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[kol_2] Amor: Hochland, Tiefland, Deutschland
Heimatsuche zwischen Bolivien und Europa

"Sieh mich an, dann weißt Du, wo meine Wurzeln liegen!", sagt Rodrigo Soria Auza und wirft lachend den Kopf zurück. Schwarzes Haar, bronzefarbene Haut, ein breites Gesicht mit dunklen Augen. "Meine Vorfahren waren allesamt indígenas, Quechua-Indianer, bis auf einen Urgroßvater väterlicherseits, der war spanischer Missionar, und dem haben wir neben dem christlichen Glauben auch unseren Nachnamen zu verdanken." Soria - heute ca. 40.000 Einwohner zählende Hauptstadt der gleichnamigen nordspanischen Provinz, am Oberlauf des kleinen Flusses Duero gelegen

"Meine Mutter kommt ursprünglich aus Tarija, im bolivianischen Süden, die Familie meines Vaters kommt aus den Bergen, aus Cochabamba. Und ich bin auch ein Cochabambino", schließt Rodrigo schnell an und klopft sich dabei wiederholt mit der Faust gegen die Brust. Die Kellnerin der Studentenkneipe kommt und nimmt die Bestellung auf. "Wenn`s um Bier geht, fühle ich mich allerdings auch in Deutschland sehr heimisch!", sagt er grinsend. Rodrigo lebt seit einem Jahr in Göttingen und arbeitet an seiner Doktorarbeit in Biologie. Während seines Studiums an der Universität in Cochabamba hatte er zwei deutsche Biologen kennen gelernt, die ihn unterstützten. Zunächst arbeitete er mit ihnen an Naturschutzprojekten im bolivianischen Tiefland, später halfen sie ihm, eine finanzierte Promotionsstelle in Deutschland zu finden.

Deutschland ist für Rodrigo zu einer Heimat auf Zeit geworden. Aber im Hinterkopf hat sich stets der Wunsch gehalten, nach Bolivien zurückzukehren. "Die Unterschiede zwischen den Ländern sind enorm. Bolivien ist so laut und bunt, so schmutzig und arm, in weiten Teilen unterentwickelt - aber es ist meine Heimat, das heißt für mich der Ort meiner Kindheit, meiner wichtigsten Erfahrungen und meiner besten Freunde." Deutschland sei auch schön, todo funciona, alles in Ordnung. Hier bleiben wäre einfacher, es gibt mehr Jobs als in Bolivien, mehr Geld, mehr Sicherheit, aber er müsse sich verlieben, um hier wirklich anzukommen. "Ich müsste hier meine Frau finden und eine Familie gründen, um mich heimisch zu fühlen. Aber im Moment schlägt mein Herz hauptsächlich für Bolivien."

Auch Rodrigos Bruder Bernardo lebt zur Zeit in Europa. Er ist vor einigen Jahren nach Spanien ausgewandert, da er seine Familie mit den 400 Bolivianos (umgerechnet etwa 40 Euros), die er als Anwaltsgehilfe pro Monat in Cochabamba verdiente, nicht ernähren konnte. Anfangs arbeitete er schwarz, wie geschätzte 800.000 weitere Illegale in Spanien. Natürlich ohne Rechte und ohne Versicherung, aber für mehr Geld als in Bolivien. Im Rahmen der Legalisierungskampagne des spanischen Präsidenten José Luis Rodríguez Zapatero erhielt er schließlich im Frühjahr 2005 eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, da er nachweisen konnte bereits mehr als ein Jahr in Spanien gelebt und seit über sechs Monaten einen Arbeitsvertrag zu haben.

"Viele Südamerikaner sind nur in Spanien, um Geld zu verdienen. Sie arbeiten und arbeiten, viele haben zwei oder mehr Jobs und schlafen nur vier Nächte pro Woche", sagt Rodrigo nachdenklich. "Oft werden sie von den Spaniern auch noch beschuldigt, sie würden ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, aber die meisten Arbeiten, von denen die Illegalen leben, würden die Spanier selbst nie machen. Mein Bruder ist zufrieden in Spanien, aber er will irgendwann auch wieder zurück nach Bolivien. Allerdings denkt nicht die ganze Familie so. Sein kleiner Sohn fühlt sich in Spanien sehr wohl und hat Freunde in der Schule. Das ist eine andere Generation, und ich denke, der will bleiben."

Plötzlich wird Rodrigo noch ernster. Er sei froh, dass sich die Sozialistische Arbeiterpartei in Spanien der Illegalen angenommen habe. "Das sind arme Leute ohne Perspektive." Die meisten von ihnen sind indígenas wie er und haben in Bolivien keine Chance mehr für sich gesehen. Denn obwohl 85 % der Bevölkerung indianischen Ursprungs sind, Quechua, Aymara oder Mestizen, wurde das Land lange von einer kleinen, korrupten weißen Oberschicht regiert, die besonders im reichen Tiefland Boliviens um die Stadt Santa Cruz residiert. Die Indianer im Hochland wurden lange Zeit offen diskriminiert, etwa von der Nación Camba, einer ökonomisch mächtigen Organisation aus Santa Cruz, die die Trennung von Hoch- und Tiefland zu ihrem Programm gemacht hat und auf deren Webseite die Ethnien Aymara und Quechua offen als "miserabel und zurückgeblieben" bezeichnet werden.

"Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nicht als Bolivianer, sondern als kolla, als Hochlandindianer", sagt Rodrigo und nickt nachdrücklich. "Es gibt in Bolivien kein alles umfassendes Nationalgefühl, nichts, das alle eint, vom Fußball mal abgesehen. Es gibt viele autonome Gruppierungen innerhalb des Landes und den grundlegenden Konflikt zwischen reichem Tiefland und armem Hochland." Seit knapp einem Jahr hat Bolivien nun mit Juan Evo Morales Ayma zum ersten Mal in der Geschichte einen indianischen Präsidenten, der früher Hirte, Fußballtrainer, Gewerkschafter und Kokabauer war. Rodrigo begrüßt seine Wahl: "Zum ersten Mal ist der Großteil der Bolivianer wirklich in der Regierung repräsentiert. Und zum ersten Mal kann sich ein Präsident vorstellen, wie das Leben des Großteils der Bevölkerung aussieht." Bolivien müsse gerechter werden, dann könne es zusammenwachsen zu einer Heimat für alle.

Rodrigo blickt nachdenklich aus dem Fenster auf die abendliche Straße: ein Spaziergänger mit Hund, zwei blonde Mädchen auf Fahrrädern, die ersten gelb-orangenen Blätter auf dem Kopfsteinpflaster. Es ist ein schöner Altweibersommerabend in Südniedersachsen. Er sieht weiter aus dem Fenster und rezitiert ein Sprichwort aus Cochabamba, das irgendwo weit entfernt liegt, hoch in den Anden auf der Südhalbkugel: Voy a vivir donde pueda, pero voy a morir donde he nacido. Ich werde leben, wo ich kann, aber ich werde sterben, wo ich geboren wurde.

Text: Lennart Pyritz

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