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caiman.de 11. ausgabe - köln, november 2000
helden brasiliens


"Topa tudo por dinheiro"
- Mache alles für Geld -


Silvio Santos und seine "Glückstruhe"

"Quem quer dinheiro?", wer will Geld? schallt es aus den Fernsehern des ganzen Landes, und Millionen Brasilianer zittern mit, ihr Los der
"Baú da Felicidade", der "Glückstruhe", in Händen.

Es ist Sonntag, und Brasilien schaut zu, wie der ältere Herr mit Toupet die Gewinne verteilt. Man sagt, er habe 7 verschiedene davon, eines für jeden Tag der Woche. Das Riesenmikrofon hat er sich an seine Krawatte gesteckt, die in bunten Farben dem Zuschauer entgegengrellt.

"Ra, rai, ri,ri... três aviõezinhos de cinquenta reais para o auditório!”, drei mal 50 Reais werden als Papierflieger ins Publikum geworfen.

"Má, má...Roque, traz mais dinheiro!!!"
, fordert er seinen Assistenten auf, "bring schnell mehr Geld, mehr Geschenke!" Seinen Namen kennt in Brasilien jedes Kind: Silvio Santos, der Erfinder des "Domingão", des langen Familienfernsehsonntags.

Bis zu 10 Stunden Programm am Stück hat er zu seinen besten Zeiten hingelegt, von der Kindershow am Morgen mit Gewinnen, die vom einfachen Teelöffel bis zum Computer reichten, bis zur großen Abendshow mit der Ziehung der Gewinner der "Baú da Felicidade" am späten Sonntagnachmittag.

Begonnen hat der Sohn jüdischer Einwanderer, Vater Grieche, Mutter Türkin, ganz unten, auf den Straßen
Rio de Janeiros, und mit dem festen Entschluss, der reichste Mann Brasiliens zu werden: "koste es, was es wolle, und wenn ich dafür in Badelatschen Rumba tanzen muss". Dafür brach er seine Buchhalterlehre ab und folgte einer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Familientradition: er wurde Straßenhändler.

"Du wirst arbeiten müssen, sonst beziehst du Prügel", pflegte seine Mutter zu sagen.

1944 sieht man den damals 14 Jährigen, der bereits drei Angestellte hat, Kugelschreiber und Brieftaschen verkaufen. Er wird mehrmals festgenommen, wobei den Beamten sein verbales Talent auffällt: aus dem Mund des Jungen ergießen sich wasserfallartige Wortschwälle, man sagt über ihn, er könne jedem alles und zu jedem Preis verkaufen. Man schickt ihn zu einem Moderatorenwettbewerb von
"Rádio Guanabara", den er natürlich gewinnt.

Jahre später soll er über diese Zeit sagen: "Alles was ich geschaffen habe, resultiert daraus, dass ich auf der Strasse und beim Fallschirmspringen gelernt habe, wie man überlebt."

Er verdient sein Geld auf der Rio–Niterói–Fähre und investiert es in eine Bar. Nach dem er diese aufgeben muss, geht er nach São Paulo zum Radio und tritt in Werbespots auf. Mit zwei Freunden gründet er das Unternehmen
"Baú da Felicidade". Die Kunden erhalten pünktlich zum Weihnachtsfest eine Truhe voller Geschenke, wobei sie im Gegenzug ein Jahr im voraus monatlich eine gewisse Summe an das Unternehmen überweisen muessen.

Seine Zielgruppe sind die ärmeren Teile der Gesellschaft, denn, so Santos, "der Arme ist der beste Zahler der Welt, korrekt und demütig." Sie sind auch sein Publikum, später, in den 70er Jahren, als er seine Spiel- und Unterhaltungsshows bei
TV Globo präsentiert. Der "Baú da Felicidade" wandelt sich zu der populärsten Lotterie Brasiliens, bekannt noch in den hintersten Indiodörfern des Amazonas. Ihr Erfinder steigt mit Gewinnshows wie "Mais ou Menos" zur beliebtesten Figur des brasilianischen Fernsehens auf.

1981 erfüllt sich Silvio Santos dann einen Kindheitstraum und gründet seinen eigenen TV-Sender,
SBT (Sistema Brasileiro de Televisão). Das intellektuelle Niveau ist so niedrig wie seine Botschaft klar ist: "Die Leute schalten nicht den Fernseher an, um Unterricht oder Kultur geboten zu bekommen. Der Arme, der kein Geld hat, um in den Zirkus zu gehen, will kostenlose Unterhaltung. Und deshalb müssen wir dem Volk das geben, was es will. Wenn es Samba will, bekommt es Samba, wenn es Frauen mit wenig Wäsche sehen will, bekommt es Frauen mit wenig Wäsche."

Shows wie
"Topa tudo por dinheiro", mit ihren versteckten Kameras und zu allem bereiten Kandidaten, erreichen Kultstatus. Und jedes Kind kennt Silvios Frage "É namoro ou amizade?", "Ist es Liebe oder Freundschaft?", aus seiner Show "Em nome do amor", "Im Namen der Liebe".

Dort beobachten sich mit Hilfe von Ferngläsern je 7 Jungen und Mädchen, die am anderen Ende des Studios sitzen. Silvio gibt das Startzeichen und der
"bailinho", "das kleine Tänzchen", beginnt: die Jungs eilen zu dem Mädchen ihrer Wahl und tanzen mit ihr 3 Minuten lang zu einer Julio – Iglesias – Schnulze, Silvios Lieblingssänger. Und dann der große Moment: "Ist es Liebe oder (nur) Freundschaft?" fragt Silvio die Mädchen. Ist es Liebe, so verlassen die Glücklichen Hand in Hand die Bühne, ist es Freundschaft begeben sich die Übriggebliebenen zurück auf ihre Plätze, und das Spiel beginnt von vorne, bis auch sie die Liebe gefunden haben.

Santos Mischung aus Show und Spannung fesselt ganze Familien an den Fernsehe und entwickelt sich zum Straßenfeger. Mitte der 90er Jahre ist SBT der zweitgrößte Sender Brasiliens und beschert seinem Besitzer
Senor Abravanel, wie Silvio mit bürgerlichem Namen heißt, satte Gewinne. Er ist Herr über 33 Unternehmen, darunter Casinos, Freizeitparks, Shopping–Center, Banken und Versicherungen, und damit der Brasilianer mit der höchsten zu zahlenden Einkommensteuer.

Niederlagen muss er als Politiker einstecken: 1988 versucht er für die konservativ – rechte PFL (Partido da Frente Liberal) Bürgermeister von São Paulo und ein Jahr später Präsident zu werden – beides ohne Erfolg. Und auch seine zwei Ehen scheitern. Daraufhin zieht er sich Mitte der 90er Jahre aus dem Rampenlicht zurück und macht die Bühne frei für den neuen SBT - Sonntags-Guru
Gugu Liberato.

Mit der Verpflichtung des Playboy-Häschens
Carla Perez, die jetzt in ihrer eigenen Show "Canta & Dança Minha Gente" ihr fehlendes Talent unter Beweis stellen darf, ist SBT weiterhin auf erfolgreicher Tauchfahrt zu bisher unbekannten Niederungen des schlechten Geschmacks.

Die Krönung dieses Trends ist die Show von Carlos Massa, besser bekannt als
"Ratinho", die "kleine Ratte". Wie ein wildes Tier umherbrüllend und –rasend, präsentiert der mit einem Schlagstock bewaffnete ehemalige Fußballspieler seine Gäste aus dem Reich der Übergangsstadien zwischen Mensch und Tier. Wer eine ekelhafte Geschichte zu erzählen hat oder seinen Nachbarn vor Publikum verprügeln möchte, wird direkt von der Strasse vor dem SBT–Sendezentrum ins Fernsehstudio gebracht, wo sich das Publikum angesichts der erschreckenden Missbildungen menschlichen Sozialverhaltens bereits dem stimmungsmäßigen Siedepunkt nähert.

Doch für Silvio Santos existiert das Wort "Niveau" nicht, es wurde durch die Erfindung der "Einschaltquote" ersetzt: "Es gibt kein Limit. Die Zahlen sind entscheidend. Wer die Einschaltquote bringt, darf zeigen, was er will."

Freunde erzählen, dass Silvio Santos privat ein völlig normaler Mensch mit einfachen Gewohnheiten sei. Das Arsenal seiner Ansichten deckt sich mit denen eines gewöhnlichen Brasilianers und reicht von
"Ein echter Mann weint nicht" bis zu "Eine Frau gehört immer nur einem Mann". Er ist sich seiner Herkunft bewusst. So hat er die leitenden Positionen seiner diversen Unternehmen, die jährlich 2 Milliarden Mark umsetzen, mit Weggefährten der Anfangsjahre besetzt, unter ihnen ein ehemaliger Schuhputzer, ein Kameramann seiner Show, ein Office-Boy und ein Landarbeiter.

Und so verkündet Silvio Santos, der am 12. Dezember 2000 seinen 70sten Geburtstag feiert, das Resümee seines erfolgreichen Daseins:
"Brasilien ist ein junges Land, in dem ein einfacher Straßenhändler, mit Glück und Talent ausgestattet, bis in unermessliche Höhen aufsteigen kann."

"É com você Lombardi!"
, "Du bist dran Lombardi!", rief er in seinen Shows der Geisterstimme zu, die aus dem off heraus den "Baú da Felicidade" anpries, und ganz Brasilien träumt noch heute davon, eines Tages aufzuwachen, "in Ewigkeit in einer herrlichen Wiege gebettet" (Text der brasilianischen Nationalhymne)... in der "Baú da Felicidade", der"Glückstruhe".

pa`rriba

Thomas Milz
Mit freundlicher Unterstützung von Cristina Poli


- ...und wenn er vorbeischwingt (deutsch / portuguese)
- Pelé - der "Gott" mit der Nummer 10!
- Tiradentes – der "Zahnzieher"


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