ed 01/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Zweite Etappe: Der Aufstieg zum Heiligen Gral von San Juan de la Peña
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Rapte-me camaleão! – Caetano Veloso zum 70.
Teil 8: Fina Estampa
THOMAS MILZ
[art. 2]
argentinien: Zwischen Größenwahn und Melancholie
Ein Sommertag in Buenos Aires
ANDREAS DAUERER
[art. 3]
bolivien: Zu Gast beim Kallawaya-Arzt
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 4]
macht laune: Kölner Kaffeekränzchen in Santiago
Zu Besuch im "Cafe Colonia"
THOMAS MILZ
[kol. 1]
erlesen: Robert Wilson – Tod in Lissabon
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 2]
pancho: Weißes Thunfisch-Gazpacho
Sommerlich leicht (oder auch nicht)
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 3]
lauschrausch: Weihnachtsgeschenkeumtausch - Cds
Vicente Mozos del Campo – Luis Pastor – Chavela Vargas
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappe
Zweite Etappe: Der Aufstieg zum Heiligen Gral von San Juan de la Peña
 
16. August 2012. Die Tür zum Himmel öffnet sich durch diese [Pforte] jedem Gläubigen, wenn er den Glauben mit den Geboten Gottes vereint. Nun, so weit waren wir noch lange nicht. Denn um zu der Pforte zu gelangen, wo die zitierten Worte (auf Latein) zu lesen sind, war zuerst ein steiler und mühevoller Weg zu bewältigen und niemand hatte uns gewarnt, dass es so hart werden würde. Das Dilemma begann schon damit, dass wir viel zu spät von Jaca aufgebrochen waren. Weil Cayetana beim Fotografieren des gestrigen Abendlichts den Akku ihrer Kamera zum Piepsen gebracht hatte und danach entdeckte, dass ihr Ladegerät zu Hause geblieben war, wurde schnell klar, dass ein solches vor dem Weitermarsch besorgt werden musste. Und Fotoläden machen nicht um 6 Uhr in der Frühe, sondern erst um 10 Uhr auf. Endlich hatten wir das Gerät, das Cayetanas Foto-Dokumentation sichern sollte und es konnte los gehen. Die Sonne stand schon hoch und die Wetterprognose hatte für den heutigen Tag 40° Grad angekündigt, was für diese Bergregion im äußersten Norden Spaniens ebenso ungewöhnlich ist wie für Deutschland.

Die ersten fünf Kilometer führen durch ebenes Gelände, leider nah an der lärmenden Nationalstraße N240 entlang, aber mit schönen Ausblicken auf den Río Aragón und den Canal de Berdún.

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Wir marschieren auf einen Bergwald zu, über dem sich eine Felsenkrone erhebt. "Und da müssen wir gleich hoch?", fragt Cayetana mit deutlich gebremster Motivation. Unser Ziel ist nichts weniger als der Heilige Gral. Genauer gesagt die heiligen Mauern, die ihn Jahrhunderte lang versteckten. Der Gral ist der legendäre Kelch, aus dem Jesus und die Apostel beim letzten Abendmahl getrunken haben und mit dem später angeblich das Blut des gekreuzigten Erlösers nach dem Lanzenstich aufgefangen wurde. Dieser heilsbringende Kelch inspirierte seit dem Hochmittelalter viele Dichter und Komponisten zu Epen und Opern. Das in der einsamsten Region von Aragón 1200 Meter hoch in einem Felsmassiv gelegene Kloster San Juan de la Peña war gemäß Legenden von 1076 bis 1400 der geheime Aufbewahrungsort für den Heiligen Gral, bevor dieser nach einer Zwischenstation in Zaragoza in die Kathedrale von Valencia gelangte. Seitdem befindet sich hier im Kloster nur eine "Kopie".

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Jetzt biegen wir links ab, ein hölzerner Pfeil mit der Aufschrift San Juan de la Peña weist den Weg, und der führt steil nach oben. Es ist kurz nach 11 Uhr, wir kriechen neben einem abgeernteten Kornfeld den schattenlosen Hügel empor, schon nach hundert Metern rinnt der Schweiß in Strömen. In den Reiseführern über den Camino ist oft die Tierwelt dieses Naturschutzgebiets gepriesen worden: Vögel vom seltensten Finken bis zu Knochenbrecher-Geiern, Hirsche und Wildschweine, bunte Schmetterlinge. Von alles attackierenden Fliegen ist dabei nie die Rede gewesen. Es gibt sie aber. Ganze Fliegenschwärme stürzen sich auf uns, lästig wie Mücken. Ständig um uns schlagend, beschleunigen wir den Schritt, so gut das bei der Steigung und Hitze geht. Der Schweiß brennt uns in den Augen, als wir endlich den Waldrand erreichen und die geflügelten Quälgeister uns etwas in Ruhe lassen. Doch was dann kommt, ist auch nicht erholsamer. Wir befinden uns zwar im Schatten, aber Cayetana murmelt zu Recht: "Also Wandern würde ich das hier nicht mehr nennen, ein Kletterkurs ist nichts dagegen..." Der Pfad durch diesen dichten Urwald ist kaum zu erkennen und an vielen Stellen so steil, dass man sich mit Klimmzügen an Ästen geradezu hoch ziehen muss. Dazu ist es nahezu dunkel.

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Endlich erreichen wir eine Lichtung und lassen uns spontan ins Gras fallen. Noch schwer atmend, klagt Cayetana: "Jetzt haben wir bestimmt 3000 Kalorien verloren." Ich halte ihr einen eingeschweißten Energieriegel hin und kann gerade noch warnen, dass der Inhalt sich wohl verflüssigt hat. Ungeduldig reißt sie ihn mit den Zähnen auf, reagiert aber schnell genug, um die warme Schokoladensuppe ohne zu Kleckern mit dem Mund aufzufangen. Dann räkelt sie sich im hohen Gras und wirft ihre schwarze Haarmähne nach hinten, als würde sie auf einer Strandliege posieren. Aber zufrieden sieht anders aus. Mit geschlossenen Augen spricht sie zu der Bergwiese: "Ich könnte jetzt auf Ibiza sein – mit einem eisgekühlten Mojito in der einen und einem küssenden Verehrer an der anderen Hand. Wieso tu ich mir diese Tortur hier an?!" Ich reiche ihr Mandelkekse zur Beruhigung und schiebe die Bemerkung hinterher: "...weil der Heilige Gral nicht am Strand von Ibiza wartet. Man muss mit Anstrengung zu ihm finden, ihn für sich erobern."

Cayetana entgegnet trotzig: "Ich bin doch nicht Parzifal!" Sie nimmt einen langen Schluck aus ihrer Wasserflasche, um das trockene Mandelgebäck hinunter zu spülen. Unerwartet attackiert sie mich dann mit der Frage: "Glaubst Du das alles mit dem Heiligen Gral – dass es ihn gibt?" Ich versuche, der Frage zu entkommen und antworte, dass es nicht so wichtig sei, ob es den Gral gebe und ob er hier (gewesen) sei oder nicht. Entscheidend sei, dass der Glaube daran Menschen immer wieder auf den Weg zu guten Taten gebracht hätte. Sie hat bereits registriert, dass ich ihre Frage eigentlich nicht beantwortet möchte und bleibt hartnäckig: "Also glaubst Du nicht wirklich daran, willst es aber gerne glauben?" Jetzt hat sie mich!

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Ich dränge zum Aufbruch, denn das Ziel ist noch weit. Erschreckt stellen wir fest, dass wir bis auf ein paar Schlucke schon unseren kompletten Wasservorrat (drei Liter pro Person) getrunken haben. (Das Picknick in der prallen Sonne war keine gute Idee!) Wir müssen also dringend in Atarés, dem einzigen Dorf zwischen N240 und Grals-Kloster, neues Wasser am Dorfbrunnen tanken. In meinem Reiseführer wird für die Etappe vom Waldrand bis nach Atarés eine Wanderzeit von ca. 45 Minuten angegeben, die müsste eigentlich schon absolviert sein, aber so weit der Blick reicht, ist kein Haus zu entdecken. Seit wir vor drei Stunden die N240 verlassen haben, ist uns kein Mensch begegnet. Mir wird schon schwindelig vor Durst, ich sehe überall nur die gleichen Felsen, Büsche und hitzeflirrende Luft. "Sind wir hier nicht schon mal vorbei gekommen?", fragt Cayetana und spricht damit aus, was ich selbst befürchte.

Wir beschleunigen den Schritt, müssen aufpassen, nicht auf dem staubtrockenen Geröll des Pfades auszurutschen. Der letzte Schluck Wasser wird getrunken. Noch immer kein Dorf in Sicht. Die Sonne brennt gnadenlos auf die einsame Bergwelt. "Ich sehe schon die Schlagzeile: Santiago-Pilger bei Gralssuche verdurstet", krächze ich mit heiserer Stimme. Meine Begleitung lacht nicht mehr, denn uns beiden ist plötzlich klar geworden, dass es durchaus möglich ist, mitten in Europa zu verdursten. Immer langsamer, wie in Trance stolpern wir durch die 40 Grad heiße Einsamkeit. Ich sehe bereits alles leicht verschwommen. Immerhin wäre diese grandiose Berglandschaft ein würdiger Rahmen für eine letzte Ruhestätte.

"Da!" – Cayetanas heiserer Ausruf weckt mich aus meinen romantischen Todesfantasien. Sie zeigt nach unten. "Da ist das Kaff endlich." Ich habe noch die Kraft, sie zu korrigieren: ein heroisches Bergdorf mit lebensrettender Quelle sollte man nicht "Kaff" nennen.

Unser Ziel ist die wuchtige Dorfkirche, vor der sich der Brunnen befindet. Vor der Kirche im Schatten sitzen, angeordnet wie ein Postkartenmotiv, vier uralte Männer, die sich auf ihre Gehstöcke stützen und grinsend zusehen, wie wir die letzten Meter zum Brunnen kriechen. Bevor wir alle vier Flaschen auffüllen, wirft sich Cayetana unter den Wasserhahn des Brunnens und nimmt eine Gesichtsdusche. Das erstaunlich kühle Wasser rinnt an ihr herab, es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte sich spontan die nassen Kleider vom Leib gerissen. Aber auch so steigert ihre Wet T-Shirt Show das Herzinfarktrisiko der vier Dorf-Methusalems beträchtlich und liefert ihnen Gesprächsstoff für mindestens ein Wochenende. Mit einem entzückenden Lächeln in die Runde prostet sie den Opas von Atarés mit ihrer Wasserflasche zu, dann können wir uns gestärkt auf die Suche nach dem Heiligen Gral machen. Der Weg führt natürlich wieder steil bergauf.

Nach einer kurzen Siesta im Schatten erscheint uns alles trotz der Anstrengung wie ein Spaziergang durch einen lichtdurchfluteten Märchenwald. Wir entdecken lila Wasserlilien und unbekannte violette Blumen, die Cayetana einfach "Pyrenäen-Veilchen" tauft, dazu schweben Hunderte von goldgelben und winzigen tiefblauen Schmetterlingen durch die Luft. Vergeblich versuchen wir, sie zu fotografieren, diese fliegenden Edelsteine bewegen ihre Flügel schneller als Kolibris. Wir steigen immer höher, lassen den Wald unter uns und stolpern durch felsiges Geröll aufwärts, bis wir endlich einen Aussichtspunkt auf 1200 Metern erreichen. Hier haben Pilger, wie an vielen anderen Stellen nach mühevollem Aufstieg, Dutzende von Steinmännchen aufgetürmt. In der heißen Nachmittagssonne wandern wir durch niedriges Gebüsch, unser Wasservorrat ist erneut fast aufgebraucht. Die letzten drei Kilometer führen wieder durch Wald. Vor dem Hotel des neuen Klosters (das uns nicht interessiert) führt ein steiler Pfad durch düsteren Wald nach unten. Und plötzlich öffnet sich der Blick und wir stehen direkt vor ihm.

Endlich – der Gralstempel im Bauch eines Felsens, wie eine heilige Höhle, geheimnisvoll und unvergleichlich. Unsere staunenden Blicke wandern die Felswand empor, die den Kirchenbau umschließt, dann tauchen wir ein in die über tausend Jahre alte Unterkirche. Eine schlichte schmucklose Säulenhalle, doch selbst Cayetana verstummt vor der heiligen Aura dieses Felsentempels und lässt ihre Blicke über die nackten Mauern wandern. "Falls Du den Gral suchst, der ist oben", flüstere ich ihr zu. Wir steigen hinauf zur romanischen Oberkirche aus dem 11. Jahrhundert.

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Da steht er, viel kleiner als man ihn sich vorstellt, ein unscheinbares Gefäß aus dunkelrotem Stein; aus Gold sind nur die beiden Henkel. Man wagt kaum es auszusprechen, aber der Anblick des Grals ist doch etwas enttäuschend – wir hatten einen prunkvollen goldenen Kelch erwartet.

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Andererseits hätte Jesus, der stets Bescheidenheit predigte, wohl kaum beim Abendmahl aus einem Goldpokal getrunken. Die Schlichtheit des Kelches (die goldenen Henkel und Perlen wurden erst im Mittelalter angefügt) könnte sogar ein Indiz für seine mögliche Echtheit sein. Wir versuchen, uns in einer mystischen Vision die Abendmahlszene vorzustellen, als plötzlich eine ganze Busladung von Touristen in den Tempel einfällt. Cayetana, die zur Konzentration die Augen geschlossen hatte, blickt ihnen böse entgegen. Der Gral interessiert die meisten gar nicht, sie strömen lärmend durch die Kirche, der Hauptattraktion von San Juan de la Peña entgegen: dem romanischen Kreuzgang aus dem frühen 12. Jahrhundert. Die Kapitelle sind zu recht weltberühmt, dieser Kreuzgang gilt nach den Kathedralen und der Aljafería von Zaragoza als das bedeutendste Monument von Aragón.

Wir warten, bis die Busbesatzung lärmend zurück strömt und den Blick auf die kleinen Wunder von San Juan de la Peña frei gibt. Jetzt treten wir durch die Pforte, deren Inschrift schon zitiert wurde. Cayetana starrt besonders lange auf eines der löwenähnlichen Monster, das zähnefletschend herunter blickt. "Hör mal", fragt sie plötzlich, "ist es vielleicht doch wahr, dass am 21. Dezember die Welt untergeht?" – "Wie kommst Du denn jetzt da drauf?" – "Naja, der Mayakalender..." Sie sieht tatsächlich etwas verängstigt aus. "So ein Quatsch!", beruhige ich sie. "Da verkündet irgendein arbeitsloser Apokalyptiker sowas und schon plappert das halbe worldwidenet alles nach. Aber Du wirst sehen, am 22., 23. Und 24. Dezember und auch danach wird die Welt ganz normal aufwachen" (Und so geschah es auch, wie wir mittlerweile wissen). Und überhaupt: wie kann man angesichts dieses verschwenderischen Abendlichts, das die Bühne des Kreuzgangs und jedes einzelne Kapitell rotgolden schimmern lässt, an die Apokalypse denken? Zur Beruhigung ziehe ich Cayetana weg von dem Monster, das wohl schon seit Jahrhunderten viele Eintretende in Angst versetzt und deute auf einen schwebenden Engel, der kokett sein Mäntelchen zusammen rafft.

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Dann wandeln wir langsam den ganzen Kreuzgang entlang. Die fast 900 Jahre alten in Stein gemeißelten Szenen auf den Kapitellen überbieten sich an Einfallsreichtum und manchmal an unfreiwilliger Komik: das Alte und Neue Testament als drolliger Comicstrip. Da steht Adam und hält sein Feigenblatt fest und blickt mit erstaunten Augen auf die Welt, als wolle er vor der ganzen Menschheit seine Unschuld beteuern. Ein paar Säulen weiter erscheint ein Engel dem schlafenden Jakob, dann wird Wasser in Wein verwandelt und Jesus reitet auf einem Esel in Jerusalem ein. Vor diesem Gott muss niemand Angst haben, auch nicht am 21. Dezember. Wie verzaubert schreitet Cayetana die in rötlichen Stein gemeißelten Bibelszenen ab. Ganz allein stehen wir plötzlich in diesem lichtstrahlenden Weltkulturerbe, wie Traumgestalten in einer Zeitreise zu den Rittern der Tafelrunde. Ein lautes Klatschen verhindert, dass wir endgültig bei Parzifal ankommen. "Wir schließen in 15 Minuten", meint ein Wärter und läuft ungeduldig an uns vorbei.

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Bevor wir nun den Endspurt hinunter nach Santa Cruz de la Serós antreten (im Reiseführer wird die Wanderzeit mit einer Stunde angegeben), wollen wir am Kiosk, wo die Eintrittskarten verkauft werden, eine Flasche Wasser kaufen. "Hier kann man nirgendwo Getränke kaufen", verkündet die Kioskdame erbarmungslos. Angesichts unseres entsetzten Gesichtsausdrucks ringt sie sich jedoch dazu durch, uns einen Schluck aus ihrer offenen Red Bull Dose anzubieten. "Nein danke", wehre ich ab, bevor Cayetana etwas sagen kann (ich hasse Red Bull!). Entschlossen marschieren wir durch schönen Kiefernwald, die Angst vor einer erneuten Durststrecke verleiht unseren müden Beinen auch ohne Red Bull Flügel. Cayetana blickt wie berauscht auf die wilden Schluchten unter uns, die sie an die Filmlandschaft von "Herr der Ringe" erinnern.

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Aber diese Strecke "Wanderweg" zu nennen, ist eine Zumutung. Es ist ein gerölliger Survival-Parcours, der extrem steil in die Tiefe führt, immer am Abgrund entlang. "Jetzt ist mir klar, warum viele sagen, der Abstieg ist schlimmer als der Aufstieg. Das hier ist wie Golgotha abwärts", murmelt Cayetana in stiller Verzweiflung vor sich hin. Wir hoffen, dass wir unseren Wettlauf mit der sinkenden Sonne gewinnen – falls nicht, müssen wir hier irgendwo am Abgrund campieren. Denn an ein Weitergehen im Dunkeln ist nicht zu denken, wenn schon bei Tageslicht jeder Fehltritt auf diesem holprigen Pfad lebensgefährlich ist. Zweimal stürze ich, vom Gewicht meines Rucksacks gezogen, doch es sind nur harmlose Schürfwunden – noch. Am Steilhang gegenüber kreisen die mächtigen Schatten von Knochenbrecher-Geiern...

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Es dämmert schon, als wir halb verdurstet die letzten Meter nach Santa Cruz hinab stolpern und in der Hotelbar je vier eiskalte Tonic (ohne Gin) hinab stürzen. Die wunderschöne romanische Kirche wird genau in diesem Moment – wie zu unserer Begrüßung – stimmungsvoll illuminiert. Diese Nacht albträumen wir von einem Brunnen, um den herum vier uralte Männlein wie Rumpelstilzchen tanzen und böse grinsend flüstern: "Es gibt kein Wasser mehr, es gibt kein Wasser mehr, der Brunnen ist leer..."

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Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Warnung:
Der Aufstieg und Abstieg von San Juan de la Peña sind nur Wanderern mit ausgeprägter Fitness zu empfehlen, der Pfad ist beschwerlich und gefährlich. Ihn mit komplettem Camino-Gepäck zu wagen wie wir ist nur etwas für Lebensmüde. Eine Lösung könnte sein, das Gepäck im Hotel von Santa Cruz zu lassen, allerdings wäre dann die Route für Auf- und Abstieg identisch.

Etappe Jaca – San Juan de la Peña – Santa Cruz de la Serós: ca. 25 Km (mit Gepäck 8 Stunden)

Monasterio San Juan de la Peña:
Tel. 974-355119
www.monasteriosanjuan.com
Geöffnet: 10 – 14 und 15.30 – 19 Uhr (Sommer bis 20 Uhr)
Eintritt: 7 Euro (Karte gilt auch für die Kirche von Santa Cruz de la Serós)

Unterkunft und Verpflegung in Santa Cruz de la Serós:
Hostelería Santa Cruz
C. Ordana
Tel. 974-361975
Email: reservas@santacruzdelaseros.com
www.santacruzdelaseros.com
Sehr schönes und gemütliches Berghotel, Zimmer ab 48 Euro, viele mit Balkon und schönem Blick auf die Dorfkirche, gutes Essen und großzügige Portionen, freundliches Personal, eine Oase nach all der Mühsal

Tienda Casa Anaya:
Plaza N° 2
Tel. 974- 356602
Im einzigen Laden des Bergdorfs Santa Cruz de la Serós kann man frisches Brot, belegte Brötchen und Produkte der Region (Bergkäse, Honig, Wurst, Kräuterlikör, Nüsse und Trockenfrüchte) kaufen

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 8: Fina Estampa

It was 25 years ago today! "Tropicália 2", von 1993, feiert den 25. Geburtstag der von Caetano, Gilberto Gil, Tom Zé und den Os Mutantes begründeten Bewegung. Die Platte ist eine Zusammenarbeit von Caetano mit Langzeitpartner und bestem Freund Gilberto Gil und transportiert die revolutionären Entwicklungen der 60er Jahre in die 90er, inklusive Sounds und Ideen modernerer Natur. In diesem Sinne kommt der Rap "Haiti" daher, der über aktuelle Formen des Rassismus im gegenwärtigen Brasilien philosophiert.


"Tradição", ein moderner Samba, handelt vom selben Thema. Auf der Platte ist auch Platz für einen "neuen Klassiker", "Desde que o samba é samba", ein wundervolles Werk, das Ewigkeit atmet. Es könnte ebenso leicht von João Gilberto komponiert worden sein, damals in den 50ern…


Auf Vorschlag seiner Plattenfirma nimmt sich Caetano danach des spanischen Marktes an. "Fina Estampa" aus dem Jahr 1994 bringt die großen "Standards" der spanischen Sprache zusammen. Eigentlich wollte die Plattenfirma Caetano überzeugen, seine eigenen Hits auf Spanisch zu singen. Aber der Meister ist dagegen und nimmt lieber Lieder auf, an die er sich aus seiner Kindheit in Santo Amaro erinnert.

Meister Jaques Morelenbaum dirigiert das Ganze; darunter Tanzbares wie "Rumba azul" oder melancholische Stücke wie das wundervolle "Lamento borincano". Für viele von Caetanos Fans klingt "Fina Estampa" ein wenig "elitista" und zu sehr "sophisticated". Trotzdem feiert die Platte große internationale Erfolge. Im selben Jahr verpackt Caetano deshalb die Platte mit eigenen Stücken zu einer feinen Bühnenshow.


So sind seine Kompositionen "Haiti" und "Itapuã" mit an Bord. Ein Freund hatte ihm zuvor vorgeschlagen, "Cucurrucucu Paloma" auf "Fina Estampa" zu singen, aber Caetano verwarf die Idee. Jetzt bringt er es auf der Bühne und macht damit den spanischen Regisseur Pedro Almodovar auf seine Version aufmerksam. Dieser lädt Caetano ein, das Stück in seinem Film "Hable con ella" zu singen. Das Ergebnis: alle weinen vor Rührung….


Nahezu vier Jahre nach dem letzten Album mit neuen Liedern bringt Caetano 1997 "Livro" heraus. Der für eine Platte seltsame Titel rührt von der gleichzeitigen Veröffentlichung seines Erinnerungsbuches "Verdade Tropical" her, in dem er die Entstehung des "Tropicalismo" beleuchtet. Aber vom Tropicalismo hat die Platte nicht viel mitbekommen. Caetano besucht auf ihr Salvador (in dem Klassiker "Na Baixa do sapateiro") und verbindet seine Heimat Bahia mit seiner Wahlheimat Rio de Janeiro, indem er die für beide Städte typische Percussion schwingen lässt ("Onde o Rio é mais baiano"). An vielen Stellen hört sich die Platte nach Olodum an, der berühmten Trommlergruppe aus Salvador, inklusive der ihnen eigenen Mischung von Percussion mit Bläsergruppen.

Höhepunkt ist "Não enche", der Hit der Platte, und "How beautiful could a being be", eine Komposition seines ältesten Sohnes Moreno. Und besondere Beachtung verdient die Liveversion von "Não enche", die auf der DVD "Prenda minha" zu finden ist, eine Aufnahme der anschließenden Tour "Livro vivo" - spektakulär!


Die Platte "Prenda minha" (1998) bringt die Bühnenshow "Livro vivo", allerdings ohne ein einziges Stück von "Livro". Dank des Megaerfolgs des Telenovela-Stücks "Sozinho", komponiert von Peninha, wird die Platte Caetanos meist verkaufte überhaupt. Auf ihr finden sich tolle Versionen von "Terra", "Eclipse oculto", "Mel" und "A luz de Tieta". Zwischen den Liedern zitiert Caetano Auszüge aus seinem Buch "Verdade Tropical". Weitere Höhepunkte sind das romantische "Prenda minha" auf Spanisch und "Saudosismo", der alte Klassiker aus dem Jahre 1968. Eine Platte für die Ewigkeit!


1999 folgt mit "Ommagio a Federico e Giulietta" eine weitere Live-LP. Das Konzert, das bereits 1997 im italienischen Rimini aufgenommen wurde, ist eine Verbeugung Caetanos vor den Idolen seiner Jugend, dem Filmemacher Federico Fellini und der Schauspielerin Giulietta Masina. Caetano singt Lieder aus Filmen des Meisters sowie eigene, die ihn in jene Zeit zurück transportieren, als er die großen Filmklassiker für sich entdeckte, damals in Santo Amaro: "Trilhos urbanos" und "Cajuina". Es scheint als ob der Nordosten Brasiliens bis nach Italien reichen würde. Aber Caetano gelingt es auf wunderbare Art, diese beiden so unterschiedlichen Welten miteinander zu verbinden. Und dies mit einer meisterlichen Aufführung. Höhepunkte? Schwer zu sagen, das Werk ist in seiner Gesamtheit perfekt.

Nach seinem "spanischen Abenteuer" mit "Fina Estampa" besucht Caetano jetzt also Italien. Danach versucht er sich in englischsprachigen Gefilden wie wir nächsten Monat sehen werden. Bis dann also!

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Argentinien: Zwischen Größenwahn und Melancholie
Ein Sommertag in Buenos Aires

Sie macht’s dir ja einfach. Du schwebst irgendwann mal draußen am Flughafen Ezeiza ein und obwohl du 8000 Kilometer weit von Deutschland weg bist, umhüllt dich sofort ein unsichtbarer Mantel des Wohlbehagens. Und das Wunderbare daran: Er begleitet dich nicht nur auf dem knapp 40-minütigem Taxiritt zur Innenstadt, sondern im Idealfall auch die ganze Zeit des Aufenthalts. Woran das liegen mag, lässt sich schnell beantworten, von dem, der schon mal ein paar Metropolen Lateinamerikas gesehen hat und anschließend durch die Innenstadt von Buenos Aires schlendert. Den "klassischen" Latino sucht man hier nämlich vergebens. Frech könnte man sagen, die Spanier haben damals während der Conquista ganze Arbeit geleistet, aber was für Argentiniens Hauptstadt gilt, stimmt im ganzen Land dann nicht mehr so richtig. Zumindest im Norden findet man schon noch eine Handvoll Bewohner mit indigenen Wurzeln.

In  Buenos Aires jedoch sieht man sie nicht mehr häufig, was nicht verwundert, hat gefühlt die Hälfte der Porteños doch einen italienischen oder spanischen Pass in der Schublade. Es geht also auch mentalitätsmäßig europäisch zu am Rio de la Plata, jenem Fluss, der an seiner breitesten Stelle 100 Kilometer misst und auf den die Bewohner, ähnlich der breitesten Straße der Welt, so unheimlich stolz sind. Überhaupt wird man in der Stadt ständig mit Superlativen konfrontiert: breiteste Straße, breitester Fluss, bester Fußballer, bestes Fleisch und so weiter und so fort.

Wer jedoch glaubt, derartiger Größenwahn würde die Menschen gänzlich verderben, der irrt gewaltig. Nein, selbst wenn die Porteños sich beim Thema Fußball kurzzeitig miteinander ganz innig verbunden fühlen, so suchen sie doch fortlaufend nach ihrer eigenen Identität und das ergibt diese einzigartige Mischung aus Melancholie und Gleichmut gepaart mit einer Prise Emotionalität, die diese Stadt und ihre Bewohner so ausmacht und ihren Höhepunkt - natürlich - im Tango findet.

Den berühmten Tanz erfährt man überall in der Stadt. Piazolla, Goyeneche, Gallardo - jeder durfte sich musikalisch ein Denkmal setzen. Im Stadtteil San Telmo ist der Tango zu Hause, nicht nur für die vielen Touristen. Unzählige Tanzschulen buhlen um ihre Klientel und wer die Paar Blocks von der Casa Rosada, dem Präsidentinnenpalast, zur Plaza Defensa laufen möchte, sollte das tun. Da rauschen bunte Busse an einem vorbei, die Luft ist schwer und abgasgeschwängert und an den zahlreichen kleinen Bars treffen sich irgendwie alle. Um zu quatschen, Geschäfte zu machen oder einfach nur das Treiben an der Straßenkreuzung zu beobachten. Irgendwann kommt man am Trödelmarkt vorbei und wenn linker Hand dann noch die berühmte Bar "El gato negro" hinter einem liegt, dann ist man schon an der Plaza Defensa angekommen. Die Freiluft-Milonga wird gerne von Touristen genutzt, aber eigentlich sind die semi-professionellen Tango-Paare, die sich auch für diversen Klamauk nicht zu schade sind, die eigentliche Attraktion. Anmutig schweben sie über den staubigen Boden, aus den Boxen jammert Piazolla mehr schlecht als recht und hingebungsvoll taucht das Publikum ein in eine Szenerie, die es in dieser Form erst gibt, seit die Touristen als regelmäßige Geldquelle aufgetan wurden. Dennoch: Ein Verweilen lohnt sich trotzdem. Denn die Tänzer beherrschen ihr Handwerk, das Ambiente ist entspannt und nicht aufdringlich und wem’s gefällt, der gibt den Künstlern einen kleinen Obolus.

Anschließend sollte man sich eine Pause gönnen. Entweder man besucht eine der Bars im Viertel oder man fährt kurzerhand in Richtung Recoleta mit dem gleichnamigen Park. Quasi beim Grab von Evita kann man dort das wunderbarste Pan Relleno essen. Die Marktstände am Wochenende bieten irgendwie alles unter dem Prädikat "Artesanías" an, Kunsthandwerk also, das eigentlich keines ist, weil irgendwo in China vorproduziert. Ledergürtel dürfte noch das hochwertigste sein, was man dort bekommt. Oder gehäkelte Mützen, wer sie denn im Sommer brauchen sollte. Wobei, der nächste Winter kommt bestimmt. Ich komme aber stets nur wegen des Pan Relleno hierher. Tomate, Basilikum, Käse lassen sich im warmen Brot vortrefflich verzehren und wer wirklich viel Zeit hat, der sollte einen Rotwein im Gepäck haben und anschließend auf der riesigen Wiese unter einem der Bäume ein Nickerchen machen und dabei entweder den vielen Kleinkünstlern beim Jonglieren und Turnen zugucken oder den Musikern bei ihren Vorführungen lauschen. Recht viel mehr braucht man eigentlich nicht für einen faulen Sommertag in Buenos Aires.

Text: Andreas Dauerer

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]






[art_4] Bolivien: Zu Gast beim Kallawaya-Arzt

Don Eugenio legt Wattenester auf den Opfertisch und platziert in diese Cocablätter, Nelkenblüten, Lamafett, Kopalharz und Figürchen aus Zucker. Er wird eine Zeremonie für uns durchführen. Die Vorbereitungen dafür sind zeitaufwändig und erfordern hohe Konzentration.


Don Eugenio ist Medizinmann. Er gehört dem Volk der Kallawaya an, das in der Cordillera Apolobamba im Nordosten Boliviens lebt. Die Kallawaya sind für ihre außergewöhnliche Heilkunst bekannt. Im Jahr 2003 hat die UNESCO sogar ihre andine Kosmovision zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit erklärt. Auf der Suche nach neuen Heilpflanzen zogen früher Kallawaya-Ärzte durch Südamerika. Deshalb kennen die Heiler heute die medizinischen Wirkungen von über 900 Kräutern und Gräsern. Sie kombinieren dieses Wissen in Ritualen mit Zaubersprüchen und Massage. Don Eugenio hat die Gabe zu heilen von seinem Vater geerbt. Er ist überzeugt davon, dass die Menschen dann krank werden, wenn das Seelenleben aus dem Gleichgewicht gerät. "Ich gebe meinen Patienten die Lebenskraft zurück, indem ich die Balance zwischen Körper und Seele wiederherstelle", erklärt Don Eugenio.


Wir haben früh am Morgen seinen Hof verlassen und sind zu einem abgelegenen Opferplatz gewandert. Von hier aus sieht man den Schnee bedeckten Akhamani, den heiligen Berg der Kallawaya. Als Assistentinnen hat Don Eugenio seine Frau Arminda und seine Schwägerin Juana mitgenommen. Cocablätter kauend haben sie geholfen, den Opfertisch herzurichten. Nun tunkt Don Eugenio einen Nelkenstrauß in Portwein, besprenkelt mit diesem die Opfernester und murmelt Gebete in der Ritualsprache Machchaj-Juyai. Auch wir werden aufgefordert, den Berggöttern Alkohol verspritzend unsere Wünsche anzuvertrauen. "In welcher Sprache?", möchten wir wissen. "Das ist egal. Auf deutsch, wenn ihr wollt", erwidert Don Eugenio selbstsicher. Er ist ein Mittler zwischen Göttern und Menschen. Als solcher erfährt er hohe Anerkennung und ist eine Autorität in seinem Dörfchen Llajlla Pampa.


Plötzlich liegt eine nervöse Unruhe in der Luft. Don Eugenio nimmt eine Walnuss vom Opfertisch und öffnet sie vorsichtig. Unsere Gastgeber beginnen zu strahlen. Der Kern ist hellbraun und gesund. "All eure Wünsche werden in Erfüllung gehen", verkündet Doña Juana erleichtert. "Wäre die Walnuss innen schlecht, würde euch Unglück drohen."


Um positive Energien anzulocken und negative zu vertreiben, verbrennt Don Eugenio abschließend alle Opfergaben in einem kleinen Feuer. Er kontrolliert die Flammen. Dem aufsteigenden Rauch entnimmt er göttliche Botschaften. Don Eugenio hat die Zeremonie mit viel Hingabe zelebriert. Inklusive der vorbereitenden Handlungen wurden zwei Stunden benötigt. Leider verlieren die Jahrtausende alten Rituale der Kallawaya an Bedeutung, weil immer mehr Indígenas in die Städte abwandern.


Die Cordillera Apolobamba ist eine der abgelegensten Regionen Boliviens. Zwar besticht die Andenlandschaft mit spektakulären Gletscherriesen, das Leben in Höhen über 3500 Meter ist aber entbehrungsreich und hart. "Wir leben vom Kartoffelanbau und der Lamazucht", erzählt Don Eugenio. Gemeinsam mit seiner Familie bewohnt er ein Steinhaus, das mit Ichu-Gras gedeckt ist. Strom gibt es nicht und gekocht wird über dem offenen Feuer.


Zurück auf seinem Hof lädt uns Don Eugenio zum Kartoffelessen ein. Die gegarten Erdäpfel liegen auf einem Tuch auf dem Boden und wir sind von ihrer Vielfalt begeistert: Es gibt große und kleine, runde und längliche, gelbe und braune, manche sind innen sogar lilafarben. Keinen Gefallen finden wir an Chuños, gefriergetrockneten Kartoffeln, die bitter-erdig schmecken und ein wichtiges Nahrungsmittel der Andenbevölkerung sind. Beim Gefriertrocknen verlieren die Kartoffeln Dreiviertel ihres Wassers. So können sie mehrere Jahre gelagert werden und bei Missernten den Indígenas das Überleben sichern.


Zwischenzeitlich hat Doña Juana vor ihrem Haus einen Webstuhl aufgebaut. Sie arbeitet momentan an einem Gürtel, den die Frauen zu ihren farbenfrohen Trachten tragen. "Alle Webwaren zeigen Motive, die unsere andine Weltanschauung widerspiegeln", erklärt Doña Juana stolz. Unvermittelt dringt aus der Tasche ihres Faltenrocks ein Geräusch, das überhaupt nicht hierher passen will: Handy-Klingeln! Langsam hält der Fortschritt Einzug in Llajlla Pampa. Nach dem Telefonnetz hofft Don Eugenio nun auch auf Elektrizität, denn nur so kann seines Erachtens die Landflucht gestoppt werden. "In der Hoffnung auf ein komfortableres Leben verlassen vor allem junge Menschen die Cordillera Apolobamba. Ich will nicht, dass unsere Traditionen verloren gehen. Deshalb bleibe ich mit meiner Familie hier wohnen", so der Kallawaya-Arzt. Wir aber müssen weiter, bedanken uns für die Gastreundschaft und wünschen Don Eugenio aus ganzem Herzen viel Erfolg beim Bewahren der Bräuche seiner Vorfahren.

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]




[kol_1] Macht Laune: Kölner Kaffeekränzchen in Santiago
Zu Besuch im "Cafe Colonia"

Sehnsucht nach der alten Heimat, dem Dom und den unfreundlichen Kellnern in den studentischen Stammkneipen? Wer einst in der Domstadt lebte, studierte und sie dabei lieben lernte, weiß wovon ich rede.


Köln trägt man stets im Herzen, wo immer man auf dieser Welt auch wandelt. Wen es gerade nach Santiago de Chile verschlagen hat, der hat es umso besser getroffen. Heimweh nach der Kölner Gemütlichkeit, gepaart mit dem unnachahmlichen 50er bis 70er Jahre-Flair der Domstadt?

Wandelt man gänzlich unbekümmert durch das Zentrum der chilenischen Hauptstadt, besteht die Möglichkeit ganz plötzlich Heimisches zu erspähen. Und das "Cafe Colonia" bietet alles, was das (nach der Heimat rufende) Herz begehrt. Seit 1952 bietet es leckeren Kuchen und guten Kaffee, was ja in Chile sonst kaum zu finden ist. Besonders der leidliche Nescafe zum selber anrühren ist in Chile allgemein ein Graus… Alte Schwarzweissfotos der Domstadt zieren die Wände, die genauso vergilbt sind wie in der Eckkneipe in Sülz. Karnevalsorden, ein Schriftstück des Kölner Tourismusbüros, alles da, alles alt und verstaubt wie daheim.


Der Kölner Wilhelm Schlösser, Jahrgang 1912, gründete das Cafe gemeinsam mit seiner Frau. Ihnen ist es zu verdanken, dass wir jetzt den herrlichen "Kuchen de Framboesa" verdrücken können. "Kuchen" hat sich in Chile als fester Begriff eingebürgert, nur der Plural "Kuchenes" wirkt ein wenig befremdlich auf uns. Da haben wir doch einen erstaunlichen deutschen Beitrag zur chilenischen Kultur entdeckt!

Die Bedienung allerdings ist wesentlich freundlicher als im Original, dafür nicht ganz so auf Zack wie in der Domstadt. Warten auf ein Bier? Das gibt es niemals in Köln! Hier schon. Wir weinen fast vor sentimentaler Rührung. Den "Kuchen de la Oma" haben wir allerdings nicht probiert - wir waren einfach zu voll. Demnächst dann halt.


Bein Rausgehen entdecken wir zudem, dass es das "Cafe Colonia" gleich zweimal gibt - ein paar Meter weiter die Straße runter steht Kneipe, nein, Cafehaus Nummer 2. Viva Colonia!

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_2] Erlesen: Robert Wilson – Tod in Lissabon
 
Eva Brücke und Klaus Felsen: eine Liebe in Berlin im Nazideutschland. Beide Unternehmer. Eva betreibt den Nachtklub Die rote Katze auf dem Kürfürstendamm, Klaus in Neukölln eine Fabrik für Eisenbahn-Kupplungen. Die Einladung zu einem dubiosen Pokerspiel mit hohen SS-Funktionären beendet die Liebe.

Tod in Lissabon

Autor: Robert Wilson
Taschenbuch: 576 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag (1. Juli 2002)
ISBN-10: 344245218X / ISBN-13: 978-3442452187



Ein halbes Jahrhundert später beschäftigt Kommissar Zé Coelho die Leiche der 15-jährigen Catarina Oliveira. Viele Verdächtige. Alle hatten Sex mit dem Mädchen. Lehrer, die Band...

Eva und ihre Angestellten aus der roten Katze werden mit Fortschreiten des Krieges immer dürrer. Felsen tritt in den Dienst der SS als Organisator von Wolfram im neutralen Portugal. Er geht dabei über Leichen.

Die Familie ist reich, aber nicht intakt. Die Mutter bezichtigt den Stiefvater der Vergewaltigung der Tochter. Ihren Liebhaber hatte sie mit Catarina im Bett erwischt. Immer wieder sucht Catarina ein Motel mit doppelter Wand auf.

Hinter der Wand führen die beiden Geschichten zueinander. Brillant durchdacht bis zum letzten Buchstaben und unter Hochspannung führt Wilson die Leser_innen durch Abgründe der deutschen und portugiesischen Geschichte – und die Machenschaften der SS und der PIDE (Policía Internacional e de Defensa do Estado) wirken bis in die Gegenwart hinein.

Fazit: Absolut lesenswert.

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_3] Pancho: Weißes Thunfisch-Gazpacho
Sommerlich leicht (oder auch nicht)

Gazpacho muss nicht blutrot sein und auf drei Kilometer Entfernung nach Knoblauch duften. Eher durch Zufall haben wir folgende Light-Variante entdeckt, die drei Vorteile in sich vereint:

Sie schmeckt sommerlich leicht, ist fast so gesund wie die rote Originalversion und ist in einer Minute fertig und damit eine der schnellsten Vorspeisen der Welt. Zudem durchaus preisgünstig.

Zutaten
1 Bio-Salatgurke, 1 Dose Thunfisch (am besten mit Öl, auch wenn das den Light-Vorsatz wieder ein wenig stört, aber mit Öl schmeckt es einfach besser als nur „in eigenem Saft und Aufguss“), 1 großer Becher (500 Gramm) fettarmer Joghurt (da sind wir wieder bei Light, es kann aber ruhig auch normal fetter sein), eine halbe Zwiebel, Knoblauch darf auch sein, aber dezent, höchstens eine Zehe und nicht vier, den Saft einer halben Zitrone, Gewürze nach Gusto, empfehlenswert in jedem Fall Salz, Pfeffer, frische Kräuter, vor allem viel Dill und ein halber Teelöffel Senf, evtl. auch Petersilie und/oder Basilikum, 1 – 2 Esslöffel Olivenöl.

Zubereitung
Gurke schälen (bei Bio nicht unbedingt nötig), Zitrone pressen. Dann alle Zutaten zusammen einige Minuten mit dem Pürierstab (oder im Mixer) malträtieren, das Ergebnis müsste eine dünnflüssige, cremeweiße Suppe sein, die man vor dem Servieren kalt stellen sollte, damit der Erfrischungsfaktor noch höher ist.

Wem diese Version zu leicht und dünnflüssig ist, der kann auch die barocke Variante wählen:
Statt Joghurt fetter (Frisch-) käse (z.B. Philadeplphia) und zusätzlich Erdnüsse hinein pürieren (oder wie beim Original-Gazpacho altes, aufgeweichtes Brot).

Am besten kombiniert man diese Sommer-Vorspeise mit Sesambrot und Weißwein (z.B. Marqués de Riscal aus Rueda).

Und schmecken lassen...

Text + Fotos: Berthold Volberg

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[kol_4] Lauschrausch: Weihnachtsgeschenkeumtausch - Cds
Vicente Mozos del Campo – Luis Pastor – Chavela Vargas
 
Weihnachten 2012 ist Geschichte und wahrscheinlich gab es wieder eine Menge ungewollter Geschenke, die nun zum Umtausch bereit der Dinge harren. Hier nun ein paar musikalische Tipps für einen sinnvollen Neubeginn 2013:

Vicente Mozos del Campo
Musica para guitarra
Trekel Records

Der in Wuppertal lebende Gitarrist Vicente Mozos del Campo hat ein Album eingespielt, das hervorragend in die Weihnachtszeit gepasst hätte, auch wenn es keine Musik zum Fest enthält. Aber Bach, mit dessen fünfsätziger "Suite BWV 997" die CD beginnt, klingt eben immer feierlich. Und auch die Werke der weiteren Komponisten aus Spanien, Finnland oder der Slowakei haben diesen Charakter. Dabei sticht die viersätzige "Sonata" von Antonio José hervor, ein musikalisch und technisch sehr anspruchsvolles Werk, das einen mitreißt.

Seine hoffnungsvolle Karriere wurde jäh von den frankistischen Faschisten beendet, die ihn 1936 erschossen. Auch ein Filmtitel findet sich auf "Musica para guitarra", aus Ennio Morricones Soundtrack zu "The mission": "Gabriel’s oboe" lässt das Album leichtfüßig ausklingen. Dem spanischen Gitarristen, der u.a. bei Leo Brouwer und Joaquín Clerch studierte, ist mit "Musica para guitarra" ein sehr schönes Album gelungen, das zum intensiven Zuhören einlädt, aber auch als Hintergrundmusik funktioniert.

Diverse
Café Latino 25 aniversario
Karonte / galileo mc


Das "Café Latino" in der galicischen Stadt Ourense lud zu seinem 25jährigen Jubiläum erstklassige Jazzmusiker ein und ließ zwei Konzerte mitschneiden. Der allgegenwärtige Bassist Javier Colina, Saxophonist Jorge Pardo, Flamencogitarrist Josemi Carmona, Pianist Abe Rábade und der US-Schlagzeuger Jeff Ballard legten eine wahnsinnige Spielfreude an den Tag, die Mitschnittqualität ist lupenrein. Ob Bebop oder Flamencojazz, die Musiker spielen, als seien sie eine seit Jahren aufeinander eingespielte Band, aber ohne in deren oft langweilige Routine zu verfallen und manche Titel fahren einem sogar in die Beine ("Amor Ascensor"). Bei zwei Stücken werden die Musiker von der Flamencosängerin Chonchi Heredia begleitet, deren Stimme die Traurigkeit des Flamenco beisteuert, besonders kunstvoll im kubanischen Bolero "Toda una vida".

Luis Pastor
duos
Karonte / galileo mc


Seit einiger Zeit im Trend liegen Veröffentlichungen von Duo-Alben, auf denen bekannte Sänger ihre über die Jahre entstandenen Kooperation mit Kollegen zusammenfassen und/ oder neue Stücke aufnehmen. Im Jahr 2006 hat auch der spanische (Protest)Sänger Luis Pastor ein solches Album mit 13 Titeln veröffentlicht, das nun in Deutschland erschienen ist. Auf "duos" finden sich neben ebendiesen mit spanischen Stars wie Miguel Ríos und Martirio u.a. auch Aufnahmen mit dem Portugiesen João Afonso oder der Sängerin Bebe aus Brasilien. Letztere singt mit Pastor "Aguas abril" (1988), das für das Album neu eingespielt wurde und zu den textlich "surrealeren" Liedern gehört, die sonst eher politische oder Liebesbotschaften transportieren. Die Instrumentierung der Stücke reicht von kitschigen Streichern bis Sologitarre und sind - bis auf wenige Ausnahmen – dem Pop zuzuordnen. Als Protestlied ragt "Mariposa de noviembre" heraus, eine Hommage an Violeta Parra, das von Pastor mit Lourdes Guerra a capella interpretiert wird.

Chavela Vargas
La luna grande
CoraSon / galileo mc

Wer es getragen und nachdenklich mag, sollte sich die letzte Produktion von Chavela Vargas kaufen. Kurz vor ihrem Tod, im August 2012, hat die costarikanisch-mexikanische Sängerin eine Hommage an Federico García Lorca aufgenommen und in Mexiko D.F. und Madrid vorgestellt. Ihre raue Stimme passt zu den oft traurigen Gedichten, obwohl sie leider manchmal schon sehr gebrechlich wirkt (z.B. in "El cielo tiene jardines"); trotzdem ist das eine beeindruckende Aufnahme. Texte wie "Noche del amor insomne", "Amor, amor" oder "Toda mi vida" (abgedruckt im dicken Booklet) dringen einem ins Herz, untermalt von sanften Gitarrenklängen bekannter Titel wie "Noche de Ronda" oder "La llorona" (Chavelas bekanntestes Stück) von Komponisten wie Agustín Lara. Ein würdiger Abschied der 93jährigen Sängerin.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 01/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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