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caiman.de 08. ausgabe - köln, august 2001
brasil

Romário im Wunderländle
Das 16. „Viva Afro Brasil“ – Festival in Tübingen

Freitag, Vorspiel


Kalt, windig, bewölkt. Das geliehene Auto mit Benzin und ein paar Freunden gefüllt und auf den Weg Richtung Süden, nach Tübingen gebracht. Das Radio bis zur Schmerzgrenze aufgedreht, alle im Rhythmus des Getrommels der Kassette.

Fünf Stunden Fahrt über Deutschlands berühmteste Staumeldungen. Als wir in Tübingen ankommen, hat der Brasilianer aus Ceará den Grill schon angeworfen. In der Nacht Samba und Forró im „Jazzkeller“ mitten in der historischen Altstadt. Klasse Vorspiel. Die Hüften bis in den frühen Morgen geschwungen.

Samstag, Hauptakt

Wir wachen nachmittags auf. Alle verkatert. Draußen brütende Hitze, fast wolkenloser Himmel.
Am Eingang des Festivalgeländes bekommt jeder ein gelbes Armband, um das Gelände beliebig oft verlassen und betreten zu können.

Der Marktplatz, als „Pelô“ (zentraler Platz in Salvador da Bahia) Deutschlands bekannt, füllt sich mit Menschen. Unter Ihnen viele Brasilianer, aber die Mehrzahl der ca. 3.000 Zuhörer sind Deutsche. Schwaben in brasilianischen Nationaltrikots. - Wird Romário jetzt von Goldlocken ersetzt? Die würden sich mit Sicherheit nicht von Honduras fertig machen lassen.

Er hätte Honduras
weg geputzt

Kinder spielen in der Sonne, viele deutsch-brasilianische Ehepaare, Picknicker ohne Picknickkorb. Das „Radler“ verschwindet in Strömen in den Kehlen der durstigen Menge. Der südbrasilianische Grillmeister verkauft Berge von Fleisch.

Die unvermeidliche Caipirinha für 9 DM wird in einem so kleinen Plastikbecher angeboten, dass man darin nicht mal seine ob der Leistungen der brasilianischen Nationalmannschaft vergossenen Tränen auffangen könnte.

Die erste Gruppe ist „Pedro Luís e a Parede“. Pedro Luís, Komponist aus Rios Künstlerviertel Tijuca und mit exzellenten Referenzen (Kompositionen für Ney Matogrosso, Fernanda Abreu, Lenine und andere) ausgestattet, haut mit seiner „Soundwand“ aus vier Musikern kräftig auf die Pauke, schafft es aber mit seiner Mischung aus Rock, Rap und Funk nicht, das Publikum mitzureißen. Zu intellektuell, zu unprofessionell.

Mit der zweiten Gruppe des Tages, „Terra Samba“ aus Bahia, verhält es sich genau umgekehrt: Von Intellekt keine Spur, dafür aber mit einer Überfülle (besonders in den Poebenen der unvermeidlichen Tänzerinnen) an Professionalität gesegnet. Die Menge liebt diesen Karneval.
„Energie, Energie, Energie“,

Dein ist
mein ganzes Herz

fordert der Sänger Reinaldo Nascimento immer wieder, und die Massen erzeugen sie und stellen sich damit an die Seite der brasilianischen Regierung im Kampf gegen die erdrückende Energiekrise im fernen Zuhause. Einzig der an die Fassade des Rathauses gemalte Eberhard, Gründer der Tübinger Universität, zuckt weder mit der Wimper noch mit der Hüfte.


Skank aus Minas Gerais
Eine weitere Vertreterin dieses rentabelsten Zweiges der Música Popular Brasileira (MPB) ist Daniela Mercury, die Königin des Straßenkarnevals von Salvador. Als sich die Dunkelheit über diesen wunderschönen Tag legt, betritt sie die Bühne.

Strahlender als jemals zuvor dank einer silikonunterstützten Generalüberholung. Auch ihre Show ist so perfekt, dass Zweifel aufkommen, ob sie wirklich live singt. Egal, auf jeden Fall sieht sie unglaublich toll aus.

Nach der Show vergnügen wir uns noch kräftig in der Diskothek „Foyer“, wo brasilianische Rhythmen und mexikanisches Bier eine höllische Hitze erzeugen, wie am Amazonas. Als die ersten Sonnenstrahlen des zweiten Tages des „Viva Afro Brasil“ – Festivals auf Tübingen scheinen, schleppen wir uns nach Hause (stinkender Weise, wie man im Portugiesischen sagen würde).

Sonntag, Hauptakt

Wolkenloser Himmel, 32 Grad.
Alle erwachen mit Kopfschmerzen. Eine Bootstour auf dem Neckar, zu Füßen der Altstadt, live – Getrommel in den Booten: „Me leva que eu vou, sonho meu..." (bei diesem Karnevalszug gehen nur die nicht mit, die schon tot sind!)

Das Armband am Eingang ist heute orange. Genau wie gestern gelingt es denjenigen, die über das berühmte “jeito brasileiro“ verfügen, ohne zu bezahlen auf das Gelände zu kommen. Wer schon drin ist, macht sein Armband ab und lässt es von jemand anders, zusammen mit der Eintrittskarte, nach draußen bringen, wo schon ein Freund wartet, der es übernimmt und mit gültiger Eintrittskarte dann das Gelände betritt. Doch heute scheinen die Ordner Lunte gerochen zu haben. Sie laufen über das Gelände und suchen nach Personen, die nicht das orangefarbene Band am Handgelenk tragen. Schnell ziehen sich einige Brasilianer ihren Pullover oder die Regenjacke über. (Und das bei dieser Hitze.) Noch ein „jeito brasileiro“.

Die Show beginnt mit „Skank“ aus Minas Gerais und ihrer Mischung aus Rock, Reggae und Ska. Sie sind in Brasilien die wahren Nachfolger der „Paralamas do Sucesso“.

Samuel Rosa (Skank-Sänger)

Als ihr größter Fan springe und schreie ich in der ersten Reihe wie wild herum. Samuel Rosa, der Frontmann der Gruppe, erkennt den Deutschen, mit dem er sich vor der Show in den Straßen Tübingens noch geduldig fotografieren ließ, und gibt mir ein Augenzwinkern. (Stolz!) Auch er schreit und springt von der Bühne, um ein Bad in der begeisterten Menge zu nehmen

Während Gustavo Kuerten 50 km weiter nördlich das Tennisturnier von Stuttgart gewinnt, beamt sich Jorge Benjor von einer Bühne im Irgendwo auf die hiesige. Eine der schillerndsten Figuren der brasilianischen Musik, seit fast 40 Jahren im Musikgeschäft. Das muss sehr anstrengend sein. Vielleicht erklärt das auch den schwachen Beginn seiner Show. Als er dann auch noch „Zazueira“ auf Deutsch singt, verstehen selbst die Deutschen, die ja bekanntlich alles auf und in dieser Welt verstehen, gar nix mehr. Aber danach wird er stärker und schafft es im großen Finale, zusammen mit „Skank“ – Sänger Samuel Rosa, der unvermeidlichen Blondine „Miss Sympathie“ und der Hälfte der Zuschauer tanzend auf der Bühne, das Fest in Schwung zu bringen. Das wars dann aus brasilianischer Sicht. Eine Stunde später taucht dann noch eine kubanische Formation auf.

Warum muss ein Festival der brasilianischen Musik mit den „Cuban All Stars“ enden – nur Gott wird das wissen. Und Gott ist ja bekanntlich Brasilianer.


brasilianische Cubaner bei der Arbeit
Ich versuche noch, ein bisschen Salsa und Merengue zu tanzen, aber ich kriege vor Müdigkeit keinen Fuß mehr vom Boden. Wir alle sind tot. Mit Sicherheit gibt es noch eine brasilianische Fete am Neckarufer. Aber ohne mich, ich geh schlafen.

Montag, Nachspiel

Stille im Auto.
Alle verkatert, körperlich und geistig. Schweigen während die Blitze den dunkelgrauen Himmel erleuchten. Der Regen prasseltauf uns nieder. Ich muss die Lichter des Autos öffnen.
In Deutschland ist es so, zwei Tage Sonnenschein und schon ist es auch wieder vorbei. Die Hitze bleibt nicht. Anders in Brasilien. Zwar sterben sie alle vor Sehnsucht nach ihrer tropischen Heimat, aber wenn sie nach Hause fahren, meinen sie damit Köln und nicht Fortaleza oder Rio de Janeiro.

„Gott ist Brasilianer. Aber er wohnt in Deutschland.“ Und nicht nur er.

Unser caiman vor Ort: Rosa und Tom
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