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[kol_1] Helden Brasiliens: Brasiliens erster Fußballstreich
Vor 50 Jahren: Pele, Garrincha und Zagallo holen den WM-Titel an den Zuckerhut

Es gab einmal eine Zeit, in der Deutschland bereits Weltmeister war und Brasilien nicht. Doch das ist schon 50 Jahre her.

Als Anfang Juni 1958 in Schweden die sechste Weltmeisterschaft begann, war Deutschland als amtierender Weltmeister der Titelverteidiger und Brasilien der große Außenseiter. Doch als am 29. Juni 1958 das Finale abgepfiffen wurde, hatte sich die Fußballwelt grundsätzlich verändert. Brasilien war zum neuen Fußballgiganten aufgestiegen. Die "Generation Pele" sollte den Weltfußball über die nächsten 12 Jahre bestimmen. Für Deutschlands überalterte Wundertruppe von Bern sollte immerhin noch der vierte Platz herausspringen.

Dabei hatte in Brasilien kaum jemand mit der großen Überraschung gerechnet. Der heute 76-jährige Mario Zagallo, linker Außenstürmer der Elf von 1958, erinnert sich an die Zweifel in seinem Heimatland vor dem WM-Start: Wir hatten die WM 1950 im Maracana-Stadion verloren. Danach in der Schweiz, 1954, haben wir nicht gut gespielt und sind früh ausgeschieden und nach Hause gefahren. Dann kam 1958 und Brasilien hatte noch nie eine WM gewonnen. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass es diesmal soweit sein sollte.


Deswegen lastete nicht dieser enorme Druck auf unseren Schultern: die Verpflichtung zu gewinnen. Und das war gut so. Auf der Anreise nach Schweden im Flugzeug sagten einige Journalisten sogar zu uns: wir haben den Rückflug schon gebucht. Ich hab da nur gesagt: okay, ihr glaubt halt nicht dran. Aber wir werden spielen und wir glauben.

Bei den vorangegangenen fünf Weltmeisterschaften hatte zudem stets eine Mannschaft des Kontinents gewonnen, auf dem die WM stattfand. In Südamerika gewann die Mannschaft Uruguays in Uruguay 1930 und in Brasilien 1950, und in Europa die Mannschaft Italiens 1934 in Italien und 1938 in Frankreich, und die Deutschlands 1954 in der Schweiz.

Hinzu kam bei den Brasilianern ein historischer Unterlegenheitskomplex, den man als "complexo vira-lata", als Mischlingskomplex beschrieb. Der brasilianische Fußballjournalist Juca Kfoury dazu: In den 50er Jahren sagte man Folgendes: die brasilianischen Spieler, wenn sie nach Europa kommen, fühlen sich unwohl, leiden unter der Kälte, mögen das Essen dort nicht und vor diesen Menschen vom Typ Deutsche bekommen sie Angst, "schau mal dieser riesige Deutsche, mit den hellen Augen und den blonden Haaren" und mit dieser "Gesundheit wie eine preisgekrönte Kuh", wie es der Sportkolumnist Nelson Rodrigues stets sagte... Doch dieser "Komplex des Mischlings" veränderte sich nun.

Dafür sollte vor allem ein Mann sorgen: Mit an Bord der VARIG-Maschine Richtung Schweden war ein junger Spieler, der bereits in Brasilien für Furore gesorgt hatte, aber noch auf seine internationale Reifeprüfung wartete: der 17-jährige Edson Arantes do Nascimento, genannt Pele, Wunderstürmer vom FC Santos. Viele Experten waren skeptisch, ob Pele nicht noch zu jung für eine solche Belastung wie eine WM sei. Oder sogar zu "infantil" wie der Teampsychologe der Seleção anmerkte.

Mit dabei auch der 24-jährige Manoel dos Santos, genannt Garrincha, mit schiefer Hüfte und O-Beinen. Doch als rechter Außenstürmer hat die Welt wohl niemals einen besseren gesehen.

Zusätzlich zu seinen Wunderwaffen Pele und Garrincha verfügte Brasilien auch noch über den Trainerfuchs Vicente Feola, den alle nur "o gordo", den Dicken nannten. Er hatte sich ein damals neuartiges Spielsystem zurechtgelegt: statt strikter Manndeckung und starrem System setzte Feola auf das Öffnen und Schließen von Räumen, indem er zum Verteidigen zwei Mittelfeldspieler zurückbeorderte und zum Angreifen zwei Mittelfeldspieler zu den Stürmern hinzuzog.

Mario Zagallo erinnert sich: Wir spielten nicht ständig ein 4-2-4. Es war eher ein 4-3-3 wenn wir verteidigten, aber wenn wir angriffen, wechselten wir in ein 4-2-4. Dann verließ ich das Mittelfeld und ging als Außenstürmer nach Links und Didi ging aus dem rechten Mittelfeld in die Spitze. Zwei Mittelfeldspieler gingen also in die Spitze, gemeinsam mit den drei Stürmern, die dort schon lauerten.

Das machte den großen Unterschied aus. Hätten wir immer in einem 4-2-4 gespielt, wären wir in der Defensive zu schwach gewesen. Und wenn wir im Ballbesitz waren, hatten wir außerordentliche Spieler, die auf Grund ihrer technischen Qualität die gegnerische Defensive beschäftigen konnten.

Die noch traditionell entweder im 2-3-5-System oder im so genannten WM-System spielenden europäischen Gegner waren auf die brasilianische "Überfalltaktik" nicht eingestellt. Gerade erst hatte man sich in der vielbeinigen brasilianischen Defensive festgerannt, da stürmte bereits die halbe Seleção auf das eigene Tor zu.

Als erstes mussten sich die hoch gehandelten Österreicher mit 3:0 überrennen lassen. Allerdings verzichtete Trainer Feola noch auf Pele, der mit einer Knieverletzung nach Schweden aufgebrochen war, und auf Garrincha, der Feolas Meinung nach zwar die gegnerischen Abwehrreihen verrückt machen würde, aber im Stande war, im eigenen Team den gleichen Effekt auszulösen. Denn Garrincha machte auf dem Platz, genau wie in seinem Leben überhaupt, stets das, was ihm gerade in den Sinn kam. Ein Albtraum für einen Trainer, der mit ausgeklügelten Spielsystemen hantierte.


Erst nach einem torlosen zweiten Spiel gegen England nahm Feola Pele und Garrincha ins Team. Und die beiden schlugen ein wie eine Bombe. Und so gelten die ersten Minuten des Spiels gegen die UDSSR noch heute als einer der ganz großen Momente in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaften. Spätestens jetzt war der Fußballwelt klar, mit wem sie es hier zu tun hatten. Sergio Xavier, Chefredakteur der Fußballzeitschrift Placar: Der Große Unterschied lag in der Technik und im Überraschungsmoment. Niemand kannte damals Garrincha oder Pele. Jeder Gegner Brasiliens bemerkte erst im Moment des Spiels, dass diese beiden Ausnahmespieler darstellten. Und sie wurden während der WM immer besser.

Um nicht ähnlich überrannt zu werden wie die UDSSR, stellte sich Brasiliens Viertelfinalgegner Wales mit nahezu der ganzen Mannschaft zwischen die eigenen Pfosten. Brasilien rannte 65 Minuten erfolglos an bis Pele endlich das erlösende 1:0 gelang - sein erster Treffer bei einer WM.

Die Waliser hatten angedeutet, wie das Wunderteam aus Brasilien wenigstens zeitweise zu stoppen sei. Doch die nächsten beiden Gegner zogen aus dem walisischen Beispiel keine Konsequenz. Beide spielten offensiv gegen die Seleção - und wurden dafür bestraft: Mario Zagallo: Gegen Frankreich und Schweden kam es zu einem offenen Schlagabtausch. Beide agierten sehr offensiv gegen die brasilianische Mannschaft. Das waren jeweils sehr schön anzusehende Spiele, denn sie spielten und ließen den Gegner auch spielen. In beiden Spielen haben wir letztlich hoch gewonnen, denn die brasilianischen Spieler überzeugten mit besserer Qualität. Gegen Frankreich gewannen wir mit 5:2.

Der junge Pele steuerte beim Halbfinalsieg gegen die Franzosen in der zweiten Halbzeit einen Hattrick bei. Spätestens jetzt war der Welt klar, dass ein neuer Fußball-König geboren war. Und so kam es am 29. Juni 1958 in Stockholm zum Finale zwischen Gastgeber Schweden, der das deutsche Team in dem so genannten "Skandalspiel von Göteborg" mit 3:1 besiegt hatte, und der Seleção. Mario Zagallo erinnert sich an die damalige Aufstellung der Seleção: Es spielten Gilmar (Tor), Djalma Santos, Bellini, Orlando, Nilton Santos (Verteidigung), im Mittelfeld Zito und Didi, zudem Garrincha, Pele, Vava und Zagallo - derselbe Zagallo übrigens, der hier gerade mit Ihnen spricht.


Doch bereits in der fünften Minute musste Brasilien einen heftigen Schock überstehen: Liedholm brachte die Schweden mit 1:0 in Führung. Die Begeisterung der 50.000 Zuschauer im Rasunda-Stadion von Stockholm kannte keine Grenzen. Und die Brasilianer beschlich der Geist einer längst vergessen geglaubten nationalen Tragödie: der Niederlage im Endspiel der Heim-WM von 1950, die Tragödie vom Maracana: Mario Zagallo: Die Schweden machten schnell ihr erstes Tor. Als der Ball im Netz lag, spielte sich in meinem Kopf ein Film ab: die WM 1950! Ich fragte mich: sollte es wirklich wieder passieren, dass wir eine WM verlieren? Das dachte ich in der Sekunde, als Didi den Ball aus dem Netz fischte. Er nahm den Ball und ging langsam Richtung Anstoßpunkt. Ich lief von meiner linken Position aus hin zu ihm und rief: Beeilung, wir verlieren! Er sagte nur: bleib ruhig, wir bleiben gelassen und drehen das Spiel. Und so kam es auch.

5:2 gewann die Seleção und ganz Brasilien stand Kopf. Eine neue Fußballmacht war geboren. Locker verteidigte die nahezu identische Seleção vier Jahre später in Chile den WM-Titel. Als man jedoch die alten Helden noch einmal zu einer WM schickte, der WM 1966 in England, war für die Rentnertruppe das Turnier schnell zu Ende. Lediglich Pele sollte 1970 noch einmal antreten. Und mit 29 Jahren krönte er seine Karriere mit einer sensationellen Leistung und dem dritten WM-Titel. Mario Zagallo war damals bereits Trainer der Seleção und wurde der Erste überhaupt, der sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister wurde. Franz Beckenbauer sollte es ihm später gleichtun.



Doch Zagallos Statistik ist unerreicht: zwei WM-Titel als Spieler, als Trainer einen WM-Titel (1970) und eine Vizeweltmeisterschaft (1998) und zudem noch einen WM-Titel als Assistenztrainer (1994).

Zagallo und Pele sind einige der wenigen Helden von 1958, die es zu Wohlstand und einem stabilen Leben nach der aktiven Karriere gebracht haben. Die meisten anderen versanken in Armut und Vergessenheit.

In unseren Zeiten, in denen Fußballer Millionengehälter kassieren, ist solch ein Schicksal kaum noch vorstellbar. Früher, so Sportjournalist Juca Kfoury, war es eine Ehre, für die Seleção zu kicken. Heute ist es die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen: Für mich kommt es hierbei auf die unterschiedliche Sichtweise der Welt an. Für die damaligen Spieler bedeutete Fußball Leben. Die Spieler von heute benutzen den Fußball, er ist nicht mehr das Ziel. Der Vertrag mit Nike oder mit Audi ist viel wichtiger.

Viele der Helden von 1958 sind heute bereits tot oder fristen ein trauriges Dasein. Der große Garrincha trank bis zur Besinnungslosigkeit nachdem sein Knie nicht mehr mitmachte und er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Innerhalb von vier Jahren musste er 15 Mal wegen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Mit 49 Jahren starb er schließlich, im Jahr 1983, nach einem weiteren Alkoholexzess.

Mario Zagallo: Was ich heute fühle? Ich würde gerne all das noch einmal erleben. Diese Momente der Glorie, diese Glücksgefühle, die ich damals hatte... Aber das ist nun einmal nicht die Realität. Dies ist lediglich ein Traum, der sich nicht mehr in Realität verwandeln kann.


Andererseits ist es real, was damals passiert ist. Wir alle sind in den Geschichtsbüchern der Weltmeisterschaften verewigt. Das ist die Wahrheit.

Text, Fotos + Interviews: Thomas Milz

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