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caiman.de 12. ausgabe - köln, dezember 2001
brasil

Macunaíma
Der Held ohne jeden Charakter

Er kommt aus der Mythenwelt des Amazona und aus seiner Hängematte ertönt stets der Ausruf: "Ach, diese Faulheit!". Seine größte Tugend (und zugleich einzige) ist die, ohne zu Arbeiten durchs Leben zu kommen. Erhebt er sich einmal aus seiner Hängematte, so bettet er sich bequemerweise gleich auf drei Mädchen eines Bordells in São Paulo. Macunaíma ist hässlich. Ein – laut den Worten seines Schöpfers Mário de Andrade – "sehr brasilianischer Brasilianer".


"Tief im Urwald wurde Macunaíma geboren, Held unseres Volksstammes. Er war pechschwarz und Sohn der Nachtangst. Zunächst vergingen mehr als sechs Jahre, bis er sprach. Wenn man ihn zum Sprechen anhielt, rief er: "Ach, diese Faulheit!" Sein Lieblingsspiel war Blattschneideameisen köpfen."


Lange Zeit gequält sich Mário de Andrade mit der Frage herum, was denn wohl der ureigenste Charakterzug des Brasilianers sei. Andrade gehörte zu den Begründern der brasilianischen Moderne, des "Modernismo Brasileiro", die während der "Semana da Arte Moderna", der "Woche der modernen Kunst", abgehalten im Februar 1922, mit der "Brasilidade" ein originär brasilianisches Kunst- und Gesellschaftsverständnis kreieren wollten. Ein Teil der Bewegung ließ sich von dem in Europa aufkommenden Expressionismus und dem Surrealismus beeinflussen. Mário de Andrade hingegen wandte sich gegen diese Internationalisierung, die er als Entnationalisierung empfand.


Er suchte die Wurzeln der "Brasilidade" lieber im eigenen Land. Sein 1926 erschienenes Buch "Macunaíma – der Held ohne jeden Charakter" war zwar unter den Europa hörigen Intellektuellen heftig umstritten, galt aber ohne jeden Zweifel als wichtigstes Werk des brasilianischen Modernismus. Andrade springt in seinem Buch durch die verschiedensten Stilrichtungen: die Chronik, episch-lyrische Legenden, Parodien, Geschichtsschreibung, Mythologie und Folklore; würfelt alles quer durcheinander und würzt das ganze mit der "fala brasileira", dem brasilianischen Portugiesisch, durchsetzt mit indianischen und afrikanischen Ausdrücken, so bunt und verwirrend wie die Menschen dieses Landes selber.


"Macunaíma lebte liegend, aber wenn er Geld sichtete, strampelte er sich ab, um einen Zwanziger zu ergattern. Er wurde auch wach, wenn die Familie im Fluß baden ging, alle zusammen und nackt. Er verbrachte die Badezeit mit Tauchen, und die Frauen stießen komische Kreischer aus wegen der Guaimun-Krebse, die angeblich dort im Süßwasserschlamm hausten. Den Männern spuckte er ins Gesicht."


Sowie der brasilianische Modernismus die europäischen Kulturwurzeln durchtrennen will, so will er auch das europäische Menschenbild zerschlagen. Der Charakter des Brasilianers bestehe darin, dass er gar keinen Charakter habe, keine typische psychischen Wesenheit einer eigenständigen Zivilisation.

Doch trägt Andrade nicht selbst die europäische Brille? Nur weil er keinen "europäischen Charakterzug" im Brasilianer erkennen kann, schließt er auf die Charakterlosigkeit des Brasilianers.

Der Brasilianer sei ein Zwanzigjähriger ohne psychologischen und damit ethischen Charakter. Und als typischen Vertreter dieser Spezies präsentiert er uns "Macunaíma, den Held ohne jeden Charakter", entliehen aus der Fabelwelt der Taulipang- und Arekuna-Indianer des brasilianisch venezolanischen Grenzgebietes. Macunaíma bedeutet "großer Bösewicht", und dementsprechend verhält er sich auch in der ursprünglich indianischen Sage.

Bei Andrade jedoch ist sein Wesen ambivalent angelegt. Neben dem reinen Bösen steht auch immer der dialektische Gegensatz. Er ist sowohl naiv als auch verlogen, mutig und zugleich feige. Seine Boshaftigkeit konterkariert er immer wieder mit einem Augenzwinkern. So erinnert er an das Stereotyp des für die brasilianischen Intellektuellen des Südens und Südostens so fernen und fremden "naiven und unschuldigen" Indianers und an den "malandro safado", den durchtriebenen Gauner, wie er in den Cariocas, den Einwohnern Rio de Janeiros, so gerne gesehen wird.


"Wenn es Schlafenszeit war, kletterte er in den kleinen Schaukelkorb, vergaß aber immer zu pinkeln. Da die Hängematte der Mutter unter der Wiege hing, pinkelte der Held warm auf die Alte herunter und verscheuchte nach Kräften die Mücken. Dann schlief er ein und träumte unanständige Wörter, schauderhafte Schweinigeleien, und verteilte Fußtritte in die Luft. Bei den Mittagsunterhaltungen der Frauen ging es immer um die Lumpereien des Helden. Die Frauen lachten gutmütig..."


Tief in ihrem Innersten bewundern die Brasilianer den malandro, den lausbübischen Gauner: sei er ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein nur an die nächste Eroberung denkender Tunichtgut oder ein hochstehender Politiker. Im Gegensatz dazu ist der Ehrliche eine dümmliche Gestalt, die sich mit der Entlohnung ihrer Gutmütigkeit im Jenseits zu Frieden gibt. Das Bewundernswerte liegt darin, dass der malandro der harten Realität seinen persönlichen Vorteil abgetrotzt hat, dass er sich durchboxen kann, weiß, in welche Richtung er sich drehen muss ("sabe se virar"). Denn in den Augen seiner Landsleute bestiehlt er nicht sie, sondern die Ungerechtigkeit des Lebens und damit die ganze restliche Welt.

So lautet ein populärer Spruch in Brasilien:
"Aquele deu um golpe, e o outro foi burro" – "Der eine landete einen Coup, und der andere war ein Esel."

Und genau so bewegt sich Macunaíma durch die Geschichte: im ersten Teil des Buches, in der Urwaldwelt des Amazonas, wo er seine Zeit entweder in seiner Hängematte, sich seiner Faulheit hingebend, oder zusammen mit seinen Brüdern auf der Suche nach dummen Späßen verlebt. Im zweiten Teil bringt ihn die Suche nach seinem Widersacher Venceslau Pietro Pietra, der Macunaímas geliebten Talisman Muiraquitã geklaut hat, in den Großstadtdschungel der brasilianischen Industriemetropole São Paulo, zu den Antipoden seiner bisherigen Welt.

Es gelingt ihm zwar, seinen Widersacher in einen Topf voller kochender Makkaroni zu stürzen, worauf dieser dann von seiner kannibalischen Gattin verspeist wird. ("Es fehlt Käse", sollen die letzten Worte des Schurken gewesen sein!) Doch zurück in seiner Heimat, dem Dschungel, widerfährt ihm schreckliches: er wird von Piranhas halb verspeist und sein Talisman von einem Caiman auf immer und ewig verschluckt. Untröstlich über sein Schicksal beschließt er, in den Himmel aufzusteigen und sich in das Sternzeichen des Großen Bären zu verwandeln.


"Wenn der Geier Pech hat, kackt der unten auf den oben, diese Welt ist aus den Fugen, ich geh in den Himmel."


Andrade kann es sich nicht verkneifen, in Macunaíma nicht nur eine rein brasilianische Figur zu sehen, sondern gleich noch einen Rundumschlag gegen die lateinamerikanischen Brüder hinzulegt. Als Macunaíma in den Urwald zurückkehrt, macht er sich vergeblich auf die Suche nach seinem Gewissen, dass er vor der Reise in die große Stadt auf einer Insel im Rio Negro versteckt hatte. Doch der Verlust seines Gewissens scheint ihn wenig zu betrüben:


"So ergriff der Held das Gewissen eines Hispano-Amerikaners, schob es in den Kopf und gab sich auch damit zufrieden."

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