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caiman.de 07. ausgabe - köln, juli 2001
grenzfall

Grenzüberschleichung

Wenn der Mitteleuropäer in seiner Heimat einen Zug besteigt, möchte er zumeist so schnell wie möglich ans Ziel. Tut er dies, um vom Norden Chiles in den Südwesten Boliviens zu reisen, so ist der Weg das Ziel. Hier erscheint es ihm abenteuerlich, einen Zug zu nehmen, der nur einmal die Woche fährt und für 300 Kilometer Strecke etwa 24 Stunden braucht. Dieses Kunststück bringen Chilenen und Bolivianer gemeinsam zustande, vereint in der FCAB, der Ferrocarriles de Antofagasta a Bolivia. Der Zug fährt kaum schneller als das Lama läuft, quält er sich doch von 2800 auf 3600 Höhenmeter hinauf. Der besagte Mitteleuropäer steigt in der Atacama-Wüste, genauer im Örtchen Calama ein, zusammen mit anderen waghalsigen Rucksacklern und Bolivianern mit weitaus mehr Gepäck.
Dann versuchen beide Gruppen Sack und Pack in den zwergenhaften Ablagen unterzubringen. Das kann nur scheitern.

Also macht man es sich eingekeilt zwischen Rucksack und Sitznachbar bequem und ist froh, dass niemand Hühner oder Ziegen mit sich führt.



technik und natur
überwältigendes zusammenspiel

Da es schon spät in der Nacht ist, sobald alles geordnet ist, schläft man sanft schaukelnd ein. Exakt bis zu dem Moment, in dem ein Mitglied der Rucksackfraktion „Se Cayó!“ schreiend durch den Zug läuft und wild mit einer Taschenlampe wedelt. Er ist tatsächlich aus dem Zug gefallen. In die nächtliche Atacama-Wüste. Fernab jeder Zivilisation.
Wie war das möglich? Eine Gruppe junger Burschen feierte des Nachts ein wenig die Zugfahrt. Sie saßen und standen dabei im Eingangsbereich einer Tür. Da nun die FCAB nicht wie die Deutsche Bahn Sicherheit stets groß schreibt, sind auch die Türen der Züge während der Fahrt nicht unbedingt verriegelt. Warum auch? Eigentlich ist der Zug ja für friedliche Einheimische bestimmt, die nachts selig schlummern und deswegen nicht hinausfallen. Auf jeden Fall saß der Unglücksrabe mit dem Rücken an der Tür, als ein anderer diese öffnete. Plumps! Er war draußen und das Geschrei groß.


ollague
legendäres vergnügungsviertel
Zum Glück tauchte der Gefallene kurz darauf wieder im Waggon auf. Hatte er doch nach dem Mißgeschick geistesgegenwärtig die Situation erkannt und die Beine in die Hand genommen. So dass er gerade noch den letzten Wagen erwischte und aufspringen konnte.



Nach dieser Nacht hatten wir uns eine kleine Pause verdient. Die bekamen wir, als wir gegen Mittag die Grenze erreichten. Die chilenische Lok wurde abgekoppelt und fuhr zurück. Wir blieben und warteten auf das bolivianische Pendant, das den Endspurt übernehmen sollte. Die Passagiere konnten sich im Vergnügungsviertel von Ollagüe (ca. 50 Einwohner) umsehen oder einfach dasitzen und Geduld üben. Ein paar Tapfere probten ein Fußballspiel. Doch in 3660 Meter Höhe ist das nichts für Flachländler. Sie gaben bald auf. Im Zug selbst vermehrte sich mit jeder Stunde des Wartens der Abfall, durchsetzt mit Essenresten und dem Geruch nach menschlichen Ausdünstungen. Ganz zu schweigen von den schlichten Sanitäranlagen.

Freude, bereits nach sieben Stunden kamen die Bolivianer samt Lok, und es konnte weitergehen.

Der Rest der Fahrt war dann nicht so spaßig, denn es dunkelte, so dass man draußen bald nichts mehr erkennen konnte. Längere Zwischenstopps gab es auch nicht mehr.



se cayó
dies wäre die alternative gewesen

Einzig eine Bolivianerin mit drei Kindern brachte etwas Abwechslung. Sie versteckte ihr ältestes und größtes Kind vor dem bolivianischen Schaffner unter ihrer Sitzbank. Dort musste es die restlichen Stunden bis Uyuni verharren. Es war das perfekte Verbrechen.

Am Bahnhof angekommen, fielen die Bolivianer ihren Verwandten überschwänglich in die Arme, während die Gringos die nahe gelegenen Hotels stürmten, um sich in den lauschigen Betten zu erholen.

Calama bis Uyuni: eine gute Reise für jeden, der einmal mit dem Zug durch’s Nirgendwo fahren oder einfach nur seine Geduld auf die Probe stellen möchte.

Die Fahrt kostet 7000 chilenische Pesos, Fahrkarten kann man im Bahnhof Calama von Montag bis Mittwoch zwischen 15 und 18 Uhr kaufen. Es empfiehlt sich, in Uyuni ein Hotelzimmer im voraus zu reservieren. Das Hotel Avenida schräg gegenüber vom Bahnhof ist ausgezeichnet.


Text + Fotos: Ralf Keiser

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