ed 03/2010 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [forum] / [archiv]


brasilien: Carnaval tanzt Religion (incl. Bildergalerie)
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug IV)
Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
THOMAS BAUER
[art. 2]
bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
Teil V: Südwärts und Ein Ende der Welt
LENNART PYRITZ
[art. 3]
spanien: Straßenkinder in Barockbildern
Die Rückkehr von Murillos Frühwerk nach Sevilla
BERTHOLD VOLBERG
[art. 4]
grenzfall: Wo bitte ist der Strand...?
ANDREAS DAUERER
[kol. 1]
helden brasiliens: Die "jecken" Nonnen von Santa Teresa
THOMAS MILZ
[kol. 2]
ausstellung: Cuba - The Sunny Side of Socialism?
JULES VALERON
[kol. 3]
lauschrausch: Mercedes Sosa und Barrio Tango
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Brasilien: Carnaval tanzt Religion (incl. Bildergalerie)
 
Stets hatte es bei den Sambaparaden in den letzten Jahren Ärger gegeben. Die katholische Kirche von Rio de Janeiro protestierte dabei meist lautstark gegen in Lumpen gekleidete Jesus-Darsteller und andere fragwürdige Anspielungen religiöser Art. Die Justiz und die Stadtoberen untersagten daraufhin meist die Aufführung der umstrittenen Passagen, woraufhin die kreativen Köpfe hinter den Sambaparaden laut "Zensur" schrien und sich beleidigt zeigten. – Doch dieses Jahr scheinen sich die katholische Kirche und der Carnaval überraschend nahe gekommen zu sein.

Szene aus der Parade "Brasilien und all seine Götter"
der Sambaschule Imperatriz Leopoldinens

Das Jahr begann schon mit einer Überraschung. Zum ersten Mal überhaupt stattete der Erzbischof der Stadt, Dom Orani Joao Tempesta, den Sambaschulen einen Besuch ab. Während der Feierlichkeiten zum Geburtstag Rio de Janeiros erschien der Erzbischof in der "Cidade do Samba", einer von der Stadtverwaltung den Sambaschulen zur Verfügung gestellten Werkshalle. Dort schneidern und zimmern die 12 Schulen der ersten Sambaliga ihre Kostüme und Prunkwagen, und hier entsteht so einiges, was leicht den Anstoß von Hochwürden entfachen könnte.

Darunter ein Prunkwagen der Sambaschule Imperatriz Leopoldinense, der die "Erste Messe in Brasilien" darstellt, abgehalten von den Portugiesen im Jahre 1500. Inmitten eines bunten Urwaldszenarios und umgeben von barbusigen Eingeborenen kniet ein katholischer Priester vor einem improvisierten Holzkreuz nieder. Ein anderer reicht den "Wilden" den Kelch zum Abendmahl. Die Szene gehört zu der Parade "Brasilien und alle seine Götter". Dabei soll die einzigartige Vermischung verschiedenster Religionen in Brasilien dargestellt werden. Der geistige Vater des Spektakels, Max Lopes, brachte dabei Juden, Buddhisten, Hindus und afro-brasilianische Religionen gemeinsam auf die Avenida des Sambódromos, Rios über ein Kilometer lange Paradestraße des Carnavals.

Erste Messe
Erste Messe

Gegen die Aufführung der "Ersten Messe" begann sich in den Reihen der katholischen Kirche Protest zu formieren. Und nicht nur dagegen. So erklärte die Schule Grande Rio, dass man jene zerlumpte Jesusgestalt noch einmal hervorholen wolle, die bereits vor über 20 Jahren für einen Skandal im Sambódromo und einen Eklat mit der katholischen Kirche sorgte. Zudem machte eine andere Schule die Suche nach dem Paradies zu ihrem Motto. - Leicht hätte es ein Katastrophenjahr für die Beziehungen zwischen dem Carnaval und der Kirche werden können.

Doch dem Besuch des Erzbischofs in der Sambastadt, der die aufkommenden Spannungen milderte, folgte ein überraschendes Urteil. So hob ein Gericht in Rio das 2007 von der Stadtverwaltung erlassene Verbot der Zurschaustellung religiöser Symbole wie dem Cruzifix, Heiligenbilder etc. während der Carnavalsaufführungen auf.

Sambaschule
Imperatriz Leopoldinense
Max Lopes, kreativer Kopf hinter der Aufführung "Brasilien und all seine Götter"

Kurzerhand änderte die Sambaschule Unidos do Viradouro daraufhin Teile ihrer Präsentation über Mexiko und fügte einem Prunkwagen eine überlebensgroße Statue der Jungfrau von Guadalupe zu, der Schutzheiligen Mexikos und weiten Teilen Lateinamerikas. "Dieses Jahr wollten wir den Menschen ein wenig die mexikanische Kultur nahe bringen. Und da gehört die Jungfrau von Guadalupe einfach dazu", so Junior Schall, einer der für die Gestaltung der Parade der Viradouro zuständigen Designer.


Imperatriz Leopoldinense

Die Jungfrau von Guadalupe - dargestellt in der Parade der Sambaschule Unidos do Viradouro

Zwar folgte die für die Ausrichtung der Paraden zuständige Liga der Sambaschulen offiziell nicht dem Gerichtsentscheid und beharrte auf der Einhaltung ihres internen Verbots der Verunglimpfung religiöser Symbole im Sambódromo. Aufgrund der Flut religiöser Darstellungen und der Schwierigkeit zu definieren, was erlaubt und was zu verbieten sei, ließ man die Schulen jedoch einfach walten. Max Lopes, der Gestalter der "Ersten Messe", brachte es auf den Punkt: "Es gibt keinerlei Polemik. Die Kirche hat das verstanden und alle anderen ebenfalls. Was wir hier machen hat Herz und beinhaltet Respekt", so Lopes.


Bildergalerie: Bunter Tanz im Sambodromo
Ganz nah beim Carnaval von Rio de Janeiro war dieses Jahr der Caiman. Die besten Momente des zweitägigen Spektakels haben wir in einer Reihe Fotos festgehalten.


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

[zoom]

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug IV)
Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
 
"Fünf Tischdecken aus feinstem Stoff, fühlen Sie mal! Weich wie Watte ist das - und erst diese Farben: blau wie das Meer, grün wie ein Kaktus, gelb wie der Wüstensand. Jetzt raten Sie mal, was das alles zusammen kostet. Na? Drei Pesos. Drei Pesos! Ja, bin ich denn verrückt, Ihnen ein solches Angebot zu machen?"

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Wohin man in Südamerika auch fährt: Man kann sicher sein, dass nach der Abfahrt, bei einem Zwischenstopp oder bei der Ankunft, in aller Regel sogar bei allen dreien, ein Verkäufer in den Bus springt, der es anschließend auf wundersame Weise versteht, gerade noch abzuspringen, bevor das Gefährt zu sehr an Fahrt gewonnen hat. Das heutige Exemplar war unterhaltsam, rhetorisch versiert und schlagfertig. Nur: Was, um Himmels Willen, sollte ich in der Wüste um San Juán mit fünf Tischdecken anfangen? Wofür könnte ich drei Groschenromane gebrauchen und wo sollte ich einen Zehnerpack Kleiderbügel unterbringen?

Difunda Correa

"Danke schön, meine Dame, viel Spaß mit den Tischdecken. Eine gute Wahl, das verspreche ich Ihnen. Jetzt sind Sie alle neugierig geworden, nicht wahr? Völlig zurecht, denn Sie haben vier Stunden Busfahrt vor sich, ohne etwas Schönes in den Händen zu halten oder etwas Anständiges zu lesen. Ist das nicht schrecklich? Ist das nicht der absolute Horror? Aber ich kann Ihr Leiden mildern. Ich kann Ihnen helfen, ja, genau Ihnen, mí amor, denn ich habe das perfekte Mittel, um Ihre Busfahrt so angenehm wie möglich zu gestalten. Etwas so Spannendes haben Sie selten gelesen. Und jetzt raten Sie mal, was diese drei Romane zusammen kosten ..."

Difunda Correa

"Wollen Sie etwa zur Difunta Correa?", krächzte die achtzigjährige Dame hinter mir plötzlich, als der eloquente Verkäufer eben die Kleiderbügel an den Mann gebracht hatte und überraschend behände auf die Straße sprang, während unser Bus um die letzte Ecke von San Juán bog, um anschließend die Wüste auf einer schnurgeraden Straße in zwei Teile zu zerschneiden. "Ein Tempel mitten im Nirgendwo, das lasse ich mir nicht entgehen." Meine Mitfahrerin klatschte in die Hände und beugte sich ein wenig zu mir vor. "Es wird sich lohnen, junger Mann", versprach sie mit ihrer rauen Stimme, die entfernt an das Zischen eines Teekessels erinnerte. "Sie werden allerdings der einzige Nicht-Argentinier sein. Für uns ist die Difunta Correa eine Heilige. Jeder Argentinier soll einmal in seinem Leben zu ihr pilgern. Deolinda Correa, so hieß sie ursprünglich, begab sich während des Bürgerkrieges 1841 hochschwanger in die Wüste, durch die wir gerade fahren, um ihren Mann zu suchen. Sie starb in dieser Einöde an Hunger, Durst und Erschöpfung. Doch während sie starb, gebar sie ihr Kind, das zwei Tage lang an ihrer Brust überlebte und schließlich geborgen werden konnte. Was für ein Wunder! Nicht wahr?" Erschöpft lehnte sie sich wieder in ihren Sitz zurück.

Difunda Correa

Seit jener mysteriösen Geschichte ist die Difunta Correa, die "dahingeschiedene Correa", in Argentinien eine Heilige mit erstaunlicher Anziehungskraft. Die Straßen, die zu ihr führen, sind gespickt mit dem Wertvollsten, was man in einer Wüste zu geben vermag: Überall am Straßenrand sieht man volle Wasserflaschen stehen. Dort, wo die Tote einst mit dem lebenden Säugling gefunden worden war, steht inzwischen eine Kirche. Über eine Million Devotionalien und Geschenke sind rundum verstreut. Lenkräder, Windschutzscheiben, Kleider, Pokale, Miniaturhäuser und ganze Autos haben sich zu einem immensen Schrein gesammelt, der inmitten der unerbittlichen Einöde steht und stetig anwächst. Eine Feinheit der spanischen Sprache sorgt dafür, dass Difunta Correa frei übersetzt auch soviel heißt wie "gerissener Keilriemen". Überall um die kleine Kirche herum liegen darum Keilriemen und Nummernschilder im Wüstensand. Auch aufgrund dieser linguistischen Zweideutigkeit ist die Difunta Correa zur Schutzpatronin aller Fernfahrer avanciert.

Difunda Correa

Die Mitfahrerin mit der Teekesselstimme bot an, mir die "heiligste Stätte Argentiniens" zu zeigen. Gemeinsam drückten wir uns aus dem Bus und hoben zeitgleich schützend die Hände über unsere Augen. Die Sonne stand wie ein gelbes Auge am Himmel und durchbohrte uns mit ihrem Blick. Nach fünf Schritten besprenkelten Schweißtropfen meine Stirn; nach zehn begannen sie, an meinem Gesicht hinabzugleiten. Ich konnte mir gut vorstellen, dass eine junge Frau wie Deolinda Correa unter ähnlichen Bedingungen ihr Leben im Wüstensand ausgehaucht hatte. Zum Glück bestand das Heiligtum Argentiniens in erster Linie aus Schreinen in Hausgröße, die ein wenig Schatten spendeten. In einem Haus befanden sich ausschließlich Brautkleider, die der Difunta Correa gewidmet waren. Im nächsten fanden wir Pokale, im dritten Bilder von Haustieren. Es gab Schreine für Studenten, für Sportler, für Soldaten, für Lastwagenfahrer und für Verliebte. Eine junge Frau warf sich zu Boden und stammelte Dankesgebete. Überall waren Inschriften angebracht. "Difunta Correa, Tausend Dank dafür, dass du meinen Lastwagen mit dem Kennzeichen … auch in diesem Jahr beschützt". "Difunta Correa, bitte sorge dafür, dass Alejandro mich endlich liebt". "Difunta Correa, wir bitten dich, schütze unser Haus, auf dass es vor Sturm und Erdrutsch sicher sei".

Difunda Correa

Ein wenig ungewohnt kam mir die tiefe Spiritualität der Argentinier an diesem Ort vor - zumal mir meine Reiseführerin erklärte, dass jeden Sonntag eigens ein Priester zur Difunta Correa eilte, um Lastwagenmotoren, Miniaturhäuser und Sportpokale zu segnen. Gleichzeitig war ich beeindruckt von der Intensität, mit der die Anwesenden ihren Glauben ausdrückten. Ähnlich wie mir muss es der katholischen Kirche in Argentinien ergangen sein. Zwar hat sie bis heute die Difunta Correa nicht als Heilige anerkannt. Doch organisieren mehrere Pfarrgemeinden inzwischen Wallfahrten in die Wüste bei San Juán, um die argentinische Schutzpatronin zu besuchen. Auch sie scheinen erkannt zu haben, wie viel Kraft von diesem Ort ausgeht.


[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_3] Bolivien: Auf den Spuren Che Guevaras und Bruce Chatwins
 
Im Rahmen eines Auslandssemesters innerhalb des Biologiestudiums arbeitete Lennart Pyritz für vier Monate auf der biologischen Station "Los Volcanes" in den bolivianischen Ostanden an einem ornithologischen Projekt. Währenddessen unternahm er mit bolivianischen Freunden auch einige kurze Fahrten durch die Anden.

Teil Va: Südwärts
Seit vorgestern sind Philipp und ich im Süden Argentiniens, in Patagonien, das auch Bruce Chatwin in einer seiner Reiseerzählungen verewigt hat: eine unendlich weitläufige, dornige Steppenlandschaft, deren Farbe zwischen gelbgrün und braun changiert. Manchmal gruppieren sich einige Bäume um vereinzelte Häuser herum oder der Kopf eines Guanacos ragt aus der Ebene hervor; ansonsten ist alles flach und eintönig und von monotoner Anmut.

[zoom]
[zoom]

Wir sind zunächst aus dem ruhigen, leicht verrotteten Montevideo ins noch ruhigere Colonia gefahren, einer kleinen Hafenstadt, direkt gegenüber von Buenos Aires an der Mündung des Río de la Plata. Die Altstadt ist UNESCO-Weltkulturerbe, wunderschön erhalten, mit uralten Autos in den Straßen und direkt am Wasser gelegen. Colonia war so ruhig, dass man beim Gehen in den Straßen hätte einschlafen können zumal die Oldtimer hier auch nicht schneller als Schritttempo fahren (das einzig Gefährliche sind die Roller- und Motorradfahrer). Nach zwei entspannten Tagen in Colonia brachte uns dann die Fähre zurück in den Lärm und die Betriebsamkeit von Buenos Aires.

Wir haben das Großstadtleben noch einmal voll ausgekostet, haben zwei Nächte ohne Schlaf verbracht, waren in der größten, am Hafen gelegenen Disco von Buenos Aires und haben die schwülen Tage verschlafen. Am Sonntagnachmittag sind wir in den Nachtbus nach Puerto Madryn gestiegen, der uns 1400 Kilometer gen Süden gebracht hat.

[zoom]
[zoom]

Puerto Madryn, ursprünglich eine winzige walisische Siedlung, ist auch heute noch ziemlich klein, aber weniger walisisch, vielmehr touristisch: In der Nähe liegt die Halbinsel Valdés, ein berühmtes Naturreservat. Im Herbst lassen sich hier an der Küste Orcas mutwillig stranden, um am Ufer rastende Mähnenrobben zu packen und ins tiefe Wasser zu ziehen. Die entsprechenden Bilder gingen um die Welt.

Gestern haben wir per Boot und Minibus eine Tour durch den Park gemacht. In der dornigen Einöde landeinwärts sahen wir Guanacos, Nandus, Füchse und Gürteltiere, an der Küste Seelöwenkolonien, tonnenschwere Seeelefanten, die träge im Sand rollten, und Magellanpinguine.

Einen Tag zuvor waren wir mit geliehenen Fahrrädern unterwegs, sind am Strand aus der Stadt hinaus gefahren bis uns nur noch Ebene und Dornbüsche auf der einen Seite und tiefblaues Meer auf der anderen umgaben. Antoine de Saint-Exupéry war, wie ich hier erfahren habe, auch in Argentinien (er hat bei der Luftpost gearbeitet) und einige Ideen im "Kleinen Prinz" hat er wohl aus dieser patagonischen Landschaft geschöpft.

[zoom]
[zoom]

Heute Nachmittag fahren wir weiter gen Süden, was auf dieser Erdhälfte ungewohnter Weise gen Kälte heißt, nach Comodoro Rivadavia, um eine Bekannte von Philipp aus Mendoza zu besuchen. Danach geht es Schritt für Schritt weiter nach Ushuaia.

Teil Vb: Ein Ende der Welt
Dafür dass wir im "Tierra del Fuego" - Land des Feuers - sind, ist es ziemlich kalt. Nach Zwischenstopps in Comodoro Rivadavia und Río Gallegos sind wir per Flugzeug nach Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, gereist. Es ist windig und frisch, die bunten Häuser kauern an den Berghängen und vom Hafen am Beagle-Kanal starten Expeditionen in die nicht mehr weit entfernte Antarktis.

[zoom]
[zoom]

Wir durchstreifen die kleine Stadt, besuchen das Denkmal für die Gefallenen des Falkland-Krieges. Dann campieren wir einige Tage im Nationalpark "Tierra del Fuego": Beeindruckende Wanderungen entlang rauer, felsiger Küsten und durch niedrige Wälder mit von Wind und Wetter verkrüppelten Nadelbäumen. Am letzten Tag besteigen wir einen Berg. Als wir verschwitzt und glücklich auf dem Gipfel stehen, klart es plötzlich auf, unter uns liegt Ushuaia glitzernd in der fahlen Sonne, weiter hinten funkelt das Wasser des Beagle-Kanals. Noch weiter draußen verfängt sich der Blick im Dunst, dort, wo ein Ende der Welt liegt. Was für ein Glück, so weit reisen zu können - und was für ein Glück, dass es noch ein zweites Ende gibt, das es zu bereisen gilt.

Auf bald in der Heimat, L.

Text: Lennart Pyritz
Fotos: Thomas Milz

Teil I: Auf in die Anden
Teil II: Mit Jesus auf dem Berg und Larven im Fuß
Teil III: Der Fliegenmensch
Teil IV: Häusermeere und Ein Tango und drei U's

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_4] Spanien: Straßenkinder in Barockbildern
Die Rückkehr von Murillos Frühwerk nach Sevilla
 
Wenn ich kunstbegeisterte Freunde (die meinen Geschmack eigentlich teilen) auf den Sevillaner Barockmaler Bartolomé Esteban Murillo (1617 - 1682) anspreche, ist die Reaktion oft genug die gleiche. "War das nicht der, dem wir nur endloses Engelsgetümmel und unzählige Inmaculadas verdanken?"  Selbst ein befreundeter Kunstprofessor aus Kastilien verdreht bei der Nennung des Namens Murillo leicht die Augen und murmelt etwas von "viele fette Engelchen..."

Zu Unrecht, wie uns das Museum der Schönen Künste in Sevilla mit einer großen Sonderausstellung demonstriert, die am 20. Februar eröffnet wurde und dort noch bis zum 30. Mai zu bewundern ist. Gezeigt werden 42 Werke Murillos aus den ersten 20 Jahren, die zum größten Teil aus ausländischen Museen kommen und nun eine dreimonatige "Wiedervereinigung" mit Murillos Werken in Sevilla erfahren.


Dabei wird man konfrontiert mit einem Bild, das so ungewöhnlich für Murillo ist, dass es lange nicht mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurde: das "Alte Hökerweib". Es handelt sich um die ca. 1645 gemalte Darstellung einer Marktfrau, die einen Korb mit Eiern zum Verkauf anbietet und eine Henne im Arm hält. Dieses Gemälde einer Frau aus dem Volk ist eine exzellente Charakterzeichnung, mit der Murillo einen für ihn seltenen Mut zur Hässlichkeit, virtuose Zeichenkunst und schonungslosen Realismus beweist. Sehr detailgetreu präsentiert er das vergilbte, von Falten gezeichnete, fast zahnlose Gesicht der Alten, die mit stechendem Blick aus dem Bild heraus schaut. Mit der rechten Hand umschließt sie verkrampft den Hals der Henne, mit der linken greift sie deren Krallen. Aus ihrem Blick spricht Vieles, aber nichts Gutes: Geiz, verschlagene Bosheit, Verzweiflung über ihre Armut? Jedenfalls scheint dieses Porträt der Altersarmut in Hexengestalt Lichtjahre entfernt zu sein von den wunderschönen Madonnen umringt von Puttengetümmel, die Murillo später in Serie geliefert hat und mit denen sein Name in allen Lexika der Kunstgeschichte verbunden wird. Kein Wunder, dass dieses Bild bis ins 20. Jahrhundert Jusepe de Ribera zugeschrieben wurde, der bekannt ist für ähnliche Milieustudien, die Randgestalten der Gesellschaft porträtierten. Doch Laborstudien des Materials haben einwandfrei bewiesen, dass das "Alte Hökerweib", aufgrund der Übereinstimmung mit Daten seiner anderen Werke, eine Schöpfung des Meisters aus Sevilla ist.

Man darf Murillo also weder - wie oft in Sevilla - auf seine Inmaculadas und Engel noch - wie oft in Deutschland oder Nordeuropa - auf seine Kinderbilder reduzieren. Denn die Spannbreite der Motive in seinem Gesamtwerk ist enorm. Obwohl er vor allem für seine 22 Inmaculadas bekannt ist, die als Himmelsköniginnen von herum purzelnden Engelchen begleitet werden, war er einer der vielseitigsten Maler des Siglo de Oro. Im Gegensatz zu Zurbarán oder Valdés Leal, von denen fast nur Gemälde mit sakralen Motiven überliefert sind und selbst im Vergleich zum Hofmaler Velázquez, hat Murillo aus seiner Palette originelle Szenen gezaubert. Neben vielen sakralen Auftragswerken für Klöster signierte er mit seinem Namen auch (teils erstaunlich sozialkritische) "Alltagsszenen", Stilleben, allegorische Darstellungen von Jahreszeiten, Selbstbildnisse, Porträts und Kinderbilder. Dabei malte er keine Königskinder (wie Velázquez) sondern Straßenkinder.

In Sevilla, der Globalisierungsmetropole des 17. Jahrhunderts, gab es nach der Wirtschaftskrise in den 1630er Jahren, die soziale Gegensätze verschärfte, sehr viele Straßenkinder und nach der großen Pest von 1649 stieg ihre Zahl beträchtlich an, weil die Hälfte der Stadtbevölkerung starb und viele Kinder ihre Eltern verloren. Diese mehr oder weniger obdachlosen Kinder konnten oft nur durch Betteln, Diebstahl oder Prostitution überleben. Sie schlossen sich manchmal zu Banden zusammen und teilten die Beute, die sie durch Stehlen oder Betteln gesammelt hatten. Während alle anderen Sevillaner Maler seiner Generation einen eleganten Bogen um dieses Tabuthema machten, hat Murillo diesen Straßenkindern aus heutiger Sicht ein Denkmal gesetzt.

Sein erstes Bild mit dieser Thematik ist zugleich die kritischste und kompromissloseste Version: der "Junge Bettler" (gemalt um 1647, heute im Louvre). Es zeigt einen Jungen, der in zerlumpter Kleidung in einer Ruine kauert und sich nach Läusen absucht; vor ihm liegen noch Reste einer kümmerlichen Mahlzeit wie Brotkrümel und abgebissene Garnelenschwänze. Es ist eine ergreifende Darstellung eines einsamen Jungen, der als Straßenkind sein Leben fristen muss. Ganz im Gegensatz zu seinen späteren Kinderbildern dominiert in diesem frühen Meisterwerk eine für Murillo ungewöhnlich schwermütige Stimmung mit düsteren, graubraunen Farben und viel schwarzem Schatten. Die ganze Komposition wirkt asketisch, konzentriert auf das Wesentliche; hier gibt es kein schmückendes Beiwerk zu entdecken. Im Kontrast zu vielen später datierten Bildern, in denen er seine Straßenkinder mit lockigem Haar, oft mit fröhlichem Lachen und blitzenden Augen malt und sich damit dem Publikumsgeschmack annähert, hat dieser zerlumpte Betteljunge kurz geschorenes Haar. Seine Augen sieht man nicht, weil der Blick gesenkt ist, und sein Gesichtsausdruck ist traurig, weit entfernt vom spitzbübischen Grinsen anderer Kinderbilder Murillos.

Schon seit 1782 im Besitz des französischen Königs, war der "Betteljunge" nach der Französischen Revolution das erste Bild eines spanischen Künstlers im Louvre. Es wurde also regulär schon im 18. Jahrhundert durch Kauf erworben und nicht - wie viele seiner sakralen Gemälde - durch Diebstahl der napoleonischen Truppen, die im größten Kunstraub der spanischen Geschichte fast sämtliche Klöster und Kirchen Sevillas plünderten und ihre Beute 1812 nach Frankreich brachten, wo sich viele Werke von Murillo, Zurbarán, Alonso Cano später auch im Louvre wiederfanden. Es ist erstaunlich, dass gerade Murillos Porträts von (Straßen)Kindern im Norden Europas mehr Interesse weckten als in Spanien. Bereits kurz nach seinem Tod 1682 fanden die meisten dieser Bilder Käufer in England, Frankreich und Deutschland.

Fünf davon befinden sich heute in der Münchner Pinakothek und das bekannteste aus diesem Zyklus über das Leben von Straßenkindern ist auch in dieser Ausstellung in Sevilla zu sehen: die "Melonenesser". Entstanden 1650 oder 1651, zeigt diese Szene zwei Straßenkinder, die mit Genuss Melonen und Trauben verspeisen. Ganz anders als beim tristen "Betteljungen" verpackt Murillo diese Momentaufnahme städtischen Elends in eine dem Publikum gefällige Form. Denn diese beiden zerlumpten Straßenjungen kauern nicht niedergeschlagen in einer Ecke, sondern stopfen sich voll mit Melone und Trauben, wobei sie sich kumpelhaft anblicken. Bis ins kleinste Detail beeindruckt der virtuos gemalte Realismus der Szene: die dreckigen Fingernägel und Fußsohlen der barfüßigen Jungen, die Melonenkerne auf dem Boden und die zwei Fliegen auf der Melone, auf der sogar die Schatten ihrer winzigen Beine und Flügel erscheinen. Die verführerisch glänzenden Trauben, die sich der linke Junge mit herausforderndem Blick in den Mund steckt, erinnern fast an bacchantische Genüsse und auch das angedeutete Grinsen des rechten Jungen, der sichtlich zufrieden mit vollen Backen Melone kaut, scheint eher abzulenken von der ernsten Thematik des Schicksals der Straßenkinder. Zwar ist dieses Bild noch entfernt vom unbeschwerten Lachen, das typisch wird für seine späteren Kinderszenen, aber im Vergleich zum "jungen Bettler"  sind sowohl die Stimmung als auch die Farbpalette deutlich aufgehellt. Vom strengen Schwarz-Grau-Braun entfernt Murillo sich in der Szene der "Melonenesser" , indem er das saftige Grüngelb der Melone, die hellgrün schimmernden Trauben und die weißen Hemden der Kinder in den Mittelpunkt rückt.

Generell kann man nach 1650 eine fortschreitende Aufhellung des Farbenspektrums in Murillos Werken beobachten. Dies fällt schon auf bei den Bildern "Junge mit Hund" oder "Mädchen mit Früchtekorb", die zwischen 1650 und 1655 gemalt wurden. Noch deutlicher wird dies bei späteren Szenen mit Straßenkindern beim Argolla-Spiel oder Würfelspiel, die Murillo um 1670 vollendete. Und eine weitere Gemeinsamkeit dieser späteren Kinderbilder: trotz ihrer Armut sind die sich selbst überlassenen Kinder fröhlich, zeigen dem Betrachter ein übermütiges Lächeln oder befreiendes Lachen. Dabei apellieren sie indirekt an das soziale Gewissen der Betrachter.

Dennoch wurde Murillo von einigen Kritikern vorgeworfen, seine Porträts von Straßenkindern seien zu hübsch und ihre Stimmung zu sorglos und heiter, um als gesellschaftskritische Visionen ernst genommen zu werden. Dabei sollte man nicht vergessen, dass auch andere Barockmaler bettelnde Waisenkinder mit glücklichem Gesichtsausdruck darstellen, sogar der ernste Jusepe de Ribera präsentiert seinen "jungen Bettler mit Klumpfuß" mit einem breiten Grinsen. Es mag ein Zugeständnis an den Publikumsgeschmack sein, dass Murillo seine detailgetreuen Milieustudien so gefällig verpackt - er bietet Sozialkritik mit Zuckerguss. Murillo zeigt das Elend des Ambientes, in dem diese Kinder am Rand der Gesellschaft leben, aber er malt ihnen ein Lachen ins Gesicht. Er inszeniert ihre Freiheit, scheinbar nach dem Motto "arm, aber frei und glücklich". Damit drückt er vielleicht eine Sehnsucht seiner reichen, adligen Kunden nach weniger Verpflichtungen oder gesellschaftlichen Konventionen aus: carpe diem, einfach in den Tag hinein leben, auch dies suggerieren seine harmonischen Bilder von etwas zu fröhlichen Straßenkindern.

Es gab allerdings noch einen weiteren, oft vergessenen Grund für diese romantisierende Sicht, mit der Murillo seine Kinderszenen präsentiert. Die große Pest von 1649 war die größte Katastrophe in der Stadtgeschichte Sevillas, kostete während weniger Monate die Hälfte der Bevölkerung (ca. 80.000 Menschen, darunter auch drei Kinder von Murillo) das Leben und hinterließ eine traumatisierte Stadt, in der die Überlebenden mit Hungersnöten, entvölkerten Gassen und Banden von Waisenkindern konfrontiert wurden. Und das letzte, was diese Überlebenden auf Gemälden sehen wollten, war hoffnungsloses Elend - denn davon waren sie im täglichen Leben umgeben. Es ist also kein Zufall, dass die einzige Straßenkind-Szene Murillos, die kompromisslos und ungeschönt diese Misere in düsteren Farben zeigt, vor dem Zusammenbruch von 1649 gemalt wurde. Alle Bilder, die er nach 1650 entwarf, präsentieren sich zunehmend heller und optimistischer. Nach der Pest-Apokalypse sehnten sich die Sevillaner nach lichten Hoffnungsvisionen - und Murillo gab ihnen, was sie sehen wollten.

Dies gilt erst recht für die sakrale Malerei Murillos, deren Farbskala sich von erdbraunen Tönen und harten, noch von Caravaggio und Ribera beeinflussten Chiaroscuro-Kontrasten hin zu weich gezeichneten Konturen, goldstrahlenden Lichtwolken und prächtigen Blau- und Rottönen für die Madonnengewänder entwickelte. Sein Markenzeichen wurden Madonnen als himmlische Schönheitsköniginnen, die mit verzücktem Gesicht göttliche Liebe verkünden. Wenn man Murillo eines vorwerfen kann, dann vielleicht, dass er seine "Erfolgsmodelle" zu oft selbst kopiert hat, weshalb er heute zu Unrecht auf seine Engel und unbefleckte Jungfrauen reduziert wird.

Murillos Kunst ist durchdrungen von christlich motiviertem Humanismus, den er auch selbst lebte: als Mitglied der Bruderschaft der Nächstenliebe verteilte er regelmäßig Almosen und verschenkte den größten Teil seines beträchtlichen Vermögens an die Armen. Auch seine Bilder sind in vielen Fällen als direkter Aufruf zur "Caritas" zu verstehen. In diese Kategorie sind seine beiden Meisterwerke "Die Heilige Elisabeth pflegt Aussätzige" (im Hospital de la Caridad, Sevilla) und  "Der Heilige Thomas de Villanueva verteilt Almosen" (im Museum der Schönen Künste, Sevilla) einzuordnen, die als gemalte Predigten zu Handlungen der Nächstenliebe auffordern. Und er verfügte über eine geniale Maltechnik, egal ob er eine Madonna mit dem Gesicht einer Zigeunerin oder engelhaft lächelnde Straßenkinder auf die Leinwand bannte. Kein anderer spanischer Maler hat so gekonnt Bewegung oder Mimik von Personen festgehalten wie Murillo. Er war ein "Meister des Lächelns" - sein Porträt eines "lachenden Jungen" und die Darstellung eines Jungen, der eine alte Bettlerin verspottet, sind  virtuos gezeichnete Gesichter. In beiden der ca. 1660 entstandenen Bilder benutzt Murillo den Kunstgriff, den Zuschauer einzubeziehen, der direkt angelacht wird; im Fall des ersten Bildes zeigt der Junge sogar mit dem Finger aus dem Bild heraus auf den Betrachter, als ob er ihn übermütig auslachen würde.


Eines haben die beiden Sevillaner Maler Murillo und Velázquez gemeinsam: was die technische Virtuosität und Komposition betrifft, mag ihr Spätwerk  (Velázquez: "Las Meñinas"; Murillos theatralische Szene "Thomas de Villanueva verteilt Almosen" oder seine von kunstvollen Lichtnebeln umwölkten "Inmaculadas") beeindruckender sein. Doch wenn man die Bedeutung und Zeitlosigkeit ihrer Botschaft bewertet, muss man viele Bilder ihres Frühwerks (Velázquez: "El Aguador"; Murillos "jungen Bettler" und andere Bilder von Straßenkindern) eigentlich höher einschätzen. 

Murillo war im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts der berühmteste spanische Maler, seine Werke erzielten überall Höchstpreise. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts fiel er zunehmend in Ungnade und wurde vom Thron gestoßen - vor allem im Vergleich zu Velázquez, dem nun von Kunsthistorikern die Krone der spanischen Malkunst aufgesetzt wurde. Das lag aber auch an einer beispiellosen Lawine von schlechten, oft grauenhaft kitschigen Kopien von Murillo-Gemälden, die den europäischen Kunstmarkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts überrollten und entscheidend zum Prestigeverlust seines Namens beitrugen.

Warum wurde der am meisten unterschätzte Maler des Siglo de Oro seitdem nicht rehabilitiert als genialer Vertreter des spanischen Barocks? Mit Genies verbindet man immer einen Hang zur Verrücktheit, biografische Purzelbäume oder mindestens extravagante Verhaltensweisen. Nichts davon trifft auf Murillo zu, der von Zeitgenossen stets als liebenswürdiger Künstler ohne Starallüren beschrieben wird, obwohl er im 17. Jahrhundert bei weitem der berühmteste Maler Spaniens war. Murillo hat niemanden im Duell getötet (wie z.B. Martínez Montañés, Cellini oder Caravaggio), er wurde nicht von der Inquisition angeklagt (wie Alonso Cano) und er hatte keine Tobsuchtsanfälle, in denen er Schüler quer durch die Kathedrale verfolgte (wie Valdés Leal). Deshalb ist seine grandiose Kunst aber nicht weniger wert. Es ist Zeit für eine Wiederentdeckung im großen Stil - am besten in Sevilla.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Linktipp:
Museo de Bellas Artes de Sevilla

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Grenzfall: Wo bitte ist der Strand...?
 
Ein typischer Anfängerfehler von Leuten, die nach Buenos Aires reisen, ist, dass sie felsenfest davon überzeugt sind, der Strand läge quasi direkt vor der argentinischen Hauptstadt. Nun ja, so ganz falsch ist diese Vermutung zunächst auch gar nicht, denn die Stadt liegt ja tatsächlich am Wasser: Der mächtige Río de la Plata, ein Zusammenschluss des Río Paraná und des Río Uruguay - an manchen Stellen über 200 Kilometer breit und somit der breiteste Strom der Welt (darauf sind die Porteños mächtig stolz) - wälzt sein eisen- und lehmhaltiges Wasser direkt an Buenos Aires vorbei in den Atlantik. Deshalb lädt das Wasser rund um die argentinische Metropole auf den ersten Blick so gar nicht zum Baden ein. Eine braune Brühe schlängelt sich mühsam die argentinische auf der einen und die uruguayer Ufer auf der anderen Seite hinab.

Garadel, Evita und Maradona [zoom]
Ehemaliges Kranhaus [zoom]

Besonders lustig wird es, wenn Kreuzfahrtschiffskapitäne ihrer Klientel den breiten Fluss aus nächster Nähe zeigen wollen. Der Río de la Plata ist an vielen Stellen nicht wirklich tief, und wenn der Kapitän eine der extra ausgehobenen Fahrrinnen nicht erwischt und der Strom obendrein mal weniger Wasser aufweist, dann kommt es vor, dass so ein Koloss buchstäblich in der Scheiße feststeckt.

Von der Innenstadt aus geht es eigentlich ruck-zuck ans Wasser. Man braucht ja nur die Avenida Belgrano bis zum Ende hinunterlaufen und schon ist man im schicken Hafenviertel Puerto Madero. Aber auch da wird der unbedarfte Tourist seinen Latino-Strand vergeblich suchen. Buenos Aires ist kein Rio und auch kein Montevideo, das auf der gegenüberliegenden Seite des Río de la Plata liegt. Unternimmt der Tourist dann noch einen Abstecher ins alte italienische Arbeiterviertel Boca, um Maradonas Pralinenschachtel und die für Boca typischen bunt bemalten Wellblechfassaden aus nächster Nähe zu sehen, dann kann vergeblich suchend schnell in pure Verzweiflung münden.


Am Puerto Madero [zoom]

Hier nämlich mündet der Río Matanza, besser bekannt als Riachuelo, in den Río de la Plata und ehe man den Flusslauf überhaupt zu sehen bekommt, überfällt einen ein unangenehmer Geruch. Unmittelbar vor dem Caminito, der berühmten Touristenmeile, steht das Wasser im alten Hafen und lacht die Leute in tiefstem grünschwarz an. Badefreuden sehen irgendwie anders aus.

Es lohnt also seinen Blick gen Norden zu richten. Vicente López beispielsweise oder auch das Tigre-Delta. Zwar ist man dann schon außerhalb der Stadt in der Provinz Buenos Aires, aber wer Badefreuden sucht, der muss ein paar Meter mit Zug, Bus oder Taxi in Kauf nehmen. Ist man erst mal vorbei am nationalen Flughafen Aeroparque kann man das Badetuch innerlich schon beinahe ausrollen. Von der Libertador Gerneral San Martín braucht man nach dem Carrefour nur nach rechts abbiegen und schon steht man am Ufer des Flusses.

Bei schönem Wetter ist hier die Hölle los. Unter der Woche ist es eher ruhig, aber das grün ist trotzdem halb verbrannt und einen Sandstrand findet man hier auch nicht.

Trotzdem, halbwegs Wagemutige können sich hier in die bräunlichen Wellen werfen. Nach diesem Abenteuer kann man sich dann getrost an den verschiedenen Bars und Restaurant ein Bier oder gar ein Asado gönnen und dem bunten Treiben zuschauen.

Caminito: Touristenmeile in Boca [zoom]

Mit dem Tigre Delta ist es so eine Sache. Fast in jedem Reiseführer steht, dass man es gesehen haben muss (stimmt), wo der Strand ist, unterschlagen die Bücher aber gerne. Das liegt aber weniger an den unwissenden Autoren, sondern daran, dass es im riesigen Insellabyrinth des Deltas gar keinen richtigen Strand gibt. Und trotzdem: wenn man sich erst einmal getraut hat, in das schlammfarbene Wasser zu springen (es gibt genügend Stege und Leitern, wo man bequem hinuntersteigen kann) und auch beim Tauchen die Augen geöffnet lässt, dem mag zwar einiges seltsam vorkommen, doch ist Erfrischung garantiert. Aufpassen sollte man dann allerdings auf die vielen Motorboote, die teilweise recht sportlich durch die Kanäle heizen. Dumm nur, dass öffentliche Kioske ausschließlich an den überlaufenen Stellen stehen. Wer es also ruhiger mag, muss sich sein Strandbier selbst mitbringen.

Tigre Delta [zoom]
Badespaß [zoom]

Richtige Strände im herkömmlichen Sinne gibt‘s aber auch in Argentinien. Etwas alternative Strandliebhaber fahren nach Villa Gesell, diejenigen, die gerne gesehen werden, eher nach Mar del Plata. Bei den Schwierigkeiten, gute Strände zu finden, ist es kein Wunder, dass der argentinische Playboy auch gleich ein Stränderanking auflistet. Und fast ist verständlich: sie liegen allesamt in Brasilien.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Helden Brasilien: Die "jecken" Nonnen von Santa Teresa
 
Am Carnavalsfreitag schlägt das Herz des bunten Jeckentreibens von Rio de Janeiro in Santa Teresa, einem beschaulichen Stadtviertel hoch über der "wundervollen Stadt". Hier wird mit dem Umzug des Carnavalsvereins "Carmelitas" seit nunmehr 20 Jahren die heiße Phase der schönsten Jahreszeit eingeläutet. Nur wenige Meter vom Ausgangspunkt des Umzugs entfernt trotzt der Karmeliterkonvent von Santa Teresa derweil in stoischer Ruhe dem bunten Treiben.


[zoom]

[zoom]

Der Gegensatz könnte wohl kaum größer sein. Während die Fans der "Carmelitas" zu Ohren betäubend lauter Sambamusik durch die engen Gassen des Viertels ziehen, folgen die Karmelitinnen in ihrem von dicken Mauern und hohen Gittern umgebenen Konvent unbeirrt ihrer eremitischen Lebensweise. Ein Leben in steter Klausur, abgeschottet von den Nachbarn, die nach eigenen Angaben keinerlei Kontakt zu den Nonnen haben.


[zoom]

[zoom]

Die Geschichte des Stadtviertels ist untrennbar mit dem Konvent verbunden. Im Jahre 1750 ließen zwei Ordensschwestern des Teresianischen Karmel hier zu Ehren der Heiligen Teresa von Avila (1515-1582) einen Konvent mitsamt Kirche errichten. Dieser gab dem Viertel später seinen Namen. Damals war der Hügel im Stadtzentrum von Rio de Janeiro jedoch noch unbewohnt. Von der späteren Besiedelung der Region profitiert der Orden übrigens bis heute. So muss bei jedem in Santa Teresa getätigten Immobiliengeschäften eine Abgabe an den Orden abgeführt werden.

Am Carnavalstreiben aber nehmen die Nonnen nicht teil. Den Konvent verlassen sie angeblich nur alle vier Jahre einmal um bei den Wahlen ihre Stimme abzugeben. Anders als die "Carmelitas". "Wir sind für einen Tag aus dem Konvent ausgebüchst um mal richtig Carnaval zu feiern", scherzt eine leicht bekleidete Anhängerin der "Carmelitas". "Erwischt mich meine Oberin, setzt es eine deftige Bestrafung."


[zoom]

[zoom]

Ein wenig lustig mache man sich schon über die strengen Nonnen, gibt sie zu. Die "Verkleidung" der "Carmelitas", egal ob Mann oder Frau, besteht lediglich aus einem Haarschleier, entweder blau-weiß oder schwarz-weiß. Der Rest bleibt jedem selbst überlassen. Bei 35 Grad wählen viele dabei ein möglichst knappes Kostüm, wobei auch Bikinis oder offen getragene Unterwäsche ausreicht.

Bissiger Spott war stets das Markenzeichen des Carnavals und dabei werden auch die Karmelitinnen nicht verschont. Man habe sich bei der Gründung des Vereins im Jahre 1991 von den Nonnen inspirieren lassen, erzählt einer der Gründerväter der "Carmelitas". Die Idee kam angeblich einer Gruppe von Jugendlichen die sich jeden Donnerstag nach dem Fußballspielen auf ein paar Biere in einem Lokal zu Füßen des Konvents traf.


[zoom]

[zoom]

Eine andere Version des Gründungsmythos erzählt von einer Nonne, die sich heimlich aus dem Konvent stahl um Carnaval zu feiern. Ihr zu Ehren sei der Name "Carmelitas" ausgewählt worden. Ob man dieser Version der Geschichte Glauben schenken möchte, muss wohl jeder für sich selber entscheiden. Immerhin schieben die Gründer jener Nonne zu allem Übel auch noch die Schuld für einen zweiten Umzug während des Caravans zu: da die jecke Carmelita angeblich von Carnavalsfreitag bis Dienstag durchfeierte, sehen sich die "Carmelitas" gezwungen zum Abschluss des Caravans am Dienstag noch einen zweiten Umzug durch Santa Teresa zu starten. Und zur allgemeinen Überraschung finden sich immer noch tausende von Narren ein.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_3] Ausstellung: Cuba - The Sunny Side of Socialism?
 
Jules Valeron - Unter dem Titel "Cuba-The Sunny Side of Socialism?" präsentiert die West Berlin Gallery eine Auswahl seiner besten Photos von der Karibik-Insel. Palmen, 50er-Jahre Architektur, sozialistische Propaganda und die stolzen Kubaner werden in einer Retro-Ästhetik gezeigt, die den Eindruck unterstreicht, dass die Zeit im Land von Rum und Zigarren langsamer verstreicht als bei uns.


[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

Wenn er sich nicht hinter seiner Kamera versteckt, singt und spielt Jules mit seiner Band "Valeron & the Coconuts" sommerliche Pop-Lieder voller Fernweh. Zur Vernissage am Samstag den 6. März ab 19 Uhr werden sie ihr Debut-Album "Horizons Nouveaux" live vorstellen und somit den idealen Soundtrack zum Cocktail trinken in entspannter Atmosphäre liefern.


[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]


[zoom]

[zoom]

VERNISSAGE & ACOUSTIC CONCERT: MARCH 6TH 2010 (SATURDAY)
START 19:00
EXHIBITION: MARCH 6TH - MARCH 21TH 2010

WEST BERLIN GALLERY, BRUNNENSTR. 56, 13355 BERLIN
U8/M10 BERNAUERSTR.
OPEN WEDNESDAY TO SATURDAY 14:00 - 19:00

Text + Fotos: Jules Valeron

Linktipps:
West Berlin Gallery
Myspace Valeron & the Coconuts
Blog Jules Valeron

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: cuba]





[kol_4] Lauschrausch: Mercedes Sosa und Barrio Tango

Mercedes Sosa
Cantora
Sony Music
Wenn Klavier und Geige erklingen, direkt zu Beginn des Albums "Cantora", möchte man weinen, denn sofort wird man daran erinnert, dass "die Stimme Amerikas" im vergangenen Oktober im Alter von 74 Jahren gestorben ist. Wie es häufiger im Musikgeschäft passiert, hatte die Sängerin Mercedes Sosa kurz zuvor noch ein Album fertiggestellt, das aus Duetten mit der Elite der iberischen und lateinamerikanischen Sängerschaft besteht. Der Katalane Joan Manuel Serrat ist ihr Partner in eben jener Ballade, die so auf die Tränendrüse drückt. Aber keine Angst, es ist kein kitschiges Album, auch wenn einzelne Passagen durchaus Herzschmerz verursachen. Und wenn es sich dabei um ein Stück handelt, das vom elenden Schicksal der Straßenkinder handelt, hier genial eingespielt in einer Folklore-Hiphop-Version mit Mercedes' laut klagender Stimme und dem Sänger der puertoricanischen Reggaeton-Band Calle 13. Im Duett mit Popstar Shakira singt sie "La Maza", einen Titel, der lange zu ihrem Standardrepertoire als Liedermacherin gehörte und der immer noch Gänsehaut verursacht. Erstaunlich wie ähnlich sich die beiden Stimmen sind.

Mercedes Sosa
Cantora
Sony Music

Auch die Brasilianer Caetano Veloso, Jorge Drexler und Daniela Mercury verneigen sich mit Duetten vor der indigenen Sängerin, die ihre Stimme immer gegen das Unrecht und die Militärdiktaturen in ganz Lateinamerika erhob, und deswegen auch zeitweise ins Exil gehen musste. Der chilenischen Sängerin Violeta Parra (1917-1967) verdankt Mercedes Sosa ihr berühmtestes Lied: "Gracias a la vida" (das sich hier nicht findet). Folgerichtig widmete sie der Wegbegleiterin ein Stück, das im Duett mit dem spanischen Sänger Joaquim Sabina in den Blues übergeht. Ihr Landsmann hingegen, der Rocksänger Charly García, bettet seine Stimme auf Streichern. Auch die mexikanischen Sängerinnen Julieta Venegas und Lila Downs reihen ihre Stimmen in dieses Gipfeltreffen großer iberoamerikanischer Stimmen ein. Ob Balladen, Zambas, Bossanovas, Pophits oder Tangos, ob sie von Liebe oder Unrecht handeln, die warme Stimme von Mercedes Sosa zieht sich als roter Faden durch die 19 Titel des Albums (das argentinische Original umfasst sogar zwei CDs mit 35 Titeln), das als großes Vermächtnis der "Stimme Amerikas" gelten darf.


Diverse
Barrio Tango
galileo 035
Das Label "galileo" verschafft uns mit "Barrio Tango" einen Überblick über seinen Tangokatalog. Die jeweils zwei bis vier Titel der verschiedenen Interpreten geben Einblick in neue, spannende Entwicklungen dieser rund 120 Jahre alten Musik. Seien es nun die recht freie, modern-jazz-nahe Musik von Tango Siempre, die elektronisch untermalte Bandoneonkunst von Fernando Samalea, die Experimente von Tango Crash oder der mitreißende Gesang der Gruppe La Chicana, alles wird Tangopuristen erschrecken, aber die haben sich auch bei Astor Piazzolla schon geirrt.

Diverse
Barrio Tango
galileo 035

Nicht jede Weiterentwicklung auf dieser Compilation wird Bestand haben, nicht jede Band in den Tango-Olymp aufsteigen, aber sie zeigen auf erfrischende Art und Weise Richtungen auf, die der Tango einschlagen könnte und die ihn runderneuern ohne ihn zu zerstören.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 03/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





.