle und Überwachung.


Plaza de la Catedral [zoom]


Außerdem sollten sie den Besiegten (ebenso auf den Kanaren wie wenig später in Amerika) die neue geistige Weltordnung vorführen. Denn am zentralen Platz, dem größten aller Quadrate (manchmal war es allerdings ein Rechteck), lag die Kathedrale und gegenüber meist der Palast des Gouverneurs bzw. Vizekönigs.

So ist es auf der Plaza Mayor von Mexiko, Lima und Bogotá. In La Laguna allerdings waren weltliche und kirchliche Macht auf zwei Plätze verteilt: die Plaza del Adelantado, wo bis 1525 der erste Gouverneur Alonso de Lugo residierte, und die Plaza de la Concepción, auf dem die erste Hauptkirche erbaut wurde, später abgelöst durch den Kathedralsplatz.


La Catedral [zoom]


Der Lebensbaum des Paradieses
Doch nicht nur funktionale Überlegungen spielten eine Rolle bei der Planung und dem Aufbau von La Laguna. Viele der neuen Siedler aus Spanien glaubten, hier das irdische Paradies gefunden zu haben. Dabei kamen wohl viele Mythen zusammen. Die wenigen, die philosophische Schriften gelesen hatten, waren vielleicht überzeugt, hier die Überreste des schon von Platon (Timaios 25) beschriebenen Atlantis wieder gefunden zu haben. Andere erinnerten sich an Prophezeiungen von Propheten des Alten Testaments (z.B. Esdras), die ein paradiesisches Land der Zuflucht im Westen jenseits des Meeres versprachen.

Straßen... [zoom]
...im Zentrum [zoom]

Auf dem berühmten, zwischen 1503 und 1515 entstandenen Gemälde von Hieronymus Bosch, dem "Garten der Lüste", der das (irdische) Paradies darstellt, ist auf dem linken Flügel des Triptychons zwischen vielen exotischen Phantasiewesen ganz deutlich ein kanarischer Drachenbaum zu erkennen. Sicher auch beeinflusst durch die Haltung der Ureinwohner, die dem Drachenbaum (und seinem "Blut") heilende und magische Kräfte zuschrieben, glaubten einige der spanischen Einwanderer, in diesem spektakulären Gewächs, das so ganz anders aussieht als alle Bäume, die man in Europa kannte (es ist ja eigentlich auch kein Baum, sondern botanisch gesehen ein gigantisches Liliengewächs), den heilenden Lebensbaum zu erkennen, der ebenfalls in der Apokalypse des Johannes bei der Beschreibung des Paradieses erwähnt wird.

Drago [zoom]
...der Drachenbaum [zoom]

Und tatsächlich befindet sich auf dem Platz vor der Kathedrale von La Laguna, ebenso wie auf der Plaza del Adelantado und anderen Plätzen der kanarischen Kulturhauptstadt ein Exemplar dieses exotischen "Lebensbaumes" – wie in der Apokalypse des Johannes für das Himmlische Jerusalem bezeugt:
"Inmitten des Platzes der Stadt war der Baum des Lebens ... und die Blätter des Baumes heilen die Menschen..." (Apokalypse 22,2)

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg / Dirk Klaiber



Literaturempfehlung:
María Isabel Navarro Segura
"Las fundaciones de ciudades y el pensamiento urbanístico hispano en le era del descubrimiento", in: Scripta Nova
REVISTA ELECTRÓNICA DE GEOGRAFÍA Y CIENCIAS SOCIALES
Universidad de Barcelona.
ISSN: 1138-9788, Depósito Legal: B. 21.741-98, Vol. X, núm. 218 (43), 1 de agosto de 2006
http://www.ub.es/geocrit/sn/sn-218-43.htm

Die Website der Stadtverwaltung von San Cristóbal de La Laguna:
http://www.aytolalaguna.com/

La Laguna in wikipedia:
http://es.wikipedia.org/wiki/San_Crist%C3%B3bal_de_La_Laguna

Platon: "Timaios" 25
Die Heilige Schrift: Apokalypse 21 - 22

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Peru: Sechín und die Schrecken einer Schlacht

Eines der eindrucksvollsten Monumente peruanischer Geschichte ist gleichzeitig das älteste: der Tempel von Sechín, der vor den Toren der kleinen und wenig aufregenden Stadt Casma liegt. Abgesehen von den vielen Baumwollfeldern rund um Casma gibt es dort wenig zu sehen und doch beherbergt die Umgebung ein wahres Geheimnis. Ein Geheimnis, das im Gegensatz zu anderen historischen Monumenten schwer zu entdecken war und gerade mal den Einheimischen unter dem Namen la huaca del indio bravo (Der Tempel des tapferen Indios) bekannt war.

Der Tempel, den er ausgrub und der heute aufgrund fehlender Mittel und zu seiner Erhaltung teilweise wieder eingegraben wurde, datiert um 1500 v. Chr, die ältesten Teile sogar um 1800 v. Chr., andere um 1400 v. Chr. Sicher ist, dass es sich um eine der ältesten Strukturen handelt, die auf dem südamerikanischen Kontinent gefunden wurde.

Zur Besichtigung der Anlage wird der Besucher über eine Treppe in die Höhe geschickt und kann so den Tempel von oben betrachten. Das große Erdbeben von 1970, das vor allem das enge Tal von Huaylas erschütterte und dort viele tausend Menschen tötete, ließ auch den Hügel, den wir jetzt mühsam in der morgendlichen Hitze erklimmen über den Ruinen zusammenbrechen, der diese unter sich begrub. Doch zu dieser Zeit besaß der Ort bereits eine so große Bedeutung, dass umgehend Gelder aus dem Rettungsfond freigemacht und dem Projekt zugeführt wurden. Von oben sieht man sehr schön die U-Form der ältesten peruanischen Tempel. Allerdings sieht man auch wenig mehr. Die grau-sandigfarbenen Ruinen heben sich kaum von der Umgebung ab und sind auf den ersten Blick wenig spektakulär.

Das ändert sich allerdings, wenn man dem Rundgang folgend an der Ruine selbst ankommt. Die äußere Mauer des Tempels ist nämlich mit Bildern einer furchtbaren Schlacht übersäht. Zwei Heere scheinen von links und rechts des Haupttors aufeinander zu prallen und sich dabei grausam zu bekriegen. Die geschminkten Gesichter einiger Krieger, ihr langer, spitz zulaufender Daumennagel, ihre Kleidung wirken fremdartig, beinahe außerirdisch und Angst einflößend. Ihre Gesichtszüge erscheinen so hart wie der Stein, in den sie graviert sind. Sie wirken entschlossen, brutal und scheinen kein Mitleid zu kennen. Unaufhaltsam marschieren sie weiter mit gefletschten Zähnen, trotz dem, was um sie herum geschieht.

Zwischen diesen wenigen Kriegern oder Priestern liegen Hunderte von toten Menschen. Zumeist nur deren Köpfe, aus denen Blut wie Wasser fließt, die an einer Stelle des Reliefs zu einem Haufen aufgeschichtet sind und alle mit demselben traurigen Gesichtsausdruck der Verwesung überlassen wurden.

Am unteren Ende der Mauern findet man bei genauer Betrachtung andere grausige Details: Innereien, Knochen, Augen, ein Rückrad. Ein besonders schauriges Bild zeigt einen Menschen, dem statt eines Unterleibes die Gedärme aus dem Körper hängen. Sein Gesicht spricht von dem Schrecken seines Schmerzes und von dem Leid, was er durchleben muss. Man weiß nicht recht, ob der Mensch noch lebt oder ob er gerade in Agonie stirbt, aber man kann erahnen, was er Furchtbares durchlebt und es bleibt einem nur, den Blick vor soviel Leid abzuwenden. Die Bedeutung dieser Bilder ist nach wie vor unklar. Sicherlich ist es kein Denkmal für die Schrecken des Krieges, so wie es etwa das Bild "Guernica" von Picasso ist. Hier wird lediglich in brutaler Weise verdeutlicht, was bei einer Schlacht übrigbleibt. Allerdings werden auch die damaligen Stammesführer wenig darauf geachtet haben.

Ein paar kuriose Details seien hier noch vermerkt. Außer den "Priesterkriegern" gibt es nur geschlachtete menschliche Körper. Einfache und noch lebende Soldaten sind nicht zu sehen. Ebenso sind es in großer Mehrzahl abgeschlagene Köpfe, die hier in den Stein eingraviert wurden. Körper findet man fast gar nicht, Beine und Arme dagegen etwas häufiger.

Von dem Tempel kann man heute nur die Außenmauern mit den schrecklichen und rätselhaften Abbildungen der Schlacht besuchen. In seinem Innern befinden sich noch zwei ältere Gebäude aus konisch geformten Lehmziegeln, die von außen bemalt sind.

Die schönsten Malereien sind gesichert und wieder mit Sand bedeckt worden, da das Geld fehlt, um sie auf andere Art und Weise zu erhalten. Die mangelhafte Finanzierung ist auch der Grund dafür, dass das Innere des Tempels nicht besucht werden kann. Reproduktionen der herrlich farbenfrohen Fresken sind jedoch im Museum vor Ort zu sehen.

Aus den Abbildungen des Reliefs hat der deutsche Archäologe Henning Bischof einen Meereskult abgeleitet. Er stützt sich dabei auch auf die Aussagen eines Schamanen, von denen J.C. Tello im Jahre 1923 berichtet.

Da das Klima in Sechín selber äußerst trocken ist, liefern die Flüsse, wenn es im Hochland nicht regnet, kein Wasser. Niederschläge an der Küste sind so selten, dass Oberlichter in Häusern häufig nicht mit Glas, sondern mit einem Moskitonetz verschlossen sind. Also suchte besagter Schamane, um den Gott Wari um Regen zu bitten, eine Stelle, wo das Meer besonders wild war. Dort, wo das Wasser schaumig gegen die Felsen schlug, füllte er einen Behälter mit Meerwasser. Mit diesem Behälter stieg er nun in die Berge, brüllend wie eine Raubkatze und hier und da einige Spritzer von dem Wasser vergießend, von dem er an jeder Quelle, die er passierte, eine kleine Menge hinterließ.

Sobald der Schamane an dem See ankam, an dem Wari wohnt, versenkte er den Krug langsam in dessen Wasser, bis diesem schwarze Wolken entstiegen. Diese zeigten das drohende Unwetter an, das die neue Regenzeit einläutete und den erhofften Regen bringen würde.

Interessant ist auch eine vergleichende Arbeit des Peruaners Fernando Llosa Porras, der die Funde von Sechín mit denen in China in Verbindung setzt. Er will Ähnlichkeiten mit dem I-Ching festgestellt haben und in einigen Bildern alte chinesische Sagengestalten wieder erkennen.

Beeindruckt vom Gesehenen laufen wir die Straße an Feldern entlang zurück. An einem Baum sehen wir einen "Blumenstecher", wie wörtlich übersetzt die Kolibris in Peru heißen. Auf dem Feld arbeiten Bauern. Dank der uralten Bewässerungssysteme, die eine Art Markenzeichen aller peruanischen Kulturen sind, und der tropischen Temperaturen wächst hier beinahe alles.

Trotz der angenehmen Umgebung, den herrlichen Wassermelonen, die wir unterwegs kaufen, bleiben wir nachdenklich. Die verstümmelten Gestalten schwirren weiter in unseren Köpfen herum und irgendwie will die Hoffnung nicht weichen, dass es auch schon vor 3500 Jahren Menschen gegeben hat, die den Krieg verdammten.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]






[kol_1] Helden Brasiliens: Brasilien am Scheideweg
Kommt Marina oder bleibt Dilma?

Der Oktober wird ein richtungweisender Monat für Brasilien. Am 5. Oktober stellt sich die bisherige Staatspräsidentin Dilma Rousseff zur Wiederwahl. Doch die Herausforderin Marina Silva ist ihr in den letzten Monaten bedrohlich nahe gekommen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen bahnt sich an.

Marina Silva war einst Umweltministerin unter Dilmas Vorgänger Lula da Silva. Doch mit Dilma hat sie sich damals schon nicht gut verstanden. Je mehr Macht Lulas rechte Hand in der Regierung auf sich zog, desto größer wurden die Meinungsverschiedenheiten mit Marina Silva.

Schließlich warf Marina Silva das Handtuch, verabschiedete sich aus Lulas Regierung und der Arbeiterpartei PT, der sie seit den 80er Jahren angehörte. Bei den Wahlen 2010 kandidierte sie für die Grüne Partei PV, mit der sie auf Anhieb 20% der Stimmen gewann. Doch auch sie konnte nicht verhindern, dass Lulas Wunschkandidatin Dilma zur Präsidentin gekürt wurde.

In den letzten Jahren widmete sich Marina Silva der Gründung ihrer eigenen Partei REDE, dem "Netzwerk Nachhaltigkeit". Die Welt und Brasilien im Besonderen seien bereit für einen neuen Entwicklungsschritt hin zu mehr Nachhaltigkeit und einem vernünftigen Umgang mit der Natur.

Doch der "Rede" wurde die Zulassung zu den Wahlen 2014 verweigert, die Behörden sprachen von Formfehlern. Kurz entschlossen trat Marina Silva als Vize-Kandidatin an der Seite des eher unbekannten Eduardo Campos an. Dessen Tod bei einem Flugzeugabsturz im August katapultierte sie jedoch in den Spitzenkandidatensessel.

Nachdem erste Umfragen sie plötzlich sogar vor Dilma Rousseff sahen, sorgte eine breit angelegte Schlammkampagne gegen Silva dafür, dass sie in Umfragen mehr als 10% verlor. Doch sollte im ersten Wahlgang niemand über 50% erlangen, und danach sieht es aus, kämen die beiden Damen in die Stichwahl am 26. Oktober. Und das würde Marinas Chancen beträchtlich verbessern.

Marina Silva will der dritte Weg sein, weg vom Grabenkampf zwischen der Arbeiterpartei PT und der stärksten Oppositionskraft, der PSDB. Von beiden will sie die "guten Programmpunkte" übernehmen, mit Politikern beider Lager auch zusammen arbeiten. Schluss müsse sein mit dem alten Links-Rechts-Denken, so Silva, Brasilien müsse endlich im 21. Jahrhundert ankommen.

Damit greift sie das Anliegen der Protestbewegung des letzten Sommers auf. Millionen Brasilianer sprachen sich für einen Neuanfang in Brasiliens Politik aus, auf die alten und verbrauchten Kräfte wollten sie nicht mehr setzen. "Der Gigant sei endlich erwacht", riefen sie. Doch die Massenbewegung von damals ist längst Geschichte, Proteste gibt es keine mehr. Trotz zuletzt schlechter Wirtschaftsdaten.


Dilma Rousseffs PT wirkt ideenlos, ausgelaugt nach 12 Jahren an der Macht. Es wäre wohl gut, wenn mal jemand anders dran käme, und zwar jemand, der nicht tief im verfilzten Parteiensumpf feststeckt. Ob die Mehrheit der Brasilianer das genau so sieht, wird der Oktober zeigen. Erwacht der Gigant ein weiteres Mal?

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_2] Traubiges: Zwei Meisterwerke in einem
Niepoort Fabelhaft ‚Maueredition’ 2012
 
Vielleicht ist es noch ein bisschen früh, um auf das Mauerfall-Jubiläum am 9. November hinzuweisen. Aber da sich dieses einzigartige Erlebnis der deutschen Geschichte dann zum 25. Mal jährt, kann man es eigentlich gar nicht früh genug ankündigen. Denn in diesem Jahr handelt es sich dabei um ein wahrhaft fabelhaftes Jubiläum.

Fabelhaft, weil Dirk van der Niepoort, einer der umtriebigsten und experimentierfreudigsten Winzer Portugals, extra dafür eine Sonderedition aufgelegt hat. Niepoort ist eine so schillernde Figur in der internationalen Weinwelt, dass sich ein kurzer Blick ins Internet lohnt: Da heißt es, dass er Ende der 1980er Jahre in fünfter Generation begann, das bald 200 Jahre alte Traditionshaus (bis dahin eines der kleinsten, aber feinsten Portweinhäuser Portugals) mitzuführen. Die Erfahrungen seiner vorherigen Lehr- und Wanderjahre in vielen Teilen der Welt seien die Basis für den innovativen und unkonventionellen Weinstil, den er dort fortan umgesetzt hat.

Fakt ist, dass er schon bald zu einem der erfolgreichsten Winzer des Landes wurde: „Niepoort räumt nicht nur beim Port auf, er produziert wohl auch Portugals beste Tischweine“, schrieb die Fachpresse schon vor zehn Jahren. Mit seinem Debütjahrgang der ‚Fabelhaft’-Serie trat Dirk van der Niepoort zudem den Beweis an, dass er das komplette Repertoire vom preislich kleinen Einstiegswein bis hin zur raren Spitzen-Cuvée beherrscht. Heute bietet kaum ein anderer Weinmacher Jahr für Jahr eine solch umfassende Produktpalette an. Der „Wine Spectator“ verglich die Rolle von Niepoort einmal mit der des Champagnerhauses Krug: klein, aber fein, von einer Qualität, wie sie nur wenige Produzenten erzeugen.

Aber genug der Lorbeeren – hier geht es um Wein, genauer gesagt um die Niepoort Fabelhaft ‚Maueredition’ 2012: Die Trauben für dieses geschmeidige Gewächs wurden im September 2012 von ihren zehn bis vierzig Jahre alten Reben von Hand gelesen, in Edelstahltanks und in Barrique-Fässern aus französischer Eiche vergoren und 25 Prozent des Weines wurden zur Reifung in gebrauchte Barriques (500 Liter-Fässer und 3000 Liter-Holzfuder) gelegt.

Das Ergebnis ist absolut bemerkenswert: Niepoort ist ein hervorragender Wein gelungen, der die Komplexität, die Mineralik und die Tiefe der klassischen Gewächse aus dem Douro-Tal (gleich drei autochthone Rebsorten) spiegelt. Der Wein lockt mit einem tiefdunklen Purpur im Glas, in der Nase dominieren florale Nuancen und eine schöne Prise Pfeffer. Auch am Gaumen zeigt diese kultige Cuvée ihre Stärken: sanfte, gut integrierte Tannine und spannende Fruchtaromen von dunkler Kirsche über Schokolade bis hin zu Anklängen an Kräutern, das Ganze ausbalanciert mit einer feinen Säure. Die Zeit im Holz gibt dem Wein Struktur und verleiht ihm eine angenehm elegante Note. Der Nachhall ist prägnant, frisch – und macht vor allem Lust auf mehr!

Das ist aber noch nicht alles – denn was diesen Wein außerdem so besonders macht, ist sein Etikett. Niepoort hat einen Grafiker den historischen Moment des Mauerfalls meisterlich inszenieren lassen: Mit berühmten Mauerbildern wie dem „Bruderkuss“ zwischen Honecker und Breschnew oder dem Trabi, der die Berliner Mauer durchbricht, ehrt er dieses einzigartige Ereignis in der deutschen Geschichte.

Ein Wein, der Geschichte schreibt!

Text + Foto: Lars Borchert

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika.

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges]





[kol_3] Hopfiges: Montseny NEGRA aus Katalonien
Irischmundendes Beisamensein
 
Konfrontiert mit der Frage, wann ich gedenke weitere bezaubernde, eigene Kinder um mich zu scharen, hab ich mir einfach mal so meinen alten müden Samen betrachtet.

Bislang hatte ich immer das Bild des unruhig agilen Gewusels im Sinn, das einmal losgelassen ohne Rücksicht auf Verluste vorprescht, dabei schnell auseinander bricht und sich verliert in zunächst unzählige Einzelkämpfer, von denen letztendlich nur einem einzigen der Akt der Vereinigung mit fruchtbaren Folgen gegönnt ist.

Dieses Bild mag auch durchaus vor langer Zeit Gültigkeit gehabt haben; mit dem Szenario, dass sich mir heute (45) bietet, hat es jedoch rein gar nichts mehr gemein.



Statt wie aus der Pistole geschossen, los zu eilen, mühen sich die Winzlinge wie bei der Tour de France auf den letzten Metern am Mont Ventoux in den provenzalischen Alpen. Das Feld ist weit auseinander gezogen und nur die unentwegt Asthmaspray inhalierenden sehen noch halbwegs spritzig aus. Die erste Verfolgergruppe leidet an Sodbrennen, dann keuchen die kurzatmigen heran. Schlusslicht bilden die an Rücken, Knie und Achillesferse lädierten, Seite an Seite mit den mit Defibrillator und Morphium ausgestatteten Hypochondern.

Schenken wir die Aufmerksamkeit den gedopten Samen. Den Übergang in die weibliche Welt schaffen sie noch reibungslos und streben scheinbar konzentriert dem Ziel entgegen. Aus den Augenwinkeln heraus bemerken sie dann links und rechts der Bahn Hinweisschilder, wie sie sich auf der Strecke zu benehmen haben. Nicht mit den Fingern knacken, nicht schmatzen, zuhören etc. Dann die erste Verpflegungsstation. Der schwarze Stärkungstrunk riecht lecker und schmeckt. Ein zweites Glas kann nicht schaden, denn der Weg ist unbekannt, die Entfernung nicht abschätzbar. Der erste wagt eine Anspielung auf die Gebote am Wegesrand. Man verquatscht sich, labt sich und fühlt sich irgendwie wohl unter Gleichgesinnten, die schon seit Jahren nicht mehr unter dem rastlosen Druck der Fortpflanzungs-Geisel leiden.

Wer verkostet denn da? Plötzlich entdecke ich mich inmitten der Vorhut. Ich lass mir gerade zum Glas die Flasche zeigen. Ah, ein Bier aus dem Hause Montseny in Katalonien namens La Negra. Ich bin gespannt. Gereicht wird das 5,2% vol. starke Schwarze in 0,33 Liter Flaschen. Ein Stout Ale in Anlehnung an die irische Brautradition mit vier Getreidesorten: Gerste, Weizen, Hafer, Roggen. Nahrhaft und belebend entnehme ich dem Etikett. – Das macht Sinn für die Jungs, die noch Großes vor haben.

La Negra erweist sich als eine echte Versuchung vor der Versuchung. So dunkel, dass kein Lichtstrahl hindurchscheint und fest in der Schaumbildung zeigt es im Glas sein beeindruckendes Äußeres. Dabei versprüht das Bier aus Montseny einen dezent süßlich bitteren Geruch. Schon mit dem ersten Schluck bin ich verfallen. Sehr angenehm. Sehr bitter. Dann süffig. Die ausgeprägten Röstaromen rasen die Kehle hinunter, ohne auch nur den Hauch eines unangenehmen malzigen Nachgeschmacks zu hinterlassen. Ein Bier, das ich ab sofort zum ständigen Urlaubs-Begleiter erkläre.

Bewertung Montseny NEGRA

1. Hang over Faktor
(4 = kein Kopfschmerz):
2. Wohlfühlfaktor (Hängematte)
(4 = Sauwohl):
3. Etikett/Layout/Flaschenform
(4 = zum Reinbeißen):
4. Tageszeit Unabhängigkeit
(4 = 26 Stunden am Tag):
5. Völkerverständigung
(4 = Verhandlungssicher):

Text + Foto: Dirk Klaiber

P.S.: Vielleicht hat ja beim irischmundenden Beisamensein doch noch der ein oder andere Samen den Absprung geschafft oder wird gar zu fruchtigen Überraschungen beitragen. Falls nicht, bin ich sicher, dass es beim nächsten Mal mit ein wenig Unterstützung von Cuba Libre klappen sollte.


[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





[kol_4] Lauschrausch: Bruno Böhmer Camacho Trio
The Columbian Project
 
Vom jahrzehntelangen Bürgerkrieg gezeichnet, hierzulande vor allem wegen Drogendelikten bekannt, hat sich in Kolumbien trotz allem eine lebendige Musikszene erhalten, die sich seit einigen Jahren, nachdem die Konflikte stark abgenommen haben, in den Städten auch wieder internationalisiert. Die traditionellen Genres werden von ausländischen DJs und Musikern, wie z.B. Quantic, gemeinsam mit jungen Musikern oder alten Stars modernisiert. Nicht zuletzt Dank des internationalen Erfolgs der cumbia, beschleunigt durch international tätige DJs und das Internet, verändert sich die Musiklandschaft.

The Columbian Project
Bruno Böhmer Camacho Trio
Sony Classical (Sony Music)

Der seit einigen Jahren in Deutschland lebende deutsch-kolumbianische Jazzpianist Bruno Böhmer Camacho hat mit seinem Trio und Gästen nun auch ein solches "aus alt mach neu"-Projekt auf die Beine gestellt. Das Album führt in seine Kindheit zurück, zu seinen Wurzeln in Kolumbien. Stücke wie die Eigenkompositionen "El gallo mañanero" (der morgendliche Hahnenruf), wo sich jazzige Passagen und Camachos angenehmer Gesang mit dem fröhlichen porro-Rhythmus der Nordküste mischen, der früher auf indigenen Instrumenten interpretiert wurde, oder "Recuerdos de un pueblito" (Erinnerungen an ein Dörfchen), bei dem Latin-Jazz auf den joropo trifft, schildern das einfache Leben auf dem Land; auch wenn Camacho in der Millionenstadt Barranquilla aufgewachsen ist. Mit seinen ebenfalls in Deutschland lebenden Landsmännern Juan Camillo Villa (Bass) und Rodrigo Villalón (Schlagzeug) fühlt sich der Pianist in weitere folkloristische Stile ein, wenn er eine traditionelle cumbia entschleunigt ("El pescador") oder sich der Hymne des Karnevals in Barranquilla widmet ("Te olvidé"), die im fröhlichen chandé-Rhythmus daherkommt, einer Fusion aus indianischen und afrikanischen Rhythmen. Im son-vallenato "Lloraré", den Camacho vom Akkordeon auf das Piano umarrangiert hat, ähnelt sein Spiel dem von Gonzalo Rubalcaba.

Neben seinen eigenen und traditionellen Stücken interpretiert Camacho auf "The Columbian Project" auch drei Kompositionen seines Großvaters, Angel Maria Camacho, einem erfolgreichen kolumbianischen Komponisten: Der flotte pasillo "Inquietudes" ruft Erinnerungen an Mozarts "Kleine Nachtmusik" wach und an Eugen Ciceros Stil; in "Agua Panela" hat der Großvater ein gleichnamiges Erfrischungsgetränk aus Zuckerrohrsaft fröhlich in Szene gesetzt, ein Höhepunkt des Albums nicht zuletzt wegen des genialen Spiels des kolumbianischen Ausnahmeharfisten Edmar Castañeda; der Walzer "Hortensia" dagegen klingt wegen des Gesangs leider ein wenig kitschig. Überhaupt, wo soviel Licht ist, gibt es natürlich auch ein wenig Schatten: in "El pescador" steigert sich das im Waschzettel "anmutig" genannte Klarinettenspiel von David Orlowsky bis zur vierten Minute in ein schmerzhaftes Gekreische, das sehr deutlich die Entbehrungen der Fischer vertont, um deren einfaches Leben es hier geht. Und das Gesangsstück "Camino a casa" ist für meinen Geschmack eine kitschige Pop-Jazz-Ballade, die auch vom puertorikanisch-mexikanischen Schnulzensänger Luis Miguel stammen könnte (abgeschwächt gilt das auch für "Sin principio y sin final").

Aber dass ein melancholischer Song nicht kitschig klingen muss, beweist uns Camacho mit "El camino de la vida", einem traditionellen Walzer, in dem er von Juan David Restrepo genial auf der tiple (kolumbianische Akustikgitarre) begeleitet wird - ein weiterer Höhepunkt des Albums.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 10/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





.