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spanien: Fuente de Cantos - zu Besuch im Geburtsort des genialen Barockmalers Zurbarán
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Wie lange brennt der Wald noch?
Brasilien vor der Klimakonferenz in Paris
THOMAS MILZ
[art. 2]
mexiko: Santa Anna und das Schicksal Mexikos
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
uruguay: Kultur-Metropole Montevideo (Teil 2)
Der Karneval, die schönen und andere Künste
LARS BORCHERT
[art. 4]
sehen (1): Terra X: Freibeuter der Meere
Dreiteilige Piraterie-Dokumentationsreihe / Dez. 2015 im ZDF
[kol_1]
sehen (2): Argentinien vor den Wahlen / Geraubte Kinder
Mediathek des ZDF
[kol. 2]
hopfiges: Venezuela muss Ice und Light
Bierpuncherei als Kulturverfall
DIRK KLAIBER
[kol. 3]





[art_1] Spanien: Fuente de Cantos - zu Besuch im Geburtsort des genialen Barockmalers Zurbarán
 
Vor ein paar Wochen empfing die Stadt Düsseldorf hohen Besuch: Königin Leticia von Spanien eröffnete eine Kunstausstellung, die anlässlich des 350. Todesjahres von Francisco de Zurbarán (1598 - 1664) konzipiert wurde, rund 70 seiner Werke aus aller Welt vereint und vorher in Madrid zu sehen war. Mit der Konzeption dieser Sonderschau ist der Stadt Düsseldorf, die ansonsten im ewigen Schatten Kölns nicht gerade als Kunststadt berühmt ist, ein großer Wurf gelungen.

Von den Top Ten der besten Barockmaler Europas kam die Hälfte aus Sevilla oder gehörte der Sevillaner Malerschule an. Velázquez, Murillo, Valdés Leal und Francisco de Herrera waren gebürtige Sevillaner, während Francisco de Zurbarán zwar fast sein ganzes Leben in Spaniens Malermetropole Sevilla verbrachte, aber nicht dort geboren wurde. Sein Geburtsort ist ein kleines Dorf im Süden der Extremadura, das wir dem großen Meister zu Ehren jetzt besuchen werden.

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Wenn man sich dem Ort über die Vía de la Plata wandernd nähert, sieht Fuente de Cantos aus der Ferne aus wie viele Dörfer in den einsamen Weiten der südlichen Extremadura, die zu den am dünnsten besiedelten Regionen Europas gehört. Nur die Dorfkirche des Provinznestes mit 5000 Einwohnern wirkt schon von außen größer und prächtiger als in den Nachbardörfern. Ansonsten das Übliche: enge weiße Gassen öffnen sich ereignislos und leicht verschlafen den Neuankömmlingen, das Tempo ist äußerst entschleunigt und auch das halbe Dutzend Störche auf dem Kirchturm lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Hier also wurde das rätselhafte Genie Zurbarán im Jahr 1598 geboren, suchte allerdings sein Glück in Sevilla, noch bevor er volljährig war.

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Sevilla, das bedeutende Zentrum der Barockmalerei, beklagt sich heute sehr, dass es als Heimatstadt des größten aller Maler (Diego de Velázquez wurde hier ein Jahr nach Zurbarán geboren) nur drei kümmerliche Werke des Genies vorzeigen kann. Fuente de Cantos hat es noch viel härter getroffen: kein einziges Gemälde des größten Sohnes der Region, Francisco de Zurbarán, lässt sich hier finden. Seine bedeutendsten Werke befinden sich heute im Museo de Bellas Artes von Sevilla, im Kloster Guadalupe im Osten der Extremadura sowie verstreut in aller Welt (in den Museen Prado oder Thyssen-Bornemisza, Madrid; im Louvre, Paris; in der National Gallery, London; in der Hispanic Society, New York; in der Kathedrale von Sevilla, in den Sevillaner Kirchen San Esteban oder La Magdalena etc.).

Doch ist man in Fuente de Cantos sehr bemüht, auch ohne Demonstration eines Originals das Andenken an Zurbarán lebendig zu halten. Sein Geburtshaus in der Calle Águilas 37 kann wegen Restaurierung zur Zeit nicht besichtigt werden. Aber gegenüber der Kirche im "Centro Zurbarán" präsentiert man umfassende Informationen über Leben und Werk des Maestro und die z.T. sehr sehenswerten Ergebnisse eines jedes Jahr neu ausgeschriebenen "Mal-Wettbewerbs auf Zurbaráns Spuren". Alle Zurbarán-Fans sind aufgerufen, sich mit selbst gemalten Werken um den von der Gemeinde ausgeschriebenen Preis zu bewerben. Ausgewählte Werke des Wettbewerbs werden hier im Centro präsentiert und es ist alles dabei - von detailgetreuen Kopien eines Zurbarán-Gemäldes über drollige Kinderzeichnungen bis hin zu innovativen Avantgarde-Kreationen, die sich durch irgendein Motiv Zurbaráns inspiriert fühlten. Für Jugendliche aus der Region wird dieses Haus ihre erste, vielleicht entscheidende Begegnung mit Kultur und kunsthistorischer Wissensvermittlung sein.

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Stolz bringt die sympathische Studentin jedem Besucher das Konzept dieses ambitionierten dörflichen Kunstzentrums näher und erklärt mit jugendlichem Enthusiasmus, was Zurbarán auch im 21. Jahrhundert trotz vieler Vorurteile gegen ihn (und die Kunst des Barocks im allgemeinen) modern und sehenswert macht. Denn in der Moderne wurde Francisco de Zurbarán von der Kritik oft ähnlich ungerecht behandelt wie andere wichtige Barockmaler (z.B. Murillo). Dieselben Kunsthistoriker, die den vielseitig virtuosen Murillo in die Ecke des Puttengetümmels und der Madonnenserien stellten, reduzierten Zurbarán auf das Label "Maler der Mönche". In der Tat rückte das düstere Genie aus Fuente de Cantos Dutzende von Heiligen inmitten der Finsternis der Welt ins beste Licht, strahlte sie an mit unsichtbaren Lichtquellen, beeinflusst vom Chiaroscuro-Stil Caravaggios.

Natürlich war Zurbarán religiös, er musste es sein. Aber er malte das, was Auftraggeber bestellten und wer es nicht schaffte, dauerhaft einer von drei oder vier königlichen Hofmalern zu werden (wie sein Freund Velázquez), musste eben Heilige, Madonnen und Mönche für reiche Klöster und Wallfahrtskirchen malen. Und dabei stellt sich die Frage, was die größere künstlerische Herausforderung war: hundert verschiedene Mönche in den gleichen weißen Kutten, aber mit Blicken in verschiedenen Stadien meditativer Versenkung darzustellen oder hundertmal denselben König in hundert verschiedenen Gewändern?

Für Zurbarán gilt: egal, wer in einem von ihm gemalten Gewand steckte - niemand konnte Kleidungsstoffe so malen wie er. Die kostbaren Roben seiner adligen Heiligen erscheinen wie auf Fotos. Jedes Detail, jede Falte im Stoff, jede Perle, jeder gestickte Schnörkel eines Samtumhangs wird naturgetreu wiedergegeben. Diese naturalistische Darstellungsweise war zwar ein Markenzeichen des Sevillaner Barocks, aber außer Velázquez konnte niemand in Sevilla diese überbordende Fülle kleinster Teile perfekter malen als Zurbarán. Der Titel der Düsseldorfer Ausstellung "Meister der Details" ist also wohl gewählt.

Seine weiblichen Märtyrerinnen und Heiligen präsentiert er, anders als seine Mönche, nicht im asketischen Büßergewand, sondern fast wie aristokratische andalusische Models auf dem Laufsteg, dem großen Welttheater. "Santa Dorotea" und "Santa Casilda" gehören zu seinen gelungensten Porträts heiliger Damen in Prunkgewändern, in denen Seidentücher in eleganten Farben, Goldbrokat und Perlenstickerei um die Wette glänzen.

Ein interessanter Widerspruch zwischen innerer Haltung und äußerer Darbietung, der sich in vielen solcher Porträts wiederholt: sehr ernste und selbstbewusste Frauengestalten in Posen der Demut und aufopfernder Bescheidenheit, aber gewandet wie Königinnen.

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Und Zurbarán war vor allem ein Meister der Farbe Weiß. Kein anderer Maler hat dieser Farbe so viele Nuancen und Schattierungen abgewinnen können. Bei Zurbarán ist Weiß nicht eine, sondern tausend Farben. Das vergilbte Weiß einer alten Schriftrolle, bei der jeder Knick exakt gemalt ist, das wächserne Weiß der Mönchskutten, durchzogen von feinen Schatten der Falten in der groben Wolle, das gräuliche Weiß des Leichnams Christi am Kreuz, das makellos strahlende Ultra-Weiß seiner Heiligengewänder. Und ja, vor allem ist Weiß bei ihm inneres Licht, die Farbe der Heiligkeit, Symbol der Ewigkeit. In seinen größten Meisterwerken, der "Apotheose des heiligen Thomas von Aquin" (1631, Museum der Schönen Künste, Sevilla), der Mönchsgruppe unter dem Mantel der "Virgen de las Cuevas", dem "Gekreuzigten Christus" (1644/1655, beide ebenfalls in Sevilla) und dem "Begräbnis des heiligen Bonaventura" (1629, Louvre, Paris) leuchtet Zurbaráns Weiß der Heiligen und Mönchskutten so überirdisch von innen, dass es wie ein Echo geschickt aus der Lichtwelt des Jenseits nicht nur das Bild selbst, sondern gar den Raum umher erhellt.

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Weiß ist die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod - und egal, ob der Betrachter daran glaubt oder nicht, dies ist Zurbaráns Vermächtnis.

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Und Fuente de Cantos, sein bescheidener Geburtsort, lohnt auch ohne Originalgemälde einen Besuch. Der Hochaltar aus dem 16. Jahrhundert in der Dorfkirche wäre einer Kathedrale würdig und die herb schöne Landschaft der Extremadura ringsumher mit ihren endlosen, von Licht durchfluteten Hainen von Steineichen ist ein Kunstwerk, das in seiner ewigen Harmonie keine Maler braucht, sondern Maler hervor bringt.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Centro Zurbarán in Fuente de Cantos: Eintritt frei, Öffnungszeiten 10 - 14 Uhr und 16 - 19 Uhr (außer montags), im Sommer bis 20 Uhr.

(Pilger)herberge in Fuente de Cantos: El Zaguán de la Plata, C. Llerena Nr. 40, Tel. 678-277716
Eine Villa im Finca-Stil mit paradiesischem Garten, Pool und Terrasse, im Anbau ein kleines Landwirtschaftsmuseum, das gern gezeigt wird von den sehr gastfreundlichen Besitzern, die einen Gast, der ihnen sympathisch ist, spontan zu einem guten Rotwein einladen. Zudem ist Benutzung von Küche und Internet sowie Waschmaschine/ Wäschetrockner kostenlos. Übernachtung 18 Euro im Einzelzimmer, 12 Euro im Mehrbettzimmer.

Restaurant El Gato: zweimal vorhanden: an der N630 bzw. Calle Real 37, bietet preisgünstige und köstliche Menüs, zu empfehlen natürlich alles vom schwarzen Schwein, z.B. "Secreto Ibérico"

Stiftung Museum Kunstpalast Düsseldorf: "Zurbarán - Meister der Details" vom 10.10.2015 bis 31.01.2016.
Adresse: Ehrenhof 4-5
D 40479 Düsseldorf
T +49 211 566 42 100
info@smkp.de
www.smkp.de

Museo de Bellas Artes (Sevilla): http://www.juntadeandalucia.es/cultura/museos/MBASE/



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

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[art_2] Brasilien: Wie lange brennt der Wald noch?
Brasilien vor der Klimakonferenz in Paris

Schon von weitem sieht man die grauen Wolken in den Himmel aufsteigen. Es brennt mal wieder in Brasilien. Buschfeuer verkünden die Ankunft der Agrargrenze, die sich immer tiefer in den Amazonas-Wald hineinfrisst.


Zwar ist es Brasilien gelungen, die Abholzung des größten Regenwaldes der Welt in den letzten zehn Jahren von 20.000 Quadratkilometern auf nur noch 5.000 Quadratkilometer zu senken. Doch noch immer sind illegale Holzfäller, Goldsucher, Viehbauern und Großgrundbesitzer aktiv dabei, die Wälder auszuplündern und in landwirtschaftlich nutzbaren Grund und Boden umzuwandeln.

Meist läuft dies nach immer dem gleichen Schema ab: zuerst kommen die Holzhändler, die die Edelhölzer schlagen und abtransportieren. Der Rest des Waldes wird daraufhin von Bauern mittels Brandrodung dem Erdboden gleichgemacht. Was den Brand überlebt, wird mit Traktoren herausgerissen. Danach dient der neu entstandene Acker als Viehwiese. Anschließend wird meist zuerst Mais, danach Soja angebaut.


In den letzten Jahren hat die verbesserte Satellitentechnologie dazu geführt, das riesige Gebiet effizienter überwacht und Rodungen frühzeitig erkannt werden können. Doch den illegalen Kahlschlag komplett zu unterbindenden ist schwierig. Die Bürokratie kommt nicht nach, die verworrenen Eigentumsverhältnisse und Markierungen von Grundstücken, Naturparks und Indigenenreservaten zu regeln.

Staatspräsidentin Dilma Rousseff hat zuletzt erklärt, die illegale Abholzung bis 2030 auf Null zu senken. Während manche Umweltaktivisten dies als zu wenig ambitioniert ansehen, hegen andere Zweifel an der Umsetzung innerhalb dieses "kurzen" Zeitraumes. Die Regelung offener juristischer Fragen in der Region könnte noch bis 2060 andauern, glauben sie.

Auf der Ende November in Paris stattfindenden Klimakonferenz wird Brasilien sein Programm zur Senkung der CO2-Emission nochmals vorstellen. Die Brandrodungen waren hierbei stets für einen großen Anteil der brasilianischen Emissionen verantwortlich. Im Jahr 2005 verursachte die Waldvernichtung 58% aller Emissionen. Im Jahre 2012, als die Abholzung erstmals auf 5.000 Quadratkilometer gesenkt werden konnte, waren es nur noch 15%.


Nun geht es jedoch darum, den Trend komplett umzudrehen. Statt ausschließlich die illegale Abholzung zu bekämpfen, gilt es, verloren gegangene Flächen wieder herzustellen. So hat Präsidentin Dilma Rousseff zuletzt auch die Aufforstung von 12 Millionen Hektar Land bis 2030 versprochen. Brasiliens Urwälder, die als grüne Lunge für das weltweite Klima mitverantwortlich sind, würden es ihr danken.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Mexiko: Santa Anna und das Schicksal Mexikos
 
Es begab sich im Jahre 1812, zu der Zeit als Mexiko noch "Neu-Spanien" hieß, daß der spanische Gesandte Luis de Onís seinem Vizekönig in der Hauptstadt über ein gar merkwürdiges Angebot berichtete. Die Regierung der USA habe ihn in Washington davon in Kenntnis gesetzt, daß sie alle Gebiete Neu-Spaniens (Mexikos) nördlich des Río Grande und vom Schnittpunkt desselben mit dem 31. Breitengrad ausgehend bis zum Pazifik "erwerben" wolle. Um dieser Absicht Nachdruck zu verleihen, präsentierten verschiedene US-Regierungen zunächst Spanien und danach dem unabhängig gewordenen Mexiko Kaufangebote für seine "Nordgebiete": die heutigen US-Staaten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, New Mexico, Texas sowie Teile von Colorado und Kansas. Alle Offerten der USA wurden entrüstet abgelehnt.

Doch nach seiner Unabhängigkeit wurde Mexiko zunächst noch nicht von den expansionslüsternen USA bedroht, sondern von einer europäischen Macht: Frankreich. Im "Kuchenkrieg" von 1838 spielten sich während einer kurzen französischen Invasion ein paar Scharmützel ab, aus denen der General Don Antonio López de Santa Anna (1794 – 1876) als "großer Held des Vaterlandes" hervorging. Santa Anna stellte einen Schußwechsel mit den schon fliehenden, im Rückzug befindlichen Franzosen als grandiosen Sieg dar. In diesem militärischen Geplänkel traf ihn eine verirrte Kugel in den Unterschenkel, der darauf amputiert werden mußte. Dies brachte den General auf die bizarre Idee, für das verlorene Beinsegment ein Grabmonument bauen zu lassen. Und so geschah es. Sein Unterschenkel wurde – begleitet von den Klängen einer Blaskapelle – mit militärischen Ehren bestattet und fortan als vaterländische "Reliquie" verehrt. Der Personenkult um Santa Anna und seine geopferte Beinhälfte trieb seltsame Blüten. Man verlieh ihm Beinamen wie "Salvador de la Patria" oder "Nuevo Mesías". Er selbst zog es vor, sich schlicht "Napoleón" zu nennen.

Santa Anna wurde insgesamt elf Mal Präsident von Mexiko, aber regierte fast nie eine ganze Amtszeit. Fünf Mal schickte man ihn ins "lebenslange" Exil.
Im Verlauf des Jahres 1845 hatte sich das Verhältnis zwischen Mexiko und den USA ständig verschlechtert und ein drohender Krieg lag in der Luft. Texas hatte seine Unabhängigkeit von Mexiko erklärt und votierte nun – nach massiver Einflußnahme der USA – für eine Annexion durch die USA. Dies konnte Mexiko unmöglich akzeptieren und der Kriegsausbruch stand unmittelbar bevor.

Währenddessen führte Santa Anna seit Anfang 1846 in seinem Exil in Havanna geheime Verhandlungen mit Abgesandten des US-Präsidenten Polk und schlug ihm einen dubiosen Deal vor: Wenn die USA ihm dazu verhelfen würden, in Mexiko wieder die Macht zu ergreifen, könnte er ihnen einen Schlachtplan zur Eroberung seines Landes liefern und würde als mexikanischer Oberbefehlshaber insgeheim mit den USA kooperieren und dafür sorgen, daß sie die in ihrer "Wunschliste" seit langem begehrten mexikanischen Nordgebiete erhalten würden. Für sein Entgegenkommen erwarte er einen kleinen Obulus von 30 Mio. US-$.

Mit der wohl abenteuerlichsten Legitimation, mit der je ein Krieg auf dem amerikanischen Kontinent eröffnet wurde, wurden die USA aktiv. Im April 1846 besetzte eine US-Armee mexikanisches Siedlungsgebiet nördlich des Río Grande, das ihrer Interpretation nach zu Texas gehörte, das inzwischen als US-Staat "aufgenommen" worden war. Der Fluß bestand aber nur in der Einbildungskraft der US-Regierung als Grenze, während die demografische Grenze zwischen angelsächsischen und mexikanischen Siedlern de facto deutlich weiter nördlich verlief. Und zwar dort wo die Sprachgrenze heute noch verläuft: auf der Linie von San Antonio zum Río Pecos. Die Absicht der USA war klar. Man wollte Mexiko durch die Okkupation solange provozieren, bis die Mexikaner angriffen, um dann den größten Eroberungskrieg im Amerika des 19. Jahrhunderts als "Verteidigungskrieg" darstellen zu können! Diese Rechnung ging (fast) auf, denn am 25. April 1846 fielen die ersten Schüsse gegen die US-Armee, woraufhin am 13. Mai die US-Regierung Mexiko den Krieg erklärte, mit den Worten: "Mexiko vergoß amerikanisches Blut auf amerikanischem Boden." (Amerikanisch mag dieser Boden gewesen sein, aber mit Sicherheit nicht US-amerikanisch). Aus dem Tagebuch des scheinheiligen US-Präsidenten Polk, das einen Quellentext von heute unschätzbarem Wert darstellt, geht hervor, daß er die Kriegserklärung schon Monate vorher geplant und schon Tage vor dem mexikanischen "Angriff" fertig formuliert in der Schublade liegen hatte. Er beklagte sich sogar, daß die Mexikaner trotz aller Provokationen "noch immer nicht schießen wollten." Es konnte also keinen Zweifel am enormen Kriegswillen der USA geben.

Santa Anna wurde – wie in den Geheimverhandlungen mit Polk vereinbart – durch die US-Seeblockade vor Veracruz geschleust und man verhalf ihm damit zu seiner Rückkehr. Am 15. September 1846 wurde er beim Einzug in die Hauptstadt wieder als "Salvador de la Patria" gefeiert. Derweil gingen die USA exakt nach dem von ihm empfohlenen Schlachtplan vor: vor den mexikanischen Häfen wird eine Seeblockade errichtet und im Norden stößt man über Monterrey nach Saltillo vor. Präsident Santa Anna betrachtet Mexiko wieder als seine "finca privada" und als General führte er seine Truppen zu Niederlagen, während er gleichzeitig weiter geheime Verhandlungen mit dem Kriegsgegner unternahm. Ob Santa Anna die entscheidenden Schlachten des Krieges absichtlich verlor, darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Es ist wahrscheinlich, daß er ein Doppelspiel betrieb. Durch seine Geheimverhandlungen wollte er die US-Regierung verwirren, er dachte nicht daran, sein Versprechen einer schnellen Niederlage Mexikos zu erfüllen, sondern versuchte, diese abzuwenden.

Aber nach der Landung von US-Truppen bei Veracruz war der Krieg eigentlich schon entschieden, Santa Anna kämpfte trotzdem weiter, um später als "Patriot" zu gelten. Als am 30. Mai 1848 der Friedensvertrag von Guadalupe-Hidalgo ratifiziert wird, durch den die USA als Siegermacht sich 60 % (!) des Staatsgebiets von Mexiko einverleiben, protestiert Santa Anna heftig gegen diese Friedensbedingungen, obwohl er sie doch selbst insgeheim vorgeschlagen hatte. Dies nennt man wohl kaum Patriotismus, sondern Perfidie.

Der Rest ist bekannt: die Machtverhältnisse auf dem amerikanischen Kontinent wurden entscheidend verschoben, die USA wurden zur Weltmacht zwischen zwei Weltmeeren und reklamierten die Begriffe "Amerika" und "amerikanisch" fortan für sich. Durch die Nordgebiete Mexikos vergrößerten sie ihr Staatsgebiet um 2 Mio. Quadratkilometer, wofür sie der mexikanischen Regierung die lächerliche Summe von 15 Mio. US-$ zahlten. Die Mexikaner, die in Santa Fe, San Francisco und Los Angeles leb(t)en, wurden zu Fremden im eigenen Land und damals wie heute diskriminiert, die Indianer des Südwestens nahezu ausgerottet.

Die Perfidie des korrupten Santa Anna, der Mexikos Schicksal im vergangenen Jahrhundert immer wieder verhängnisvoll mitbestimmte, wurde noch übertroffen von der unglaublichen Scheinheiligkeit des US-Präsidenten Polk. Dieser kommentierte den US-Sieg über Mexiko mit den Worten: "Die Grenzen der USA auszudehnen heißt die Grenzen der Herrschaft des Friedens auszudehnen."

Text: Berthold Volberg

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[art_4] Uruguay: Kultur-Metropole Montevideo (Teil 2)
Der Karneval, die schönen und andere Künste
 
Das kulturelle Leben der Hauptstadt Uruguays ist vielfältig, und das das ganze Jahr über: Theater und Konzerte, Museen, Galerien und Ausstellungen, zahlreiche Musikumzüge, Tanzvorführungen und -veranstaltungen, Feste und – natürlich der Karneval. Er wird in Montevideo mehr als einen Monat lang mit täglichen Straßen- und Bühnenauftritten ("Tablados"), auch im Teatro de Verano im Parque Rodó, gefeiert und ist damit zeitlich gesehen der längste der Welt. Die ganze Stadt befindet sich im Rausch, wenn die großen Paraden ähnlich der Río de Janeiros durch die Straßen ziehen (allerdings ohne nackte Brüste und ohne meterhohe Wagen), wenn auf den öffentlichen Plätzen, in den Parks, Bars und an anderen Orten spontan Spektakel improvisiert werden oder wenn bei dem großen offiziellen Wettbewerb die Menschen in unterschiedlichen Kategorien wie der Murga (einer Mischung aus Musik, Gesang, Verkleidung und schwarzem politischen Humor) und den Lubolos (einer afrikanisch geprägten farbenprächtigen Musikpantomime) gegeneinander antreten.


Foto: Karneval in Montevideo / Copyright: Embajada del Uruguay

Während der Karneval (nicht nur in Montevideo, auch in vielen anderen Städten des Landes) ausschließlich im Sommer stattfindet, gibt es Candombe-Umzüge das ganze Jahr über samstags und sonntags in einigen Vierteln der Stadt (vor allem in Barrio Sur und Palermo). Diese aus Afrika stammenden Trommler- und Tänzer-Umzüge (ursprünglich veranstaltet zur Austreibung von Krankheiten und anderen Übeln) sind neben dem Tango die wichtigste musikalisch-kulturelle Ausdrucksform der Uruguayos und zählen seit 2009 zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO. Zu ihren traditionellen Figuren gehören die molembas de ebano (Ebenholzgazellen, gemeint sind attraktive Tänzerinnen, die für Jugend und Lebensfreude stehen), die Matriarchin mama vieja (alte Mutter) und ihr Ehemann, der gramillero (Medizinmann), sowie der escobero bzw. bastonero (Stabmann). Zum Rhythmus der Trommeln und begleitet von Fahnenschwingern ziehen die Figuren durch die Straßen und Bars.

Mindestens genauso populär wie Candombe und Tango ist die größte Bühne der Stadt, zugleich das zweitälteste Theater Lateinamerikas: das Teatro Solís am Rande der Ciudad Vieja. 1856 mit einer Oper von Giuseppe Verdi eingeweiht, wurde das Theater 2004 nach sechsjähriger Renovierung wiedereröffnet. Alles, was in der Theater-, Konzert- und Opernwelt Rang und Namen hat, tritt hier auf. Aus gutem Grund wird das Haus im selben Atemzug mit dem Teatro Colón in Buenos Aires oder dem legendären Opernhaus von Manaus im brasilianischen Regenwald genannt.


Foto: Montevideo, eine Stadt im Rausch / Copyright: Embajada del Uruguay

Neben dem Teatro Solís und anderen kleineren Theatern finden sich in Montevideo zahlreiche Kinos (meist in den "Shopping" genannten Kaufhäusern beheimatet) sowie eine Cinemathek. Diese Cinemateca Uruguaya ist der wichtigste alternative Filmclub des Landes und zeigt pro Monat zahlreiche Filme unterschiedlichster Regisseure und Nationalitäten zu günstigen Preisen.

Die große Zahl wichtiger Museen in Montevideo ist beeindruckend: Sei es das Museum für plastische Kunst oder das Museum zeitgenössischer Kunst (Espacio de Arte Contemporáneo), das in einem ehemaligen Gefängnis beheimatet ist, sei es das Museum für visuelle Kunst (Museo Nacional de Arte Visuales) im Rodó-Park oder das dem Maler Torres García gewidmete Museum in der Altstadt – sie alle sind ebenso faszinierend wie die historischen Museen der Stadt, zu denen das Fußball-Museum im Estadio Centenario (hier fand 1930 die erste Fußball-WM überhaupt statt) und das Gaucho-Museum gehören.

Text: Lars Borchert

Reiseführer Uruguay: Dieser Text ist dem Reiseführer Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken erschienen im Reise Know-how Verlag entnommen. Wer nicht bis zum nächsten Caiman warten, sondern möglichst schnell mehr über Uruguay erfahren möchte, kann sich diesen Reiseführer für 16,95 Euro unter info@larsborchert.com persönlich beim Autor bestellen oder im gut sortierten Buchhandel kaufen.

Titel: Uruguay – Handbuch für individuelles Entdecken
Autor: Lars Borchert
ISBN: 978-3831725908
Seiten: 300
Verlag: Reise Know-How
1. Auflage 08/2015

[druckversion ed 11/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: uruguay]





[kol_1] Sehen: Terra X: Freibeuter der Meere
Dreiteilige Piraterie-Dokumentationsreihe / Dez. 2015 im ZDF
 
Piraten sind die Helden unserer Jugend: todesmutige Freibeuter, die den höchsten Wellen und übermächtigen Feinden trotzen. Aber Piraten spielen auch immer eine wichtige Rolle im politischen und ökonomischen Gefüge ihrer jeweiligen Zeit – von Sir Francis Drake, über die Korsaren im nördlichen Afrika bis zu den Offizieren der "Wolf", einem deutschen Kaperfahrer im Ersten Weltkrieg.

Die dreiteilige Dokumentation "Freibeuter der Meere" spannt einen weiten Bogen und zeigt, wie Piraten die große Politik beeinflussten. 

"Terra X: Freibeuter der Meere - Sir Francis Drake": Drake ist unter Deck und feiert mit den Sklaven. Auf dem Tisch liegt ein Schwert.
Foto 1: Eine Zweckfreundschaft: Drake gewinnt die Sympathie der Sklaven der Karibik.

Copyright: ZDF/Bastian Barenbrock


Teil 1: Die Korsaren
Sonntag, 6. Dezember 2015, 19.30 Uhr

In der ersten Folge erzählt "Terra X" von muslimischen Piraten, die vor Europas Küsten unzählige Weiße in die Sklaverei verschleppen: die berüchtigten Korsaren.

"Terra X: Freibeuter der Meere - Sir Francis Drake": Königin Elisabeth I., im Kreise ihrer Berater, spricht herablassend mit dem spanischen Gesandten.
Foto 2: Erzfeinde: Königin Elisabeth I. mit ihren Beratern im Gespräch mit dem Gesandten Spaniens.

Copyright: ZDF/Bastian Barenbrock


Teil 2: Sir Francis Drake
Sonntag, 13. Dezember 2015, 19.30 Uhr

Bis zum 6. November 2015 steht der 2. Teil noch in der arte-Mediathek.

Der zweite Teil der „Terra X“-Reihe erzählt Geschichte von Sir Francis Drake und wie seine Raubzüge zur Grundlage des British Empire wurden.

Ein Pirat dreht am Rad der Geschichte. Das gilt für Francis Drake. Er rettet Königin Elisabeth vor dem Bankrott, schwächt die spanische Seemacht, macht den Weg frei für die Kolonien. Drake steht am Anfang unseres Turbokapitalismus – effizient und erfolgreich.

Dabei kam Francis Drake aus ärmlichsten Verhältnissen. Als Kind einer protestantischen Familie, als Kind von "Ketzern" ist er immer auf der Hut vor den Häschern der katholischen Königin Mary Tudor. Erst unter Königin Elisabeth genießt er Sicherheit. Ein Glück: Er konnte lesen und schreiben.

"Terra X: Freibeuter der Meere - Sir Francis Drake": Der junge Francis Drake sitzt nachdenklich am Schreibtisch. In seiner Hand hält er einen Stift, vor ihm liegt ein Schreibheft.
Foto 3: Ein Junge will seiner Armut entfliehen: Francis Drake lernt lesen und schreiben.

Copyright: ZDF/Bastian Barenbrock


Auf dem Schiff seines Onkels lernt er das Seefahrerhandwerk. Bald macht er sich selbständig – und seine Klugheit, sein Mut und seine Weitsicht bringen ihm nicht nur die absolute Treue seiner Leute, sondern auch die Gönnerschaft der Königin ein. Elisabeth I. braucht ihn für ihre Pläne: Die Schwächung der Großmacht Spanien.

„Terra X“ analysiert, wie Drake ans Werk geht, wie er den Spaniern die Schätze abjagt und mit einer Weltumseglung die englische Staatskasse saniert. "Terra X" besucht Drakes Schloss bei Plymouth, spricht mit britischen und amerikanischen Drake-Spezialisten, die ihn als einen typischen Vertreter der Neuzeit, ja der Moderne sehen: ein rationaler Geistesmensch, der die überkommenen Machtstrukturen des 16. Jahrhunderts kurzerhand für erledigt erklärte und die Welt nach seinen Vorstellungen ordnete.

Ein echter Freibeuter am Beginn eines neuen Zeitalters: der Zeit des Kolonialismus und des Kapitalismus.


Foto 4: Sir Francis Drake am Steuerrad der "Golden Hinde", seinem Flaggschiff.

Copyright: ZDF/Bastian Barenbrock


3. Die Piraten des Kaisers
Sonntag, 20. Dezember 2015, 19.30 Uhr


Im dritten Teil geht es um die dramatische Fahrt der „Wolf“, einem Kaperfahrer der deutschen Marine im Ersten Weltkrieg.

Text + Fotos: ZDF

[druckversion ed 11/2015] / [druckversion artikel]





[kol_2] Sehen: Argentinien vor den Wahlen / Geraubte Kinder
Mediathek des ZDF
 
Am 22. November 2015 wählt Argentinien einen neuen Präsidenten – die Ära der Kirchners geht zu Ende. Doch nicht nur deshalb stellt sich die Frage: Wohin steuert das Land? Das erkundet ZDF-Südamerika-Korrespondent Andreas Wunn in auslandsjournal – die doku: Evitas Erben – Argentinien sucht seine Zukunft.

Die Dokumentation zeigt den politischen Gemütszustand Argentiniens gut 30 Jahre nach Ende der Diktatur und nach zuletzt zwölf Jahren linkspopulistischem "Kirchnerismus". Vier Jahre lang, von 2003 bis 2007, regierte Nestor Kirchner in der Casa Rosada, dem rosafarbenen Präsidentenpalast von Buenos Aires. Danach folgte ihm acht Jahre lang seine Frau und heutige Witwe Cristina Fernández de Kirchner im Amt.

Sie hinterlässt ein politisch gespaltenes Land und ein verunsichertes Volk. Auch weil Argentinien nach dem großen Crash 2001 immer wieder vor dem wirtschaftlichen Abstieg steht.

Einen Blick zurück in die dunkle Ära der argentinischen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 wirft die Dokumentation Babys für die Junta – Argentiniens geraubte Kinder.

Damals verhaftete die Regierung massenhaft schwangere Frauen, entführte sie in geheime Krankenhäuser und zwang sie zur Geburt. 35 Jahre später begann eine symbolische Anklage vor Gericht in Buenos Aires – das Ergebnis eines endlosen Kampfes der Großmütter vom Plaza de Mayo.

Beide Filme sind in der ZDF-Mediathek kostenfrei abrufbar:
  1. Babys für die Junta
  2. auslandsjournal – die doku: Evitas Erben – Argentinien sucht seine Zukunft

Text + Fotos: ZDF

[druckversion ed 11/2015] / [druckversion artikel]






[kol_3] Hopfiges: Venezuela muss Ice und Light
Bierpuncherei als Kulturverfall

"Jung, huiuiuiui. Ich muss rasen."
Die Bedeutung dieser allmorgendlichen Worte hatte ich zwar schnell verstanden, ihre Relevanz aber nicht erkannt.
Für die damals 65–Jährige zählten der Frühstückskaffee – immer die gleiche Sorte, nicht zu schwach, auf keinen Fall aber zu stark –, die Frühstückszigarette – eine leichte Sorte wegen der Gesundheit – und ausreichend Bier – Hauptsache Kölsch, weil frisch und bekömmlich – zu den wichtigsten Dingen des täglichen Lebens. Die erste Tasse Kaffee begleitete das halbe Brötchen mit Erdbeermarmelade und das hart gekochte Ei, wobei das Eigelb immer in den Müll wanderte. Die zweite Tasse gehörte zur Zigarette. Meist folgte schon dem ersten Zug ein glückliches: "Jung, huiuiuiui. Ich muss se ausmachen."

Blieb das morgendliche "Jung, huiuiuiui. Ich muss rasen" aus, dann hatte Gertrud den ganzen Tag Beschwerden: "Jung, ich han ping."

Um 10.30 Uhr, nach dem Aufsetzen der Kartoffeln, folgte unser Ritual des ersten Biers zum Kniffelspiel. Je nachdem, ob ein huiuiuiui–Tag oder nicht, lautete Gertruds Ansage: "Jung, krich uns flott zwei Bier, die hammer uns verdient" oder "Jung, krich uns flott zwei Bier, ich han Not. Und sieh zu, dat ich beim Kniffeln gewinne, sonst hammer Stress."



Zivijahre heißen nicht umsonst Lehrjahre. Man lernt das Leben neu begreifen. Und so weiß ich heute, dass wenig im Leben über einen guten Kaffee und einen ausreichend Vorrat an nach Reinheitsgebot gebrautem Bier im Kühlschrank geht. Ach ja, und zu einer Zigarette morgens, wenn’s denn Not tut, sage ich auch nicht nein.

Venezuela
Wurde ich gefragt, warum nach Venezuela reisen, so hatte ich bislang spontan geantwortet, weil zu jeder Tageszeit an jeder Ecke ein hervorragender Kaffee wie auch ein wirklich gutes Bier erhältlich ist. Bis in das letzte Andendorf hinein wird der selbst kultivierte Kaffee in Gaggia–Espressomaschinen gebrüht. Er kann sich durchaus mit italienischem Kaffee messen. Auch das Bier kann sich sehen lassen. Immer und überall erhält man ein 0,22 Fläschchen Polar oder Regional. Größe, Temperatur, Geschmack und Alkoholgrad dem durchweg tropischen Temperaturen angepasst: Leicht, süffig, kalt und mit zwei Schlücken vernichtet.

Heute sage ich in Bezug auf Warum Venezuela?: Anakonda und Kaiman in Los Llanos, Seilbahn in den Anden, Tafelberge und Karibik. Und es gibt guten Kaffee und manchmal auch ein gutes Bier. Aber – seufz – nur noch manchmal.



Was ist geschehen?
Schuld sind die Mexikaner, die ihre widerliche Brühe, weltweit salonfähig gemacht haben. Durchsichtige Flaschen sind heute der Renner. Zu Beginn standen da, wo heute – bleiben wir ruhig in Deutschland – Hinz und Kunz gold in die Regale drängeln, ein paar vereinzelte Corona–Flaschen. Schön gesondert vom Bier fristeten sie ihr Dasein, damit das chemikalienverseuchte Zeug nicht auf den feinen Sud überschwappte.

Doch die Jahre vergingen, das Reinheitsgebot fiel, und Biermixgetränke wie auch Bierähnliches gehören heute mindestens genauso zum gutsortierten Sortiment in der Getränkeabteilung wie das gute alte Bier.

Über den weiten Umweg von Kontinenten erreichte die mexikanischen Punchereien dann auch Venezuela: Die beiden großen Brauereien sprangen auf den hippen Zug auf und brachten neben ihrem klassischen Polar bzw. Regional – beide werden heute La negra genannt – Light–, Ice– und weitere Varianten auf den Markt. Das war ja erstmal gar nicht weiter schlimm. Dann aber passierte Unglaubliches: Das Verständnis des Begriffes Bier erweiterte sich, sortierte sich und setzte sich anschließend neu zusammen. Und heute unterscheidet kaum noch ein Venezolaner, was er gerade trinkt: Bier ist Bier oder La negra ist Polar, Light ist Polar, Ice ist Polar oder La Negra ist Ice, Ice ist Light. Bestellt man heute una Polar am Kiosk, in der Bar oder einem Restaurant, weiß man nicht, was kommt: irgendetwas mit dem Namen Polar im Namen halt.



Das aber war ja noch gar nicht das Schlimmste. Heute wird einem auf die Order ¡La Negra! meist geantwortet: !No! La Azul (eine weitere light–Variante) oder ¡Sólo light! (es gibt nur light) oder ¡Pura Ice! (es gibt nur Ice). Und wenn dir das im dritten Laden passiert, guckst du nicht mehr nur blöd, sondern verzweifelt. Fällt der Blick dann noch auf die vom Polar Ice zermürbten Gestalten, fallen dir unweigerlich Gertruds Beschwerden ein: "Jung ich han Ping." Und dann ergreift dich die Panik und du flehst, dass dir auch ohne den Genuss von Bier am nächsten Morgen ein Huiuiuiui beschieden sein wird.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 11/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges]





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