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caiman.de 05. ausgabe - köln, mai 2001
grenzfall: raxrujá

Raxrujá – das verträumte Dorf im Herzen Guatemalas

In dieser Kolumne werden "Grenzfälle" in doppeltem Sinne behandelt; zum einen geographische; zum anderen jene, die der Beurteilung in Hinblick auf Geschmack, Ethik und Moral eines jeden Lesers unterliegen, wobei wir uns bis heute jeglicher Wertung enthalten haben; immer jedoch im Bewußtsein, uns auf einer Gradlinie zu bewegen, die rein argumentativ sowohl in die eine als auch die andere Richtung verlassen werden kann. Doch mit diesem Artikel durchbrechen wir bisherige Gepflogenheiten, denn er wird sich um Raxrujá drehen, den Albtraum eines jeden Reisenden und wahrscheinlich auch eines jeden Einwohners.

Wir befanden uns auf dem Weg von Guatemala Stadt über Cobán nach Flores (Tikal), und da wir noch einen Abstecher zu den Becken von Semuc Champey ins Auge faßten, wählten wir die direkte Route.



semuc champey
das wirkliche paradies

Selbstverständlich belächelten wir die Geschwindigkeitsangaben unseres Reiseführers, der von durchschnittlich 10 Stundenkilometern sprach. Das mochte vielleicht für guatemaltekische Busse gelten aber nicht für einen japanischen 4 Wheel Drive. So dachten wir bis zu dem Moment als ich nach etlichen Sonnenauf- und -untergängen auf den Tacho schaute und alle Hoffnung auf eine verbesserte Straßenqualität ins Reich der europäischen Phantasiewelt verbannen musste.

Das muss zudem der Augenblick gewesen sein, in dem mir die Sichtblende entgegen fiel und wir dem Spanisch sprachigen Raum endgültig den Rücken gekehrt hatten. Später wusste ich, dass dies der Anfang vom Ende war. Wir versuchten es mit der Strategie, den Wagen zu stoppen, dem jeweiligen Passanten das Wort Raxrujá entgegen zu schleudern und mit einem Kopfnicken belohnt zu werden.

Keine Chance; Laute wurden in fragendem Tonfall zurück befördert und allmählich stiegen uns Tränen uns in die Augen. Es blieb uns, nur das Ziel ohne Hilfe von außen zu erreichen. Zum Glück wußten wir, in dem Moment, in dem wir in unserer Traumortschaft einfahren, wird sich das Blatt wenden; immerhin besagte der Reiseführer, es gäbe Übernachtungsmöglickeiten. Die Sonne ging unter, absolute Dunkelheit umfing uns, und wir fuhren ein ins Paradies, über einen alles andere als asphaltierten Pfad. Sensationell, insgesamt 15 bis 20 Hütten, alle beleuchtet und eine Tankstelle, der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, an der wir von einem der spanischen Sprache mächtigen "Helden der Landstraße" erfuhren, dass es sogar drei verschiedene "Hotels" gäbe, die allerdings alle denselben Besitzer hätten, den Eigentümer eines völlig überdimensionierten Gebäudes, über dem Ort thronend als handele es sich um den Schutzpatron der Dorfbewohner.

Aber um der Wahrheit genüge zu tun, suhlte ich mich in einem wahrlich überschäumenden Glücksgefühl, gab es doch drei Alternativen uns von den Strapazen der Fahrt zu erholen.


sayaxché
wasser am rechten ort
Bei der ersten fehlte in jedem der vier Zimmer circa die Hälfte der Decke und ein bis zwei Nager veranstalteten Wettrennen von einer Wand zur anderen. Während der Besichtigung der zweiten blieb ich vorsichtshalber schon mal im Auto.



Meine Begleiterin, die sich rühmen darf, über einige Erfahrung mit solchen Verhältnissen zu verfügen, tauchte keine fünf Minuten später kreidebleich im Gesicht auf dem Fahrersitz neben mir auf, zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und gab genau drei Worte von sich: "Frag besser nicht!". Und da waren wir wieder, auf der Basis unseres Reiseführers angelangt, eine Übernachtungsmöglichkeit, und die mußte es jetzt sein! Wir fuhren vor (ich mit geschlossenen Augen), und die Stimme neben mir berichtete, Besitzer und Clanmitglieder säßen anscheinend vor dem Fernseher.

O Wunder, Zivilisation, und ich blinzelte. Es handelte sich doch tatsächlich um ein zweistöckiges Haus und mir gefiel die Aussicht, mich zwischen oberem oder unterem Stockwerk entscheiden zu können. Ich rauchte eine Zigarette bis zur Werbepause des Wochenhightlights, wir betraten den Innenhof, und in einem Anfall geistiger Umnachtung fiel unsere Wahl auf unten, ohne darauf zu achten, dass das Zimmer sich in unmittelbarer Nähe zu den Örtlichkeiten befand, und die Zimmerwände nicht mit der Decke abschlossen (damalige Naivität versetzt mich noch heute in einen Zustand irrsinniger Raserei). Formalitäten wurden erledigt, und das Restaurant des Ortes aufgesucht. Undefinierbare Substanzen füllten an diesem Abend meinen Magen, begleitet von antialkoholischer Flüssigkeit, da der Vorrat an legalen Betäubungsmitteln schon seit längerem erschöpft schien.

Ich stellte mich auf die Horrornacht meines Lebens ein, und es kam schlimmer. Mittlerweile schwamm das Zimmer, da der Wasserhahn auf den Toiletten sich keinen Millimeter rührte, und das kühle Naß floß und floß, unaufhaltsam in unsere Suite begleitet von penetrantem Uringestank und der fröhlichen Unterhaltung unserer Zimmernachbarn. Irgendwann döste ich dann doch ein und erst die zwei guatemaltekischen Trucker von nebenan weckten mich, als sie sich unter die Zensur fallenden Flüchen zur Weiterfahrt entschlossen. Mir fiel auf, dass eine Menge kleiner beißender Mitbewohner mein Bett teilten. Meine Begleiterin indes spielte ihre Stärke aus: unabhängig von äußeren Umständen immer und überall dem Schlaf frönen zu können.

Als die Sonne endlich am Horizont erschien, trat ich das Bett in die Ecke, verzichtete auf morgendliche Erfrischung und Stärkung, sprang in den Jeep und trat das Gas in übelster Laune bis zum Anschlag durch; genau 100 Meter legte ich so zurück, dann stoppte mich eine Autokarawane. Ich hatte meine Aggression zu lediglich 10% abgebaut, sprang wutentbrannt aus dem Wagen und musste feststellen, dass der Regen die Hälfte der Straße weggespült hatte und zwei LKW´s in einem mehr als knietiefen Wasserloch festsaßen. Von einer auf die andere Sekunde wandelte sich mein Zorn in abgrundtiefe Resignation, dies war der schlechteste Film, in dem ich mich jemals befunden hatte. Es gab nur diese eine Straße raus aus dem Horror. Vier Stunden später befand ich mich auf der Fähre in Sayaxché, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Und so überschreiten wir in diesem Artikel die Grenze der individuellen Belastbarkeit und der freien Meinungsbildung unserer Leser; denn das Raxrujá von der Welt gemieden werden sollte, ist für mich Fakt und nicht "Grenzfall".

P.S.: Leider sind von dem Autor unbeabsichtigter weise vorsätzlich alle Photos von Raxrujá vernichtet worden.


Text + Fotos: Sönke Schönauer

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