ed 03/2015 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Achtundzwanzigste Etappe: Finsterer Hexenwald und dunkler Tempelritter
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Fußball, der Leben retten kann
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
spanien: Autark durch Photovoltaik von Lanzarote bis Colonia
FRANK ULMER / DIRK KLAIBER
[art. 3]
peru: Die Gebrüder Pizarro und der Palast La Conquista
FELIX HINZ
[art. 4]
helden brasiliens: Rafaellas Königreich
Rio de Janeiro feiert 450. Geburtstag
THOMAS MILZ
[kol. 1]
macht laune: Teneriffa - Im Schatten des Teide
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
traubiges: Auf ex?
Excomungado Douro 2011 aus Portugal
LARS BORCHERT
[kol. 3]
lauschrausch: Spaziergang durch… Lissabon
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [28] [27] [26] [25] [24] [23] [22] [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Achtundzwanzigstes Etappe: Finsterer Hexenwald und dunkler Tempelritter
 
29. Juni 2013. Heute schaffen wir es, um Punkt 6 Uhr die Herberge in Ventas de Narón zu verlassen und müssen die ersten Schritte über galizische Feldwege noch im Dunkeln gehen. Aber dann werden wir belohnt mit dem schönsten Sonnenaufgang des ganzen Camino. Wie ein Feuerball durchdringt die Sonne den dichten, finsteren Wald. Fächerförmig breiten ihre immer helleren Strahlen sich aus und erleuchten die Nebelschleier Galiziens, lassen die grünen Täler und bewaldeten Hügel zuerst nur schemenhaft, dann immer klarer erscheinen.

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Ein munteres Konzert aus Vogelgesang und vereinzeltem Hundegebell begleitet den Sonnenaufgang. Heute wirkt meine junge Begleiterin Cayetana deutlich weniger morgenmuffelig als sonst und marschiert beschwingten Schrittes, vom goldenen Morgenlicht getragen durch Alleen von hundertjährigen Eichen und über Feldwege vorbei an moosbewachsenen Granitmauern.

Kurz vor Ligonde müssen wir an einem isoliert stehenden Bauernhof vorbei. Schon von weitem hören wir heftiges Gekläffe. Und dann sehen wir mit wachsender Angst, wie ein wolfsähnlicher, riesiger Schäferhund über ein Gartentor springt und einen Pilger, der nur 50 Meter vor uns marschiert, nicht nur anbellt, sondern laut knurrend bedrängt. Cayetana bleibt abrupt stehen, will keinen Meter weiter gehen. Der schockierte Pilgerkollege vor uns redet mit zittriger Stimme auf das lauernde Ungetüm ein, in der Hoffnung, ohne Biss davon zu kommen. Langsam geht er rückwärts gewandt weiter, den Rucksack wie einen Schutzschild vor sich haltend. Der Wolfshund folgt ihm wild bellend, schnappt einmal sogar kurz zu und beißt in den Rucksack. Irgendwann – es kommt uns wie eine halbe Ewigkeit vor – lässt der Hund von seinem Beinahe-Opfer ab und legt sich vor das Gartentor. "An dem kommt keiner vorbei…", flüstert Cayetana ängstlich neben mir. Minutenlang bleiben wir stehen und überlegen, was zu tun ist, während ein Paar gelbliche Augen uns abwartend anstarrt. Der Morgen ist plötzlich gespenstisch still. Von hinten nähern sich Schritte. "What`s the matter? A dog?" Wir kennen die Fragestellerin. Es ist unsere schottische Berufspilgerin Maggie. Furchtlos geht sie weiter, blickt zurück und fordert uns auf, sich ihr anzuschließen. Zögernd folgen wir in ihrem Windschatten.

Und dann geschieht das Unglaubliche: der Wolfshund blickt beunruhigt, fast ängstlich auf Maggie und anstatt zu bellen oder zu knurren, fängt er leise an zu winseln, zieht sich etwas zurück und presst seinen massigen Körper an den Zaun. Ohne die Bestie eines Blickes zu würdigen, stolziert Maggie mit wehendem rotem Haar vorbei – und wir trippeln schnell hinter ihr her, bevor der Hund es sich anders überlegt. Alles geht gut und wir sind mehr als erleichtert, aber Cayetana flüstert mir zu: "Ich glaub, sie ist eine Hexe…", bevor wir uns laut bei unserer Retterin bedanken. Maggie grinst. "Wisst ihr, ich kenne diesen Köter seit ein paar Jahren. Als ich das erste Mal hier vorbei wollte, ging es mir wie euch." Zum Dank laden wir Maggie in Palas de Rei zu Kaffee und Santiago-Torte ein. Allerdings hatte Cayetana aufgrund des Ortsnamens (Königspalast) etwas viel Spektakuläreres erwartet und ist zwangsläufig von diesem "furchtbaren Betonkaff" sehr enttäuscht. Maggie verabschiedet sich, sie ist erschreckend fit und man sieht ihrer Gangart an, dass sie auf Wegen wie diesen schon Jahre lang zu Hause ist. Sie verschwindet wie Rotkäppchen pfeifend im finsteren Wald.

Wir folgen in gemütlichem Tempo und als der Wald sich lichtet, kommen wir vorbei an zahlreichen Bauernhöfen mit den typischen Kornspeichern auf Stelzen und üppigen Kuhweiden. Die Siedlungen und Kuhdörfer, durch die der Camino in Galizien führt, sind unspektakulär. Dafür entschädigt die Schönheit der Landschaft mit tausend Grüntönen, uralten Eichen und dichten Wäldern voller Geheimnisse.

Kurz hinter der romanischen Kirche von Mélide beginnt ein besonders düsterer Waldweg. Es dringt kaum Sonnenlicht durch das Dickicht aus Eichen, Eukalyptusbäumen und Farnen und plötzlich sind wir ganz allein in diesem dunkelgrünen Labyrinth. Merkwürdige Geräusche aus dem Dämmerdunkel ringsumher lassen uns die Schritte beschleunigen. Cayetana behauptet sogar, ein merkwürdiges Kichern aus dem Dickicht zu hören und fragt mich dann, ob ich an Hexen glaube. "Natürlich nicht!", antworte ich entrüstet.

In diesem Moment wird es ganz dunkel im Wald, es müssen sich Wolken vor die Sonne geschoben haben. Langsam stolpern wir weiter über den matschigen Waldboden. "Es riecht verbrannt…irgendwo brennt hier was", raunt Cayetana. Wir gehen noch schneller. Eine Flucht vor einem Waldbrand ist eine Erfahrung, auf die wir gern verzichten würden. Jetzt höre auch ich das Kichern, es klingt leicht hysterisch und geistert als Echo durch den finsteren Wald. Und dann kommt die Urheberin der seltsamen Laute geradewegs auf uns zu. Eine bizarre Erscheinung. Gestützt auf einen Stock, gehüllt in ein hellrotes Gewand aus glänzendem Stoff, das aber stark verschmutzt ist, trippelt eine alte Frau auf uns zu. Ihr faltenreiches Gesicht wird umrahmt von wirrem, grauweißem Haar. Auf dem Kopf trägt sie einen schief hängenden schwarzen Schleier. Als sie dicht vor uns ist, blinzelt sie uns böse an und lässt wieder dieses unheimliche Kichern ertönen. Wir weichen zur Seite, Cayetana krallt sich in meinen Arm und flüstert in Panik: "Das ist eine Hexe…" Die Alte geht vorbei, dreht sich nochmal zu uns um und krächzt völlig unerwartet: "Was wollt ihr alle hier? Santiago ist ein Hurensohn!" Dann folgt ein heiseres Lachen, das ringsherum als Echo widerhallt. Im nächsten Moment ist die Hexe verschwunden, als hätte sie jemand hinweg gebeamt. "Das glaubt uns kein Mensch…", meint Cayetana mit zitternder Stimme. Im Laufschritt stürzen wir dem Waldrand entgegen, wo die Sonne wieder scheint und sind erleichtert, das Dorf Castañeda zu erreichen. Hier setzen wir uns auf die Terrasse der Pilgerherberge und trinken zur Beruhigung einen eiskalten Wein von der Ribeira Sacra.

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Am Tisch neben uns wirft sich ein junger Mann Mitte Zwanzig in den Stuhl, der sofort Cayetanas geballte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Athletisch und tiefbraun gebrannt, Vier-Tage-Bart und statt der üblichen Baseball-Kappe ein Piraten-Kopftuch als Sonnenschutz. Als er seine Sonnenbrille auszieht, blickt man in ein Paar fast schwarze Zigeuneraugen. Cayetana wird den ganzen Abend damit beschäftigt sein, ihn gierig anzustarren. Der Pilger-Pirat stellt sich vor als "Benny aus Belgien" und beichtet uns, dass er "ein schwerer Junge" sei. Er komme gerade aus dem Jugendknast und man habe vor ein paar Wochen den Rest seiner Strafe zur Bewährung ausgesetzt – unter der Bedingung, dass er den Jakobsweg gehen müsse. Damit hat man offenbar in Belgien eine schöne mittelalterliche Tradition wieder aufleben lassen, nämlich Kriminelle zur Besserung auf den Camino zu schicken, und ihm selbst einen großen Gefallen getan. "Das hier – ich meine der ganze Weg – ist das Beste, was mir seit langem passiert ist", erklärt uns Benny. Unser Abendessen wird fast kalt, so interessant ist das Gespräch mit dem belgischen Piraten. Wir erfahren, dass er wegen mittelschwerer Körperverletzung ins Gefängnis musste, weil er "ein paar Leute verprügelt habe." Er gibt zu, in seinem Leben bisher wenig auf die Reihe bekommen zu haben. Und alles sei noch schlimmer geworden, als seine Freundin und Mutter seines Sohnes ihn vor einem Jahr verlassen habe und sein Kind vor einem halben Jahr gestorben sei. Traurig starrt er nach Westen in die untergehende Sonne und ohne uns dabei anzublicken, sagt er mit leiser Stimme, dass er die Asche seines kleinen Sohnes mit sich führe und sie am Kap Finisterre, am "Ende der Welt", ins Meer streuen wolle. "Krass!", entfährt es Cayetana und auch ich bin schockiert. Es ist schon heftig, von welchen Schicksalsschlägen manche Pilgerkollegen dazu getrieben werden, diesen Weg zu gehen. Und man muss sich fragen, ob der Weg all die riesigen Hoffnungen erfüllen kann, die in ihn gesetzt werden.

Benny greift sein Weinglas, schlägt mit der Faust auf den Tisch und meint: "Vergessen wir jetzt die Vergangenheit! Freuen wir uns darauf, dass wir übermorgen endlich ankommen. Und trinken wir darauf, dass das Jahr nach dem Camino ein glückliches für uns wird!" Um diesen besonderen Moment zu feiern, bestellen wir das Beste, was der Herbergsvater zu bieten hat – ich habe im Regal der Bar eine Flasche Cardenal Mendoza entdeckt. Nach dem Preis gefragt, entgegnet uns der freundliche Wirt grinsend, dass dieser Cognac gar nicht auf der Karte stehen würde, er hätte ihn nur hier, um ihn ab und zu mit Freunden zu trinken, deshalb wolle er uns ein Gläschen schenken. Cayetana und ich trinken "Bruderschaft" mit Benny – wobei sie ihn danach mehr auf den Mund als auf die Wange küsst. Zum Glück übernachtet Benny im anderen Schlafsaal und ich muss meine Begleiterin von ihm losreißen. Durch die lange sexuelle Enthaltsamkeit während des ganzen Pilgerweges scheint sich bei ihr heftig was aufgestaut zu haben, da droht den braven Galiziern nach Cayetanas Ankunft in Santiago ein Vulkanausbruch…

30. Juni 2013: Um 7 Uhr – die Sonne ist schon aufgegangen – brechen wir ohne Frühstück auf von Castañeda. Nur noch knapp 47 Kilometer bis Santiago! Benny, unser neuer Bruder, ist zur großen Enttäuschung Cayetanas offenbar schon längst auf dem Weg. Wir werden ihn den ganzen Tag lang nicht einholen können, er scheint joggend unterwegs zu sein. Nach acht Kilometern gibt es in Arzúa endlich den dringend ersehnten Bankautomaten (wir hatten zusammen nur noch drei Euro) und danach ein üppiges Frühstück. Bei schönstem Wetter wandern wir durch die hügelige Bilderbuchlandschaft Galiziens und wundern uns, dass hier seit fünf Tagen in dieser regenreichsten Region Spaniens immer noch kein einziger Regentropfen gefallen ist. Cayetana lässt den Blick über die Wiesen und Wälder schweifen und meint, so langsam sei sie den Anblick dieser ewigen Kuhdörfer etwas leid.

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Am frühen Abend in Arca do Pino treffen wir Benny wieder. Er sitzt mit Sonnenbrille und Piratentuch in einem Straßencafé, schmökert in "Game of Thrones" und zieht wieder alle Blicke auf sich. Wir umarmen uns zu dritt als würden wir uns schon eine Ewigkeit kennen. Benny legt das Buch weg und erzählt uns, dass seine Mutter den Camino schon zweimal gegangen sei und ihn dazu ermutigt habe, sich darauf einzulassen und das Angebot des Bewährungshelfers anzunehmen. Und jetzt ist er begeistert und – ganz ähnlich wie bei uns – haben das Keltendorf O Cebreiro und die Templerkirchen von Eunate und Torres del Río den tiefsten Eindruck bei ihm hinterlassen. Und dann überrascht Benny uns mit seiner Sicht der Templer: "Die Tempelritter waren echt cool…zuerst haben sie nur um Jerusalem gekämpft, aber dann haben viele von ihnen Freundschaft mit den muslimischen Feinden geschlossen und haben neue Ideen und viel Gutes aus dem Heiligen Land nach Europa gebracht. Deshalb hab ich mich entschlossen, mir auf den Rücken, wo noch Platz ist, einen kompletten Tempelritter tätowieren zu lassen. Bisher ist da ja (er zeigt auf sein linkes Schulterblatt) nur ein einsames Engelchen zu sehen, das dringend von einem starken Ritter beschützt werden sollte…", wie er lächelnd erklärt. Kurz vor Mitternacht sinken wir übermüdet in unsere Schlafsäcke, nicht ohne vorher vereinbart zu haben, dass derjenige, der morgen als erster die Kathedrale von Santiago sieht, einen Wunsch frei hat.

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In dieser Nacht träumt Cayetana, dass sie bei Dämmerung allein durch einen düsteren Wald gehen muss und plötzlich ein riesiger Wolfshund zähnefletschend vor ihr steht. Da erscheint die dunkle Gestalt von Benny neben ihr, bewaffnet mit Helm, Lanze und dem großen Schild der Tempelritter und ansonsten völlig nackt. Die Bestie zieht sich knurrend zurück und verschwindet im Dickicht. Der Tempelritter lässt den Schild fallen, Cayetana umarmt ihn stürmisch und es folgt ein Kuss, der die ganze Nacht andauert.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Etappe von Ventas de Narón über Melide bis Castañeda: 36 Kilometer
Etappe von Castañeda bis Arca do Pino: 25 Kilometer

Unterkunft und Verpflegung:
Übernachtung in Castañeda: Private Pilgerherberge "Santiago", Tel. 981-501711, Waschmaschine, Trockner, Internet, gutes Restaurant (s.u.), kleine und familiäre Herberge (telefonische Reservierung empfohlen, da nur wenige Betten), freundliche Aufnahme, auch Zweibettzimmer gegen höheren Preis, normale Übernachtung 10 Euro.

Verpflegung in Castañeda: Bar/Restaurant "Santiago": sehr großzügiges Pilgermenü mit riesigen Portionen (3 Gänge inkl. Wein für 10 Euro: Riesen-Salat, Thunfisch-Tortilla, Cebreiro-Käse mit Quittengelee oder Honig)

Übernachtung in Pedrouzo/Arca do Pino: Private Pilgerherberge "Edreira", Rúa da Fonte (südlich unterhalb des Ortskerns), Tel. 981-511365, geöffnet bis 23 Uhr, modernes Gebäude mit Waschmaschine, Trockner, Internet, Terrasse. Übernachtung 12 Euro. www.albergue-edreira.com

Verpflegung in Pedrouzo/Arca do Pino: ein halbes Dutzend Bars/Restaurants am Ortseingang links an der Hauptstraße (Camino): sehr ähnliche Angebote vom üblichen Pulpo in diversesten Zubereitungen bis zu Muschelsuppe. Bei großem (Pilger-)Ansturm bei schönem Wetter und Wochenende sind die Kellnerinnen hier etwas überfordert: lange Wartezeiten, falscher und 20 Grad warmer Weißwein sind leider die Folgen.

Kirchen:
Mélide: Kirche Santa María, schon außerhalb hinter dem Ort am Camino, romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert

Arzúa: Magdalena-Kapelle (gotisch, 14. Jahrhundert)

Arca do Pino: Iglesia de la Concha – Kirche, deren Chor innen aus einer riesigen Jakobsmuschel besteht.

[druckversion ed 03/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Brasilien: Fußball, der Leben retten kann
 
In einer Favela von São Paulo ist Fußball viel mehr als nur ein Hobby. Der Fußballclub der Kolpingfamilie São José ist weit und breit das einzige Freizeitangebot, das Kinder und Jugendliche von der Straße und damit von den Gangs weg holt.

Schon wieder knattert ein Hubschrauber über den kleinen Fußballplatz des  Zentrums der Kolpingfamilie São José. Der vierte in drei Minuten. Anderson schenkt ihm keine Beachtung, sondern dribbelt um die Abwehr der gegnerischen Mannschaft herum, um dann mit einem gezielten Schuss den Ball im Tor zu versenken. Die Hubschrauber kommen aus einer anderen Welt, aus der Welt der Reichen, die das Elend und die Staus der brasilianischen Megacity São Paulo einfach überfliegen. Auf ihre Hilfe können die Menschen in den Favelas nicht zählen, sie müssen sich schon selber helfen.

José Joaquin de Sousa pfeift ein Abseits und die Mannschaften formieren sich neu. Der 48jährige leitet nicht einfach ein Fußballtraining, nein, er ist 70 Kindern und Jugendlichen ein Freund und Mentor, eine Vaterfigur in den oft zerbrochenen Familien, ein Mann, der Werte vermittelt und Orientierung gibt. "Es ist ein Kampf gegen die widrigen Umstände, unter denen die Kinder leben, und den führe ich um jedes einzelne Kind. Werde ich es schaffen, dass dieses Kind auf den rechten Weg kommt? Oder wird es in die Drogenkriminalität abdriften?"

Was zum Beispiel täte wohl der 15jährige Anderson, wenn er nicht seit Jahren jede Woche zwei Mal in das Kolpingzentrum käme, um zu trainieren und Freunde zu treffen? Fußball spielen jedenfalls nicht, soviel ist sicher. "Es gibt hier keine andere Möglichkeit, um zu trainieren. Wenn ich nicht hierher kommen würde, dann hinge ich wohl nur auf der Straße rum und würde dumme Sachen machen." Dumme Sachen – damit meint er, er hätte sich gewiss schon längst einer Gang angeschlossen und würde Drogen verkaufen. So wie all die Jugendlichen aus der Nachbarschaft, die nicht zu Kolping kommen. Es geht hier nur in zweiter Linie darum, ein guter Fußballspieler zu werden. Kolping möchte den Jungs Eigenschaften vermitteln, die sie woanders nicht bekommen. Anderson hat hier nicht nur dribbeln, sondern auch viel wichtigere Dinge gelernt: "Disziplin und Verlässlichkeit. Man muss pünktlich zum Training kommen und darf seine Mannschaft nicht im Stich lassen. Und durchhalten, auch wenn es mal nicht so gut läuft."

Für Andersons Mutter Santos da Silva ist das Kolpingzentrum ein Geschenk des Himmels. Sie lebt mit ihrem Sohn in einer baufälligen Behausung in der angrenzenden Favela. Eines dieser vielen Elendsviertel, die vom Staat vergessen wurden, in denen es außer engen Gassen und elenden Hütten nichts gibt. "Meine größte Sorge ist, dass mein Sohn mit den falschen Leuten in Kontakt kommt. Dass er sich einer der Gangs anschließt und seinen Lebensunterhalt mit Drogen und Schmuggel verdient." Es gebe, so sagt Santos da Silva, in den Favelas einfach keine Möglichkeiten zur Weiterentwicklung, keine Zukunft, die aus den elenden Verhältnissen heraus führt. Das einzige, was ihrer Meinung nach gegen ein Abrutschen in die Kriminalität helfen kann, sind Bildung, Werte und Respekt. Und der einzige Ort, an dem Anderson all dies vermittelt bekommt ist das Kolpingzentrum. Hier Fußball zu spielen, Gemeinschaft zu erleben und einen sicheren Ort zu haben, das mache für das Leben ihres Sohnes einen riesigen Unterschied. "Seitdem er hierher kommen kann, hängt er nicht mehr auf der Straße rum. Und er hat plötzlich den Antrieb, zur Schule zu gehen."

Die Idee zu diesem Fußballprojekt entstand, als ein anderes Kolpingmitglied vor einigen Jahren feststellen musste, dass sich nach und nach alle Freunde seines Sohnes Gangs angeschlossen hatten. In den Elendsvierteln von São Paulo gibt es keine sinnvollen Freizeitbeschäftigungen. "Wir wollten etwas schaffen, mit dem wir diese Kinder von der Straße holen können", erinnert sich José Joaquin. Er ist ein einfacher Verkäufer und besitzt kaum Geld, aber gibt das, was er hat: Zeit als Trainer - vier Mal pro Woche drei Stunden.

Normalerweise driften in den Favelas 90 Prozent der Jugendlichen in die Kriminalität ab. Der Kolpingfamilie São José ist es gelungen, dieses Verhältnis bei ihren Schützlingen umzukehren. Jeder Junge, der einen Schulabschluss macht, ist für José Joaquin ein Sieg. Doch viel zu oft muss er das Training wegen strömenden Regens oder sengender Sonne ausfallen lassen – der kleine Fußballplatz hat kein Dach. Es zu bauen würde umgerechnet 35.000 Euro kosten und dass ist für die Kolpingfamilie unbezahlbar.

Die Kinder von der Straße zu holen ist eine Aufgabe, an der sich nicht nur der Trainer beteiligt. Jeder, dem etwas an dem Zusammenleben in der Favela liegt, ist eingeladen zu Kolping zu kommen und mitzuhelfen, es ein wenig lebenswerter zu gestalten. Lourdes Malmaso und Assumpto Grossi sind beide 81 Jahre alt und Rentnerinnen. Sie kommen fast täglich in das Kolpingzentrum, es ist so etwas wie ein zweites Zuhause. "Wir haben viele Probleme hier im Viertel. Für nichts ist Geld da, die Kommune hat keines und die Leute selber auch nicht." Doch hier im Zentrum schließen sich die Menschen zusammen und helfen sich gegenseitig. "Unsere Aufgabe ist es, für die Jungs Mittagessen und einen Snack zuzubereiten." Für viele der Kinder ist das die erste und oft auch einzige richtige Mahlzeit des Tages.

Fast noch wichtiger als ein voller Magen allerdings ist die Zukunft. Und für die hat Anderson Pläne: "Ich will erst mal meinen Schulabschluss machen. Und dann irgendwas studieren. Vielleicht was mit Technik." Für einen Jungen aus einer Favela São Paulos ist das ein fast unerhörter Satz. Spräche er ihn bei den Jungs an der Straßenecke aus, sie würden ihn auslachen. Aber bei Kolping lacht darüber niemand – am allerwenigsten sein Trainer José Joaquin.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 03/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Spanien: Autark durch Photovoltaik von Lanzarote bis Köln

Die Photovoltaik treibt in Deutschland die Energiewende voran. Gut die Hälfte aller in Deutschland installierten Photovoltaik befindet sich in privater Hand. Immer mehr Bürger erfreuen sich an eigenen Solarmodulen auf dem Hausdach. Obwohl die Einspeise-Vergütung von über 50 Cent pro Kilowattstunde (kWh) auf rund 10 Cent gefallen ist, rechnet sich die Investition auch finanziell.

Vor allem aber zwingt die sogenannte Bürgerenergie Politik und Energieanbieter zum Handeln, denn die Einspeisung von Strom aus Photovoltaik will sinnvoll genutzt werden. Davon abgesehen verlieren die Energieanbieter durch die Eigenstrom-Nutzung immer mehr Kunden. Zumindest aber reduziert sich die Strom-Abnahmemenge der Bürger, die nun selbst Strom erzeugen, ganz erheblich.

Springen wir erst einmal auf die Kanaren nach Lanzarote. Dort leben Julia und Mirko bereits seit fünf Jahren losgelöst vom gemeinen Stromnetz.


Foto: Julias und Mirkos Solarmodule auf Lanzarote

Lanzarote. 7.00 Uhr. Sonnenaufgang. Julia und Mirko starten in den Tag. Der Wasserkocher läuft und Mirko schneidet Obst und füllt es mit Milch und Eiswürfeln in den Mixer. Heute gibt es Wassermelone mit Papaya und Mango, dazu Empanadas (mit Fisch gefüllte Teigtaschen) und für den kleinen Sohn frisch gekochtes, püriertes Gemüse. Nach dem Frühstück schaltet Julia Laptop und Router ein. Sie checkt die Anfragen (die beiden betreiben eine kleine Reiseagentur für Individual-Touristen), beantwortet E-Mails und koordiniert die Buchungen von Apartments, Ausflügen und Sport-Aktivitäten. Zwei Stunden später geht’s zum Strand, ihre Gäste aus Stuttgart haben einen Surf-Kurs gebucht.

Köln. 7.00 Uhr. Etwa zur gleichen Zeit, wie das Leben in Lanzarote, beginnt auch der Tag für Elke in Köln. Sie kocht Kaffee, liest Zeitung, hört Radio und schaut am Laptop, ob eine der Enkeltöchter Lust hat, zu skypen. Kok steht gegen 9.00 Uhr auf. Dann frühstückt das Rentnerpaar. Es folgen Duschen (Durchlauferhitzer), Föhnen, Rasieren, Zähneputzen – alles elektrisch. Waschmaschine und Trockner laufen.

Die jüngste Enkelin hat sich heute Morgen per E-Mail angekündigt und wünscht sich Spaghetti Bolognese, Fleischbrühe und Maultaschen. Die beiden kaufen ein und kochen – stundenlang. Den überwiegenden Teil frieren sie ein. Neben der Gefriertruhe gibt es noch den „normalen“ Kühlschrank und den Getränke-Kühlschrank. An weiteren elektronischen Geräten besitzen sie einen zweiten Laptop mit zusätzlichem Bildschirm, Tablet, Drucker, Router, WLAN-Verstärker, zwei Handys, Telefon mit Anrufbeantworter, Staubsauger, drei Radios, Spülmaschine, diverse Küchengeräte wie Wasserkocher, Küchenmaschine etc., einen Rasenmäher, ein 52 Zoll TV-Gerät und natürlich etliche Lichtquellen. Ihr Stromverbrauch liegt bei 4.400 kWh pro Jahr bzw. 12 kWh pro Tag im Durchschnitt.

Lanzarote. 16.00 Uhr. Jetzt sitzt Mirko im Büro vor dem Computer. Er telefoniert. Es geht um den Fahrrad-Ausflug morgen. Zudem reisen neue Gäste an, die einen Transfer vom Flughafen benötigen. Danach beantwortet er weitere Mails, schickt seinem Webmaster aktuelle Fotos und Tourbeschreibungen. Gegen 18.00 Uhr holt er die Wäsche aus der Waschmaschine und hängt sie auf. Um 19.00 Uhr, der Fernseher läuft seit zwei Stunden quasi nebenbei, essen Julai, Mirko und ihr Sohn zu Abend. Als dieser bereits schläft, trifft sich Julia zur Besprechung der weiteren Tage mit den beiden Schwaben und Mirko erledigt die letzten E-Mails.

Ihren Stromverbrauch kennen die beiden nicht. Sie haben keinen Strom-Zähler installiert. Brauchen sie auch nicht, denn sie leben komplett autark. Ihren Strombedarf decken sie aus den im Garten installierten Solarpanels: acht Stück à 0,075 kWp und zwei à 0,1 kWp. Insgesamt also 0,8 kWp. „p“ steht für die Peakleistung oder „Spitzenleistung“ (gemeint ist die Leistungsfähigkeit unter Standard-Testbedingungen).

Als Speicher für die Nachtstunden oder für einen kurzfristig höheren Verbrauch, als Sonnenenergie durch die Photovoltaik-Anlage gewandelt wird, nutzen sie 12 Batterien à 2 Volt und 550 Amperestunden. Die Speicherkapazität liegt demnach bei 12 x 1.100 Wh oder 13,2 kWh. Die Solarbatterien können jedoch nicht zu 100% entladen werden. Die Entladetiefe des installierten Typs liegt bei 50% der gespeicherten Strommenge. Also stellen die Speicher maximal 6,6 kWh zur Verfügung.

Für Notfälle gibt es noch ein benzinbetriebenes Notstromaggregat mit 2,5 kW. Dieses kommt an Wolken verhangenen Tagen für bis zu zwei Stunden zum Einsatz. Anders als bei Elke und Kok in Köln sind diese tristen Tage in Lanzarote rar, doch vor allem zwischen Januar und März möglich. Im Übrigen funktionieren der Herd und der Warmwasser-Boiler mit Gas.

Stromverbrauch
Um den annähernden Wert des Stromverbrauchs zu erfassen, haben uns Julia und Mirko den täglichen Einsatz ihrer elektrischen Geräte aufgelistet. Demnach nutzen sie...

  1. die Waschmaschine einmal am Tag. Bei fünf Kilo Ladung und 60°C Waschtemperatur liegt der Stromverbrauch bei 1,35 kWh.
  2. einen Laptop (13 Zoll), der am Tag 3 Stunden läuft. Bei maximaler Helligkeit liegt die Leistung bei 16 W. Veranschlagen wir weitere 11 Watt für Anwendungen wie E-Mail-Programm und Browser und rechnen den Drucker mit 5 Watt und den Router mit 8 Watt hinzu, so kommen wir auf eine Leistung von 0,04 kW und damit auf einen Tagesverbrauch von 0,12 kWh.
  3. 9 LED- bzw. Energiespar-Lampen, die am Tag je zwei Stunden leuchten. Wir gehen von durchschnittlich 10 Watt pro Birne aus. Die Lichtquellen sind somit mit 0,18 kWh (9 x 2h x 0,01 kW) am Stromverbrauch beteiligt.
  4. einen Fernseher, der pro Tag drei Stunden läuft. Die Leistung des Geräts liegt bei 100 Watt, der Stromverbrauch pro Tag demnach bei 0,3 kWh.
  5. zwei Smartphones, die einmal pro Tag komplett geladen werden. Jedes hat einen Akku mit 3,8 Volt und 1500mAh. Der Verbrauch liegt also bei 2 x 5,7 Wh oder 0,0114 kWh.
  6. eine Espressomaschine mit einer Leistung von 1500 W und einer Heizphase von 15 min. Diese ist zwei- bis dreimal am Tag in Aktion. Der Tagesstromverbrauch liegt im Durchschnitt bei 1 kWh.
  7. sonstige Maschinen wie der Mixer oder der Zauberstab laufen am Tag sechsmal. Zur Berechnung haben wir den Mixer herangezogen: Dieser arbeitet mit 1000 Watt. Für die Herstellung einer Karaffe Gazpacho läuft er eine Minute. Der Tagesgesamtverbrauch liegt demnach bei 0,1 kWh.
  8. und ein Kühlschrank mit Gefrierfach, dessen Verbrauch bei 0,5 kWh pro Tag liegt, darf nicht fehlen.

In Summe verbrauchen Julia und Mirko 3,48 kWh pro Tag bzw. 1.270 kWh pro Jahr.

Köln. Elke und Kok haben 2011 das Energiespiel für sich entdeckt. Einmal angefixt setzten sie sich mehr und mehr mit dem Thema Energiewende auseinander. Im Jahr 2012 beschlossen sie, aktiv teil zu nehmen. Sie implementierten eine Photovoltaik-Anlage auf ihrem Bungalow-Dach. Kok hat uns folgende Zahlen geschickt, die auch den finanziellen Anreiz widerspiegeln:

Wir haben unsere Anlage mit 8 kWp in 2012 installiert. Die Investitionskosten lagen bei 16.000 Euro und damit pro kWp bei 2.000 Euro. Für jede eingespeiste kWh erhalten wir 19,11 ct/kWh durchgängig für 20 Jahre.
Für 2014 ergibt sich folgende Rechnung:
Ohne Solar-Anlage hätten wir für 4.400 kWh (28 ct/kWh) 1.232 Euro bezahlen müssen.
Mit der Photovoltaik haben wir für den Eigenverbrauch 3.000 kWh selbst erzeugt und somit nur 1.400 kWh für 392 Euro zugekauft. Da wir insgesamt 6.800 kWh erzeugten, konnten wir 3.800 kWh ins Netz einspeisen und kassierten hierfür 726 Euro.
Unterm Strich haben wir somit 1.566 Euro 'verdient'.
Die Anlage dürfte sich somit in 10 Jahren amortisiert haben. Danach bringt sie einfach nur noch Geld ein.


Foto: Elkes und Koks Solarmodule in Colonia

Autark in Deutschland
Interessant sind die 3.000 kWh, die Elke und Kok selber nutzen konnten. Das sind mehr als Zweidrittel ihres Gesamtverbrauchs. In Anbetracht dessen, dass die Photovoltaik nachts keinen Strom wandelt, in Deutschland aber vor allem im Winter, in dem die Nacht früh hereinbricht und der Tag spät beginnt, die beiden viel Strom verbrauchen, müssen auch an Tagen, an denen sich dicke Wolken vor die Sonne schieben, die installierten Solarmodule ausreichend Strom erzeugen, um den Tagesbedarf zu decken.

Aktuell liebäugeln Elke und Kok mit einem privaten Stromspeicher. Kok hat für sich errechnet, dass 6 kWh ihren kompletten Strombedarf decken sollten. Noch allerdings sind ihnen entsprechende Akkus zu teuer. Aber selbst wenn ein paar Jahre vergehen sollten, bis sie unabhängig sind von Strom-Anbietern und Strom-Politik, so haben sie mit ihrem Handeln Zeichen gesetzt. Sie speisen Strom aus erneuerbarer Energie ein und reduzieren ihre Abnahme von Strom, der u.a. aus Atomkraft und durch die Verbrennung fossiler Bodenstoffe gewonnen wird. Vor allem aber ist der Multiplikatoreffekt nicht zu unterschätzen. Zwei Freunde haben umgehend nachgezogen und Photovoltaik installiert. Eine Reihe weiterer Bekannter haben Elke und Kok zumindest für das Thema Energiewende durch Bürgerenergie sensibilisiert.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

Glossar

Sonnenenergie (auch Solarenergie)
…meint die Energie der Sonnenstrahlung, die in Form von elektrischem Strom oder Wärme genutzt werden kann.

Photovoltaik
…nennt man die Umwandlung von Sonnenenergie mittels Solarzellen in elektrische Energie.

Mehrere Solarzellen sind in einem Solarmodul (auch Solarpanel) in Reihe geschalten. Solarmodule findest du etwa auf Hausdächern oder als Solarpark auf dem Feld.

Solarthermie
…nennt man die Umwandlung von Sonnenenergie mittels Sonnenkollektoren in nutzbare Wärmeenergie.

In den Sonnenkollektoren (auch Solarkollektoren) wird Sonnenenergie gesammelt und in Prozesswärme gewandelt. Diese ersetzt beispielsweise einen Warmwasser-Boiler.

Maßeinheiten

W (Watt): Maßeinheit für Leistung (Energieumsatz pro Zeitspanne)
V (Volt): Maßeinheit für elektrische Spannung
A (Ampere): Maßeinheit für elektrischen Strom

Formel zur Berechnung von Leistung (Watt):
1W = 1V x 1A
1kW (Kilowatt) = 1V x 1000 A

Wh (Wattstunde): Maßeinheit der Energie

Beispiel zum Energieverbrauch:
Ein Fernseher mit 100 Watt Leistung läuft pro Tag 3 Stunden. Also: 100W x 3h = 300Wh (oder 0,3kWh)

Beispiel zur Energiegewinnung:
Ein Solarmodul mit 1 kWp kann unter Standard-Testbedingungen 1 kWh wandeln und damit genug Strom erzeugen, um 10 Fernseher (s. Bsp. oben) gleichzeitig zu betreiben.

kWp: „p“ steht für die Peakleistung oder „Spitzenleistung“, gemeint ist die Leistungsfähigkeit unter Standard-Testbedingungen



Reise-TIPP: www.lanzarote-individual.com
Lanzarote ist ein Traum für kleinere Wanderungen, Wellenreiten, Baden, Tauchen und Klettern. Und Julia und Mirco sind absolut entspannte Gastgeber. Zudem leben sie in Sachen Strom komplett autark.

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[art_4] Peru: Die Gebrüder Pizarro und der Palast La Conquista

Pizarro - ein legendärer Name in der Eroberungsgeschichte Südamerikas. Francisco Pizarro hatte 1513 zusammen mit Balboa die Landenge von Panama überquert und den Pazifik entdeckt. Er überlebte in der Golfregion ungeheure Strapazen und Gefahren. Mit mehr als fünfzig Jahren schließlich machte er sich an die Eroberung Perus, vegetierte monatelang mit zwölf Gefährten auf der Gorgoneninsel vor sich hin, um sein fantastisch erscheinendes Ziel nicht aufgeben zu müssen, das er dann schließlich mit nicht einmal zweihundert Konquistadoren 1532 in Cajamarca zu Ende führte; indem er Atahualpa, den frisch gebackenen Usurpator des Inkareiches, gefangensetzte, einen unglaublichen Goldschatz erpresste und das Reich für Kastilien in Besitz nahm.

Doch Francisco war nicht der einzige Pizarro in Peru: Bevor er zum entscheidenden Zug in die Anden aufbrach, holte er aus Spanien seine Brüder:

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Juan Pizarro, der einzige der Brüder, der in Kampfhandlungen gegen die Inkas umkam. Da er 1535 wegen einer Kopfverletzung keinen Helm tragen konnte, kämpfte er ohne diesen bei der Erstürmung der Trutzburg Saksahuaman bei Cuzco und wurde dabei tödlich verwundet.

Gonzalo Pizarro, eine Geschichte für sich. Er war der jüngste der Pizarrobrüder und vielleicht der charismatischste von ihnen. Ihn trieb es zwischen 1539 und 1542 auf der Suche nach El Dorado in die undurchdringlichen Wälder des Amazonastieflandes. Nach Jahren der Entbehrungen kehrte er mit einem kleinen Rest seiner Truppe, alle nur noch in Lumpen und Felle gekleidet, zurück, um festzustellen, dass sein Bruder Francisco von seinem Widersacher, Diego Almagro dem Jüngeren, ermordet worden war. Gonzalo stellte die Ehre seiner Familie wieder her und schwang sich dann zum von Kastilien unabhängigen Alleinherrscher von Panama bis Feuerland auf. Wie ein spanischer Grande gekleidet und geschmückt mit einem roten Kopfband, das an die Borla erinnerte, die Krone der Groß-Inkas, erfocht er zahlreiche Siege, tötete sogar den rechtmäßigen Vizekönig Blasco Núñez de Vela im Kampf, bevor der mächtige Arm Karls V. ihn 1548 durch einen klugen Gottesmann, Pedro de la Gasca, doch noch zur Strecke brachte.

Hernando Pizzaro, sozusagen der "eigentliche Pizarro". Während all seine oben genannten "Brüder" unehelich gezeugt waren, war Hernando der einzig eheliche. Hernando war intelligent und gebildet, während Francisco bekanntlich nicht einmal lesen konnte, stolz und aufbrausend; und so machte er sich Feinde. Andererseits fühlte er sich, wie die Chroniken übereinstimmend berichten, dem gefangenen Atahualpa sehr verbunden und schloss Freundschaft mit ihm. Hernando soll diesem geschworen haben, seiner Tötung niemals zuzustimmen, während der Inkaherrscher seinerseits zu sagen pflegte, keiner unter allen Spaniern sei so sehr ein Herr wie Hernando.

Der gefangene Atahualpa hatte in Cajamarca versprochen, einen großen Raum mit Gold anfüllen zu lassen, wenn man ihn freiließe.

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Obwohl das von den Spaniern so sehr begehrte Edelmetall von allen Seiten aus den Palästen und Heiligtümern herbeigeschafft wurde, ging es den Conquistadoren doch nicht schnell genug. So kam es, dass Hernando zum altehrwürdigen Orakel von Pachacamac im Lurintal, südlich des heutigen Lima, geschickt wurde. Bei dieser Gelegenheit sollte er auskundschaften, ob an den Gerüchten etwas dran sei, dass die Generäle Atahualpas dort Truppen sammelten, um ihren Herrscher zu befreien. Hernando wurde von Juan und Gonzalo sowie zwanzig Reitern auf diesem waghalsigen Ritt begleitet, über den er für die Audiencia von Santo Domingo einen Bericht anfertigte. Darin beschreibt er, wie sie einer sehenswerten Inkastraße durch die Berge folgten und besonders über zwei große Hängebrücken staunten: Eine sei für den Inka und sein Gefolge, die andere für das Volk gewesen. Wenn sie nach Pachacamac fragten, bekamen sie keine Antwort, fanden das Heiligtum aber dennoch. Sie mussten allerdings feststellen, dass die Schätze bereits vor ihnen in Sicherheit gebracht worden waren. Die lokalen Priester wollten weder mit Atahualpa noch mit den Pizarros etwas zu tun haben.

Wieder in Cajamarca wurde Hernando auf eine noch heiklere Mission geschickt, nämlich den Atahualpa treu ergebenen Inkageneral Chalicuchima inmitten seiner Truppen aufzusuchen und nach Cajamarca zu bringen. Auch hierbei stand ihm das Glück zur Seite.
Um Hernando bei der geplanten, weil zur Eroberung des Reiches notwendig erscheinenden, Ermordung Atahualpas nicht im Weg zu haben, schickte Francisco ihn nach Spanien, damit er dort den Kaiser von dem Vorgefallenen unterrichten solle. Hernando gehorchte und Atahualpa musste sterben.

Als Hernando nach Peru zurückkehrte, geriet er in den Krieg zwischen Francisco und dessen ehemaligen Kompagnon Diego Almagro dem Älteren und wurde von letzterem 1537 in Cuzco gefangen genommen. Almagro ließ ihm das Leben, doch Hernando, der ohnehin nie gut auf den ungehobelten Almagro zu sprechen gewesen war, verzieh ihm dies nicht, und sorgte nach seiner Befreiung für dessen Enthauptung. Dies sollte ihn wieder in Spanien teuer zu stehen kommen. Trotz eines weiteren großen Schatzes, den Hernando für die Krone mit sich führte, ließ diese wegen Almagros Tod ein Verfahren gegen ihn einleiten. Zunächst wurde Hernando in Madrid, dann von 1540 bis 1561 in der Burg La Mota (Medina del Campo) inhaftiert. Man wollte ihn nach Afrika verbannen, doch kam es nicht dazu. Während der Rebellion Gonzalos verschärfte sich die Haft.

Nach dessen Niederlage kam es schließlich zu einer hohen Geldbuße Hernandos und seiner ewigen Verweisung aus Hispanoamerika.

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1551 traf Doña Francisca Pizarro y Yupangui, anerkannte Tochter seines Bruders Francisco und der Inkafürstin Inés Yupangui Huyllas, in Spanien ein und reiste als große Dame. Hernando rief sie zu sich nach Medina del Campo. Ein Jahr darauf heiratete der knapp Fünfzigjährige seine neunzehnjährige Nichte unter den nötigen Dispensen, die Erbin der Inkas und des Marquesats. Mit diesem Coup vereinte Hernando das verbliebene Erbe der Pizarros in seiner Hand. Lediglich Gonzalos Teil blieb ausgenommen, da der Anteil des Hochverräters an die Krone zurückfiel.

Bereits von La Mota aus hatte Hernando nahe Trujillo, der Heimatstadt der Pizarros, beim Dorf La Zarza systematisch Land gekauft. Nach seiner Freilassung 1561 siedelte er mit seiner Frau dorthin über und ließ einen kleinen Palast erbauen. Ein weiterer, prunkvollerer Palast entstand an der Plaza Mayor Trujillos. Dieser bekannte Palacio ist mit Halbplastiken historischer Persönlichkeiten der Pizarros und Inkas geschmückt.

Hernando und Francisca hatten fünf Kinder und gründeten 1578 das Majorat des Hauses. Doch die Linie der legitimen Nachfahren erlosch und vererbte sich nur über eine außereheliche Tochter von Hernandos Sohn Francisco, Beatriz Pizarro Inga. Halb erblindet starb Hernando 1578 trotz seines ebenfalls sehr abenteuerlichen Lebens als einziger Pizarro im Bett.

1630 verlieh Philipp IV. den Titel "Marqués in Spanien" an einen der letzten Nachkommen dieser Ehe, an Juan Hernando Pizarro. Dieser zog nach La Zarza und nannte es dem Ruhm seiner Vorfahren zu Ehren "La Conquista", die Eroberung.

Der Palast, der 1808 größtenteils dem Rückzug des Generals Dupont zum Opfer fiel, ist in keinem Reiseführer mehr erwähnt.

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Nach einigem Suchen und Fragen stellte sich heraus, dass er sich nahe der heutigen Ortschaft "Conquista de la Sierra" im Besitz eines Bauern befindet; so dass das letzte Zeugnis des alten Hernando inmitten von Kuhfladen und Müll nun ein unwürdiges Dasein fristet. Das Hauptgebäude zeigt noch deutlich zwei Stockwerke und eine sorgfältige Verputzung der Innenwände. Aber wenn nicht bald Restaurierungsmaßnahmen ergriffen werden, scheint der völlige Einsturz nur mehr eine Frage der Zeit. Über dem Tor erkennt man noch gut das alte Wappen der Pizarros. Das Kellergewölbe, die massiven hohen Mauern mit ihren zahlreichen Schießscharten und der unversehrte Turm zeugen jedoch noch vom kriegerischen Stolz der Familie, die von hier auszog, um am anderen Ende der Welt ein Reich zu erobern.

Text + Fotos: Felix Hinz

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[kol_1] Helden Brasiliens: Rafaellas Königreich
Rio de Janeiro feiert 450. Geburtstag

Am 1. März wird Rio 450 Jahre alt. Und hat aus diesem Anlass eine Frau aus der Rocinha-Favela zur Miss Rio 450 Jahre gewählt. Eine Wahl, die die Veränderungen in der Stadt spiegelt. Eine Wahl, die versucht, die so lange vergessenen Armenviertel stärker zu integrieren.



Vor genau 50 Jahren, im Jahr 1965, wurde die damals 16-jährige Solange Medina zur "Miss Rio 400 Jahre" gewählt. Solange, eine Frau mit blonden Haaren aus Rios Mittelschicht, erinnert sich. "Damals gab es keine einzige Kandidatin aus den Armenvierteln. Man hatte wohl nicht den Mut dazu." Doch die Zeiten ändern sich. "Dieses Jahr gab es mehrere Kandidatinnen (aus den Favelas)."

Im Jahre 1965 repräsentierte Solange, die mit ihren 16 Jahren bereits vier Sprachen sprach, das "weiße" Rio de Janeiro, eine Stadt, die sich selbst im fernen Europa verortete. Und nicht in Lateinamerika.



Im Januar diesen Jahres übergab Solange nach 50 Jahren "Herrschaft" nun ihre Krone an Rafaella Lemes, die 22-jährige Vertreterin der Rocinha. "Ich denke, dass ich die typische Rassenmischung Rios repräsentiere", erzählt Rafaella während sie vom Dach ihres Elternhauses aus über die Millionenstadt schaut, die sich in ihrer vollen Schönheit unter den Augen der neuen Miss ausbreitet.

Anders als Solange vor 50 Jahren besuchte Rafaella nicht die besten Schulen der Stadt. Zwischen Schule, Nebenjobs und den ersten Schritten ihrer Modelkarriere hin und her gerissen, weiß Rafaella, dass ihre Schulbildung hätte besser sein können. "Aber als Mädchen, das in der Rocinha aufgewachsen ist, schaue ich nach vorne".



Ihr ist bewusst, dass Rio immer noch ein Ort der sozialen Ungerechtigkeiten ist. Dafür muss sie nur auf die Luxusapartments am São Conrado Strand schauen. "Aber wer immer nur darüber sinniert, dass die Welt ungerecht ist, kommt niemals vom Fleck", sagt sie mit breitem Lächeln. Sie hofft, dass ihre Karriere als Model in Schwung kommt. Auch mit dem Bewusstsein, dass sie mit 22 eigentlich schon fast zu alt ist. "Normalerweise geht es bei den Mädels ja mit 14 oder 15 los..."



Falls es doch nicht klappen sollte, will sie mit ihrem Freund eine Schule in der Rocinha eröffnen. Aus der Rocinha, ihrer Favela, in der sie geboren wurde und aufwuchs, will sie nicht wegziehen.

"Rios Schönheit liegt in den Favelas, Orten in denen die Menschen noch solidarisch sind und niemanden im Stich lassen."

Was für ein Glück für Rio so eine Königin zu haben.
Herzlichen Glückwunsch, cidade maravilhosa!

Text und Fotos: Thomas Milz

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[kol_2] Macht Laune: Teneriffa - Im Schatten des Teide

Badeinsel, Vulkan, Pauschaltourismus, das dürften die ersten Gedanken sein, die einem durch den Kopf schießen, wenn jemand das Wort "Teneriffa" fallen lässt. Direkt gefolgt von Wandern, Meer und Bananen. Dass alles seine Berechtigung hat, versteht sich von selbst, genauso wie eine nicht statthafte Beschreibung der selbigen ausschließlich mit diesen sechs Wörtern.

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Trotzdem, Teneriffa ist, gerade außerhalb der Saison, eine Reise wert. Selbst in den Wintermonaten Dezember bis Februar sinkt das Thermometer nicht unter 14 Grad, dafür klettert es tagsüber sehr beständig auf 20 bis 22 Grad. Das ist extrem angenehm. Vielleicht nicht unbedingt Badewetter, zumal der Atlantik sich dann doch von seiner kühleren Seite zeigt, aber für Bewegungswillige ist es eigentlich genau richtig. Wandern, heißt das Zauberwort der Urlaubsbeschäftigung. Wenig Touristen, viele Pfade hat man außerhalb der Saison für sich und wohin man auch hinauf kraxelt, der mit seinen 3718 Metern hohe Teide, gibt fast immer einen geeigneten Hintergrund für das Fotomotiv her – selbst im Osten der Insel, im beliebten Wanderparadies Parque el Anaga. Hierher kommt man auf der TF-12, dieser schier unendlich kurvigen Bergstraße, die vom Zentrum der Insel irgendwann gen Süden Richtung San Andrés abbiegt, die man aber tunlichst mit einem geeigneten Wanderführer auf halber Strecke verlassen sollte, um sich die weiteren wunderbaren Ausblicke per Pedes zu erarbeiten. Dann sucht man sich geeignete Touren nach Chamorga, El Draguillo, El Batán, Afur, Taganana oder Punta del Hidalgo aus – und genießt. Die Natur, das satte Grün, der Nebel, der in den Farnen hängt und immer wieder Blicke hinaus auf den tiefblauen Atlantik, der mal mehr und mal weniger heftig gegen die Felsenküste kracht.

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Je nach dem, für welche Tour man sich entscheidet, irgendwann geht’s auch wieder hinunter zum Strand. Ein lauschiges, weil herrlich rau-herbes Plätzchen findet man nach dem Örtchen Taganana: Roque de las Bodegas. Und in der Tat, hier gibt es einige kleine Restaurants mit gutem, ehrlichen Wein, wo man in jedem Falle anstoßen und auch die einfache, gute Inselküche probieren sollte. Aber Obacht: Der Wein kann gerade nach körperlicher Anstrengung mitunter tückisch sein. Vor allem, wenn er auch noch süffig ist.

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Was man sich jedoch irgendwie schenken kann, ist derjenige, den man immer sieht: Der Teide. So schön der Vulkan von der Ferne anzusehen ist, ein Ausflug hoch auf den Gipfel lohnt nicht wirklich. Man fährt mit der Seilbahn hinauf und wenn man Pech hat, weil viel Wind geht oder eben Schnee liegt, dann sind oben die kleinen Wanderwege geschlossen und die Plattform davor schlicht übervoll. Was jedoch beeindruckt ist die Anfahrt. Nicht nur, dass der Vulkan mit seiner markanten Kuppe doch immer wieder anders auf einen herab scheint, vor allem sind es die bizarren Felsformationen, die durch zahlreiche Eruptionen entstanden sind und ihren Reiz bei fast jeder Kurve aufs neue entfalten. In allen Farbschattierungen funkelt der Fels, mal braun und rot, dann wieder grau und grünlich. Ein Farbenspiel, an dem man sich nicht sattsehen kann. Zu guter Letzt freut man sich dann von über 3000 Metern wieder hinunter zu fahren. Die bizarren, rauen, Pseudokarstflächen verlieren sich schließlich und allmählich erhält die scheinbar immergrüne Vegetation wieder Einzug. Und, es wird mit jedem Meter wieder wärmer. Nicht zuletzt deshalb fährt man ja auch auf die Kanareninsel, oder?

Text + Fotos: Andreas Dauerer

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[kol_3] Traubiges: Auf ex?
Excomungado Douro 2011 aus Portugal
 
Vielleicht ist es etwas übertrieben zu sagen, wir hätten diesen Wein auf ex getrunken – höchstens etwas. Aber es hat nicht einmal eine Stunde gedauert, da waren die Flasche und beide Gläser leer, bis auf den letzten Tropfen.

Wie es dazu kam? Wir waren schon lange verabredet, endlich mal wieder gemeinsam einen Wein zu trinken. Dann trafen wir uns am frühen Nachmittag im Februar, die Sonne schien in die tristen Prenzlauerberger Hinterhöfe, wir stellten uns mit unseren Gläsern auf den Balkon, bewunderten einen einsamen Kirchturm, und der portugiesische Tropfen floss uns einfach so durch die Kehlen. Zuerst noch etwas verschlossen, wir konnten beide kaum so etwas wie ein Bouquet wahrnehmen, dafür aber sofort einen umso üppigeren würzigen, ja, auch feurigen Geschmack nach Tabak, reinem Kakao, Kaffee, Schleen, Brombeere und grüner Paprika.

Die Tannine machten anfangs ihrer lautmalerischen deutschen Bezeichnung, G-e-r-b-stoffe, ganz herbe alle Ehre – wandelten sich aber dann innerhalb kurzer Zeit zu einem samtenen schnurrenden Kätzchen, das sich in der Mittagssonne zumindest an meinen Gaumen schmiegte. Ähnliches geschah mit dem Bouquet: Es öffnete sich in der ersten halben Stunde zusehends und verströmte schließlich einen angenehmen Duft nach Lorbeeren und dunklen Früchten.

Aus dem berühmten portugiesischen Anbaugebiet Douro (genau genommen aus dem Douro Superior), der an der Grenze zu Spanien liegt, stammt dieses heiße Gewächs. Das Klima dort beschreibt der Erzeuger, die Quinta de Vale de Pios, als kontinental und die Böden als karg. Hier muss die Rebe also tief wurzeln, um an Wasser zu gelangen. So transportiert sie automatisch viele Mineralien mit in die Trauben. Derer da sind: Touriga Naçional und Touriga Franca, Tinta Roriz und Tinto Cão – also ein vornehmlich autochthones Gewächs.

Der Winzer hat diese Cuveé Excomungado genannt, was soviel wie exkommuniziert bedeutet und sich auf die Tatsache bezieht, dass dieser Wein vom Holz exkommuniziert, also befreit wurde. Kein Wunder also, dass er so lebendig und doch so leicht ist. Wir haben auch ziemlich befreit (und viel) gelacht in dieser kurzen Stunde. Daher jederzeit wieder, gerne mit diesem Wein. Vielleicht nicht unbedingt auf ex, aber auf jeden Fall auf uns. Hasta la victoria siempre!

Text + Foto: Lars Borchert

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika.

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[kol_4] Lauschrausch: Spaziergang durch… Lissabon
 
Als ich im Oktober vergangenen Jahres nach 21 Jahren wieder nach Lissabon reiste, hörte ich mir zuvor diese CD an. Der Autor, Sascha Lübbe, hat lange in dieser faszinierenden Stadt gelebt und kennt sich entsprechend gut aus. Und einen kenntnisreichen Führer zu haben, zahlt sich in Lissabon aus, denn vieles was die Stadt zu bieten hat, bleibt zunächst verborgen in Gassen und hinter "normal" aussehenden Türen (ich suchte 1993 mir empfohlene Bars, und fand sie erst nach längerer Zeit hinter Türen, die mit winzigen Lichtern "markiert" waren). Denn Lissabon ist - genau wie Rom - auf sieben Hügeln gebaut, und bietet deshalb viele Ecken und Winkel, aber auch viele Aussichtsterrassen mit spektakulären Aussichten (gut auch das Dach vom Pantheon).

Spaziergang durch Lissabon
Sascha Lübbe
Geophon; Auflage: 1 (21. Februar 2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 393624782X
ISBN-13: 978-3936247824

Das Hörbuch stellt auf acht Routen einiges davon in detailreichen Beschreibungen vor. Der Stadtspaziergang beginnt auf dem Burghügel, im Castelo de São Jorge, dessen Siedlungsursprung auf die Phönizier zurückgeht, jedoch erst von den Mauren als richtige Burg errichtet wurde. Lübbe führt uns dann in die Alfama (Altstadt), mit ihren wunderbar restaurierten aber auch desolaten Häusern, wo (noch) arme Bewohner neben den Edelboutiquen leben, und die als "Fadoviertel" viele Touristen anlockt, zumal sie zu Füßen der Burg liegt.

Das heutige Aussehen der Baixa (Unterstadt) verdankt sich dem großen Erdbeben von 1755, das in sechs Minuten große Teile der Stadt (85%) zerstörte; Brände und eine Flutwelle verschlimmerten die Zerstörungen noch und forderten 60.000 Tote. Der Marques de Pombal sorgte dafür, dass sich die Stadt wieder erholte und ihr heutiges Aussehen erhielt. Wir erfahren außerdem, dass er kein Geld für kirchliche Bauten gab, die sich auch noch an seine Baupläne anpassen mussten, für damalige Zeiten eine Ungeheuerlichkeit.

Im Viertel Rossio liegt der Largo de São Domingos, auf dem 1506 fanatische Dominikaner 3.000 konvertierte Juden töteten, denn mit spanischen Inquisition schlug auch in Lissabon die kulturelle Offenheit gegenüber Juden in Hass um.

Mit dem meist fotografierten Aufzug der Welt geht es zum Largo do Carmo, der mit dem wichtigsten Ereignis der neueren Geschichte Portugals verknüpft ist, der "Nelkenrevolution" vom 25.4.1974, als dort die Revolutionäre Regierungschef Caetano zwangen, die Macht abzugeben.

Der Schriftsteller Fernando Pessoa, einer der berühmtesten Söhne der Stadt, sitzt vor dem bekanntesten Café der Stadt (A Brasileira) in Bronze gegossen am Tisch im hippen Viertel Chiado, das heute Kultur, Mode und Shopping vereint. Nachtleben und Design bestimmen das Image des Viertels Barrio Alto, über das Barbesitzer Pedro Silva im Interview Auskunft gibt.

Die letzte Route führt uns nach Belém, wo uns mit dem Hieronymitenkloster (Weltkulturerbe), dem Torre de Belém und dem Denkmal für die portugiesischen Seefahrer und Entdecker drei Sehenswürdigkeiten ersten Ranges erwarten (und gute Restaurants, wenn man die Touristenadressen meidet).

Lissabon ist immer noch eine der spannendsten Städte Europas, daran konnte auch die Wirtschaftskrise – u.a. dank des Tourismus – nicht viel ändern. Sascha Lübbe gelingt es, Lust auf die Stadt zu machen, die Sprecher(innen) setzen seine Texte gut um. Allerdings beginnt das Hörbuch mit einem schweren Aussprachefehler (1’49) – saudade wird so ausgesprochen wie es deutsch gelesen wird, auch später noch mehrmals (im Kapitel über Fado). Abgesehen davon sind die Texte abwechslungsreich, auch dank der vielen Interviews, Musiken etc. Das Beiheft bietet viele Zusatzinformationen und reicht für einen der heutzutage so beliebten Kurztrips aus. Ich empfehle aber, sich mehr Zeit zu nehmen und dann zusätzlich einen dickeren Reiseführer einzupacken, wie z.B. "Lissabon und Umgebung" von Johannes Beck (Müller Verlag).

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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