ed 07/2008 : caiman.de

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brasilien: DASPU contra Fashion Week 2008
Bunte und schrille Modetage in São Paulo
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Tambo Colorado - Erste Begegnung mit den Inkas
NIL THRABY
[art. 2]
venezuela: Tafelberge / Ciudad Bolívar
DIRK KLAIBER
[art. 3]
venezuela: Nest des Weißbart-Schattenkolibri
JOE KLAIBER
[art. 4]
helden brasiliens: Brasiliens erster Fußballstreich
Vor 50 Jahren: Pele, Garrincha und Zagallo holen den WM-Titel an den Zuckerhut
THOMAS MILZ
[kol. 1]
amor: Hochland, Tiefland, Deutschland
Heimatsuche zwischen Bolivien und Europa
LENNART PYRITZ
[kol. 2]
grenzfall: Tanz der leidenschaftlichen Gebrechen
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
erlesen: Stefan Rinkes Kleine Geschichte Chiles
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: DASPU contra Fashion Week 2008
Bunte und schrille Modetage in São Paulo

Die Top-Models der Designer-Welt, hunderte Journalisten aus aller Herren Länder, schicke Klamotten und viel Rummel. Seit Jahren ist die Fashion Week in São Paulo eines der großen Modeereignisse unserer eitlen Welt.


Auch dieses Jahr reihten sich die Schönheiten aneinander, um eine Woche lang die neuesten Kreationen der aus ganz Brasilien angereisten Modeschöpfer zu präsentieren. Stets begleitet von einem Tross wild knipsender Fotografen.

Stolz wedelten die wenigen vor dem Eingang der Biennale wartenden Auserwählten mit ihren Eintrittskarten – wer drin ist, ist in. Umherstehende bettelten umsonst um Einlass.


Backstage drängelten sich die Fotografen und TV-Teams um einen kurzen Blick auf die Models zu erhaschen, die sich stundenlangem Schminken und Frisieren unterzogen. „Zur Seite, wir müssen arbeiten“, knurrten die Hair-Designer ihnen entgegen, während die schönen Damen ein leichtes Lächeln in die Linsen zauberten.

Getrübt wurde die Schau der Schönheit nur von einem leicht „übergewichtigen“ Supermodell. „Speckrollen“ habe sie zur Schau gestellt, so schrieb am nächsten Tag die aufgebrachte Presse. „Übergewichtig“ sei sie gewesen und Beine und der Pobereich reine Cellulitis.

Solche Probleme hatten die „Modells“ von DASPU dagegen nicht. Die Prostituierten-NGO DAVIDA, die vor einigen Jahren ihr eigenes „Modelabel“ DASPU ins Leben rief, organisierte eine Gegenveranstaltung zur Woche der Schönheit.


Mitten auf der Straße der Praça Roosevelt, im Zentrum São Paulos, ließ man Prostituierte, Transvestiten und männliche Models auflaufen, die die unprätentiöse Kollektion von DASPU präsentierten.

Die vielen Hundert Schaulustigen entlang des auf die Fahrbahn gemalten Laufstegs hatten ihre helle Freude an den improvisierten Laien-Auftritten der Unbekannten und partizipierten lautstark.


Was den Spaßfaktor angeht, gewann DASPU locker 10:1 gegen die Fashion Week. Der Rest ist, wie stets im Leben, reine Geschmackssache.

Text + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Peru: Tambo Colorado - Erste Begegnung mit den Inkas

Eine gute Stunde landeinwärts von Pisco liegt Tambo Colorado, eine der besterhaltensten "Wachstationen" der Inka und gleichzeitig unser erster Kontakt mit den Inkas.

Sicherlich eine der herausragendsten Errungenschaften der Inkas war ihre staatsweite Kommunikation, die im Wesentlichen aus einem ausgeklügelten Läufersystem bestand. Dieses System funktionierte so gut, dass die Adeligen in Cuzco frischen Fisch essen konnten. Cuzco liegt Luftlinie knapp 400 Kilometer landeinwärts und auf etwas über 3300 Meter über dem Meeresspiegel.

Vielleicht fast noch beeindruckender ist die Tatsache, dass die chasquis, die Läufer also, Nachricht aus dem gesamten Großreich innerhalb einer Woche überbringen konnten. Und das von Quito (Ecuador) bis Santiago in Chile!

Anfangs waren die Tambos sicherlich nicht viel mehr als einfache Wegstationen, an denen die angesehenen chasquis Rast machten und sich von den Strapazen erholen konnten. Aber mit der Zeit entwickelten sie sich zu wichtigen Verwaltungszentren. Tambo Colorado war einer der größeren Tambos und diente unter anderem auch zur Kontrolle der Küstenregion: von Cuzco aus sicherlich kein einfaches Unterfangen.

Den Namen verdankt Tambo Colorado der Farbe seiner Mauern, einem dunklen Rot unter gleißender Sonne. Auf den ersten Blick wirkt die Ruine wenig beeindruckend; sicherlich auch ein Grund dafür, dass wir neben einer Gruppe Schüler die einzigen Besucher sind. Da die Inkas kein besonderes Augenmerk auf Dächer legten, sind nur die Mauern übrig; was der gesamten Anlage ein gewisses Flair von Pompeji verleiht, ohne dass jedoch kunstvolle Mauern sichtbar wären.

Wenn man allerdings dem Auge ein wenig Zeit lässt und geduldig durch die Anlage schlendert, entdeckt man dann doch sehr viel Sehenswürdiges.

An der Küste wurde und wird weiterhin viel mit Lehmziegeln gebaut. Die Inkas waren ein Volk, das ursprünglich aus den Bergen kam, wo es vielleicht wenig Vegetation aber immer genug Steine gab. So ist auch Tambo Colorado als Steinbau begonnen worden: hier und da sieht man noch die Grundmauern aus herrlich zusammengefügten, enormen Steinblöcken.

Später dann, so scheint es, haben die Inkas wohl den locals recht gegeben, die es nicht müde wurden zu betonen, dass ihre Lehmziegel doch auch ganz hübsch und soooo viel einfacher herzustellen seien. Und so erfolgte die Fertigstellung der Anlage mit Lehmziegeln.

Tambo Colorado muss einmal sehr farbig gewesen sein. Überall - vor allem in dem völlig verwinkelten Hauptpalast - sieht man noch Farbreste an den Wänden. Als ich durch einige enge und kleine Türen streife, merke ich, dass die Farbe auch nach 500 Jahren noch nicht ganz trocken ist: an meinem T-Shirt klebt ein bisschen Gelb und ein wenig Rot von den Lehmziegeln.

Auch treffen wir hier bereits auf die typischen Formen der Inka-Architektur: trapezförmige Türen und Fenster vor allem, die erdbebensicher sind. Oder zumindest erdbebensicherer als rechteckige. Zudem sehen wir die typische "gepixelte" Sonne - hier als eine halbe Sonne in Form eines Fensters -, das Zeichen der Inkas.

Nachdem wir einige Zeit durch die verwirrenden Zimmer des Palastes gestreift sind und uns über die Größe oder besser eben Nichtgröße der einzelnen Räume gewundert haben, verlassen wir den Palast und wandern durch den Rest der Anlage.

Der riesige Platz im Zentrum war den offiziellen Zeremonien gewidmet, an die allerdings nur ein kleines Podest am Kopf des Platzes erinnert. Heute wirkt der Platz, ohne die vielen Menschen, die ihn damals wohl bevölkert haben, einfach nur leer und öd. Und von dem Rest der Anlage ist auch nicht viel übrig. Der Tempel ist fast vollständig zerstört, es wird nicht einmal mehr richtig klar, wo er beginnt und wo er endet.

Wir verlassen das Gelände und suchen den angeblich nahegelegenen Friedhof. Ein freundlicher und zahnloser Mann weist uns den Weg "gleich um die Ecke". Entgegen unseren Befürchtungen ist es aber tatsächlich gar nicht so weit. Der Berg, den wir hinauflaufen, ist von einer auffallenden Trockenheit. Hier ist seit Jahrhunderten kein Regentropfen mehr gefallen. Noch dazu haben Wind und Flugsand die Steine scharf geschliffen, so dass eine wirklich unwirtliche Atmosphäre entsteht. Abstoßend und lebensfeindlich sind wohl die richtigen Worte. Man gewinnt den Eindruck, dass die Inka - trotz ihres Mumienkultes - ihre Toten genauso ungern um sich hatten wie wir.

Den Friedhof kann man leicht verpassen. Er liegt, keineswegs gekennzeichnet, am Wegrand und verschwindet, beinahe perfekt getarnt, in dem übrigen Felsgeröll. Nur ein paar Fußspuren in seine Richtung verraten ihn.

Ein paar kleine, flache Häuser mit äußerst niedrigem Eingang und mittlerweile eingestürzten Dächern bilden die letzten Ruhestätten. Man läuft auf einem Weg etwas oberhalb der Grabhäuser entlang. Überall - nicht nur in den Häusern - liegen Knochen und Knochenreste. Wir fragen uns, ob das wirklich ein Inkafriedhof sein kann; aber es kann wohl.

Die Unwirtlichkeit des Ortes und seiner Umgebung verstärkt den Eindruck, den der Anblick der offenen Gräber auf mich macht. Ich fühle mich als Voyeur, wo ich als solcher nicht willkommen bin. Die Knochen sollten unberührt und unbesehen verrotten dürfen. Trotzdem beeindruckt mich die Szene so sehr, dass ich vor dem Verlassen noch ein paar Photos schießen muss. Sie mögen es mir nachsehen.

Text + Fotos: Nil Thraby

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Venezuela: Tafelberge/Ciudad Bolívar

Vor 200 Millionen Jahren zerbricht der Urkontinent Gondwana und die heutigen Kontinente spalten sich ab und begeben sich auf Wanderschaft. Aber nicht nur das Gesamtbild verändert sich, sondern auch die Kontinente an sich, deren Gesteinsschichten entzerrt und gefaltet werden. Letzteres bringt das Guayana Tableau hervor, das sich bis zu 2000 Meter emporhebt und über die venezolanischen Staaten Bolívar und Amazonas (Nordhälfte) bis nach Nordbrasilien erstreckt.

Gran Savana
Lagune von Canaima

Das Guayana Tableau besteht hauptsächlich aus Sandsteinschichten, die über die Jahre hinweg Wind und Wasser nur wenig trotzen können. Und so wird das Tableau nach und nach ausgewaschen und abgetragen. Übrig bleiben 115 Tafelberge.

In Venezuela finden sich die meisten Tafelberge der Erde. Diese aus dem flachen Land herausragenden Bergformationen werden von den in der Gran Savana heimischen Pemón-Indianern Tepui, Haus der Götter, genannt.

Weltweit einzigartig sind Flora und Fauna, die sich seit Jahrmillionen losgelöst von der restlichen Pflanzen- und Tierwelt auf den gewaltigen Hochplateaus entwickelt haben. Noch sind bei weitem nicht alle Arten erforscht. Es wird geschätzt, dass 70 Prozent allen Lebens auf den Tepuis endemisch ist. Hinzu kommt, dass die Oberflächen geradezu labyrinthartig zerklüftet sind und Besucher angesichts der wirren Steinformationen in einen wahren Phantasierausch geraten, der sich durch atemberaubende Aussichten noch verstärkt.

Salto Angel
Tafelberg Auyantepui

Im Gegensatz zum Umland der Tepui, das stetig hohe Temperaturen um 30°C aufweist und der für die Tropen typischen Einteilung der Jahreszeiten in Trocken- und Regenzeit untersteht, herrscht auf den Tafelbergen ein raueres Klima. Im Durchschnitt ist es oben 20 Grad kälter als unten und das ganze Jahr über beherrschen Nebel und Regen das Wetter, wenn sich die Trockenzeit auch durch weniger Wassermassen bemerkbar macht. Das Regenwasser ergießt sich in unzähligen Bächen und Wasserfällen die Tepui hinab. Berühmt ist der Salto Angel, der von dem gewaltigen, 700 Quadratkilometer großen, Tafelberg Auyan Tepui 1000 Meter in die Tiefe stürzt und damit als der höchste Wasserfall der Welt gilt.

Ciudad Bolívar
Ausgangspunkt für Touren in die Region, besonders nach Canaima zu denTafelbergen und dem Salto Angel, dem höchsten Wasserfall der Welt oder per Jeep in die Gran Savana ist in erster Linie Ciudad Bolívar. Darüber hinaus starten von hier Touren ins Orinocodelta, zum Rio Caura und zu den beiden Tafelbergen Chiricayen und Roraima.

Ciudad Bolívar, das neben der Uferpromenade des Orinoco ein historisches Zentrum zu bieten hat und bis zu seiner Umbenennung im Jahr 1846 zu Ehren des Befreiers Simón Bolívar, Angostura hieß, wurde 1764 gegründet und war ab 1817 zwei Jahre lang während der Unabhängigkeitskämpfe strategische Hauptstadt. 1819 rief der Kongress von Angostura unter der Leitung von Simón Bolívar die Republik Großkolumbien (Venezuela, Kolumbien, Panama und Ecuador) aus. Im historischen Zentrum Ciudad Bolívars sind eine Reihe sehenswerter kolonialer Bauten, wie eben das Kongressgebäude, erhalten geblieben - wenn sie auch zum größten Teil im Innern für Publikumsverkehr leider nicht zugänglich sind. Die Altstadt ist am Tag belebt, am Abend jedoch wie ausgestorben, da unsicher.



Kultur
1 Aussichtspunkt über den Orinoco. Gen Westen erblickt man die gewaltige Brücke über den Orinoco, die Puente de Angostura.

3 Museo de Ciudad Bolívar: Druck der ersten Zeitung der Republik Venezuela. Die Druckerpresse kann besichtigt werden.

4 Instituto Cultural del Orinoco: Handwerks- und Kunstarbeiten der Indianer im Gebiet des Orinoco

6 Casa del Congreso de Angostura

7 Catedral: Baubeginn der Kathedrale war zeitgleich mit der Stadtgründung 1764

Essen und Trinken
2 Restaurante Mirador Angostura: Toller Blick, moderate Preise

8 Arepas im Comedor Tostadas Juancito

9 Vegetarische Speisen im Gran Fraternidad Universal

Hotels/Posadas
Tipp: Posada La Casita (deutsch-venezolanische Leitung), Urbanización 24 de Julio,
www.gekkotours-venezuela.de,
T (0285) 61 70 832, M 0414 8545146, E info@gekkotours-venezuela.de,
großer Garten mit Pool
In der Posada La Casita befindet sich auch das Tourbüro: Turismo Gekko S.A. Die Posada liegt 10 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums, bietet aber mehrmals täglich einen kostenlosen Shuttle und hat die beste Betreuung: Touren nach Canaima starten direkt ab der Posada La Casita.
Preis ab US-$ 27 pro DZ (IOW)

5 Posada Angostura, Calle Boyacá Nr. 8, T (0285) 63 24 639
Koloniales Haus, zentral gelegen zwischen Orinoco und Plaza Bolívar

10 Posada Don Carlos, Calle Boyacá Nr. 26, T (0285) 632 60 17
Koloniales Haus, zentral gelegen nahe Plaza Bolívar

Gran Savana
Tafelberg Auyantepui

Text: Dirk Klaiber
Fotos: Posada Casa Vieja Mérida

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida / Tabay / Altamira

Reisen in Venezuela & Touren zum Tafelberg buchen:
www.venezuela-eco-reisen.de/tafelberge/




[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_4] Venezuela: Nest des Weißbart-Schattenkolibri

Inmitten eines Leks (Balzareal) - wir studierten hier das Balzverhalten der Weißbrust-Pipras - entdeckten wir das Nest eines Weißbart-Schattenkolibris.

Fütterung eines Jungvogels

Das Nest befindet sich im tropischen Bergregenwald bei Altamira de Caceres im Staat Barinas auf 900 Meter über dem Meeresspiegel, dem Übergang der Anden zur Steppenlandschaft der Los Llanos, genauer gesagt an der Spitze eines kräftigen Blatts einer Ingwerpflanze (COTUS). Es weist die Form eines langgezogenen Trichters auf, ist aus dünnen Gräsern geflochten, misst 30 Zentimeter in der Länge und 10 Zentimeter an der breitesten Stelle und hängt 1,2 Meter über dem Boden. Der Eingang ist etwas schmaler und wird vom Kolibriweibchen, wenn es sich rücklings in das Nest "hineinsetzt", komplett ausgefüllt.

Nest im Bergregenwald [zoom]
Muttertier sitzt auf dem Nest

Gestoßen sind wir auf das Nest als wir das Muttertier beobachteten und dieses immer wieder dieselbe Ingwerpflanze ansteuerte. Im Nest selbst befanden sich zwei Jungvögel. Die Mutter versorgte diese im Abstand von zwei bis fünf Minuten mit Nektar, den sie den Jungvögeln über ihre lange Zunge zuführte.

Bei diesem Nektar handelt es sich hauptsächlich um den Nektar der Paradiesblume (HELICONIA). Der Schnabel des ausgewachsenen Weißbart-Schattenkolibri ist so geformt, dass er problemlos in die Blüten der Heliconia vorzudringen vermag. Die Zunge fährt dabei in den Trichter, um den Nektar auszuschlecken.


Wie auch verschiedene andere Kolibriarten machen Weißbart-Schattenkolibris bis zu 80 Flügelschläge pro Sekunde. So können sie in der Luft "stehen" und den Nektar der Blüten aufnehmen. Im Gegenzug sorgen die Kolibris bei dieser Nahrungsaufnahme für die Bestäubung einiger Pflanzen.

Im Gegensatz zu territorialen Kolibris, die sich auf nur einen Strauch oder Baum konzentrieren und diesen verteidigen, wie beispielsweise die Amazilien, ziehen Schattenkolibris auf der Suche nach Nahrungsquellen zu verschiedenen Pflanzen. Zudem bilden Insekten eine wichtige Proteinquelle. In Altamira handelt es sich dabei in erster Linie um Essigfliegen, die sich der Weißbart-Schattenkolibri im Flug schnappt.

Text: Joe Klaiber
Fotos: Dirk Klaiber
Nest Weissbart-Schattenkolibri


Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida / Tabay / Altamira



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[kol_1] Helden Brasiliens: Brasiliens erster Fußballstreich
Vor 50 Jahren: Pele, Garrincha und Zagallo holen den WM-Titel an den Zuckerhut

Es gab einmal eine Zeit, in der Deutschland bereits Weltmeister war und Brasilien nicht. Doch das ist schon 50 Jahre her.

Als Anfang Juni 1958 in Schweden die sechste Weltmeisterschaft begann, war Deutschland als amtierender Weltmeister der Titelverteidiger und Brasilien der große Außenseiter. Doch als am 29. Juni 1958 das Finale abgepfiffen wurde, hatte sich die Fußballwelt grundsätzlich verändert. Brasilien war zum neuen Fußballgiganten aufgestiegen. Die "Generation Pele" sollte den Weltfußball über die nächsten 12 Jahre bestimmen. Für Deutschlands überalterte Wundertruppe von Bern sollte immerhin noch der vierte Platz herausspringen.

Dabei hatte in Brasilien kaum jemand mit der großen Überraschung gerechnet. Der heute 76-jährige Mario Zagallo, linker Außenstürmer der Elf von 1958, erinnert sich an die Zweifel in seinem Heimatland vor dem WM-Start: Wir hatten die WM 1950 im Maracana-Stadion verloren. Danach in der Schweiz, 1954, haben wir nicht gut gespielt und sind früh ausgeschieden und nach Hause gefahren. Dann kam 1958 und Brasilien hatte noch nie eine WM gewonnen. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass es diesmal soweit sein sollte.


Deswegen lastete nicht dieser enorme Druck auf unseren Schultern: die Verpflichtung zu gewinnen. Und das war gut so. Auf der Anreise nach Schweden im Flugzeug sagten einige Journalisten sogar zu uns: wir haben den Rückflug schon gebucht. Ich hab da nur gesagt: okay, ihr glaubt halt nicht dran. Aber wir werden spielen und wir glauben.

Bei den vorangegangenen fünf Weltmeisterschaften hatte zudem stets eine Mannschaft des Kontinents gewonnen, auf dem die WM stattfand. In Südamerika gewann die Mannschaft Uruguays in Uruguay 1930 und in Brasilien 1950, und in Europa die Mannschaft Italiens 1934 in Italien und 1938 in Frankreich, und die Deutschlands 1954 in der Schweiz.

Hinzu kam bei den Brasilianern ein historischer Unterlegenheitskomplex, den man als "complexo vira-lata", als Mischlingskomplex beschrieb. Der brasilianische Fußballjournalist Juca Kfoury dazu: In den 50er Jahren sagte man Folgendes: die brasilianischen Spieler, wenn sie nach Europa kommen, fühlen sich unwohl, leiden unter der Kälte, mögen das Essen dort nicht und vor diesen Menschen vom Typ Deutsche bekommen sie Angst, "schau mal dieser riesige Deutsche, mit den hellen Augen und den blonden Haaren" und mit dieser "Gesundheit wie eine preisgekrönte Kuh", wie es der Sportkolumnist Nelson Rodrigues stets sagte... Doch dieser "Komplex des Mischlings" veränderte sich nun.

Dafür sollte vor allem ein Mann sorgen: Mit an Bord der VARIG-Maschine Richtung Schweden war ein junger Spieler, der bereits in Brasilien für Furore gesorgt hatte, aber noch auf seine internationale Reifeprüfung wartete: der 17-jährige Edson Arantes do Nascimento, genannt Pele, Wunderstürmer vom FC Santos. Viele Experten waren skeptisch, ob Pele nicht noch zu jung für eine solche Belastung wie eine WM sei. Oder sogar zu "infantil" wie der Teampsychologe der Seleção anmerkte.

Mit dabei auch der 24-jährige Manoel dos Santos, genannt Garrincha, mit schiefer Hüfte und O-Beinen. Doch als rechter Außenstürmer hat die Welt wohl niemals einen besseren gesehen.

Zusätzlich zu seinen Wunderwaffen Pele und Garrincha verfügte Brasilien auch noch über den Trainerfuchs Vicente Feola, den alle nur "o gordo", den Dicken nannten. Er hatte sich ein damals neuartiges Spielsystem zurechtgelegt: statt strikter Manndeckung und starrem System setzte Feola auf das Öffnen und Schließen von Räumen, indem er zum Verteidigen zwei Mittelfeldspieler zurückbeorderte und zum Angreifen zwei Mittelfeldspieler zu den Stürmern hinzuzog.

Mario Zagallo erinnert sich: Wir spielten nicht ständig ein 4-2-4. Es war eher ein 4-3-3 wenn wir verteidigten, aber wenn wir angriffen, wechselten wir in ein 4-2-4. Dann verließ ich das Mittelfeld und ging als Außenstürmer nach Links und Didi ging aus dem rechten Mittelfeld in die Spitze. Zwei Mittelfeldspieler gingen also in die Spitze, gemeinsam mit den drei Stürmern, die dort schon lauerten.

Das machte den großen Unterschied aus. Hätten wir immer in einem 4-2-4 gespielt, wären wir in der Defensive zu schwach gewesen. Und wenn wir im Ballbesitz waren, hatten wir außerordentliche Spieler, die auf Grund ihrer technischen Qualität die gegnerische Defensive beschäftigen konnten.

Die noch traditionell entweder im 2-3-5-System oder im so genannten WM-System spielenden europäischen Gegner waren auf die brasilianische "Überfalltaktik" nicht eingestellt. Gerade erst hatte man sich in der vielbeinigen brasilianischen Defensive festgerannt, da stürmte bereits die halbe Seleção auf das eigene Tor zu.

Als erstes mussten sich die hoch gehandelten Österreicher mit 3:0 überrennen lassen. Allerdings verzichtete Trainer Feola noch auf Pele, der mit einer Knieverletzung nach Schweden aufgebrochen war, und auf Garrincha, der Feolas Meinung nach zwar die gegnerischen Abwehrreihen verrückt machen würde, aber im Stande war, im eigenen Team den gleichen Effekt auszulösen. Denn Garrincha machte auf dem Platz, genau wie in seinem Leben überhaupt, stets das, was ihm gerade in den Sinn kam. Ein Albtraum für einen Trainer, der mit ausgeklügelten Spielsystemen hantierte.


Erst nach einem torlosen zweiten Spiel gegen England nahm Feola Pele und Garrincha ins Team. Und die beiden schlugen ein wie eine Bombe. Und so gelten die ersten Minuten des Spiels gegen die UDSSR noch heute als einer der ganz großen Momente in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaften. Spätestens jetzt war der Fußballwelt klar, mit wem sie es hier zu tun hatten. Sergio Xavier, Chefredakteur der Fußballzeitschrift Placar: Der Große Unterschied lag in der Technik und im Überraschungsmoment. Niemand kannte damals Garrincha oder Pele. Jeder Gegner Brasiliens bemerkte erst im Moment des Spiels, dass diese beiden Ausnahmespieler darstellten. Und sie wurden während der WM immer besser.

Um nicht ähnlich überrannt zu werden wie die UDSSR, stellte sich Brasiliens Viertelfinalgegner Wales mit nahezu der ganzen Mannschaft zwischen die eigenen Pfosten. Brasilien rannte 65 Minuten erfolglos an bis Pele endlich das erlösende 1:0 gelang - sein erster Treffer bei einer WM.

Die Waliser hatten angedeutet, wie das Wunderteam aus Brasilien wenigstens zeitweise zu stoppen sei. Doch die nächsten beiden Gegner zogen aus dem walisischen Beispiel keine Konsequenz. Beide spielten offensiv gegen die Seleção - und wurden dafür bestraft: Mario Zagallo: Gegen Frankreich und Schweden kam es zu einem offenen Schlagabtausch. Beide agierten sehr offensiv gegen die brasilianische Mannschaft. Das waren jeweils sehr schön anzusehende Spiele, denn sie spielten und ließen den Gegner auch spielen. In beiden Spielen haben wir letztlich hoch gewonnen, denn die brasilianischen Spieler überzeugten mit besserer Qualität. Gegen Frankreich gewannen wir mit 5:2.

Der junge Pele steuerte beim Halbfinalsieg gegen die Franzosen in der zweiten Halbzeit einen Hattrick bei. Spätestens jetzt war der Welt klar, dass ein neuer Fußball-König geboren war. Und so kam es am 29. Juni 1958 in Stockholm zum Finale zwischen Gastgeber Schweden, der das deutsche Team in dem so genannten "Skandalspiel von Göteborg" mit 3:1 besiegt hatte, und der Seleção. Mario Zagallo erinnert sich an die damalige Aufstellung der Seleção: Es spielten Gilmar (Tor), Djalma Santos, Bellini, Orlando, Nilton Santos (Verteidigung), im Mittelfeld Zito und Didi, zudem Garrincha, Pele, Vava und Zagallo - derselbe Zagallo übrigens, der hier gerade mit Ihnen spricht.


Doch bereits in der fünften Minute musste Brasilien einen heftigen Schock überstehen: Liedholm brachte die Schweden mit 1:0 in Führung. Die Begeisterung der 50.000 Zuschauer im Rasunda-Stadion von Stockholm kannte keine Grenzen. Und die Brasilianer beschlich der Geist einer längst vergessen geglaubten nationalen Tragödie: der Niederlage im Endspiel der Heim-WM von 1950, die Tragödie vom Maracana: Mario Zagallo: Die Schweden machten schnell ihr erstes Tor. Als der Ball im Netz lag, spielte sich in meinem Kopf ein Film ab: die WM 1950! Ich fragte mich: sollte es wirklich wieder passieren, dass wir eine WM verlieren? Das dachte ich in der Sekunde, als Didi den Ball aus dem Netz fischte. Er nahm den Ball und ging langsam Richtung Anstoßpunkt. Ich lief von meiner linken Position aus hin zu ihm und rief: Beeilung, wir verlieren! Er sagte nur: bleib ruhig, wir bleiben gelassen und drehen das Spiel. Und so kam es auch.

5:2 gewann die Seleção und ganz Brasilien stand Kopf. Eine neue Fußballmacht war geboren. Locker verteidigte die nahezu identische Seleção vier Jahre später in Chile den WM-Titel. Als man jedoch die alten Helden noch einmal zu einer WM schickte, der WM 1966 in England, war für die Rentnertruppe das Turnier schnell zu Ende. Lediglich Pele sollte 1970 noch einmal antreten. Und mit 29 Jahren krönte er seine Karriere mit einer sensationellen Leistung und dem dritten WM-Titel. Mario Zagallo war damals bereits Trainer der Seleção und wurde der Erste überhaupt, der sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister wurde. Franz Beckenbauer sollte es ihm später gleichtun.



Doch Zagallos Statistik ist unerreicht: zwei WM-Titel als Spieler, als Trainer einen WM-Titel (1970) und eine Vizeweltmeisterschaft (1998) und zudem noch einen WM-Titel als Assistenztrainer (1994).

Zagallo und Pele sind einige der wenigen Helden von 1958, die es zu Wohlstand und einem stabilen Leben nach der aktiven Karriere gebracht haben. Die meisten anderen versanken in Armut und Vergessenheit.

In unseren Zeiten, in denen Fußballer Millionengehälter kassieren, ist solch ein Schicksal kaum noch vorstellbar. Früher, so Sportjournalist Juca Kfoury, war es eine Ehre, für die Seleção zu kicken. Heute ist es die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen: Für mich kommt es hierbei auf die unterschiedliche Sichtweise der Welt an. Für die damaligen Spieler bedeutete Fußball Leben. Die Spieler von heute benutzen den Fußball, er ist nicht mehr das Ziel. Der Vertrag mit Nike oder mit Audi ist viel wichtiger.

Viele der Helden von 1958 sind heute bereits tot oder fristen ein trauriges Dasein. Der große Garrincha trank bis zur Besinnungslosigkeit nachdem sein Knie nicht mehr mitmachte und er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Innerhalb von vier Jahren musste er 15 Mal wegen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mit 49 Jahren starb er schließlich, im Jahr 1983, nach einem weiteren Alkoholexzess.

Mario Zagallo: Was ich heute fühle? Ich würde gerne all das noch einmal erleben. Diese Momente der Glorie, diese Glücksgefühle, die ich damals hatte... Aber das ist nun einmal nicht die Realität. Dies ist lediglich ein Traum, der sich nicht mehr in Realität verwandeln kann.


Andererseits ist es real, was damals passiert ist. Wir alle sind in den Geschichtsbüchern der Weltmeisterschaften verewigt. Das ist die Wahrheit.

Text, Fotos + Interviews: Thomas Milz

Das Genie mit der Vogelseele - Aufstieg und Fall des Brasilianers Garrincha
Pelé - der "Gott" mit der Nummer 10

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_2] Amor: Hochland, Tiefland, Deutschland
Heimatsuche zwischen Bolivien und Europa

"Sieh mich an, dann weißt Du, wo meine Wurzeln liegen!", sagt Rodrigo Soria Auza und wirft lachend den Kopf zurück. Schwarzes Haar, bronzefarbene Haut, ein breites Gesicht mit dunklen Augen. "Meine Vorfahren waren allesamt indígenas, Quechua-Indianer, bis auf einen Urgroßvater väterlicherseits, der war spanischer Missionar, und dem haben wir neben dem christlichen Glauben auch unseren Nachnamen zu verdanken." Soria - heute ca. 40.000 Einwohner zählende Hauptstadt der gleichnamigen nordspanischen Provinz, am Oberlauf des kleinen Flusses Duero gelegen

"Meine Mutter kommt ursprünglich aus Tarija, im bolivianischen Süden, die Familie meines Vaters kommt aus den Bergen, aus Cochabamba. Und ich bin auch ein Cochabambino", schließt Rodrigo schnell an und klopft sich dabei wiederholt mit der Faust gegen die Brust. Die Kellnerin der Studentenkneipe kommt und nimmt die Bestellung auf. "Wenn`s um Bier geht, fühle ich mich allerdings auch in Deutschland sehr heimisch!", sagt er grinsend. Rodrigo lebt seit einem Jahr in Göttingen und arbeitet an seiner Doktorarbeit in Biologie. Während seines Studiums an der Universität in Cochabamba hatte er zwei deutsche Biologen kennen gelernt, die ihn unterstützten. Zunächst arbeitete er mit ihnen an Naturschutzprojekten im bolivianischen Tiefland, später halfen sie ihm, eine finanzierte Promotionsstelle in Deutschland zu finden.

Deutschland ist für Rodrigo zu einer Heimat auf Zeit geworden. Aber im Hinterkopf hat sich stets der Wunsch gehalten, nach Bolivien zurückzukehren. "Die Unterschiede zwischen den Ländern sind enorm. Bolivien ist so laut und bunt, so schmutzig und arm, in weiten Teilen unterentwickelt - aber es ist meine Heimat, das heißt für mich der Ort meiner Kindheit, meiner wichtigsten Erfahrungen und meiner besten Freunde." Deutschland sei auch schön, todo funciona, alles in Ordnung. Hier bleiben wäre einfacher, es gibt mehr Jobs als in Bolivien, mehr Geld, mehr Sicherheit, aber er müsse sich verlieben, um hier wirklich anzukommen. "Ich müsste hier meine Frau finden und eine Familie gründen, um mich heimisch zu fühlen. Aber im Moment schlägt mein Herz hauptsächlich für Bolivien."

Auch Rodrigos Bruder Bernardo lebt zur Zeit in Europa. Er ist vor einigen Jahren nach Spanien ausgewandert, da er seine Familie mit den 400 Bolivianos (umgerechnet etwa 40 Euros), die er als Anwaltsgehilfe pro Monat in Cochabamba verdiente, nicht ernähren konnte. Anfangs arbeitete er schwarz, wie geschätzte 800.000 weitere Illegale in Spanien. Natürlich ohne Rechte und ohne Versicherung, aber für mehr Geld als in Bolivien. Im Rahmen der Legalisierungskampagne des spanischen Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero erhielt er schließlich im Frühjahr 2005 eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, da er nachweisen konnte bereits mehr als ein Jahr in Spanien gelebt und seit über sechs Monaten einen Arbeitsvertrag zu haben.

"Viele Südamerikaner sind nur in Spanien, um Geld zu verdienen. Sie arbeiten und arbeiten, viele haben zwei oder mehr Jobs und schlafen nur vier Nächte pro Woche", sagt Rodrigo nachdenklich. "Oft werden sie von den Spaniern auch noch beschuldigt, sie würden ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, aber die meisten Arbeiten, von denen die Illegalen leben, würden die Spanier selbst nie machen. Mein Bruder ist zufrieden in Spanien, aber er will irgendwann auch wieder zurück nach Bolivien. Allerdings denkt nicht die ganze Familie so. Sein kleiner Sohn fühlt sich in Spanien sehr wohl und hat Freunde in der Schule. Das ist eine andere Generation, und ich denke, der will bleiben."

Plötzlich wird Rodrigo noch ernster. Er sei froh, dass sich die Sozialistische Arbeiterpartei in Spanien der Illegalen angenommen habe. "Das sind arme Leute ohne Perspektive." Die meisten von ihnen sind indígenas wie er und haben in Bolivien keine Chance mehr für sich gesehen. Denn obwohl 85 % der Bevölkerung indianischen Ursprungs sind, Quechua, Aymara oder Mestizen, wurde das Land lange von einer kleinen, korrupten weißen Oberschicht regiert, die besonders im reichen Tiefland Boliviens um die Stadt Santa Cruz residiert. Die Indianer im Hochland wurden lange Zeit offen diskriminiert, etwa von der Nación Camba, einer ökonomisch mächtigen Organisation aus Santa Cruz, die die Trennung von Hoch- und Tiefland zu ihrem Programm gemacht hat und auf deren Webseite die Ethnien Aymara und Quechua offen als "miserabel und zurückgeblieben" bezeichnet werden.

"Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nicht als Bolivianer, sondern als kolla, als Hochlandindianer", sagt Rodrigo und nickt nachdrücklich. "Es gibt in Bolivien kein alles umfassendes Nationalgefühl, nichts, das alle eint, vom Fußball mal abgesehen. Es gibt viele autonome Gruppierungen innerhalb des Landes und den grundlegenden Konflikt zwischen reichem Tiefland und armem Hochland." Seit knapp einem Jahr hat Bolivien nun mit Juan Evo Morales Ayma zum ersten Mal in der Geschichte einen indianischen Präsidenten, der früher Hirte, Fußballtrainer, Gewerkschafter und Kokabauer war. Rodrigo begrüßt seine Wahl: "Zum ersten Mal ist der Großteil der Bolivianer wirklich in der Regierung repräsentiert. Und zum ersten Mal kann sich ein Präsident vorstellen, wie das Leben des Großteils der Bevölkerung aussieht." Bolivien müsse gerechter werden, dann könne es zusammenwachsen zu einer Heimat für alle.

Rodrigo blickt nachdenklich aus dem Fenster auf die abendliche Straße: ein Spaziergänger mit Hund, zwei blonde Mädchen auf Fahrrädern, die ersten gelb-orangenen Blätter auf dem Kopfsteinpflaster. Es ist ein schöner Altweibersommerabend in Südniedersachsen. Er sieht weiter aus dem Fenster und rezitiert ein Sprichwort aus Cochabamba, das irgendwo weit entfernt liegt, hoch in den Anden auf der Südhalbkugel: Voy a vivir donde pueda, pero voy a morir donde he nacido. Ich werde leben, wo ich kann, aber ich werde sterben, wo ich geboren wurde.

Text: Lennart Pyritz

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_3] Grenzfall: Tanz der leidenschaftlichen Gebrechen

Venezolaner, Guatemalteken, Peruaner tanzen Merengue, Salsa, Samba. Kubaner Son. Kolumbianer schieben Brasilianer geschmeidig aus den Hüften heraus über die Tanzfläche. Mexikaner verdrehen ihre Beine beim Erklingen der geliebten Rancheras, ohne dass der Oberkörper ins Schwanken kommt. Unablässig und überall demonstrieren sie ihre Überlegenheit auf der Tanzfläche. Sie tanzen Nicht-Latinos geradezu in die Psychose. Labile Gebrandmarkte meiden Clubs, stürzen sich in Alkohol und Drogen. Forsche versuchen sich in der Nachahmung mit meist zweifelhaften Ergebnissen.

Mit uns wurde nicht getanzt! Babys, so glaubten unsere Eltern, müsse man unablässig auf und ab wippen und die Kleinen permanent durchschütteln. Die Medizin nennt dies, sobald du das Köpfchen ohne Unterstützung von Mama und Papa etwa zu AC/DC oder Rage vom Nacken auf die Brust schmeißt, Gehirnzellen reduzieren.

Peruaner, Salvadoreños, Uruguayos tun es Paarweise. Wir tanzen zum ersten Mal bei der Klassenfete in der Fünften. Schön im Gleichklang: Rechter Fuß zu linkem Fuß. Und zurück. Linker Fuß zu rechtem Fuß. Und zurück. Auch beim Stehblues. Das ist so langweilig, dass, sobald die frühpubertäre Phase ausklingt, keiner mehr stehbluesen möchte. Wir beginnen zu hopsen: rechter Fuß vor und aufstampfen, linker Fuß vor und aufstampfen.

Bei regionalen Klängen wird es etwas gefühlvoller, wir schließen die Augen und tanzen ganz mit uns alleine im Lokalkolorit des Herzschmerzes. Dann endlich kommt der Hardrock und wir schütteln das Haupthaar. Nun mischen sich noch ein wenig Rave und Freestyle in das Hin und Her und schon sind wir evolutionsbedingt am Ende unser Kunst angelangt.

Tanzen für und wider der Völkerverständigung
Treffen Latina/o und Eura/o aufeinander, entsteht ein Spannungsfeld der erotischen Faszinationen, das sich in etwa bewegt zwischen Augenfarbe und Autogröße. Kommt es zur Eheschließung und einer Übersiedlung ins bisweilen kühlere nördliche Europa, dann rückt der Tanz symbolisch für alle Differenzen in den Mittelpunkt des täglichen Miteinanders. Nördliche Partnerinnen oder Partner möchten nach einem Arbeitstag im Stall nicht unbedingt die Hüften kreisen lassen, sondern zu Metallica und Torfrock die Birne leer schütteln. Für die Latinopartnerin oder den Latinopartner gehört zur Entspannung nach acht Stunden im Büro nun aber mal der gefühlvolle Rhythmus, der die Becken in Schwingung versetzt.

Aus der Unterschichten-Fernsehsendung "Bauer sucht Frau" wissen wir, dass sich nur etwa jeder 10. deutsche Mann für einen Pequeno Travolta hält und gleichzeitig ein eifersuchtsmotiviertes Misstrauen gegen Tanzteufel im Allgemeinen hegt. Es wird nicht lange dauern, da entlädt sich der Frust - entstanden aus mangelnder körper- und seelenbalsamierender Bewegung, die nicht einfach durch ein Fitnessstudio zu kompensieren ist.

In Konsequenz folgt entweder die Flucht in heimisches Terrain nach Lateinamerika. Oder aber auf der anderen Seite der Frust, bedingt durch die Jungs, die im Salsa-Schuppen um die Ecke die eigene Frau betanzen und irgendwie anders aussehen und dadurch Verlustängste heraufbeschwören, führt zu Depression und Haarausfall.

Gestern war ich auf einer Party. Unter den Tanzwütigen befanden sich auch drei Latinos. So ganz ohne Partner, sich also nur auf den eigenen Rhythmus zum popigen Beat verlassend, überzeugte die ansonsten herausragende Ästhetik der Bewegung nur bedingt. Gegen später mit härter werdenden Klängen verrenkte sich einer der drei den Halswirbel.

Vielleicht ist es bisweilen ja von Vorteil, wenn man mit Headbangen von Anbeginn des eigenen Lebens konfrontiert ist. - Wenn ich auch gestehen muss, mir mit 12 Jahren zu Highway to Hell in Eigenverschulden das Nasenbein zertrümmert zu haben. Vielleicht aber kann genau dieses gebrochene Nasenbein als unbändige Leidenschaft interpretiert werden und Latina/o-Eura/o-Ehen retten.


Text: Dirk Klaiber
Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Erlesen: Stefan Rinkes "Kleine Geschichte Chiles"

Der Wahlspruch Chiles lautet "Por la Razón o la Fuerza". Leider hat in den rund 500 Jahren seiner Geschichte, seit der Entdeckung durch Diego de Almargo im Jahre 1536, fast immer die Stärke über die Vernunft gesiegt. Das ist eine Erkenntnis, die man aus Stefan Rinkes "Kleine Geschichte Chiles" zieht. Auf rund 200 Seiten beschreibt er die Entstehung des "Landes, wo die Welt zu Ende ist", so die Übersetzung des Aymara-Wortes chilli, von dem sich der Name Chiles wohl ableitet. Das Buch erscheint in einem Publikumsverlag zu einer Zeit, da der Großteil der Publikationen zu Chile sich nur mit der neueren Geschichte beschäftigt oder Reiseliteratur ist. Denn seit dem Ende der Diktaturen und somit der Aufmerksamkeit durch Medien und Solidaritätsvereine sowie der Verlagerung des politischen Interesses Deutschlands nach Osten werden Länder wie Chile fast nur noch in Reisebeiträgen vorgestellt. Chile hat es dabei im Vergleich zu z.B. Kuba oder Mexiko doppelt schwer, denn es kann keinen publikumswirksamen Exportschlager wie Musik, Küche oder Strände für den Massentourismus ins Feld führen. Und es liegt nicht nur von Europa aus betrachtet an der Peripherie; auch von seinen Nachbarn ist das (Kern)Land durch die Anden und eine unwirtliche Wüste getrennt.

Stefan Rinke.
Kleine Geschichte Chiles
München: Beck, 2007

Der Wert des Buches liegt vor allem darin, dass Rinke in seine Darstellung der Geschichte des Landes immer wieder Details einbaut, die dem Leser sehr gut verstehen helfen, warum sich Chile und seine Menschen zu dem entwickelt haben, was sie heute sind. Dass z.B. die spanische Krone aus Eigeninteresse bis ins 17./18. Jahrhundert die Ausbildung von lokalen urbanen Eliten behinderte und so zu einer Verlagerung der Macht von den Städten auf das Land beitrug, parallel zur Erschöpfung der Edelmetallvorkommen, so dass die Landwirtschaft nun den Reichtum generierte und so die Großgrundbesitzer die Machtelite stellten, führte zu einer Machtkonstellation, die bis ins 20. Jahrhundert nachwirkte. Ebenso die starke Militarisierung der Region während der Unabhängigkeitskriege, die viele Militärführer hervorbrachte, schon zu Beginn der Republik zu Putschen führte, und so die historischen Wurzeln für Pinochet und Konsorten bildete. Immer wieder - so z.B. im Kapitel über den Salpeterkrieg - klingt auch der Unwillen der Eliten mit, ihr Land zu entwickeln, solange sich die eigenen Taschen füllen.

Der Autor unternimmt zudem Ausflüge in die Kulturgeschichte Chiles. So streift er hier und da die Literatur, schildert den Beginn des Kinos und eine Diskussion über Populär- oder Volkskultur. Er erwähnt musikalische Entwicklungen und schildert, wie das Pinochet-Regime Rockkonzerte als Brutstätten des Übels verbot, jedoch gleichzeitig die Verbreitung der US-amerikanischen Massenkultur, die untrennbar mit Rockmusik verbunden ist, förderte. Rinke behandelt häufiger als andere Autoren von kürzeren Geschichtswerken kulturgeschichtliche Phänomene und Begebenheiten, trotzdem verschenkt auch er eine Chance. Denn "Kleine" Geschichten müssen sich zwar beschränken, aber einige Sätze mehr zu Literatur, Folklore, Malerei, Musik oder Sport hätten den Rahmen nicht gesprengt und gäben dem Leser weitere Anhaltspunkte für Eigenheiten des Landes, die sich durch die kleinteilige Schilderung von Wahl- oder Machtkämpfen nicht erschließen. Insgesamt wird ein Buch auch lesefreundlicher, wenn die eine oder andere sinnvolle Anekdote die detaillierten politischen Fakten und Daten ergänzt.

Text: Torsten Eßer
Foto: amazon

[druckversion ed 07/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





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