ed 07/2010 : caiman.de

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special: Diego Maradona / WM 2010
sp. 01: Selling El Diego - Nachruf auf einen Lebenden
sp. 02: Ein Che Guevara ohne Ernstfall - Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur
sp. 03: Darüber spricht Südamerika - Kurioses von der WM 2010 auf Video
THOMAS MILZ / FERNANDO A. IGLESIAS
[sp. 01]
[sp. 02]
[sp. 03]
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[gesamte ausgabe]


bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VIII)
Sturzfahrt auf der Todesstraße
THOMAS BAUER
[art. 2]
honduras: Dschungelabenteuer in der Moskitia
JUTTA ULMER
[art. 3]
peru: Incahuasi - Kaffee aus der Höhe
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 4]
grenzfall: Wenn der Fischbussard dem Piranha zu Leibe rückt
FRANK SIPPACH / DIRK KLAIBER
[kol. 1]
200 jahre befreiung: Im Interview mit Michael Zeuske
TORSTEN EßER
[kol. 2]
macht laune: Fútbol - was sonst?!
ANDREAS DAUERER
[kol. 3]
pancho: Beseelt frischer Neustart
Ich dreh durch, es ist schon Juli
DIRK KLAIBER
[kol. 4]




Special: Diego Maradona / WM 2010 [1] – [2] [3]
 
Aus Anlass der Auferstehung von Don Diego Maradona zur WM 2010 bringen wir noch einmal eine Momentaufnahme des emotionalsten Spielers aller Spieler / caiman-Archiv ed. 06/2004.

Selling El Diego
Nachruf auf einen Lebenden

Buenos Aires, Stadtteil Recoleta. Es war Anfang Januar dieses Jahres, dass ich ihn plötzlich sah. Ich erkannte sein Tränen überströmtes Gesicht sofort, seine Augen trafen meine. "Sonderangebot - 9,90 Pesos" war halb über seine Stirn geklebt, und so griff ich zu. "Yo soy El Diego" prangte in weißen Lettern auf dem Buch. Nicht mal drei Euro, und das für die Lebensgeschichte eines Nationalhelden. Eines Fußballgottes. Der Hand Gottes. Von Gott geliebt. "Das sind die letzten Exemplare", raunt der Buchhändler mir zu, "und es wird wohl keine neue Auflage geben."



Vier Monate später. Ich schlage die Zeitung auf. Ein Bild von Diego. Er spaziert barfuss durch den Garten eines Freundes, 50 Kilometer außerhalb von Buenos Aires. Er ist bis zur Hüfte in ein Betttuch gehüllt. Zumindest vermute ich seine Hüften in etwa dort. Ansonsten scheint er nackt zu sein. Er ist kugelrund, das Gesicht unglaublich aufgeschwemmt. Er erinnert an eine Mischung aus Che Guevara, Master Yoda und einem Sumoringer.

Ein Freund aus Buenos Aires ruft mich an. Er hat für einen italienischen Fernsehsender ein Interview mit Maradona vereinbart. Das war ein Tag vor Diegos Zusammenbruch Mitte April in "La Bombonera", dem Stadion von Boca Juniors. Jetzt ist Maradona, nach zwölf Tagen zwischen Leben und Tod, wieder aus der Klinik raus, auf eigenen Wunsch und gegen den Rat der Ärzte. Sein Marktwert ist dadurch gestiegen. Zumindest glaubt Maradona dies. Er verlange mehr Geld, als eigentlich vereinbart gewesen sei, berichtet der Freund aus Argentinien, und ob ich jemanden kennen würde, der für ein Interview mit Diego eine fünfstellige Dollarsumme auf den Tisch legen würde, um seine Gage zu komplettieren. Ein brasilianischer Fernsehsender? Vielleicht die Engländer? Oder die Deutschen? Bestimmt ist die Welt voll von Journalisten und Fernsehsendern, die für Maradonas Lebens- und Leidensgeschichte bereitwillig die Brieftasche öffnen. Glaube ich. Und so beginne ich zu telefonieren.

Zuerst versuche ich es mit den Korrespondenten des deutschen Fernsehens in Brasilien. Es ist Wochenende, und das ist für meine Verkaufsbemühungen nicht gerade hilfreich. Einige der Korrespondenten nutzen das schöne Wetter in Rio, um ein paar Runden Golf zu spielen. Andere sind gerade nach Athen unterwegs, um Vorberichte für die Olympischen Spiele zu produzieren. Und die, die ich schließlich und endlich an den Hörer bekomme, haben leider keinerlei Entscheidungsgewalt. "Da müssen wir erst mal die Verantwortlichen in Deutschland fragen. Und die arbeiten nicht am Wochenende, sondern erst wieder am Montag. Warum müssen Sie aber auch so eine Geschichte ausgerechnet am Wochenende verkaufen? Unter der Woche wäre das ja viel einfacher...." Besten Dank!

Dafür zeigt das englische Fernsehen eine ganz ausgezeichnete Arbeitsethik und ist auch am Wochenende erreichbar. Dafür haben sie einen Grundsatz, der einem erfolgreichen Geschäftsabschluss eindeutig im Wege steht. "Wir bezahlen grundsätzlich nicht für Interviews. Aber geben Sie mir doch Ihre Nummer. Ich höre mich mal hier um, und rufe Sie dann gegebenenfalls zurück", sagt die Stimme, dann legt er auf. Und ruft nie wieder an. Was soll man aber auch von einem Engländer erwarten; nach jenem Tor von Diego bei der WM 1986 in Mexiko... dem mit der Hand.

Damals im Januar in Buenos Aires las ich Diegos Buch in zwei Tagen. Tief beeindruckt von seiner Fähigkeit, in nahezu jeder Situation in Tränen auszubrechen, machte ich mich auf, das Stadion von Boca Juniors zu besichtigen, in dem er seine Karriere begann. Und beendete. Und indem er, einige Wochen nach meinem Besuch, beinahe auch gestorben wäre. So wie es sich für einen wirklich dem Verein verbundenen Fan gehört.

In das in den Katakomben errichtete Maradona-Museum bin ich damals nicht gegangen. Aber ich habe in den verwinkelten Gängen unter dem Stadion die auf die Wände geklebten Zeitungsausschnitte bewundert. Und ein Foto von den Pissoirs und der Umkleidekabine der Boca Juniors geschossen.



Hier also hat sich Maradona umgezogen, bevor er das Spielfeld betrat und seine genialen Pässe schlug. Hier hat er sich den Heldenschweiß abgeduscht, der beste Fußballer aller Zeiten. Hier in Brasilien hört man diese Bezeichnung im Zusammenhang mit Maradona nicht gerne. Ein schlechtes Beispiel für die Jugend sei Maradona, tönt ein Sportmoderator im brasilianischen Fernsehen. Schwach und hilflos, seiner Drogensucht ausgeliefert und unfähig, den Alltag zu bewältigen.

Am anderen Ende der Leitung vernehme ich die Stimme eines mir seit der Kindheit vertrauten Sportreporters. Obwohl ich längst weiß, mit wem ich spreche, bitte ich ihn noch einmal, seinen Namen zu wiederholen. Verhandlungstaktik. "Was hat Maradona denn Neues zu erzählen?", fragt mich die bekannte Stimme. Ich setze schon an, um ihm die lange Liste voll dramatischer Ereignisse zu schildern, die das Leben von El Diego in letzter Zeit so spannend gemacht haben, da fügt die bekannte Stimme hinzu "Außer Drogen- und Liebesgeschichten?". "Nun..." Jetzt heißt es Argumente auf den Tisch. Doch ich komme nicht mehr dazu. Die Stimme versenkt mich vorher. "Hören Sie, wir sind nicht bereit, Herrn Maradona seine Drogen zu finanzieren."

Spätestens seit seiner Zeit in Neapel lebte El Diego in ständiger Begleitung von Kokain. So auch bei der WM 1994, von der man ihn wegen angeblichem Doping suspendierte. Dabei hinderten ihn die Drogen wohl mehr als dass sie ihm Wettbewerbsvorteile verschafft hätten. Vor einiger Zeit hat ihn seine Frau verlassen, wohl wegen der Drogen.

Und aus dem anfangs als Entziehungskur verstandenen Aufenthalt auf Kuba ist eine ständige Flucht geworden. In Buenos Aires, so Maradona, reden alle nur schlecht über ihn. Angeblich soll er eine Kubanerin geschwängert haben. Seine neue Freundin. Manche sagen, sie sei noch minderjährig. Er bleibt nur eine Woche in Buenos Aires, dann fliege er nach Kuba zurück, drängt der Freund aus Buenos Aires zur Eile. Und ich telefoniere weiter.

Derweil spielt Diego Golf, anstatt das Krankenbett zu hüten. Ob mit den deutschen Korrespondenten oder nicht kann ich allerdings nicht genau sagen. Einem über dem privaten Golfplatz kreisenden Hubschrauber soll er sein nacktes Hinterteil entgegen gestreckt haben. Und auch das von einer Blondine im Auftrag des argentinischen Senders Telefe einen Tag nach Maradonas Flucht aus dem Krankenhaus aufgenommene Interview war für meine Verkaufsbemühungen eher kontraproduktiv. "Diego ist ein Prolet, der nur Müll redet", urteilt ein deutscher Journalist am Telefon. "Dafür wird mein Sender kein Geld ausgeben."

Mittlerweile kenne ich das Nachtprogramm brasilianischer Fernsehsender in- und auswendig. Fünf Stunden Zeitunterschied gegenüber Deutschland lassen mich ab 3.00 Uhr morgens am Telefon hängen, während ich versuche, die sogenannten Entscheidungsträger der deutschen Fernsehlandschaft an die Strippe zu bekommen. "Rufen Sie doch bitte in einer halben Stunde noch einmal an, dann dürfte der Herr XY aus seiner Sitzung zurück sein", versichert mir eine äußerst freundliche Stimme, nachdem ich der Sekretärin zehn Minuten lang zu erklären versucht habe, warum ein Interview mit einem ehemaligen argentinischen Fußballgott immer noch in die deutsche Frühlings-Primetime hineinpasst. Eine Folge von "Sex and the City" später lasse ich es wieder bei ihr klingeln. "Nein, ich habe nicht mit Ihnen gesprochen", versichert mir die freundliche Stimme, "das muss dann wohl meine Kollegin gewesen sein. Was wünschen Sie denn von Herrn XY?"

Ich weiß nicht, warum manche Medienmanager zwei Sekretärinnen haben müssen, aber ich weiß jetzt, dass die äußerst knappe Sendezeit mit Vorberichten über die Olympischen Spiele, die Fußball-Europameisterschaft und das Bundesliga-Finale bereits überfüllt ist. Maradona, wäre er auch nur halb so rund, würde da unter gar keinen Umständen mehr hineinpassen.

Ich muss zudem erfahren, dass ich nicht der einzige bin, der ein Interview mit El Diego anzubieten hat. Dafür aber der billigste. Immer wieder werden am anderen Ende der Telefonleitung astronomische Summen genannt, für die ein Gespräch mit der "Hand Gottes" angeboten wurde. Doch die Fernsehanstalten wollen nicht, da ihre Planung in eine andere Richtung geht. "Wir haben schon einen Nachruf auf Maradona produziert. In der letzten Woche konnte man ja nicht wissen, was mit ihm passiert. Der Beitrag liegt jetzt bei uns in der Schublade. Fürs nächste Mal...", erzählt mir ein deutscher Fernsehjournalist.



Die Zeit läuft davon. Im letzten Moment scheint ein brasilianischer Fernsehsender anzubeißen. "Schicken Sie mir Ihr Angebot per Mail, ich rede jetzt sofort mit meinem Chef und melde mich dann... Bleiben Sie in der Nähe des Telefons", bittet mich der Redakteur mit hektischen Worten. In den nächsten 24 Stunden warte ich vergeblich auf seinen Anruf, und sein Telefon klingelt einsam vor sich hin, ohne dass sich jemand erbarmen würde, abzuheben. Als ich dann schließlich doch noch einen seiner Redaktionskollegen an die Leitung bekomme, kann der mir auch nur ein "Ich verstehe das auch nicht, er ist hier den ganzen Tag nicht aufgetaucht." übermitteln.

Mein Freund aus Buenos Aires ruft an. Der italienische Fernsehsender hat die Nase voll und verzichtet auf das Interview. Damit ist die Sache gestorben. "Er wird morgen nach Kuba zurückfliegen, und das war’s." Am nächsten Morgen melden die Nachrichten, dass Maradona wieder im Krankenhaus ist. Angeblich hat er sich an Sandwichs und Barbecue überfressen. Im Krankenhaus randaliert Maradona, muss an sein Bett gefesselt werden. Er leide unter dem Drogenentzug, so die Ärzte, und sie raten Maradonas Familie, ihn in eine Spezialklinik einliefern zu lassen. Fünf Kliniken in Argentinien weigern sich, den berühmt-berüchtigten Ex-Fußballgott aufzunehmen. Zu sehr fürchten sie Diegos Launen und den Rummel um seine Person.

Schließlich erklärt sich eine Nervenklinik bereit, ihm zu helfen. Mindestens sechs Monate müsse er dort bleiben und eine strenge Diät einhalten. Es sei seine letzte Chance, so die Ärzte. Wie seine Chancen stehen, kann niemand sagen. "Maradona macht, was er will, und lässt sich von niemandem bevormunden", erklärt Diegos Leibarzt frustriert. Gleichzeitig halten sich hartnäckig Gerüchte, dass Maradona nach Kuba zurück kehren will, um den Kokainentzug dort durchzuführen. Ob das letztlich ratsam ist – immerhin soll die Klinik Medienberichten zufolge in einem Ort mit dem vielsagenden Namen "El Cocal" liegen.

Für mich bleibt nur die Hoffnung, dass der Postbote die Telefonrechnung verliert oder eine höhere Gewalt die unter meiner Nummer aufgelisteten Ferngespräche im Zentralcomputer der Telefónica löscht. Ich erinnere mich an die Worte jenes Buchhändlers in Buenos Aires, und nun erscheinen sie mir wie eine versteckte Warnung. "Das sind die letzten Exemplare, und es wird wohl keine neue Auflage geben."

Text + Fotos: Thomas Milz

Special: Diego Maradona / WM 2010
sp. 02: Ein Che Guevara ohne Ernstfall - Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur [2]
sp. 03: Darüber spricht Südamerika - Kurioses von der WM 2010 auf Video [3]

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





Special: Diego Maradona / WM 2010 [2] - [1] [3]
 
Diego Maradona, sein Leben, seine Leidenschaft. Ein caiman-Archivauszug aus der ed. 07/2009 aus Anlass der ergreifenden Auftritte Maradonas während der WM 2010 am Rande des Spielfelds.

Ein Che Guevara ohne Ernstfall
Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur

Ein in Argentinien häufig erzählter Witz besagt, dass es vier Arten von Ländern gibt: entwickelte, unterentwickelte, Japan, von dem niemand weiß, warum es entwickelt ist, und Argentinien, von dem niemand weiß, warum es unterentwickelt ist. Über solche Witzeleien hinaus kann die Symmetrie zwischen der nationalen Leitfigur Diego Maradona und denen, die ihn zum Idol erkoren haben, dazu beitragen, die Besonderheit der argentinischen Verhältnisse zu erklären. Zwar ist der Begriff der "nationalen Identität" von vager Allgemeinheit und trägt oft nur zur Mystifizierung der Tatsachen bei. Doch welche Vorbilder sich eine Gesellschaft erwählt, ist weder Zufall noch reine Willkür.



Von Neapel nach Neapel
Der Niedergang des Sterns Maradona hatte schon Ende der achtziger Jahre begonnen. Dennoch liefern die Massenmedien mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausschluss von der Fußball-WM in den USA (1994), der das Ende seiner internationalen Karriere bedeutete, regelmäßig Nachrichten über die Stationen seines Kreuzwegs. Wie John Lennon einst mit Bezug auf die Beatles könnte Maradona heute sagen, er sei berühmter als Jesus Christus. Vielleicht verdankt er diesen Ruhm der Tatsache, dass er nicht nur einmal, sondern zweimal auferstanden ist: nach zwei Episoden, bei denen er für tot erklärt worden war. Eine solche Leistung rechtfertigt den Titel, den ihm seine Landsleute verliehen haben: "D10S", mit seiner Nummer 10 im spanischen Wort für Gott.

Es gibt vielerlei Gründe, weshalb die Popularität Maradonas während seines sportlichen und persönlichen Verfalls so rasant angestiegen ist. In einer politisch korrekten Welt, wo sich Politiker aller Schattierungen Mühe geben, Konflikte zu vermeiden, auch um den Preis, dass ihre Worte nichts mehr sagen, bringt die lockere Nonchalance der öffentlichen Erklärungen Maradonas einen frischen Wind und den Geschmack des Verbotenen. So stammen die letzten Meldungen von Diegos Kampf gegen die Welt nicht aus Kuba, sondern aus dem Venezuela von Oberst Chávez, wo er seiner Rolle als schwarzer Papst treu geblieben ist, als er den versprochenen Waffenlieferungen an den populistischen Präsidenten Venezuelas durch die Regierungschefs von Brasilien und Spanien seinen Segen gab.

Immer wenn italienische Freunde von mir zum ersten Mal nach Argentinien kommen, begrüße ich sie am Flughafen mit den Worten: "Benvenuti a Napoli." Vom Stadtrand von Buenos Aires zur sozialen Peripherie von Neapel ist es nicht weit. Für die Welt ist Maradona der Inbegriff der "neapolitanischen" Charakterzüge der argentinischen Gesellschaft: Genialität, aber auch Korruption; Kreativität und Missachtung aller Regeln; Talent, aber geringer Arbeitseifer; viele Tugenden im Privaten, aber allzu viele Laster im öffentlichen Bereich. Der Erfolg Maradonas als Idol von Argentiniern und Neapolitanern scheint - zusammen mit dem relativen Misserfolg in Barcelona und der Verachtung, die ihm die restliche italienische Gesellschaft entgegenbringt - den Platz zu bestätigen, den ihm die globale Alltagsmythologie zugewiesen hat.



Zwei Tore eines argentinischen Gottes
Das Ereignis, das die Ambivalenz dieses "Genies ohne Regeln" symbolisiert, ist das Spiel zwischen England und Argentinien während der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Maradona schoss damals die zwei berühmtesten und sinnbildlichsten Tore seiner Karriere. Beim ersten sprang er nach einem Ball, der in die Strafraummitte geflankt worden war, und kam dem Torhüter zuvor, indem er den Ball versteckt mit der Faust ins Tor beförderte. Beim zweiten Tor, das die englische Mannschaft aus dem Turnier warf und von den argentinischen Medien als "Rache für Falkland" bezeichnet wurde, lief Maradona mit dem Ball am Fuß über das halbe Spielfeld und durch die gesamte englische Verteidigung und erzielte eines der schönsten Tore überhaupt.

In der Umkleidekabine klärte Maradona das "Geheimnis" des ersten Tors auf, das für das Auge der angeblich allwissenden Fernsehkameras unsichtbar blieb: "Es war die Hand Gottes", sagte er - ein Spruch, der ihn bis zu seinen jüngsten Auferstehungen begleiten sollte. Nicht zufällig reimt sich seine Erklärung mit einer verbreiteten Redensart, die man in Argentinien oft hört, wenn die Bewohner des Landes mit ihrem Latein am Ende sind: Machen wir uns keine Sorgen, irgendeine Lösung wird sich schon finden, denn "Gott ist Argentinier".

Auch wenn er von den Anhängern des volkstümlichsten Fußballvereins, Boca Juniors, besonders verehrt wird, ist die Liebe zu Maradona doch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und dem "Bekenntnis" zu einem der argentinischen Fußballklubs. Die Gültigkeit des Mythos von der göttlichen Nummer 10 und der mythopoetischen Liebe zwischen ihm und weiten Teilen der Einwohnerschaft ist ungebrochen. Viele Argentinier verehren Maradona wegen des Talents, das sein zweites Tor gegen England versinnbildlicht. Andere wegen der "kreolischen Schläue" (ein anderer nationaler Mythos), mit welcher er den ersten Treffer erzielte. Manche verabscheuen ihn auch, aber keinem ist er gleichgültig. Der Gegensatz zwischen der volkstümlichen Maradona-Partei und den Antimaradonisten ist ein ethischer. Eine Befragung hinsichtlich der Vorliebe für das von der "Hand Gottes" erschwindelte Tor oder für das perfekte Dribbling würde Argentinien in zwei unversöhnliche Gruppen teilen, die sich wechselseitig beschuldigen, den Ruin des Landes verursacht zu haben: sei es durch ein Übermaß an Naivität in einer Welt gnadenloser Interessen, sei es durch den Zynismus der Korruption.

Maradona wird nicht nur im Ausland als der Vertreter Argentiniens wahrgenommen, er dient auch als Spiegel, in dem sich die Argentinier selbst betrachten. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Staatssekretariats für Massenmedien ergab, dass ihn mehr als die Hälfte der Befragten als ihr nationales Idol nannten. Wie in einem doppelten Spiegel wird Maradona so zum Dolmetscher jenes unentwirrbaren Widerspruchs, den in den Augen vieler Beobachter die Republik Argentinien darstellt: ein Land auf halbem Weg zwischen seiner europäischen Tradition und seinen lateinamerikanischen Wurzeln, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, zwischen einer glänzenden Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft; ein Land mit riesigen natürlichen Ressourcen und spärlicher Bevölkerung, von der die Hälfte unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.

Ein Leben zwischen Himmel und Hölle
Maradonas Unfähigkeit zu systematischer Anstrengung findet ein Gegengewicht in seinem unglaublichen Gespür für heroische Gesten: Einerseits fehlte er gern im Training, andererseits spielte er mit dick angeschwollenem Knöchel. Seine Verachtung für soziale Regeln, die er gern als falsch und verlogen verhöhnt, verbindet sich mit einem hemmungslosen medialen Komödiantentum - zwei Züge, die die argentinische Kultur der letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnen. Was Maradona und die ihn bewundernde Gesellschaft aber vor allem gemeinsam haben, sind ungebremste Allmachtsphantasien, die paradoxerweise mit einer stilisierten Neigung zum Selbstmitleid in der Opferrolle einhergehen. Wer glaubt, der Allerbeste zu sein, dann aber scheitert, wird den Misserfolg kaum auf eigene Fehler zurückführen. Deshalb ist Argentinien ein Land, das aus seinen Fehlern nichts lernt und zwischen zwei ideologischen Extremen schwankt, die beide davon ausgehen, dass die Methode der Tabula rasa die beste von allen sei.



Die Unfähigkeit zur Selbstkritik veranlasst viele, sich mit einem Hof professioneller Schmeichler zu umgeben - eine auffällige Schwäche fast aller politischen Führer seit Perón, von Maradona zur höchsten Blüte getrieben - und die Schuld für die eigenen Irrtümer irgendeinem undurchsichtigen Komplott zuzuweisen. So führte die gesamte argentinische Linke der siebziger Jahre sämtliche Übel des Landes auf den amerikanischen Imperialismus zurück. Die folgende Militärdiktatur rechtfertigte den systematischen Massenmord, begangen zur Verteidigung des "nationalen Wesens", mit der "heimatlosen Anarchie der Marxisten" und bezeichnete die Proteste, die im Ausland wegen der horrenden Menschenrechtsverletzungen laut wurden, als "antiargentinisches Komplott". Und die bekannteste Vertreterin des Kampfes gegen die Diktatur und Vorsitzende der Vereinigung der Madres de Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, besteht noch heute darauf, dass der Mord an dreißigtausend Argentiniern das Werk der Nordamerikaner gewesen sei.

Im Fall von Maradona bezieht sich die Paranoia der Verschwörung auf die angeblichen Machenschaften von Julio Grondona, Präsident des argentinischen Fußballverbandes, Corrado Ferlaino, Präsident der SSC Napoli, den italienischen Fußballverband, die Fifa João Havelanges und die argentinische Bundespolizei, wobei die drei Letztgenannten schuld sein sollen an den zahlreichen Disqualifizierungen wegen Dopings, die der "Diego des Volks" - so der Titel seiner Autobiografie - erlitten hat.

Ein Schicksal von Tod oder Glorie
Wahrscheinlich ist nur ein Argentinier imstande, im Zeitraum von wenigen Stunden und ohne jede Nuancierung zu behaupten, sein Land sei das beste und das schlechteste auf der Welt. Auch Maradona ist vom Virus des Ausnahmelandes mit seinem Schicksal von Tod oder Glorie befallen wie es die letzte Strophe der Nationalhymne evoziert: "Lasst uns von Ruhm gekrönt leben oder schwören, in Glorie zu sterben!" Nicht zufällig ist bei den meisten nationalargentinischen Idolen wie Carlos Gardel, Evita Perón oder Che Guevara der Ruhm mit den Phantasmen von Exil und Tod verbunden. Wie Argentinien als Land blieb Maradona trotz seiner Erfolge weit unter seinen Möglichkeiten. Wie Argentinien hatte er einmal alles, aber fast nichts davon ist ihm geblieben. Wie Argentinien lebt er weiter, während ihn fast alle für tot erklären.

Lieber tot als "ernst" oder "normal" (was in der argentinischen Werteskala so viel wie "mittelmäßig" bedeutet), verkörpert Maradona jenen Lebensstil, der in den neunziger Jahren um sich griff. Die Vorliebe für gefährliche Freundschaften und Familienbündnisse nach neapolitanischer Art, die Lust an Gefahr und Provokation haben verhindert, dass er wurde, wozu er die besten Voraussetzungen hatte: ein glückliches Menschenkind. "Pizza und Champagner" war das vulgär-hedonistische Motto der neunziger Jahre, Maradona der wichtigste Prophet dieser "Ideologie". Jeder seiner Schritte in der Öffentlichkeit gab ein perfektes, von den Fernsehkameras begierig aufgezeichnetes und vergrößertes Bild vom Zustand der "neuen" argentinischen Gesellschaft.

Wer das politische Puzzlespiel Argentiniens und die tragische Verstrickung von populistischem Nationalismus und Linksparteien nicht kennt, wird sich wundern über das Prestige, das Maradona nach wie vor bei der argentinischen Linken genießt. Diese weidet sich an Maradonas Familienfotos mit Fidel Castro und vergisst nebenbei, dass er den neoliberalen Präsidenten Menem vor dem entscheidenden Moment seiner Wiederwahl unterstützt hatte.

Sie ergötzt sich an seiner unermüdlich beteuerten Liebe zum Volk, vergisst jedoch die Schüsse, die Maradona auf die Journalisten vor seinem Haus abgab, und überhört Äußerungen wie die über Argentinien als "ein Land von Verrätern".

Sie bewundert seine Identifikation mit den Villas, den argentinischen Slums, und sieht über seine schrankenlose Konsumsucht hinweg. Sie zeigt auf die Che-Guevara- Tätowierung an seinem Arm und ignoriert die sinnbildliche Bedeutung seines Ferrari und seiner Nerzmäntel.

Die heilige Dreifaltigkeit Argentiniens
Maradona wiederholt, indem er sie vereint und zugleich banalisiert, die wichtigsten Werte der beiden anderen argentinischen mythischen Gestalten, die im 20. Jahrhundert Weltruhm erlangten: Evita Perón und Che Guevara. Von jener hat er die Mixtur aus plebejischer Herkunft und demonstrativer Verschwendung. Eva Duarte, die spätere Frau Peróns, war ein uneheliches Kind aus Los Toldos, einem Dorf in der Provinz Buenos Aires; Maradona ein Villero aus Villa Fiorito am Stadtrand von Buenos Aires, einer Gegend, wo sich das "Lumpenproletariat" drängt (dies die Bezeichnung der Arbeiter, für die der Ausdruck Villero einer Beleidigung gleichkommt).

Einmal an der Macht, beruhte die soziale und politische Wirkung Evitas auf zwei anderen "maradonianischen" Konstanten: die systematische und obsessive Beschwörung des Volkes ("mis cabecitas negras" - "meine Schwarzköpfe") neben ihrer Vorliebe für Juwelen und Haute Couture, die Maradona ungleich vulgärer mit seinen monumentalen Goldringen, weißen Chinchilla-Jacken und Versace-Anzügen wiederholt.

Die für Argentinien lange Zeit kennzeichnende soziale Mobilität zeigt sich hier von der übelsten Seite: Es ist der Geschmack der Neureichen, eine Kitschkultur ohne Distanz und Ironie, mit dem einzigen Zweck, den Reichtum zur Schau zu stellen.

Der andere Vorläufer, Che Guevara, hatte das zentrale Credo in Europa vor dem Ersten Weltkrieg - "gefährlich leben" - wiederbelebt und verkörperte mit dem Gestus jugendlicher Rebellion den Widerstand gegen die etablierten Machthaber. Beide Elemente sind für die argentinischen Bewunderer Maradonas und Ches Selbstzweck, also Werte an sich, unabhängig von den konkreten Auswirkungen. Guevara vollbrachte seine heroischen Abenteuer am Vorabend und später im Kontext einer Diktatur, die in Kuba noch heute herrscht, und seine Praxis der "revolutionären Gewalt", die Lateinamerika und Europa erschütterte, bot den besten Vorwand für den Staatsstreich von 1976 und den nachfolgenden Massenmord. Aber das alles kümmert die einstmals guevarianischen, heute maradonianischen Aktivisten nicht, die beide Ikonen auf eine Ebene stellen und dabei vergessen, dass es eine Sache ist, die Armee des Tyrannen Batista anzugreifen, aber eine andere, der Fifa des Bürokraten Havelange die Stirn zu bieten. Sie vergessen, dass der Tod im Kugelhagel des Feindes sich anders anfühlt als die langsame Selbstzerstörung durch Kokain und dass der bewaffnete Kampf im Dschungel etwas härter ist als die Ostentation einer Che-Tätowierung beim Fischen auf einer Jacht in der Karibik.

Kurz, Maradona ist ein Guevara ohne Ernstfall, ein Held ohne Heldentum, dessen Versuch, Himmel und Hölle, Revolution und Konsumismus zu vereinen, nur ins traurigste Fegefeuer führen kann. Für den postmodernen, guevaristisch angehauchten Maradona-Fan ist der Heroismus gar nicht so wichtig - oder genauer, vom Heroismus genügt ihm die Pose. Und wenn man bedenkt, wohin die Heroismen der jüngsten Vergangenheit geführt haben, enthält dieser naive Glaube vielleicht sogar eine Prise Weisheit.

Verantwortung übernehmen
Der Zufall hat Maradona ein außerordentliches Talent geschenkt, mit dem Ball umzugehen. Hinzu kam, dass dieses Talent in den bescheidenen Verhältnissen, denen er entstammte, als höchste aller menschlichen Fähigkeiten angesehen wurde und wird. Fußballerisches Geschick stellt in der argentinischen Gesellschaft eine der besten Möglichkeiten dar, soziale und wirtschaftliche Anerkennung zu erringen. Es ist etwas Tragisches und Rührendes an der Liebe, die die Argentinier heute diesem gefallenen und weltweit verhöhnten Idol entgegenbringen, in einem Land, dessen Ressourcen zu den bedeutendsten der Erde zählen, das aber auch, im Verlauf weniger Jahrzehnte, die schwersten sozialen und politischen Katastrophen erlebte.

Vor noch gar nicht so langer Zeit hat sich in der argentinischen Umgangssprache ein Ausdruck breit gemacht, "hacerse cargo" (Verantwortung übernehmen) - Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns. Noch lässt sich nicht sagen, ob es sich um eine vorübergehende Mode des Sprachgebrauchs handelt oder ob sich darin ein tieferer gesellschaftlicher Wandel spiegelt. Zur Verteidigung Maradonas sei gesagt, dass er absichtlich oder instinktiv die Verantwortung für sein eigenes Schicksal übernommen und einen hohen Preis für seine Irrtümer und Fehler bezahlt hat.

Text: Fernando A. Iglesias
Fotos:
Thomas Milz

Über den Autor:
Fernando A. Iglesias ist argentinischer Schriftsteller, Journalist und Abgeordneter des Argentinischen Parlaments für die Coalición Cívica (Mandat 2007-2011).

Sein Wissensgebiet ist die Globalisierung mit ihren politischen Aspekten auf nationaler und internationaler Ebene. Er ist einer der Gründer von "Democracia Global- Movimiento por la Unión Sudamericana y el Parlamento Mundial" sowie Mitglied des Direktorenrates des "World Federalist Movement".

Iglesias hat bisher folgende Buecher veröffentlicht: "República de la Tierra-Globalización: el fin de las Modernidades Nacionales" (Buenos Aires 2000), "Twin Towers: el colapso de los estados nacionales" (Barcelona 2002), "¿Qué significa hoy ser de Izquierda? - Reflexiones sobre la Democracia en los tiempos de la Globalización" (Buenos Aires 2004), "Globalizar la Democracia - Por un Parlamento Mundial" (Buenos Aires 2006) sowie "Kirchner y yo - por qué no soy kirchnerista" (Buenos Aires 2007).

Sein neuestes Buch "Qué significa ser progresista en la Argentina del Siglo XXI" ist soeben (Juni 2009) in Buenos Aires erschienen.

Seine beiden größten Leidenschaften haben aber auf den ersten Blick nichts mit Politik oder Globalisierung zu tun: Fußball und Tango. Wobei Iglesias selber dies vehement bestreitet.

Kontakt:
www.fernandoiglesias.blogspot.com
www.fernandoiglesiaslibros.blogspot.com

Special: Diego Maradona / WM 2010
sp. 01: Selling El Diego - Nachruf auf einen Lebenden [1]
sp. 03: Darüber spricht Südamerika - Kurioses von der WM 2010 auf Video [3]

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





Special: Diego Maradona / WM 2010 [3] - [1] [2]
 
Darüber spricht Südamerika
Kurioses von der WM 2010 auf Video

Rund um die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika rankt sich im Internet eine Gag-Zone. Wir zeigen Euch das Beste aus Südamerika - dem Kontinent, der bei dieser WM so stark ist wie nie zuvor.

Brasilianer wollen den Galvão-Papagei retten
Bis auf Platz 1 der weltweiten Twitter-Charts brachte es die Kampagne "Cale a boca Galvão" aus Brasilien. Dabei, so erklärt ein von Unbekannten produziertes Video auf Youtube, handele es sich um eine Kampagne zur Rettung des seltenen Galvão-Papageis aus dem Amazonasurwald. Jede SMS, die an die Kampagne geschickt werde, unterstütze das Anliegen mit 10 Centavos - so der Spendenaufruf. Besonders aus den USA kamen Hunderttausende von Unterstützer-SMS, die "Cale a boca Galvão" an die Spitze der Twitter-Charts brachte.

Hier das Kampagnen-Video auf Englisch:
http://www.youtube.com/watch?v=bdTadK9p14A

Was die meisten ahnungslosen Unterstützer nicht wussten: "Cale a boca Galvão" heißt soviel wie "Halts Maul, Galvão" und ist gegen den TV Globo-Kommentator Galvão Bueno gerichtet, der vielen Fans bei den Fußballübertragungen auf den Geist geht.

Galvão Bueno reagierte scheinbar gelassen auf den Gag und den plötzlichen weltweiten "Ruhm". In einem Interview erklärt er, dass Ayrton Senna ihm den Spitznamen "Papagei" gegeben habe, weil er immer soviel reden würde...

Hier Galvãos Interview:
http://www.youtube.com/watch?v=2yuKTirZMIg&feature=related


Brasilien lacht über Nasebohrer Löw
Gemein sind sie, die Reporter von TV Globo. Eine Extrakamera hatte man während des 4:1 von Deutschland über England auf den Bundestrainer gerichtet. Was dabei heraus kam? Ein in der Nase bohrender Jogi, der sich den Fund danach in den Mund schiebt...

"Gibt es bei der FIFA denn nichts für die Trainer zu essen?", fragen sich Fans in Brasilien und prognostizieren: "Der wird niemals mehr jemanden abschleppen können."

Schaut selbst:
http://www.youtube.com/watch?v=a52b0qvBQjU&feature=related


Südamerika verliebt in paraguayisches Busenwunder
Sie gilt als die "Musa da Copa" oder "La novia del Mundial", die "Miss-WM". Seitdem Fotografen beim Fanfest in Paraguays Hauptstadt Asunción ihre Kameras auf das üppige Dekoltee von Larissa Riquelme gerichtet haben, zirkulieren Bilder von ihr durch sämtliche Medien des Kontinents. "Ich wäre gerne ihr Handy", meinen viele Fans - Larissa bewahrt ihr Mobiltelefon meist in ihrem Oberteil auf um die Hände zum Jubeln freizuhaben.

Sie hat schon angekündigt, sich ihrer knappen Bekleidung öffentlich entledigen zu wollen, sollte Paraguay bei der WM erfolgreich sein.

In einem TV-Interview spricht sie über ihren schnellen Ruhm und ihre glorreiche Zukunft - schaut mal:
http://elcomercio.pe/noticia/503046/larissa-riquelme-se-desnudara-si-paraguay-llega-semifinales-sudafrica

Soviel zu den weltbewegenden Neuigkeiten rund um die WM aus Südamerika.

Viel Spaß noch!!!!

Linksammlung: Thomas Milz

Special: Diego Maradona / WM 2010
sp. 01: Selling El Diego - Nachruf auf einen Lebenden [1]
sp. 02: Ein Che Guevara ohne Ernstfall - Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur [2]

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VIII)
Sturzfahrt auf der Todesstraße
 
Der Ausflug in die Höhen um La Paz war wie ein Blasebalg gewesen, dessen Luft in die Glut meiner Abenteuerlust gefahren war. Allzu lang hatte sie vor sich hingeschwelt. Einige Wasserfälle emporklettern hier, ein paar Entführungsversuche dort, das war ja nichts. Jetzt galt es, Gefahren aufzusuchen, sich in Situationen zu begeben, in denen die Kontrolle ein Seiltänzer war, der jederzeit abstürzen konnte!



Gleich in der Nähe von La Paz wurde ich fündig. Während sich Hannah anschickte, ihren ersten Fünftausender zu besteigen, beschloss ich, dem Camino de la Muerte einen Besuch abzustatten. Folgende Gründe sprachen dagegen, dass ich die "Todesstraße" auf einem ausgeliehenen Mountain Bike herunterbretterte:
  1. Die "Todesstraße" stürzt auf vierundsechzig Kilometern Länge die Ostflanke der bolivianischen Anden hinab, von 4.700 auf 1.400 Meter. Von den Vereinten Nationen ist sie zur "gefährlichsten Straße der Welt" gekürt worden. Zu Beginn wartet sie mit Eis und Schnee auf, die der Bergwind die felsigen Hänge hinauf- und hinuntertreibt. Dann überspringt "the world’s most dangerous road" kurzerhand die gemäßigte Klimazone und stürzt direkt in das tropische Tiefland. Genauer gesagt in die yungas, die Nebelwälder, die ihren Namen zurecht tragen: Über ihnen bilden sich jeden Tag dichte Regenwolken, zumindest jedoch feuchte Nebelbänke.  
  2. Die Unzulänglichkeiten einer bolivianischen "Straße" werden von der "Death Road" noch übertroffen. Straßenschilder fehlen ebenso wie Markierungen. Die einzigen Hinweise auf menschliche Eingriffe sind die weißen Kreuze, die entlang der Todesstraße an Verunglückte erinnern. Im Jahr 2003 geschah der bislang schwerste Unfall: Ein Bus mit vierzig Personen an Bord rutschte bei einem Ausweichmanöver über die Böschung. Keiner der Insassen überlebte den Sturz in den dreihundert Meter tiefen Abgrund.
  3. Auf der einen Seite der "Todesstraße" erhebt sich eine gezackte Felswand, die für ihre Steinschläge und Erdrutsche bekannt ist. Auf der anderen Seite geht es zuweilen 1.500 Meter senkrecht nach unten.
  4. Die "Todesstraße" ist praktisch das Gegenteil einer asphaltierten Straße. Kleine Flüsse kreuzen ihren Weg und münden direkt danach in imposante Wasserfälle. Manchmal sind notdürftig ein paar Bretter über sie gelegt. Meist jedoch muss man mitten durch sie hindurch. Im oberen Abschnitt besteht der Boden aus halbgefrorener Erde, die neben Eis und Schneeresten auch mit Geröll und Felsbrocken bedeckt ist. Auf ihrem Weg hinunter in die Nebelwälder geht er dann mehr und mehr in eine Mischung aus Lehm und Schlamm über.
  5. Die "Todesstraße" ist einspurig, was weniger an der fehlenden Fahrbahnmarkierung liegt, als vielmehr daran, dass für mehrere Spuren einfach kein Platz ist. Als einzige Straße in Bolivien wurde hier der Linksverkehr eingeführt. Sollte es während der Fahrt regnen, würde sich der Boden in eine glitschige Mischung aus Schlamm und Geröll verwandeln. Bäche aus abfließendem Wasser würden abwärts stürzen. Erfahrungsgemäß regnet es täglich.
  6. Auf dieser Straße fahren genau die Lastwagen und Busse hinauf und hinunter, die in Europa und in den USA vor fünfzehn Jahren ausgesondert worden sind. In der Regel sind sie überbeladen; nicht selten ragt ihre Ladung links und rechts über die Karosserie hinaus. Sie bringen beispielsweise Bananen nach La Paz oder Stoffe und Kunsthandwerk hinunter in die Dörfer der yungas. Begegnen sich zwei Busse oder Lastwagen unterwegs, muss der obere von ihnen mit den linken Rädern über den Abgrund hinausfahren, damit sie aneinander vorbei passen. Oft geschieht dies mit einer gewissen Beherztheit, weil insbesondere die jungen Fahrer Mutproben bei ihren Freunden abzuliefern haben und dabei gerne mit Alkohol, in jedem Fall jedoch mit Coca nachhelfen, ehe sie sich auf die "death road" wagen.
  7. Ob das ausgeliehene Fahrrad einer kritischen Überprüfung standhalten würde, war mehr als fraglich. Tatsächlich sollte sich schon kurz nach der Abfahrt herausstellen, dass die Hinterbremse nicht funktionierte.
  8. Bei sorgfältiger Betrachtung der oben genannten Punkte verriet mir mein gesunder Menschenverstand, dass es sicherer war, mich zum Beispiel vor einen Zug zu werfen.
Besonders zu schaffen machte mir, dass es wenig originell war, auf einer Straße zu sterben, die die "Todesstraße" genannt wird. So hatte ich mir mein mögliches Ableben, mal abgesehen vom Zeitpunkt, nicht vorgestellt. Lieber hielt ich es mit dem australischen Tierfilmer und "crocodile hunter" Steve Irvin, der jahrelang Krokodile mit bloßen Händen fing, sich an die giftigsten Schlangen der Welt schmiegte, mit Taranteln befreundet war und sich am Ende als zweiter Mensch überhaupt von einem erschreckten Stachelrochen ins Herz stechen ließ.

Den genannten Einwänden standen allerdings ebenso relevante Argumente gegenüber, die dafür sprachen, dass ich es doch versuchen sollte:
  1. Sollte ich heil ankommen, würde ich unten ein T-Shirt mit der Aufschrift "Death Road Survivor" erhalten.
  2. Seit gut einer Woche reiste ich in Begleitung einer jungen Dame. Betrachtet man die Hintergründe von Feldzügen, die Höchstleistungen von Sportlern und Künstlern und die Szenen in Hollywoodfilmen, stellt man fest, dass die bloße Anwesenheit eines weiblichen Wesens die Bereitschaft der Männer, dumme Dinge zu tun, exponentiell steigert. Interessanterweise führt hingegen die Anwesenheit eines Mannes keineswegs zu ähnlichen Aktionen bei den Damen, höchstens zu lang anhaltendem Kichern, wenn sie jung sind, und zu besonders barschen Tönen, wenn sie Temperament vortäuschen wollen. In meinem Fall kam erschwerend hinzu, dass meine Reisebegleiterin abenteuerlichen Aktionen keinesfalls abgeneigt war, was meinen Ehrgeiz anstachelte.
  3. Es war ohnehin mal wieder Zeit für eine sportliche Betätigung.
  4. Was nicht tötet, härtet ab und macht stärker. Kommende Herausforderungen würden an Schrecken verlieren und an Reiz gewinnen. Außerdem gab es in ganz Bolivien keinen Zug, vor den ich mich hätte werfen können.
Wir waren eine seltsam anmutende Armee, angetreten kurz nach Sonnenaufgang, um in die Schlacht gegen unsere Angst zu ziehen. Vom Veranstalter hatten wir schmutzübersäte Fahrräder bekommen und eine Uniform, die aus einem blaugelben T-Shirt, einem Fahrradhelm, dicken Fäustlingen und einer grünroten, Wind abweisenden Regenjacke bestand. Neben mir war ein Dutzend gringos aus Kanada, den USA, Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, der Schweiz, Österreich und Ungarn aufgereiht – kein Bolivianer käme auf die Idee, eine derart gefährliche Straße freiwillig herunterzufahren. Schon gar nicht mit einem Fahrrad, das hier in Bolivien als Symbol der Armut gilt. Wer etwas auf sich hält und es sich leisten kann, fährt mit einem Auto, selbst wenn es zwanzig Jahre alt sein sollte.



"Mal sehen, wie viele von uns unten ankommen!", frotzelte Marc, der aus Wisconsin stammte und versuchte, seine Furcht zu bekämpfen, indem er pausenlos witzige Bemerkungen absonderte. Listo?, "bereit?", rief unser bolivianischer Anführer, dann saßen wir auf und folgten ihm in die erste Nebelwand hinein.

Ich war als Vierter gestartet. Gleich nach dem Start überholte ich eine Schweizerin, die sich noch an die Löcher im Asphalt gewöhnen musste. Kurz darauf ließ ich auch Marc rechts hinter mir zurück. Jetzt befand sich nur noch Christian zwischen mir und unserem bolivianischen Führer. Ich ließ beide Bremsen los. Das Geräusch der Reifen, die sich immer schneller auf dem Teerbelag drehten, schwoll an, bis es die Lautstärke eines Motors erreichte. Unseren Führer konnte ich nur hören. Er musste direkt vor mir sein, blieb jedoch von dichtem Nebel verschluckt. Links huschten gezackte Felsen vorbei, überzogen von schmutzigbraunen Schneefeldern, aus denen heraus Rinnsäle quer über die Straße flossen.

Ich preschte durch sie hindurch, ohne sie genauer wahrzunehmen. Um mich herum wirbelten Schneeflocken; manchmal stieß mich eine Böe derb in die rechte Flanke. Was für ein verrückter Tanz am Rand des Abgrunds!

Ich überholte spuckende Traktoren und rostübersäte Lastwagen. Mein Vorderrad schlang Boden in sich hinein, spuckte ihn hinter sich wieder aus. Wäre Hannah jetzt bei mir, hätte sie mir vermutlich erklärt, dass in ebendiesem Moment das Mark meiner Nebenniere vermehrt ein vasokonstriktives Catecholamin mit Namen Adrenalin herstellte. Sie hätte mir erläutert, dass dieses Adrenalin die Muskelphosphorylasen über Betarezeptoren und auch das Adenylatcyclasesystem aktiviert und gleichzeitig die Fettsäurenoxidation anregt, was einen erhöhten Sauerstoffverbrauch nach sich zieht. In diesen Höhen sei mir das ebenso wenig zuträglich wie der gleichzeitige Blutdruckanstieg, zumal die Nierendurchblutung zeitgleich eingeschränkt werde. Nicht verkneifen würde sie sich den Hinweis, dass all dies dafür sorgte, dass meine Libido eine Pause einlegte. Zu meinem Glück werde das Adrenalin aber rasch durch Catechol-O-Methyltransferase abgebaut und als 3-Methoxy-4-hydroxymandelsäure mit dem Harn ausgeschieden. Da Hannah jedoch nicht bei mir war, blieben mir diese Vorgänge allesamt verborgen. Ich nahm nur wahr, dass mein Herz wie wahnsinnig klopfte, dass ich nach Atem hechelte, und dass mir alles unglaublich viel Spaß bereitete. Ich schrie und jauchzte die Felswände an; jubelte auf Deutsch und Spanisch in die Nebel hinein. Bis ich plötzlich an einem grünroten Farbfleck vorbeischoss, der mir irgendetwas hinterher schrie: unserem Reiseführer. Als ich mich umdrehte, war er bereits im Nebel verschwunden. Sofort zog ich beide Bremsen an. Die Vorderbremse reagierte unverzüglich und verbiss sich in das Gummi des Reifens. Die Hinterbremse tat es ihr vorerst nach, lockerte dann jedoch unvermittelt ihren Biss und sprang auf. Sofort geriet das Fahrrad unter mir ins Schlingern. Ich musste auch die Vorderbremse lösen. Ungleich sachter zog ich den Bremsgriff anschließend zum Lenker hin bis mein Gefährt nach einer gefühlten Ewigkeit zum Stillstand kam. Mein Bremsweg betrug über einen halben Kilometer.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


"Eine Schraube ist heruntergefallen", bemerkte unser Reiseführer lapidar, als er mich nach knapp zehn Minuten eingeholt hatte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass diese Schraube ein zugegebenermaßen kleines, nichtsdestotrotz aber wichtiges Teil der Hinterbremse gewesen war. Unser Reiseführer murmelte unverständliche Worte. "Da hast du Recht!", gab er sich schließlich verständig. "In deinem Tempo würdest du auf keinen Fall heil unten ankommen! Da ich nicht annehme, dass du die Geschwindigkeit drosseln willst, geben wir dein Rad einfach dem langsamsten Teilnehmer. De acuerdo, einverstanden?".

Das war eine echt bolivianische Lösung. Zum Glück war die letzte Teilnehmerin, eine Französin, die mit weit aufgerissenen Augen in den Nebel starrte, gerne bereit, ihr Rad mit meinem zu tauschen. Auf diese Weise habe sie einen Grund mehr, langsam zu fahren, betonte sie. Als ich sie fragen wollte, weshalb sie dieses Wagnis überhaupt eingegangen war, hatte unser Reiseführer bereits wieder sein listo? gerufen und mir einen Wink gegeben.

Bei meinem Neuerwerb griffen beiden Bremsen problemlos – was ein guter Grund für mich war, sie vorerst nicht zu benutzen. Weit über den Lenker gebeugt, preschte ich die "Todesstraße" hinab. Farben und Formen huschten an mir vorbei; in den immer häufiger werdenden Nebellöchern wehte mir der Wind Landschaft in die tränenden Augen. Der Boden wurde zunehmend weicher; Lehm und Matsch nahmen Geröll und Kieseln immer mehr Terrain ab. Längst hatte ich unseren Reiseführer überholt und lieferte mir ein Wettrennen mit Christian, der ebenso besessen war wie ich, immer wieder von Neuem gerade bis an den Punkt zu gehen, an dem man die Kontrolle verlor. In einer besonders engen Linkskurve ging ich gar eine Spur über diesen Punkt hinaus. Ein winziges Quentchen nur, aber das genügte vollauf.

Ein Felsbrocken lag auf der Straße. Ich sah ihn eine halbe Sekunde, bevor er den Schlauch meines Vorderrads aufgeschlitzt hätte. Seine gezackten Ränder erinnerten an die Zähne eines Raubtiers. Ich riss mein Rad rechts an ihm vorbei. Weg, nur weg vom Abgrund links von mir, schoss es mir durch den Kopf. Durch das Ausweichmanöver geriet ich in eine Mischung aus Lehm und Matsch, die mein Rad sofort in eine Schräglage schob. Plötzlich war der Boden ganz nah. Er flog auf mein Gesicht zu, das mit Matsch besprenkelt wurde. Geistesgegenwärtig warf ich mich auf die rechte Seite, wodurch sich mein Rad kurzfristig wieder aufrichtete. Dafür geriet es im schlammigen Untergrund ins Schlingern. Links und rechts brach es aus, schlitterte mit dem Hinterrad über den Boden und verhakte sich schließlich an einem besonders großen Kiesel. Ich bemerkte noch, wie der Lenker meines Fahrrads plötzlich unter mir war und fragte mich, was er dort zu suchen hatte; er gehörte doch definitiv nicht an diesen Platz. Dann bekam ich einen herben Schlag auf den Kopf. Schwarz zog vor meinen Augen auf.

Als ich sie wieder öffnete, saß ich in einem kniehohen Bach. Christian rief mir immer wieder etwas zu. Mein Rad lag zehn Meter weiter auf der Straße. Mein rechtes Schienbein gab ohne Unterlass Blut an das umgebende Wasser ab. Es breitete sich aus und entwarf interessante Muster an der Oberfläche. In meiner rechten Hand hatte ich kein Gefühl mehr. Christian stieg jetzt vom Rad und rannte auf mich zu.

"Bist du okay?", rief er. Seiner Schilderung nach hatte ich mich während meines unfreiwilligen Abstiegs vorbildlich verhalten. Solange es ging, hatte ich gebremst, dann hatte es mich nach vorn über das Rad geschlagen. Ich hatte es im entscheidenden Moment von mir gestoßen und mich nach meiner Begegnung mit dem Boden gekonnt zur Seite gerollt. Dabei hatte ich unglaubliches Glück gehabt: Der Bach hatte meinen Sturz aufgefangen. Wäre dasselbe Ereignis weiter oben passiert, dort, wo der Boden noch gefroren war, hätte ich mir mit Leichtigkeit einige Knochen brechen können. So jedoch hatte es von Christians Warte aus den Anschein gehabt, als wisse ich genau, was ich tat, ja fast, als hätte ich nie etwas anderes gemacht als auf glitschigen Straßen vom Fahrrad zu stürzen.



Unser Reiseführer sah den Vorgang etwas anders. Ich musste mir eine Standpauke anhören und ihm versprechen, in Zukunft hinter ihm zu bleiben. "Weißt du, was passiert wäre, wenn du nicht auf die rechte, sondern auf die linke Seite gestürzt wärst?", fragte er herausfordernd. Er führte mich zum linken Straßenrand, von dem aus sich der Bach in eine Leere ergoss, die erst tausend Meter tiefer durch die Baumgipfel des Nebelwaldes gefüllt wurde. "Deine Chancen standen fifty-fifty. Bislang ist übrigens noch keiner meiner Mountain Biker auf die linke Seite gestürzt. Ich möchte, dass dies auch so bleibt." Er konnte es sich nicht verkneifen, mir bei diesen Worten zuzublinzeln. Ich war in seiner Achtung gestiegen, weil ich, genau wie er, meine Grenzen verschieben wollte. Er ging normalerweise auch aufs Ganze, war bereits zweimal an derselben Stelle gestürzt. Einmal hatte er sich zwei Rippen auf der "Todesstraße" gebrochen, dreimal musste ihm ein Bein eingegipst werden. Dies alles erfuhr ich allerdings erst auf der Rückfahrt.

Natürlich raste ich trotz blutendem Schienbein und geschwollenem Handgelenk weiter wie zuvor und wurde von den Anderen nach meiner innigen Begegnung mit der bolivianischen Flussflora el alemán loco, "der verrückte Deutsche", genannt.

Seit meinem Purzelbaum hatte sich die Landschaft verändert. Links der Straße begannen Sträucher vorbeizurasen, später gar Bäume. Die Wasserfälle trafen nicht länger Hunderte Meter weiter unten auf Grund, sondern bereits mitten auf der Straße. Mehrmals mussten wir direkt durch sie hindurch, wobei unser Reiseführer jedes Mal betonte, die Dusche sei im Preis inbegriffen. Dann führte uns die Straße hinein in die Nebelwälder. Dicht an dicht stehende Giganten schluckten die Wolken, die die Ostflanke der Anden hinab glitten und spuckten sie als Nebel wieder aus. Kolibris umschwirrten uns, als wir in das satte Grün fuhren. Adler kreisten über uns und ein rotgelbgrüner Papagei drehte erst ab, als wir ihn fast über den Haufen gefahren hatten. Es kam mir vor, als wolle die Natur hier unten all das nachholen, was sie im kargen Hochland nicht vollbringen konnte. Von allen Seiten wucherte, rankte, platschte, raschelte, zirpte, schwirrte und schrie es. Manchmal wussten wir nicht, ob wir in einen Garten Eden gelangt waren oder doch versehentlich die Abzweigung zu einer lärmenden, pulsierenden Hölle genommen hatten. Wir waren die üppige Vielfalt der Tropen nicht gewöhnt. Gleichzeitig wussten wir, dass der Wind keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt Eisbrocken auf gefrorene Böden legte und alles über den Haufen pustete, was sich ihm in den Weg stellte.



Unser Reiseführer bog in eine Hotelanlage ab. Christian und ich folgten ihm und hielten auf den Gebäudekomplex zu. Die Anderen waren weit abgeschlagen. Die Französin mit meinem ersten Fahrrad sollte erst drei Stunden später ankommen. So blieb Zeit genug, ausgiebig zu duschen, uns durch ein Sonnenbad von den Strapazen zu erholen und anschließend das aufgebaute Büffet zu plündern, das wir uns mit zwei besonders dreisten Papageien teilen mussten. Ich gönnte mir eine Extraportion Ceviche, sushiähnliche Rohfischstücke, gefolgt von einem gut durchgebratenen Lamasteak, dessen Geschmack leicht an Leber erinnert. Erst als die ersten Baumkronen begannen, sich vor die Sonne zu schieben, trommelte unser Reiseführer zum Aufbruch. Ein klapperndes Scheusal, das einem Bus vor vielen Jahren ähnlich gesehen haben mochte, brachte uns die "Todesstraße" wieder hinauf und zurück nach La Paz. Es war kurz vor Mitternacht, als ich das Hotelzimmer betrat, in dem Hannah bereits halb eingeschlafen war.

"Und", fragte sie mit halb geschlossenen Lidern und jenem nörgelnden Tonfall, der den Müden gemein ist, "wie war dein Tag? Hast du etwas Besonderes erlebt?"

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
Teil VI: Besuch im "Café Aussichtspunkt"
Teil VII: In Boliviens Drogenhauptstadt

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_3] Honduras: Dschungelabenteuer in der Moskitia
 
Das Flugzeug ist alt und klapprig. Zwölf Passagiere haben darin Platz. Wir fliegen durch graue, windige Wolken und landen nach 90 unruhigen Minuten auf einer steinigen Erdpiste inmitten des Regenwaldes. Dorcas wartet bereits und heißt uns ganz herzlich in der Moskitia willkommen. Sie wohnt in der kleinen Gemeinde Brus Laguna und wird unseren Aufenthalt koordinieren. Die unerschlossene Dschungelregion liegt an Honduras östlicher Karibikküste und ist das größte zusammenhängende Regenwaldgebiet Mittelamerikas. An den Ufern der Flüsse und Lagunen leben Miskito-, Pech- und Tawahka-Indígenas vom Fischfang und der Landwirtschaft. Wegen der Abgeschiedenheit ihres Territoriums gelang es den Ureinwohnern, ihre eigene Sprache und Kultur bis heute zu bewahren. Man kann die Moskitia nur per Flugzeug oder Boot erreichen. Straßen gibt es nicht. Unterwegs ist man hier mit dem Kanu oder zu Fuß.


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Weil Reisen in der Moskitia sehr aufwändig ist, haben wir uns für eine organisierte Tour entschieden und als "Reiseveranstalter" La Ruta Moskitia gewählt (www.larutamoskitia.com). Das ist ein Zusammenschluss sechs indigener Gemeinden, die im Ökotourismus die Möglichkeit sehen, die schlechte finanzielle Situation ihrer Einwohner zu verbessern und dabei gleichzeitig die Umwelt zu schützen. Während unseres Fünf-Tage-Aufenthalts werden 38 Indígenas in verschiedenen Dörfern wegen uns beschäftigt sein. Das sind die Koordinatorin Dorcas, unser Führer Reyes, Hostalbesitzer, Köchinnen, Kanuchauffeure, Wanderführer und Tänzerinnen.

Die Tourkosten konnten wir übrigens nicht per Kreditkarte begleichen. Wir mussten das gesamte Geld in kleinen Scheinen besorgen und in Briefumschläge stecken, die wir vor Ort den Tourismus-Verantwortlichen auszuhändigen haben. So sehen wir, dass 100 Prozent unserer Ausgaben bei den Bewohnern der Moskitia ankommen. Und die erhalten problemlos ihr Geld, denn E-Banking, EC-Automaten und Girokonten gibt es hier nicht.


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Pipantes werden die Holzkanus genannt, die den Transport in der Moskitia sicherstellen. Wir sitzen in einem motorbetriebenen Pipante, das Reyes geschickt durch die Stromschnellen des Río Plátano lenkt. Der Dschungelfluss entspringt im Innern der Moskitia und schlängelt sich durch den Regenwald bis zur Karibikküste. Das Gebiet wurde 1980 von der UNESCO zum Biosphärenreservat Río Plátano ernannt. In der Schutzzone gibt es 2.000 unterschiedliche Pflanzen-, 300 Vogel-, 200 Reptilien- und über 100 Säugetierarten. Der Weg führt uns den Río Plátano flussaufwärts ins 20 Kilometer entfernte Las Marias. Am Flussufer sehen wir einfache Hütten aus Bambus, in denen Miskito- und Pech-Familien leben. Auf kleinen Feldern bauen sie Yuca, Bananen, Mais und Bohnen an. Frauen waschen im Fluss die Wäsche. Kinder winken uns zu.


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Auf dem Río Plátano herrscht reger Bootsverkehr, wobei die meisten Kanus mit Paddeln und langen Stäben vorwärts bewegt werden. Einen Motor und das nötige Benzin kann sich hier kaum jemand leisten, Muskelkraft dagegen ist kostenlos. Nach 6 Stunden motorisierter Pipantefahrt erreichen wir Las Marias. Rudernd und stochernd benötigt man für diese Strecke 2 Tage. In dem 800-Seelen-Dorf sind wir bei Doña Rutilia in einer palmblattbedeckten Hütte untergebracht, die zum Schutz vor Regen und Tieren auf Holzstelzen steht. Unser Zimmer ist einfach und winzig. Im Freien gibt es eine Latrine und Fässer mit Wasser für die Körperpflege. Wir ziehen allerdings ein erfrischendes Bad im Río Plátano vor, aus dem auch unser Abendessen stammt. Guapote ist ein schmackhafter Fisch, zu dem DoñaRutilia Reis und Kochbananen reicht. Ein gigantischer Sternenhimmel rundet das köstliche Mal ab. Wir gehen früh ins Bett, denn Strom gibt es in Las Marias nicht.


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Am nächsten Tag heißt unsere Führerin Eva. Gemeinsam mit ihren zwei Helfern stochert sie uns mühsam in einem kleinen Einbaum auf dem Río Plátano weiter hinein ins Herz der Moskitia. Ohne Außenbordmotor hören wir viel besser die Geräusche des Regenwaldes: das laute Rufen des Oropendola, das Zirpen der Grillen und das Zwitschern unzähliger Vögel. Krokodile liegen träge im Fluss, während in den Wipfeln der Urwaldriesen Brüllaffen Fangen spielen. An einer unscheinbaren Stelle am Flussufer steigen wir aus dem Boot und unternehmen eine kleine Dschungelwanderung.


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Eva zeigt uns Kräuter gegen Nierensteine und Menstruationsbeschwerden. Sie erklärt, wie man aus den Blättern der Tique-Palme Dächer knüpft und dass Mahagonibäume vom Aussterben bedroht sind. "Früher habe ich den Regenwald nicht so sehr geschätzt wie heute", erzählt uns Eva nachdenklich. "Erst durch den Ökotourismus weiß ich, welcher Reichtum mich hier umgibt, und dass es die Natur wert ist, bewahrt zu werden." Tatsächlich ist das Biosphärenreservat Río Plátano bedroht. Wald wird zu Weideland gemacht, Tropenhölzer werden illegal gefällt, seltene Tiere gejagt und die Flüsse überfischt. In Las Marias fand ein Umdenken statt. Erst kürzlich haben sich die Bewohner gegen ein Abholzungsprojekt entschieden, um den Regenwald für Natur liebende Reisende zu erhalten. Auf dem Rückweg machen wir bei den Petroglyphen Walpaulban Sirpi halt, die sich inmitten des Río Plátano befinden. Die Felsritzungen sind über 1.000 Jahre alt. Mit etwas Fantasie erkennt man ein zweiköpfiges Krokodil, doch wer was damit ausdrücken wollte, weiß man nicht.


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Die starke Strömung des Río Plátano treibt uns flussabwärts zurück nach Las Marias. Endlich haben wir Zeit, uns das Dorf genauer anzuschauen. Es gibt fünf Kirchen, zwei Schulen und eine Menge Kinder, die fotografiert werden wollen. Wir sind umringt von süßen Mädchen und Jungen, die nicht genug davon bekommen können, ihr Aussehen auf den Monitoren unserer Kameras zu diskutieren.


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Nach einer traumlosen Nacht treten wir ins Freie und atmen tief die frische Luft des Regenwaldes ein. Reyes wünscht uns einen guten Morgen und zeigt auf eine Familie, die traurig im Schatten unserer Unterkunft sitzt. Auf dem Schoß der Mutter liegt kurzatmig der fünfjährige Sohn. Sein Bauch ist aufgebläht und blau. In Las Marias gibt es keinen Arzt, der ihm helfen könnte. Mangels öffentlichen Bootsverkehrs sucht die Familie nun eine Mitfahrgelegenheit Richtung Karibik. Selbstverständlich nehmen wir die drei in unserem Kanu mit. Mutter und Sohn müssen von Brus Laguna ins Krankenhaus nach Puerto Lempira fliegen. Geld für die Flugtickets hat die Familie eigentlich nicht. Doch unser "Reiseveranstalter" La Ruta Moskitia hat für solche Notfälle einen Fond eingerichtet, aus dem auch Wiederaufforstungs- und Bildungsprojekte finanziert werden. An der Laguna de Brus können wir der Familie nur noch alles Gute wünschen. Unsere Wege trennen sich, denn wir fahren weiter nach Raista.


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Zwischen Karibik und Laguna de Ibans wird der kleine Ort von Miskito-Indígenas bewohnt. Hier ist unsere Unterkunft luxuriöser als in Las Marias. Es gibt Hängematten zum Relaxen und eine große Wohnküche, in der Doña Elma Regie führt. Bei unserem Dorfrundgang lernen wir Pedro kennen. Barfuß klettert er auf eine Palme und erntet für uns Kokosnüsse. Flink öffnet er sie mit seiner Machete und wir kommen so in den Genuss leckeren Kokoswassers. Den Sonnenuntergang genießen wir am Strand. Langsam färbt sich der Himmel gelb, orange, rosa, violett, während Bauern von der Arbeit auf den Feldern im feinen Sand nach Hause kehren. Auch wir müssen zurück in unser Hostal, denn es wartet ein kulturelles Event auf uns.


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Mercedes und ihre drei Freundinnen tragen lange Röcke und schicke Blusen. Sie singen zu Gitarrenmusik, wiegen die Hüften und drehen sich im Kreis. Uns werden Weihnachts-, Neujahrs- und Erntetänze vorgeführt, denn zu diesen Ereignissen feiern die Miskito-Indígenas ihre Feste. Die sollen sehr ausgelassen sein und bis tief in die Nacht dauern. Heute geht es nicht so lange, wenngleich sich viele Dorfbewohner versammelt haben, um uns ihre Kultur näher zu bringen. Morgen früh müssen alle wieder ihren täglichen Pflichten nachgehen und wir zurück nach La Ceiba fliegen. In ein paar Tagen werden andere Touristen mit La Ruta Moskitia hierher kommen, um die sich dann andere Moskitia-Bewohner kümmern werden. Reihum sind mal die einen, mal die anderen dran. Denn Ziel des La-Ruta-Moskitia-Projektes ist es, dass in den sechs beteiligten Gemeinden alle Familien gleichermaßen vom Ökotourismus profitieren.

Text + Fotos: Jutta Ulmer

Linktipp:
lobOlmo - Reisefotografie & Reisejournalismus

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: honduras]





[art_4] Peru: Incahuasi - Kaffee aus der Höhe
 
Im Schatten der Schneeberge Südperus wächst der beste Kaffee des Landes. Ihn anzubauen grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit. Gelingen kann das nur Dank der Rückbesinnung auf alte Traditionen und mit Hilfe des Fairen Handels.

Knatternd durchbricht Dante Palomino mit seiner völlig verstaubten Enduro die Stille. Drei Stunden war er mit dem Motorrad unterwegs; aber er gönnt sich keine Pause, sondern läuft den Berg hinauf zum Kaffeefeld des ältesten Mitglieds der Kaffeekooperative Incahuasi. Eigentlich dürfte hier gar kein Kaffee wachsen. Die Abhänge sind zu steil, die Erde zu steinig, es regnet viel zu selten und überhaupt liegt die ganze Region südlich von Andahuaylas viel zu hoch. Doch trotz alldem wächst hier Kaffee, und zwar nicht irgendeiner, sondern der Beste, der in ganz Peru zu finden ist. Denn je höher der Kaffee angebaut wird, desto besser ist er. Und höher als hier auf 2.200 Metern kann man den Kaffeebusch nicht anpflanzen, denn er verträgt keinen Frost.

Dante ist Agraringenieur und hilft den Bauern, sich auf die Traditionen ihrer Vorfahren, der Inka, zu besinnen, so dass sie hier trotz der ungünstigen Bedingungen Kaffee anbauen können. "Alles, was wir tun, machen wir nach dem System der Minka. Das heißt, wir helfen einander, wenn jemand eine Arbeit zu verrichten hat, die er alleine nicht schaffen kann", erklärt Dante. Die Minka stammt aus der Zeit der Inka. Das ganze Dorf kam zusammen, um das Haus einer einzelnen Familie zu errichten oder Terrassen in den steilen Berghängen anzulegen, so dass dort Felder entstehen konnten. Und genauso ist es auch heute wieder. "Ohne die Minka könnte ich keinen Kaffee anbauen", meint der 90-jährige Eugenio Sanestore. Er und seine 75-jährige Frau Lucia arbeiten trotz ihres hohen Alters nach wie vor in ihrer Kaffeepflanzung. Ernten und Jäten, das geht noch, aber die Mauern in Stand halten, welche die Terrassen ihrer Felder befestigen, das schaffen sie einfach nicht mehr. Und das müssen sie auch nicht, denn die Dorfgemeinschaft hilft ihnen bei dieser schweren Arbeit. "So ist das bei uns, einer unterstützt den anderen. Die beiden waren früher, als meine Großeltern Hilfe brauchten, auch für sie da, und heute ist es eben umgekehrt", erklärt Ruben Muriel, der vorbei gekommen ist, um ein paar heruntergefallene Steine wieder in die Mauer einzusetzen.

Dante Palomino schaut ihm dabei zu und gibt Tipps. Auf einem geländegängigen Motorrad fährt er ständig von einem Dorf zum andern und berät die Bauern, wie sie ihren Kaffee besser anbauen können. In den Kaffeedörfern wirkt er mit seiner Enduro ein bisschen wie ein Besucher von einem anderen Stern. Denn bei den Mitgliedern von Incahuasi scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Menschen hier sprechen kaum Spanisch, sondern Quetchua, die Sprache ihrer Vorfahren. Um den Bauch tragen sie handgefertigte Tücher, in die uralte Muster gewebt sind Es gibt keinen Strom, kein fließend Wasser und die Häuser werden wie vor 500 Jahren aus getrockneten Lehmziegeln und ohne Glasfenster gebaut. Die Straße in diese abgelegene Region wurde erst vor einem Jahr fertig gestellt. Der Weg hier hin ist weit. Von Andahuaylas, das gut 20 Busstunden von der Hauptstadt Lima entfernt liegt, sind es acht Stunden über eine holprige Straße, die sich in Serpentinen zwei Pässe von über 4.000 Metern hinauf und wieder hinunter windet. "Früher sind wir mit Maultieren durch die Berge gewandert, um unseren Kaffee an eine benachbarte Kooperative zu verkaufen. Sieben Tage waren wir unterwegs, zwei schneebedeckte Pässe mussten wir überwinden", erinnert sich Dante Palomino.

Doch vor drei Jahren schlossen sich 310 Bauern aus insgesamt 10 Dörfern zu einer eigenen Kaffeekooperative zusammen. Von Anfang an hatten sie die Möglichkeit, ihren Kaffee an den Fairen Handel zu verkaufen, und von da an sollte alles einfacher werden. "Wir erwarben einen Lastwagen, der die Kaffeesäcke über die neue Straße in den Dörfern abholt. Das war ein großer Fortschritt", erzählt Dante. Auch sein Gehalt und sein Motorrad werden mit der Prämie des Fairen Handels bezahlt. Die Maultiere wurden trotzdem nicht arbeitslos: Noch immer schleppen sie ihre 60 Kilo schwere Last auf alten Inkapfaden von den entlegenen Gehöften bis in die Dörfer, die an der neuen Straße liegen. Benedicto Alania ist gerade mit Churi über die Berge gekommen und lädt die Kaffeesäcke ab. Er schüttet die Bohnen auf einer betonierten Fläche aus und verteilt sie in der Sonne, so dass sie die Feuchtigkeit verlieren, die sie womöglich während des Transportes gezogen haben. "Diese Anlage gehört uns", sagt er sichtlich zufrieden. "Wir haben sie mit unserer Prämie gebaut."

Die Mauer ist repariert und Dante und Ruben wenden sich dem nächsten Problem zu: Wasser. "Das hier ist eine Wüstengegend, es regnet hier so gut wie nie", erklärt Dante. "Weil es auch kein Grundwasser gibt, sind wir auf die Gletscherbäche angewiesen." Der Agraringenieur erklärt Ruben, wie das Schlauchsystem vom Bach zu dem Feld verlegt werden muss. "Es ist wichtig, dass Du nicht zuviel Wasser abzweigst, sonst haben die Nachbarn, die unterhalb wohnen, nicht genug", mahnt er und dreht den rotierenden Wasserhahn noch ein bisschen weiter zu. "Das reicht, um einen leichten Regen zu simulieren", meint er und geht zu der Trockenanlage hinüber, um auch dort nach dem Rechten zu schauen. "Wie sieht es aus, hast Du auf Deinem Weg hierher auf den Gletscher geachtet?", fragt er Benedicto. Sorgenvoll wiegt er den Kopf, als er hört, dass die Schneedecke des Chukisapra schon wieder um ein paar Meter zurückgegangen ist. "Wenn das so weiter geht, dann werden wir in ein paar Jahren kein Wasser mehr haben." Es gibt nichts, was er dagegen tun könnte und so schiebt er den Gedanken beiseite.

Lucia hat eine herzhafte Mahlzeit aufgetischt: Quinoasuppe, Kartoffeln, Spiegelei und Huhn.  Es ist Tradition, dass diejenigen, die Hilfe von den Nachbarn bekommen, sich um die Verpflegung kümmern. "Ohne die Minka, ohne die Hilfe unserer Dorfgemeinschaft, könnten wir nicht überleben", sagt sie. "Aber ohne den Fairen Handel ginge es genauso wenig." Das alte Paar profitiert nicht nur davon, dass sein Kaffee nicht mehr auf Maultiere verladen durch die Berge transportiert werden muss oder von der Hilfe des Agraringenieurs. "Im letzten Jahr wurde Eugenio krank und die Kooperative hat uns Geld für die Medikamente gegeben", erinnert sich Lucia dankbar.

Dante trinkt noch einen Kaffee und schwingt sich wieder auf sein Motorrad und macht sich auf den Weg zum nächsten Kaffeedorf, wo er sich die jungen Schösslinge anschauen will. Benedictos Maultier scheut, als er an ihm vorbei knattert. So einen Lärm ist es nicht gewohnt. Und dann versinkt das Dorf wieder in der Stille der schroffen Berge.

Tipp: Katharina Nickoleit hat zusammen mit Kai Ferreira Schmidt einen Reiseführer über Peru verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira Schmidt
288 Seiten
ISBN 978-3-89662-336-2
Verlag: Reise Know-How
4. Auflage 2010

Text + Fotos: Katharina Nickoleit

Linktipp:
TransFair - Verein zur Förderung des Fairen Handels mit der "Dritten Welt" e.V.

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[kol_1] Grenzfall: Wenn der Fischbussard dem Piranha zu Leibe rückt
 
Los Llanos. Ein Trip in die Steppe Venezuelas, in der Fernglas und Kamera nur zur Ruhe kommen, weil die Temperatur zur Mittagszeit die Reisende in die Hängematte zwingt. Ein Trip, bei dem die Hitze sichtbar wird, während sich der eine an dem anderen labt, der Storch am Wels aus dem Tümpel, dessen Wasser in einer atemberaubenden Geschwindigkeit verdunstet, die Reisende an der bis zum Rand gefüllten Eis-Bierbox und der Kaiman am größten Räuber der Los-Llanos-Gewässer, dem Piranha.



Der Kaiman ist aber nicht der einzige, dem der Piranha an diesem Nachmittag mundet. Noch leicht benebelt, gerade erwacht aus den Tiefen des mittäglichen Schlafes, in dessen Verlauf sich eine Gruppe von Sittichen im Baum über der Hängematte positioniert hat, um sich mit den Früchten des schattenspendenden Riesen einzudecken und an Ort und Stelle zu verzehren und über den zierlichen Verarbeitungstrakt wieder auszuscheiden, bleibt von der Reisenden, notdürftig wieder reingewaschen, unbemerkt, dass das Einbaumpersonal bereits mit Schnur und Haken diversen Cariben, so der Name der hiesigen, maximal taschenbuchgroßen und damit fast kleinwüchsigen Piranhaart, zu Leibe gerückt war. Drei Stück haben sie aus dem Wasser gezogen und mit einem kleinen Stück Dörrast so präpariert, dass sie nicht unter gehen können, sondern für den Fischbussard gut sichtbar auf der spiegelglatten Wasseroberfläche treiben.



Erst jetzt, als sich der Bussard, den Leckerbissen fest im Visier, in die Lüfte erhebt und sich herabstürzend dem gepfählten Piranha nähert, erkennt die Reisende, immer noch mit dem Abkratzen diverser Reste „austretender“ Sittiche beschäftigt, die Situation, zückt schneller als der Bussard stürzt die Canon und schnappschusst, klack, klack, klack.



Des Abends, frisch geduscht, die SD-Karte geknutscht und einem unbezahlbaren Schatz gleich neben der Locke des Liebsten am Herzen tragend, verkostet die Reisende ihren ersten frittierten Piranha, den sie selbst aus dem Wasser gefischt, und himmelhoch jauchzend preist sie Los Llanos, die Steppe Venezuelas.



Fotos: Frank Sippach
Text: Dirk Klaiber

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida



[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] 200 Jahre Befreiung: Im Interview mit Michael Zeuske

In den Jahren 2009 bis 2011 feiern neun Staaten Lateinamerikas ihre Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Spanien, wobei im Jahr 2010 die 200-Jahr-Feiern – bicentenario – ihren Höhepunkt erreichen. Torsten Eßer hat mit Michael Zeuske, Professor für Iberoamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln, über die Unabhängigkeit, ihre Folgen und die Perspektiven für den Kontinent gesprochen.


1810/ 2010! Viele Staaten Lateinamerikas feiern ihre 200-jährige Befreiung von der Kolonialherrschaft. Was hat ihnen die Befreiung gebracht?
Aus wissenschaftlicher Sicht hat das zunächst nicht viel gebracht. Sozialökonomisch sind die Strukturen in Takt geblieben, die Eliten haben sich nach langen Kriegen und einer nahezu Selbstausrottung an die Spitze der jungen Staaten gesetzt und die alte Kolonialordnung rekonstruiert, mit all ihren Ungerechtigkeiten, den Rassenkonflikten, dem Kastendenken, der ungerechten Bodenverteilung usw. Und dann wurde 200 Jahre lang in Revolutionen ausgekämpft, was Lateinamerika heute ist bzw. zu sein anstrebt.

Allerdings spielen die Befreiungskriege eine wichtige symbolische Rolle als Gründungsakte der Staaten und eines eigenen Geschichtsbewusstseins, auch wenn sie oft mythisch und mystisch überhöht werden.

Warum ist die Schaffung von nationalen Identitäten bzw. einer regionalen lateinamerikanischen Identität über diesen langen Zeitraum so schwierig?
Lateinamerika ist ein Einwanderungskontinent. Hinzu kommt, dass in manchen Regionen 30% bis 50% der Bevölkerung zwangsverschleppt ist. Diese Menschen hatten keine Familie mehr, keine Namen, nur noch eine zerstörte Identität. Sie mussten für sich und ihr Umfeld erstmal eine neue, individuelle Identität entwickeln. Ebenso wurde die Identität der meisten Ureinwohner zerstört, und somit ist es auch für diesen Bevölkerungsteil ein sehr wichtiges Thema. Und letztendlich erlitten auch diejenigen, die aus Europa kamen – also die Elite – einen Identitätsbruch, da sie ihre spanische oder portugiesische Identität ablegen mussten, um auf lange Sicht in der neuen Umgebung zurechtzukommen. Unter diesen Bedingungen gemeinsame Identitäten zu entwickeln ist enorm schwierig.

Wieso entwickelte sich gerade Bolívar zum Held der Befreiungsbewegungen?
Weil er ein sehr impulsiver, politischer Mensch war und zugleich Angehöriger einer konservativen landbesitzenden Elite. Diese Mischung ergab, dass er zunächst auf rein militärische Mittel gesetzt hat. Er versuchte die Radikalität der französischen Revolution militärisch umzusetzen. Erst als er merkte, dass das nicht funktioniert, begriff er, dass die Unabhängigkeitsbewegung auch eine soziale Dimension hat. Und da legte er Axt an zwei Grundfesten der kreolischen Gesellschaft, ans Landeigentum und an die Sklaverei. Allerdings konnte er diese Reformen nicht konsequent durchhalten.

Die unvereinigten Staaten könnte man Lateinamerika heute auch nennen. Warum wurde Bolívars Traum von Großkolumbien oder sogar einem geeinten Kontinent nicht Wirklichkeit?
Die Idee, ein so großes Gebiet zu vereinigen, war damals relativ utopisch. Als Beispiel gab es eigentlich nur Russland, denn die USA waren ja noch klein und ein Erfolg der Westexpansion war noch nicht abzusehen. Die lokalen Verwurzelungen der Oligarchien und die regionalen Sonderentwicklungen sowie die fehlende Infrastruktur standen der Idee entgegen. Aber vor allem die lokalen Eliten waren es, die diese Utopie nicht mitgetragen haben.

Bolívars Ideen wurden schon immer von Politikern aller Art für ihre Sache benutzt. Wie kann das funktionieren? Und warum ist Hugo Chávez darin besonders erfolgreich?
Der Bolívar-Mythos existiert seit etwa 1844, als Präsident José Antonio Páez diesen Kult förderte. Seither hat er alle politischen Lager durchlaufen: Bis 1960 war er ein konservativer, staatstragender Kult. Dann versuchten die kreolischen Marxisten ihn für ihr Konzept der Revolution zu benutzen. Das hat die Sache noch einmal etwas aufgemischt und einen Bolívar geschaffen, der zusammen mit der Volkserinnerung in Venezuela, mit den Liedern und Geschichten der Unterschichten, einen sozialrevolutionären Bolívar erzeugte.

In diesem Milieu ist Chávez aufgewachsen. In der Militärschule hat er den drögen, konservativen Helden kennen gelernt, aus seinem barrio kennt er den Volksbolívar, später kam dann noch der revolutionäre Bolívar hinzu. Aus dieser Mischung hat Chávez seinen neuen Bolívarkult geschaffen, der den Vorteil aufweist, an viele verschiedene Erinnerungen der Venezolaner anknüpfen zu können.

Wieso haben sich die Lebens- und Besitzverhältnisse der Mehrheit in Mexiko kaum verbessert, obwohl die Mexikaner zwei erfolgreiche Revolutionen durchgeführt haben?
Schon Marx hat gefragt, wieso im iberischen Bereich dauernd Revolutionen stattfinden müssen, ohne das sich etwas ändert. Und es ändert sich tatsächlich nichts oder kaum etwas. Wahrscheinlich weil es nie zu wirklichen Landreformen gekommen ist…

Woher kommt der Trend zur diktatorischen Regierungsform in Lateinamerika?
Das ist historisch bedingt. Die weiße Elite schaute immer mit Verachtung auf die anderen Schichten herab. Wer aus den "Unterschichten" aufsteigen wollte, konnte das fast ausschließlich im Militär tun, das war der Aufstiegskanal. Und das Militär ist bekanntlich geprägt von Befehlen, Klientelismus, Führeranhängerschaft etc., so dass das Grundmuster, auf welche Weise sich die "Unterschichten" Demokratie vorstellen, eher ein diktatorisches ist.

Daher auch die starke Neigung zur Gewaltanwendung?
Die Kultur der Gewalt entstammt einerseits den schon erwähnten jahrhundertelangen Kämpfen, andererseits den schreienden sozialen Gegensätzen, den Rassengegensätzen etc.

Ist Lateinamerika immer noch ein abhängiger Kontinent?
Obwohl noch eine starke Abhängigkeit von den USA besteht, erleben wir gerade einen Prozeß der Abnabelung. Die neuen Präsidenten sind dabei, ihre Ländern langsam von externen Kräften zu lösen.

Interview: Torsten Eßer

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: 200 jahre befreiung]





[kol_3] Macht Laune: Fútbol, was sonst?!
 
Endlich wieder Weltmeisterschaft, endlich wieder Fußball satt, endlich wieder Rivalität – und dabei lernt man jede Menge von der argentinischen Mentalität.

Das Kribbeln setzte erst ein, als die ersten Mails aus Buenos Aires in meinen Posteingang "flogen". Einen Tag vor der Weltmeisterschaft in Südafrika. Etwas zaghaft, ein klein wenig kühl und mit verdammt viel Respekt wünschte man mir, wohl stellvertretend für die Deutsche Nationalelf, viel Glück für das Turnier. Selbstverständlich habe ich diese Höflichkeiten ebenso kühl zurückgegeben, nicht ohne nach dem ersten Spiel der Deutschen gegen Australien noch einen draufzusetzen, dass, wie so oft, auch mit einer jungen Mannschaft alles möglich sei, wenngleich man das Können der Mannschaft von Down Under nicht überbewerten dürfe.



"Nein, nein, die Australier waren so schlecht nicht", so mein Freund Federico. "Schließlich sind die 2006 nur durch einen unberechtigten Elfmeter gegen die Italiener ausgeschieden". Nun ja, gebe ich zu bedenken, die Mannschaft vier Jahre später hat doch ein etwas anderes Gesicht. Die Argentinier bleiben höflich, noch treffen die Mannschaften ja nicht direkt aufeinander. Nach dem Serbienspiel sieht die Sache dann etwas anders aus. Uh, qué pasó con Alemania? Ich weiß darauf keine Antwort. Die Deutschen haben einfach so schlecht gespielt, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als zuzustimmen. Jugaron malísimo ärgere ich mich noch jetzt, vor allem, weil das ein Endspiel gegen Ghana bedeutet.

Vor diesem entscheidenden Spiel musste man nur in die Augen der Deutschen Kicker schauen, um die nackte Angst zu sehen. Leider spielten sie auch so, als ob sie eine riesige Ladung in den Windeln hätten. Und doch reichte ein Geistesblitz, um gegen England im Achtelfinale zu stehen. Bien hecho, Alemania lese ich. Nun ja, die Argentinos haben leicht reden. Ein Clown auf der Außenseite, der mit dem Trainergeschäft nicht wirklich etwas gemein hat (außer vielleicht dem grauen Anzug), jede Menge klasse Spieler in den eigenen Reihen und eine vergleichsweise leichte Gruppe, die vor allem die anfällige Defensive nicht wirklich fordert.

Mexiko, bitte wer? Okay, kleine spielverliebte Kicker und trotzdem brauchen die Argentinos einen blinden Schiedsrichter und einen Abwehrspieler Osorio, der offenbar einen kleinen Teil der mächtigen Titelprämie (immerhin über 500.000 Euro pro Spieler) abbekommen möchte. Immerhin das Tor von Carlitos Tevez war sehenswert. Er spielte ja auch bei Boca, dem Arbeiterviertel, wo es am Hafen schon mal richtig eklig riechen kann. El arbitro, un desastre, schreibt mir unterdessen Fede. Ein klein wenig peinlich ist es ihm schon, dass die Argentinier nicht zeigen müssen, wie viel sie können. Einzige Konstante ist immer wieder Abwehrmann Demichelis, der wirklich immer für einen Aussetzer im Spiel gut ist. Aber, so schreibt er weiter, es reiche ja, wenn Torlos-Messi dann mal gegen Deutschland trifft.

Endlich ist es soweit, eine Neuauflage des Viertelfinales 2006, wo sich die argentinischen Fußballer vor allem nach dem Abpfiff nicht mehr ganz im Griff hatten. Ya está, da wird nichts mehr passieren, weil: vorne schießen wir drei Tore und selbst wenn wir zwei bekommen, reicht das allemal für Euch. Jetzt wird der Ton schon etwas rauer. Auf ein Elfmeterschießen wolle er sich aber nicht einlassen, weil das die einzige Möglichkeit für Deutschland wäre gegen Argentinien zu gewinnen. ¡Venceremos! endet die Mail, die einiges an Zuversicht, aber immer noch einen Hauch Respekt vor dem Deutschen Gegner hat. Aber es soll schließlich bei dem Hauch bleiben, vor allem, weil sich die Argentinier nichts sehnlicher wünschen, als endlich wieder den Titel an den Rio de la Plata zu holen.



Fußball ist in der Tat ein Spiegelbild der argentinischen Bevölkerung, ein einziger Identitätsnachweis. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Liga dort unterbrochen wird, weil es Probleme mit gewalttätigen Fangruppen gibt. El fútbol es pasión. Es geht um Alles oder das berühmte Nichts. Alles findet man im Fußball, nichts – oder nur sehr wenig – in der jungen Geschichte des Einwanderungslandes. Italiener, Spanier, später auch Osteuropäer, gälische Gruppen und sogar Deutsche kamen ins Pampaland. Fast krampfhaft wird der Fußball zur Ersatzreligion, wie die Maradona-Kirche eindrucksvoll beweist. Und dennoch: man bleibt erst mal distanziert, höflich, objektiv. Zumindest, wenn keine andere Mannschaft einem an den Karren fahren kann. Spitzt sich die Lage jedoch etwas zu, wird auch verbal aufs Gaspedal getreten.

An vorderster Front steht ein gewisser Diego, dem man so wenig Trainerkompetenz wie die eines Erdmännchens unterstellt. Auf der anderen Seite ist er aber genau das Bindeglied, das das fußballverrückte Volk braucht. Soll doch ein anderer die Taktik aushecken, der kleine Mann ist vor allem dazu da, pasión zu verbreiten. Und jeder, der ihn mal hat spielen sehen, weiß, dass er das so gut wie kein anderer kann. Nicht umsonst schreibt man "El 10" gerne mal D10S.

Ich jedenfalls freue mich schon auf die kommenden Mails, natürlich nur, sofern Demichelis die einzige Konstante bleibt.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_4] Pancho: Beseelt frischer Neustart
Ich dreh durch, es ist schon Juli
 
Mann, was für ein Kampf gegen die Depression. Die erste Jahreshälfte stellte die Gemüter auf eine schier seelezerreißende Probe. Jetzt aber hat sich die Sonne doch noch zur Durchsetzung entschlossen.

Mit der wetterwandelnden Wonne verlangt des Panchos Schneide nach Sonnengereiftem. Und so hat unser Koch den Einkaufswagen mit Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Knobi, roten Paprika, Koriander, kleinen roten Chilischoten, Olivenöl, Salz, Pfeffer, Baguette und unzähligen Limetten bepackt.



Am Schnappsladen ein weiterer Stopp: Tequila, Triple Sec (Orangenliqueur) und zwei Sixpacks 0,5er Wasser-Plastikflaschen. Noch grüble ich, wie sich das Silber der Azteken mit dem frischen Gemüse vereinen wird, da hat Pancho den Mixer bereits mit 1,2 Teilen Tequila, 1 Teil Triple Sec, 1 Teil frisch gepresstem Limettensaft und 3 Teilen Eis gefüllt und crusht und mixt. In der Zwischenzeit stürzt er den Inhalt der Plastikflaschen in sich hinein und fordert mich auf, es ihm gleich zu tun. Ich drehe die Musik auf, um den Nebengeräuschen zuvor zukommen.

Die Gläser schmückt Pancho mit einem Salzrand (die Limette den Glasrand entlang führen und umgedreht in Salz baden). Um 12 Uhr minus Viertel sind die Tomaten gewaschen, das Weißbrot gewässert, die Gurken und Zwiebeln geschält, die Paprika entkernt, der Koriander geschnitten, die Chili von den Stilen getrennt und die dritte, die Sinne weitende Margarita verköstigt. Wir trinken die klassische Variante, was sich im Verlaufe der Gemüseverarbeitungssession auch nicht ändern wird.

So startet Pancho dann auch mit der Zubereitung eines klassischen Gazpachos, einer kalten Gemüsesuppe aus Andalusien. Von den präparierten Zutaten werden eine Paprika, eine Gurke, eine kleine Zwiebel, ein knappes Kilo Tomaten, ein Schuss Olivenöl, ein geweichtes Stück Weißbrot, in der Größe eines Brötchens, ein gehäufter Esslöffel Salz und der Saft einer halben Limette in den Mixer gegeben, cremig gerührt, in die ersten drei Plastikflaschen gefüllt, mit "klassisch" beschriftet und in den Kühlschrank gelegt.

Pancho wiederholt nun das Prozedere: Erst Margarita mixen, verkosten und dann den Mixer mit den Gazpacho-Klassikzutaten befüllen. Hinzu gibt er vier ganze unentkernte Chilischoten und eine handvoll des kräftig duftenden Korianders. Er füllt weitere Plastikflaschen, tauft sie "teuflisch" und platziert sie neben den klassischen in der Kühlung.

Für den letzten Mix-Gang weicht er insofern von der klassischen Variante ab, als dass er auf nur sehr wenig Gurke, dafür mehr Zwiebel, Paprika und Tomaten zurückgreift. Hinzu kommen eine Chilischote und drei Knoblauchzehen. Die gefüllten Plastikflaschen beschriftet er mit "für die Pasta".

In den Mixer gibt er nun den restlichen Tequila und in etwa gleiche Anteile von Limettensaft und Triple Sec und gießt uns zwei gewaltige Gläser voll und verkündet: "Danach Siesta". Sechs Stunden später kommen die Gäste, die kaum frischer aussehen als wir und stärken sich entweder an "klassisch" oder "teuflisch" und natürlich dem Bier der Heimat, dem Kölsch der Kölschen, dem Kölsch. Es folgen Spaghetti, deren Zubereitung Pancho ganze zwei Minuten aus der Mitte seiner Gäste entreißt. Die Salsa "für die Pasta" macht er kurz heiß, den Zeitpunkt des richtigen Abgießens hat er im Blut, Parmigiano steht auf dem Tisch, zugreifen darf jeder selbst.



Der Dank gilt der Kraft der späten Sonne. Hat Pancho der eisigen, grauen Depression erst einmal getrotzt, dann rettet er mit seinen spontanen Fiestas auf der Dachterrasse die wintergeschundenen Seelen.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 07/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





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