ed 10/2010 : caiman.de

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brasilien: Dilma, übernehmen Sie!
Lulas rechte Hand vor dem Einzug in den Präsidentenpalast
THOMAS MILZ
[art. 1]

bolivien: Wassersparen in Bolivien
Zu Besuch in einer Grundschule in El Alto
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
ecuador: Der Vulkankrater von Quilotoa
ROBERT GAST
[art. 3]
mexiko: Marzipansärge, Entenjagd und Totenbrot
Die mexikanische Art, der Toten zu gedenken
ANNIKA WACHTER
[art. 4]
argentinien: Schao, schao
Argentinien ist nicht Lateinamerika. Oder doch?
ANDREAS DAUERER
[art. 5]
amor: Lichtgestalt für Sevilla
Macarena-Prozession vom 18. September 2010
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 1]
grenzfall: Brasilien - Absurde Kandidaten
THOMAS MILZ
[kol. 2]
erlesen: 1. Argentinien hören
2. Kleine Geschichte Argentiniens
TORSTEN EßER
[kol. 3]
filmankündigung: Im Oktober werden Wunder wahr
Komödie, Peru 2010
[tipp 1]
ausstellung: BLACK BOX ECUADOR
24.09.2010 - 22.10.2010, Berlin
[tipp 2] druckversion:

[gesamte ausgabe]




[art_1] Brasilien: Dilma, übernehmen Sie!
Lulas rechte Hand vor dem Einzug in den Präsidentenpalast
 
Wenn nicht noch etwas gründlich schief geht, wird Dilma Rousseff bereits im ersten Wahlgang am 3. Oktober zu Brasiliens Präsidentin gewählt werden. Ein Triumph ohne gleichen wäre ihr Sieg vor allem für ihren politischen Ziehvater, Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva. Der hätte die 62-jährige Tochter eines bulgarischen Einwanderers und dessen brasilianischer Frau damit aus dem Nichts ins höchste Staatsamt gehievt, ohne dass Dilma jemals zuvor einen Wahlkampf betrieben hätte. Auch das ist ungewöhnlich in Brasiliens politischem System, in dem man sich meist erst von einem Amt zum nächsten und durch die Parteiinstanzen nach oben wählen lassen muss. Doch am Sonntag könnte es die ehemalige Freiheitskämpferin auf Anhieb zur ersten Frau an der Spitze Brasiliens schaffen.



Als er Dilma zum ersten Mal traf, habe er sofort gewusst, dass sie die Richtige sei, betont Lula stets. Kurz vor seinem Amtsantritt 2003 tauchte Dilma, damals noch Energiesekretärin auf Landesebene in Rio Grande do Sul, lediglich mit einem Laptop bewaffnet im Präsidentenpalast auf und erklärte dem verblüfften Lula kurz und knapp, an was es denn in Brasiliens Energienetz so alles hapere. Der Präsident zögerte nicht lange und machte Dilma zu seiner Ministerin für Energie und Bergbau.

Die "Power-Point-Königin", wie man sie bald schon nannte, hatte eine Aufgabe nach ihrem Zuschnitt gefunden. "Technokratisch" sei sie veranlagt, lästerten viele, besessen sei sie im Jonglieren mit Zahlen. Und Angst hatte man vor ihr, die kein Blatt vor den Mund nahm und ihre Mitarbeiter gerne vor versammelter Mannschaft niedermachte. Manch ein Journalist überlegte zweimal, welche Frage er der resoluten Dame mit dem explosiven Temperament denn wohl zu stellen wagte.



"Absolut geradlinig" sei sie schon immer gewesen, berichten Mitarbeiter. In den 60er Jahren schloss sich Dilma einer radikalen Stalinistengruppe an, die den bewaffneten Kampf gegen das Militärregime aufnahm. Dieses sperrte die widerspenstige Guerrilheira ins Gefängnis und folterte sie. Nach dem Ende der Militärdiktatur half Dilma zunächst ihrem damaligen Ehemann bei dessen landespolitischen Aufstieg im Bundesstaat Rio Grande do Sul, bevor sie dort selber ihre politische Karriere begann. Erst 2001 trat sie in Lulas Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) ein, ohne jedoch parteiintern groß Karriere zu machen. So kam ihre Berufung zur Energie- und Bergbauministerin dann auch überraschend. Für die Öffentlichkeit und selbst für die eigene Partei war sie eine Unbekannte.

Dilmas große Stunde schlug mit der "Mensalão"-Krise, die 2005 beinahe die gesamte Regierung inklusive Präsident Lula hinweggefegt hätte. Ein Politiker der Regierungskoalition hatte gegenüber der Presse über ein Schmiergeldschema geplaudert, mit dessen Hilfe sich die Regierung die im Kongress fehlenden Stimmen gekauft haben sollte. Im Regierungslager stürzte daraufhin einer der PT-Granden nach dem anderen, während sich Staatschef Lula mit Hilfe einer tropikalen Version der Dolchstoßlegende gerade noch retten konnte. Der schmerzlichste Verlust war wohl das Ausscheiden Jose Dirceus, dem Mastermind der PT, der über mehr als 20 Jahre lang die Machtübernahme im Bund vorbereitet hatte.



Mit Dirceus Sturz wurde der Posten des Kanzleramtschefs frei. Und diesen übernahm Dilma, die nun für die Umsetzung der immer gigantischer werdenden Sozial- und Infrastrukturprogramme zuständig war. Spätestens nach dem Sturz des allmächtigen Finanzministers Antonio Palocci, Lulas Wunschkandidat für seine Nachfolge, dämmerte es dem Präsidenten, dass eigentlich nur noch Dilma als mögliche Kandidatin übrig blieb. So baute der Präsident die resolute Dame ab 2008 stetig zur Kandidatin auf. Lediglich ein Versuchsballon sei dies gewesen, munkelt man, denn bald schon wurde bekannt, dass Dilma an einem aggressiven Lymphdrüsenkrebs litt. Doch Lula hielt auch während der Krankheit an Dilma fest, verordnete ihr eine visuelle Generalüberholung inklusive einiger Schönheitsoperationen, schicker Anzüge und weich gespültem Diskurs. Vielleicht auch deshalb, weil sich Palocci entgegen aller Erwartungen nicht gänzlich von den Skandalvorwürfen gegen ihn befreien konnte. So blieb es also bei Dilma.

Nachdem diese Anfang 2010 angeblich völlig geheilt wieder auf die politische Bühne trat, gab es auch in den Umfragen kein Halten mehr. Dabei profitierte sie von Lulas unglaublichen Beliebtheitswerten jenseits der 80%. Dieser ließ wiederum keine Gelegenheit aus, seine Kanzleramtschefin über den grünen Klee zu loben. Auf den Wahlkampfbühnen des Landes wurde zwar schnell klar, dass die Technokratin Dilma kein Meister des Wortes ist wie etwa ihr Guru Lula. "Vielleicht bekommen wir ja so eine Präsidentin, die weniger redet und dafür mehr tut", unkte der Soziologe Demetrio Magnoli.



Doch für was Dilma Rousseff tatsächlich steht, welche Politik sie als Präsidentin verfolgen wird und ob sie sich vom dann Ex-Präsidenten Lula fernsteuern lassen wird, wie viele vermuten, steht in den Sternen. Brasilien kennt Dilma Rousseff nicht. Für viele ist sie lediglich "die Frau an Lulas Seite". Das mag bereits Grund genug sein, um ihr am 3. Oktober die Stimme zu geben. Und solange dann alles so bleibt wie unter Lula, werden die meisten zufrieden sein.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Bolivien: Wassersparen in Bolivien
Zu Besuch in einer Grundschule in El Alto
 
Bei uns in Deutschland regnet es öfter, als manch einem lieb ist, zumindest jetzt im Frühling. Im Sommer wird es mit dem Wasser manchmal etwas knapper, dann steht das Wasser in den Stauseen niedriger und man soll nicht ganz so viel Wasser zum Blumen gießen verwenden. Aber das ist nichts im Vergleich zu der Wasserknappheit, die in anderen Ländern herrscht. In Bolivien wird das Thema Wassersparen sogar in der Schule behandelt.

"Drei Namen hat das Wasser", singen die Kinder und zählen in ihrem Lied auf, wie Wasser in den indianischen Sprachen, die man in Bolivien spricht, genannt wird. In ihrem Unterricht dreht sich alles rund ums Wasser. Wasser, das hat Paula gelernt, ist sehr, sehr wichtig: "Wir können das Wasser trinken und auch sonst viele Dinge damit machen, zum Beispiel die Zähne putzen. Menschen und Tiere brauchen Wasser, denn ohne Wasser könnten wir nicht leben."

Paula ist 9 Jahre alt und geht in die 3. Klasse in El Alto in Bolivien. El Alto bedeutet soviel wie "sehr hoch". Und das beschreibt die Stadt ziemlich genau, liegt sie doch inmitten der bolivianischen Anden. Fast alle Häuser in El Alto sind aus roten, unverputzten Ziegelsteinen gebaut. Sie sind klein und nicht besonders schön - und man sieht gleich, dass die Menschen in El Alto nicht besonders reich sind. Hier oben herrscht Wasserknappheit, die ganze Gegend ist graubraun und steinig. Alle Kinder in der Schule beschäftigen sich mit dem Thema Wasser. Auch in der 8. Klasse haben die Schüler darüber gesprochen und sich gefragt, welche Probleme durch die Wasserknappheit entstehen.

"In manchen Gegenden gibt es manchmal für einige Stunden kein Wasser. In anderen Gegenden sogar tagelang nicht. Es gibt einfach nicht genug Wasser", erzählt Christian. Und seine Klassenkameradin Joel ergänzt: "Wenn es kein Wasser gibt, dann müssen sich die Menschen in langen Schlangen an den Wasserwagen aufstellen, wo sie dann in Kanistern Wasser holen können. Um Wasser zu sparen, waschen sie ihr Gemüse nicht gründlich genug und werden krank."

Doch warum gibt es in Bolivien so wenig Trinkwasser?
Es regnet dort nur in der einen Hälfte des Jahres. Dann werden große Sammelbecken mit Wasservorräten gefüllt. Früher gab es noch einen anderen "Speicher": Die großen Gletscher auf den hohen Bergen. Der Schnee dort ist immer nach und nach geschmolzen und als Wasser in die Stadt geflossen. Doch aufgrund der Klimaerwärmung schmelzen die Eismassen zu schnell, statt nach und nach in die Stadt abzufließen, schießen die Wassermassen innerhalb kürzester Zeit zu Tal. Auch das ist eines der Probleme, über das die Kinder mit ihren Lehrern täglich in der Schule sprechen.

"Aqua para la vida", rufen die Kinder, "Wasser zum Leben". Und so heisst auch das Unterrichtsfach, in dem sich alles rund ums Wasser dreht. Hier lernen die Kinder, dass sauberes Trinkwasser durchsichtig ist, dass es keinen Geruch und keinen Geschmack hat. Sie haben Schulhefte vor sich, in denen alles über das Wasser erklärt wird. Im Chor antworten sie auf die Fragen der Lehrerin, ob Wasser eine Farbe habe: "No"; ob man Wasser riechen könne: "No". Alle Schüler tragen weiße Kittel über ihrer normalen Kleidung - das ist die Schuluniform.

Einmal pro Woche wird dieses besondere Fach unterrichtet, in dem die Kinder auch gelernt haben, wie man Wasser sparen kann. Und Paula hat da gut aufgepasst: "Man darf nicht soviel Wasser verbrauchen. Man muss die Wasserhähne immer zu drehen, wenn man sich die Zähne putzt und die Dusche ausstellen, wenn man sich einseift. Und man darf auf gar keinen Fall mit dem Wasser rumspielen, denn dann verschwendet man es, und es gibt doch so wenig Trinkwasser. Und wir müssen das Wasser sauber halten und dürfen es nicht verschmutzen.

Da ist Paula schon beim nächsten Problem: Das wenige Wasser, das es gibt, ist oft nicht sauber. In Bolivien gibt es nicht wie bei uns in jeder Stadt eine Kläranlage, in der das Wasser gereinigt wird. Alles, was im Klo landet, das Spülwasser, das Duschwasser - all diese Abwässer fließen einfach so in einen Fluss. "Doch auch Müll, die Abwässer von den Fabriken, das Wasser vom Autowaschen tragen zur Verunreinigung bei. Wir müssen uns besser um die Umwelt kümmern", meint der neunjährige Braulio.

Die Kinder berichten zu Hause, was sie im Unterricht gelernt haben. Und in Jocelins Familie beispielsweise wird nun umsichtiger mit dem kostbaren Gut umgegangen: "Ich habe das, was die Lehrerin gesagt hat, meinen Eltern erzählt und meiner Mutter gesagt, dass sie Wasser sparen muss. Sie verwendet jetzt das Wasser, mit dem sie die Wäsche gewaschen hat, noch einmal um damit den Boden zu wischen."

Würden alle Menschen in Bolivien so sorgfältig mit dem Wasser umgehen wie die Kinder aus dieser Schule, dann wäre Wasserknappheit vielleicht gar kein so großes Problem in diesem Land. Doch dazu müssten alle an einem Strang ziehen.

Text + Fotos: Katharina Nickoleit

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den Ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
252 Seiten
ISBN 978-3-89662-364-5
Verlag: Reise Know-How
2. Auflage 2009

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_3] Ecuador: Der Vulkankrater von Quilotoa
 
Wir starten früh am Morgen, als die Straßen Quitos noch unbefahren sind und die Sonne gerade erst über die östlichen Vulkane geklettert ist. Unser Weg führt uns in den Süden der Stadt zu einem großen Busterminal, das wie eine Mischung aus Raumschiff und Schwimmhalle aussieht. Dabei bestaunen wir die Ausdehnung Quitos, das von seiner Nord- bis zu seiner Südgrenze 50 Kilometer misst und dessen Häuser im Süden immer mehr Armut erkennen lassen.



Wenig später sitzen wir, das heißt neun andere Spanischschüler und ich, auf den Bänken eines ortsüblichen Busses, der sich laut und abgasreich aus den südlichen Ausläufern der ecuadorianischen Hauptstadt kämpft. Es geht hinab in ein Tal, das sich immer noch mehr als zwei Kilometer über dem Meeresspiegel befindet und sich im Schoße zweier Vulkanstraßen dahin windet.

In den folgenden dreißig Minuten stoppt der Bus alle paar Meter und eine Meute von Straßenverkäufern mit Äpfeln, Getränken, Kugelschreibern oder Wunderheilmitteln steigt zu. Mein Mit-Sprachschüler Paul hat seinen Rucksack im Gepäckfach über unseren Köpfen verstaut. Als gerade eine besonders große Kolonne von Verkäufern den Bus wieder verlässt, liegt auf einmal sein Rucksack auf dem Boden – offen und durchwühlt. Niemand von uns hat etwas gesehen. Dabei waren wir gewarnt worden, dass Taschendiebe in den Bussen sehr professionell vorgehen. Dass sie aber so schnell sind, hätte niemand von uns für möglich gehalten. Doch wir haben Glück im Unglück. "Wäre etwas Wertvolles drin gewesen, hätte ich ihn bestimmt nicht ins Gepäckfach getan", sagt Paul mit einem Lachen, das seinen Schock nicht ganz verbergen kann.

Nach zwei Stunden Fahrt über die Panamericana erreichen wir den Verkehrsknotenpunkt Latacunga. Eine Stadt, die vor lauter Bussen wie unserem und anderen stinkenden und hupenden Fahrzeugen fast aus den Nähten zu platzen droht.

In Latacunga verlassen wir die asphaltierte Hauptverkehrsstraße und fahren über eine schmale Staubpiste hinauf in die westlichen Andenkordilleren. Je weiter wir uns von der Panamericana entfernen, desto ländlicher wird unsere Umgebung. Auch die zusteigenden Fahrgäste verändern sich. Hut tragende Männer mit zerfurchten Gesichtern und Frauen mit Kopftüchern, die Kartoffelsäcke oder Kleinkinder auf dem Rücken tragen, drängen bei jedem Halt in den Bus. Wir fahren mit ihnen durch Dörfer, die trotz (oder gerade wegen) der zerfallenen Häuser am Straßenrand die Romantik von Authentizität ausstrahlen.

Die Reise endet im 80-Seelen-Dorf Quilotoa. Der Himmel ist Wolken verhangen und uns fährt ein Wind in die Glieder, den wohl nur 3.800 Meter hohe Berglandschaften auf ihren Schultern tragen. Die Bewohner Quilotoas leben vor allem vom Tourismus. In kleinen Ateliers kann man bunte Bilder kaufen, die auf gespannte Lama-Häute gemalt wurden. Das vorherrschende Motiv der Künstler: die Kraterlagune von Quilotoa mit dem Cotopaxi-Vulkan im Hintergrund. 

Wenige Schritte vom Dorf entfernt kann man bereits in den vier Kilometer breiten Vulkankrater hinab schauen, der 400 Meter weiter unten die Farbe des Himmels spiegelt. Nach unserer Ankunft wandern wir am Kraterrand entlang und kämpfen mit der Höhenluft, die alles doppelt so anstrengend zu machen scheint. Entschädigt werden wir von grasenden Lamas und der Aussicht in weitläufige Täler, in denen die Mais- und Getreidefelder und manch einsamer Bauernhof der indigenen Bewohner die einzigen Keime des Lebens im sonst brachialen Hochland zu sein scheinen.

Beim abendlichen cerveza am Kamin strecken wir schließlich unsere müden Glieder aus und erzählen Geschichten. Gegen 21 Uhr ist das eine Bier im Schädel angekommen und uns wird bewusst, dass rote Blutkörperchen es hier oben in der Höhenluft etwas schwerer haben.

Nicht nur der Alkoholtransport geht gemächlicher als im Tal voran: mit Einbruch der Dunkelheit ist das Leben in Quilotoa erstarrt und draußen breitet sich die anbrechende Andennacht aus.

Am nächsten Morgen geht es nach einer frostigen Nacht, in der ich auch unter drei Wolldecken noch friere, hinab in den Krater. Der Himmel hat aufgeklart und die pralle Höhensonne steht bereits über unseren Köpfen. Am Ufer der Lagune im Vulkankessel wartet ein staubiger Sandstrand mit einigen Kajaks. Wir rudern aufs Wasser hinaus und sind auf einmal von allen Seiten von grünlich glitzerndem Wasser und irreal hohen Felswänden umgeben. Zum ersten Mal begreifen wir, dass hier einst die Natur herrschte, auf Skalen, die uns bedeutungslos erscheinen lassen.

Der Aufstieg zurück zum Rand des Kraters verläuft steil und schweißtreibend. Für acht US-Dollar hätte man die 400 Höhenmeter auf dem Rücken eines Esels zurücklegen können. Doch wir verzichten. Oben angekommen blicken wir noch einmal zurück über die geisterhafte Lagune unter uns und die zackigen Berge jenseits des Kraters.

Wenig später sitzen wir im Bus und die Kraterlagune erscheint uns wie ein vergangener Traum, so rasend schnell jagt der adoleszente Fahrer den heulenden Klapperbus zurück ins Tal. Mein Sitz hat sich aus seiner Verankerung gelöst und bei jedem Bremsvorgang rechne ich damit, durch die Frontscheibe zu fliegen. Doch alles geht gut. Nachdem wir erneut zwei Stunden durch ländliche Dörfer gerast sind, erreichen wir die Panamericana. Kurz vor Quito erspähen wir dann sogar den schneebedeckten Cotopaxi am Horizont, den 5.800 Meter hohen Nationalvulkan Ecuadors. Im rötlichen Schein der Abendsonne winken wir ihm zum Abschied zu, ehe uns die Stadt aufs Neue verschluckt.

Nach Einbruch der Dunkelheit sind wir am Busterminal. Smog hängt in der Luft, Scharen hupender Autos mit grellen Lichtern ziehen an uns vorbei. Unsere Beine sind taub vom langen Sitzen und dem Lauf um den Vulkan.

Bei meiner Gastfamilie erwarten mich ein kaltes Essen und Spanischvokabeln. Der Drang, sofort wieder aus der Stadt zu fliehen und Vulkane zu besteigen, ist stark. Doch bevor ich Taten folgen lassen kann, falle ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


Text + Fotos: Robert Gast

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: ecuador]





[art_4] Mexiko: Marzipansärge, Entenjagd und Totenbrot
Die mexikanische Art, der Toten zu gedenken
 
Dia de los Muertos heißt das Fest, das zu Ehren der Toten am zweiten November in ganz Mexiko gefeiert wird. Dabei vermischen sich indigene Traditionen mit christlichem Glauben.

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Damit die Toten pünktlich zum Fest für eine Nacht den Weg zurück zu ihren Familien auf der Erde finden, werden in den Häusern und auf öffentlichen Plätzen Opferaltäre errichtet, die mit leuchtend gelben und lilafarbenen Cempasúchil-, ánima- und tiringuini-tzitziqui-Blüten, ähnlich den Studenten- und Ringelblumen, geschmückt werden. Je mehr Schmuck und Kerzen desto besser - denn so ist der Weg für die rückkehrenden Seelen leichter zu erkennen.

Auf der Insel Janitzio im See Patzcuaro in Michoacán feiern die indigenen P‘urhépecha den Tag der Toten besonders ausgiebig. Schon Tage vor dem Fest wird Pan de los Muertos gebacken, süßes "Totenbrot" mit Orangen- und Zitronengeschmack in Schädel- oder Knochenform. Die Kinder naschen Marzipansärge und Calaveras de dulce, Leckereien in Totenkopfform.

Auf Janitzio dauert das Totenfest drei Tage. Am 31. Oktober werden früh morgens Enten gejagt, die anschließend zubereitet und den Toten angeboten werden. Später dann werden die verstorbenen Kinder eingeladen. Im Haus ihrer Paten bereitet die ganze Familie einen Opferaltar mit deren Lieblingsspeisen, -getränken, Kleidung und Süßigkeiten in Engelform vor. Anschließend versammeln sich alle zu einer Prozession, die vom Haus des Paten zum Elternhaus führt, bei der gesungen, gebetet und Feuerwerk abgebrannt wird. Den Tag beendet die Familie mit einem gemeinsamen Abendessen.

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Um fünf Uhr morgens des nächsten Tages wird der Altar zum Grab des Kindes transportiert und bleibt dort bis die Angehörigen aus der Messe zurückkehren und ihn wieder mit nach Hause nehmen. In der Nacht vom ersten zum zweiten November werden die verstorbenen Erwachsenen eingeladen. Die Familie bereitet Opferaltäre vor und bringt sie zum Friedhof, wo die ganze Nacht lang die Kirchenglocken erklingen. Nach dem Abbauen der Altäre tauschen die Familien ihre Opfergaben mit Nachbarn und Freunden. So kommen sie nicht in die Verlegenheit, die Opfergaben des eigenen Angehörigen verspeisen zu müssen.

All diese Traditionen klingen nach einer andächtigen Totenfeier, bei der getrauert und geweint wird. Der erste Tag der Toten ist in der Tat für viele Hinterbliebenen noch schwer, doch schon im folgenden Jahr tanzen und singen sie mit ihren Gästen und feiern ein fröhliches Fest mit ihren Liebsten.

Allerdings haben sich die gemeinsamen Feierlichkeiten der Lebendigen mit den Seelen der Verstorbenen im Laufe der Zeit gewandelt. Heute bahnen sich Touristen und Einheimische in Janitzio mit der Kamera in der einen und der Bierdose in der anderen Hand ihren Weg durch die Gräber. Statt sich jedoch über die vielen Schaulustigen zu ärgern, haben die P’urhepecha einen Weg gefunden, um Profit aus dem Spektakel zu schlagen. Bis zum Morgengrauen werden heiße Ponche (Fruchtbowle) und kühles Bier verkauft.

Ansässige Familien verwandeln ihre Heime in Verkaufsläden für heißen Fisch, Schals und Andenken in Skelettform oder geben ihre Toiletten gegen drei Pesos für die Öffentlichkeit frei.

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Und wenn die Familien am nächsten Morgen die Reste von Enten und Totenbrot verspeisen, sind die meisten Touristen schon auf dem Heimweg und auf der Insel kehrt wieder Ruhe ein.

Text + Fotos: Annika Wachter

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]





[art_5] Argentinien: Schao, schao
Argentinien ist nicht Lateinamerika. Oder doch?
 
Es ist schon verflixt. Da fliegt man mal eben 13.000 Kilometer in Richtung Südhalbkugel, landet, verbringt eine unruhige Nacht in einem schrägen Hotel, steigt erneut in den Flieger und ist nach weiteren 1.700 Kilometern in der unargentinschsten Stadt Argentiniens: San Carlos de Bariloche. Ich lache ja noch immer recht gern, wenn mir Leute erzählen, sie kämen gerade von einer langen Südamerikareise zurück, offenbaren jedoch auf Nachfrage, dass sie "nur" in Argentinien gewesen seien - dem qua Einwanderungswellen europäischsten Land des südamerikanischen Kontinents.


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Und obwohl man genau weiß, dass das Land am Rio de la Plata fest in Händen spanischer und italienischer Nachkommen ist, könnte der unbedarfte Tourist beim Anblick Bariloches tatsächlich vom Glauben abfallen. Das hier ist weder Spanien noch  Italien, sondern die von den Argentiniern liebevoll "Argentinische Schweiz" getaufte Gegend. Sie sieht nicht nur eidgenössisch aus, einige der Eidgenossen haben hier auch Spuren hinterlassen. Das macht durchaus Sinn, denn der patagonische Abschnitt in der Provinz Rio Negro mutet an wie ein Stück Schweizer Heimat. Berg, Schnee, See - reichlich Möglichkeiten also, um einsam durch die Natur zu streifen.


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Schon die Fahrt vom Flughafen in die Stadt ist ein Erlebnis. Ein Konglomerat an architektonischen Widerlichkeiten, so dass man - die teutonische Herkunft nicht abschütteln könnend - unweigerlich an das heimische Bauamt denkt. "So können Sie aber hier nicht bauen, mein Herr", hört man den Beamten im Kopf sagen, nein, schreien. Hier konnten sie es jedenfalls doch. Giebel in alle Himmelsrichtungen, mal Holz, mal Blech, mal Eisen in Verwendung und sogar Gartenzwerge dürfen im patagonischen Vorgarten herumtollen. Die argentinischen Schweizer schrecken wirklich vor nichts zurück.

Die absolute Krönung aber haben sich die Bewohner Bariloches für ihren Hauptplatz aufgehoben. Wer nämlich auf dem Weg zum Schiffchenfahren auf dem wunderschönen See Nahuel Huapi schlendert und genau da vorbeikommt, wird sich verwundert die Augen reiben. Da begrüßt einen doch tatsächlich ein dicker Bernhardiner. Und weil‘s möglichst stilecht sein soll, fehlt auch das Fässchen um den mächtigen Hals nicht - vermutlich allerdings ohne Schnaps. Denn auf der Plaza vor dem Rathaus im Almhüttenstil sollte selbst bei heftigem Schneefall niemand verschüttet werden.


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Ist dann noch Zeit, wagt man sich am besten durch die kleine Haupteinkaufsstraße. Dort jagt ein Schoko-Tempel den nächsten. Und wenn nicht gerade Japanar versuchen, die Schweizer Schocki in rauen Mengen zu erwerben, dann stehen Rucksacktouristen am Probiertopf Schlange, um ein bisschen was von der braunen Kakaomelasse zu erhaschen. Wer anschließend noch Geld für eine Übernachtung übrig hat, der fährt zum "Schao Schao", unweit Bariloches, auf einer kleinen Anhöhe liegend, von der aus sich ein wunderbarer Blick auf den See  bietet. Das hier ansässige Llao Llao-Hotel gehört zum Luxussegment und ist sogar für diejenigen, die sich dort keine Nacht leisten können, einen Abstecher wert. Die argentinische Schweiz zeigt sich schon auf dem Weg dorthin von ihrer besten Seite: Sanfte Hügel, je nach Jahreszeit in weiß oder grün, im Hintergrund die Bergkuppen Otto, López und Cathedral und immer wieder architektonische Meisterleistungen, so dass man sich gedanklich gar nicht entscheiden kann, ob man jetzt österreichische Almhütte oder schweizer Chalet vor sich hat.


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Letzten Endes ist das alles aber gar nicht wichtig. Man kann in Bariloche vortrefflich die Natur genießen. Und da interessiert es doch fast gar nicht, ob man in Lateinamerika ist oder nicht. Und wer tatsächlich schon mal in Bariloche war, der kann es kaum fassen, dass einer der Gründerväter tatsächlich deutscher Abstammung gewesen sein soll...

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[kol_1] Amor: Lichtgestalt für Sevilla
Macarena-Prozession vom 18. September 2010
 
Nein, es ist nicht Karfreitag um Mitternacht. Es gibt auch keinen Duft von Orangenblüten und keine mit weiß-violetter und weiß-grüner Büßertracht verkleideten Sevillaner. Und doch öffnen sich die Pforten der Macarena-Basilika mitten in der Nacht, wie gewohnt begleitet vom Applaus tausender Zuschauer. Und als ob es der Höhepunkt der Semana Santa wäre, wogt die unübersehbare Menge rund um den hell angestrahlten barocken Torbogen vor der Kirche und wartet ungeduldig auf die Erscheinung ihrer Madonna.



So wird die Macarena heraus getragen in die Sommernacht des 18. September 2010. Es ist 3.45 Uhr, als der Triumphmarsch ihres von hunderten Kerzen erleuchteten Throns durch die Menschenmenge beginnt. Diesmal ohne rotgoldenen Baldachin und ohne Nazarenos, nur begleitet von der Musikkapelle und Honoratioren der Bruderschaft in schwarzen Anzügen - und von insgesamt 250.000 Sevillanern. Die Befürchtungen der Veranstalter, dass an diesem sommerlichen Wochenende die Macarena fast allein marschieren müsste, weil die Jugend zum Strand fahren würde und die Alten bei der Hitze im kühlen Patio verblieben, bestätigen sich also nicht. Es ist auch deutlich weniger heiß als von den Trägern befürchtet, denn am Tag zuvor hat es geregnet und die Temperatur ist von 36 auf 26 Grad gefallen. Und so folgt fast die halbe Stadt dem grünen Mantel der Madonna.



Doch weshalb diese Prozession so ganz außerhalb der Semana Santa? Der Grund für den ungewöhnlichen Termin ist die Seligsprechung der Madre María de la Purísima (20.02.1926 - 31.10.1998), einer Nonne vom Sevillaner Orden der Hermanas de la Cruz.

Der feierliche Akt fand im Rahmen einer Messe im Olympiastadion von Sevilla statt, die um 10.30 Uhr von drei Kardinälen zelebriert wurde. Dabei erhielt der ehemalige Erzbischof von Sevilla, Kardinal Amigo Vallejo, deutlich mehr Applaus als sein unbeliebter Nachfolger Asenjo oder als der Vatikan-Gesandte Monsignore Amato. Amato sprach in seiner Predigt davon, dass "die Seligsprechung der Madre María de la Purísima ein erneutes Geschenk des Heiligen Vaters an Sevilla sei." Davon kann wohl keine Rede sein, ist es doch vielmehr umgekehrt: die heilige Nonne hat mit ihrem aufopferungsvollen Lebenswerk, das den Armen und Kranken Sevillas gewidmet war, der Welt und dem Vatikan ein Geschenk gemacht. Denn es sind heilige Menschen mit Vorbildcharakter, die mitten im Leben stehen wie diese tapfere Nonne und nicht scheinheilige Vatikan-Kardinäle in Purpur-Pantöffelchen, die den Glauben an die Kirche als Idee aufrecht erhalten.



Die Macarena-Bruderschaft nun hat eine enge Bindung zum Orden der Hermanas de la Cruz, da die größte Prozession Sevillas an jedem Karfreitagmorgen an deren Kloster vorbei zieht. Es gibt aber wohl auch einen weiteren Grund, warum die Veranstalter des Erzbistums Sevilla die Macarena-Bruderschaft um Mitwirkung gebeten hat: die Popularität der Madonna sollte die Massen anziehen und verhindern, dass die Seligsprechung in einem halb leeren Stadion stattfinden würde. So kommentieren nicht wenige Zuschauer angesichts der Volksmassen, die ihrer Lichtgestalt mit dem dunklen Gesicht folgen, dass sich die meisten bald kaum mehr an den Anlass (die Seligsprechung), sondern nur noch daran erinnern würden, dass ihre Macarena zum ersten (und wohl einzigen ) Mal in diesem Jahrhundert in einer Sommernacht durch die Straßen zieht.



Die Atmosphäre ist natürlich ein völlig andere als während der Semana Santa und das liegt vor allem am ungewohnten Ambiente: denn der Prozessionsweg verläuft diesmal nicht durch die größte Altstadt Europas zur Kathedrale, sondern nimmt die entgegen gesetzte Richtung "Extramuros" durch die Neubau-Viertel der Macarena und das Expo-Gelände zum Stadion.

Als einer der spektakulärsten Schauplätze übt dabei die 102 Meter hohe Alamillo-Brücke von Santiago Calatrava in der Abenddämmerung magische Anziehungskraft auf die Massen aus. -Doch in meinen Augen enttäuscht diese futuristische Bühne als Prozessions-Kulisse. Die neue Brücke ist ein grandioses Monument der Moderne, aber unter ihrem über hundert Meter empor ragenden Pylon wirkt der Paso der Macarena inmitten der dicht gestaffelten Zuschauer auf der einen und den weiterhin für Autos frei gegebenen Fahrspuren auf der anderen Seite etwas verloren. Die Geräuschkulisse ist beträchtlich und für eine meditierende Betrachtung dieser über 300 Jahre alten mediterranen Göttin denkbar ungeeignet.

Wir begleiten die Macarena fast auf ihrem gesamten Rückweg und spätestens vor dem nach ihr benannten Universitätskrankenhaus kommt doch noch die ersehnte Semana Santa Stimmung auf.



Die Jungfrau der Hoffnung wird auf ihrem Lichterthron hinein getragen zu denen, die besonders dringend ihren Trost brauchen. Auf der großen Treppe am Haupteingang des Hospital "Virgen de la Macarena" warten die Kranken in Rollstühlen und Bahren auf die Madonna. Eine kuriose Szene zum Auftakt: die Schranke vor der Haupteinfahrt hebt sich, als ob die Altarbühne der Macarena ein einfahrender Wagen sei. Dann nähert sie sich kurz vor Mitternacht mit flackernden Kerzen der Treppe der Hoffnung Suchenden, umringt von einer wogenden Menge und begleitet von einem bewegenden Trauermarsch, der ganz neu ist und dessen Titel niemand kennt. Der emotionale Höhepunkt der gesamten Prozession, entrückte Gesichter, wohin man blickt, fast alle mit Tränen in den Augen. Neben mir weint eine junge Frau hemmungslos, während von überall die Huldigungsrufe "Macarena - guapa!" die Musik übertönen. Dann wird der Paso zurück getragen, wir werden an den Rand gedrückt, bis wir die Schuhe der Träger auf unseren spüren und der golden schimmernde Mantel der Madonna uns beinahe unter sich begräbt.



Nach diesem Moment der kollektiven Ekstase folgen wir der Göttin der Hoffnung bis zu ihrem Torbogen an der arabischen Stadtmauer und erleben zusammen mit Tausenden ihren Einzug in die Kirche. Als sich das Tor der Basilika schließt, bahnt sich ein verschwitzter Träger seinen Weg durch die Zuschauer und tröstet alle mit den Worten, dass es jetzt ja nicht mehr ein ganzes Jahr, sondern nur ein halbes dauern würde, bis sich diese Tür wieder öffnen und die Lichtgestalt der Macarena am Karfreitag kurz nach Mitternacht erneut dem Volk von Sevilla erscheinen würde.

Text + Fotos: Berthold Volberg

P.S.: Am Sonntag sind wieder alle an den Strand gefahren und es gibt sogar einen Strand (in Torremolinos nahe Málaga), der den Namen der Macarena trägt. Soweit wir wissen, ist die "Rivalin" der Macarena, die Esperanza de Triana, bisher noch nicht zu solchen "Ehren" gekommen.   

Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa
(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_2] Grenzfall: Brasilien - Absurde Kandidaten
 
"Was ein Abgeordneter im Abgeordnetenhaus so macht? Ich habe echt keine Ahnung. Aber wähl mich und dann erzähle ich es Dir." Im Clownskostüm mit blonder Perücke erscheint Tiririca auf den TV-Bildschirmen des Landes. Nach neuesten Umfragen könnte der Fernsehclown bei den Wahlen am 3. Oktober bis zu einer Million Stimmen erhalten.

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"Mama hat mir gesagt, dass es eine gute Idee sei, mich aufstellen zu lassen", erklärt er und gestattet sich einen Seitenhieb auf die etablierte politische Elite des Landes: "Wählt Tiririca, schlimmer als es jetzt ist, kann es nicht kommen."

Bei den Wahlen treten hunderte abstruser Figuren an. Viele, so hat man den Eindruck, wollen lediglich die ihnen gesetzlich zustehende Sendezeit im Fernsehen nutzen um berühmt zu werden. Und die anderen, die bereits berühmt sind, versuchen einen Platz im Kongress zu ergattern.

Neben Tiririca könnte so demnächst auch Ronaldo Esper im Abgeordnetenhaus sitzen, ein schrulliger Modedesigner, der bisher eher in den Klatschspalten der Boulevardblätter auftauchte. Landesweite Berühmtheit erlangte er, als er eine Friedhofsvase von einem Grab entwendete - das Design hatte ihm so gut gefallen. Jetzt will er der brasilianischen Politik "einen neuen Anzug verpassen".

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Schillernde Persönlichkeiten also soweit das Auge reicht. So tritt das Weltmeister-Sturmduo von 1994, Romario und Bebeto, genauso an wie Vampeta, Weltmeister von 2002. Mit Cameron Brasil wirbt auch eine bekannte Porno-Darstellerin um Stimmen für den Einzug ins Bundesparlament in Brasilia. Dafür hat sie sich die Legalisierung der Homo-Ehe auf ihre Fahnen geschrieben. Aus den einschlägigen Herren-Zeitschriften bekannt, gehen zudem die "Mulher Pera" (Die Frau mit den Pfirsich-Formen) und die "Mulher Melão", die "Melonen-Frau" ins "Rennen". Für mehr Aufsehen als die beiden sorgte jedoch die Kandidatur von Andreia Schwartz für das Landesparlament in Espirito Santo. Schwartz leitete einen Prostituiertenring in den USA. Dort führten ihre Aussagen 2008 zum Rücktritt des Gouverneurs von New York, Eliot Spitzer, der die Dienste von Schwartz Angestellten in Anspruch genommen hatte.

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Sänger Kiko von der Boy-Group KLB, Fernsehprediger und Prostituierte - dem Wähler stehen am 3. Oktober eine ganze Reihe ungewöhnlicher Kandidaten zur Auswahl. Wir zeigen Euch, liebe Caiman-Leser, eine kleine Auswahl der Höhepunkte des diesjährigen Wahlkampfes um den absurdesten Kandidaten:

http://www.youtube.com/watch?v=EHxmslZ_VcU
http://www.youtube.com/watch?v=BomKjEVHrzI&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=tfTFZQDwJQc

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_3] Erlesen: 1. Argentinien hören / 2. Kleine Geschichte Argentiniens

Argentinien hören
Silberfuchs-Verlag 2010
ca. 80 Min.
Passend zum Frankfurter Buchmessengastland 2010 hat der Silberfuchs-Verlag in seiner mehrfach ausgezeichneten Hörbuch-Reihe "Länder hören" eine CD zu Argentinien herausgebracht. "Unsere Vernunft, unsere Intelligenz beweisen uns unaufhörlich, dass diese Welt grausam ist, [...] aber glücklicherweise ist der Mensch fast nie ein vernünftiges Wesen, und deshalb erwacht auch inmitten der Unglücksfälle und Katastrophen die Hoffnung immer wieder." Dieses Zitat des Schriftstellers Ernesto Sábato beschreibt treffend die Mentalität der Argentinier, sowie ihre Überlebensstrategie in der kurzen, aber selten friedvollen Geschichte ihres Landes.

Argentinien hören
Eine musikalisch illustrierte Reise durch die Kulturgeschichte Argentiniens
Antje Hinz (Autorin)
Josef Tratnik (Sprecher)
Verlag: Silberfuchs; 1., Aufl. (12. April 2010)
ISBN-10: 3940665193

Chronologisch aufgebaut beginnt die Reise durch das zweitgrößte Land Lateinamerikas mit einem Schöpfungsmythos der Ureinwohner Feuerlands, die später von den Spaniern ausgerottet wurden. Die ersten drei von insgesamt 20 Kapiteln der CD widmen sich dieser indigenen Bevölkerung Argentiniens, aber auch den indigenen Bewohnern der Anden, die im 19. Jahrhundert bei verschiedenen Feldzügen des argentinischen Militärs ebenfalls fast gänzlich vernichtet wurden und deren Existenz oft vergessen wird.

Der Eroberung durch die Spanier, den Jesuitenreduktionen, dem Unabhängigkeitskampf und den politischen Wirren in der jungen Republik sind weitere Kapitel gewidmet, deren faktenreicher Text mit literarischen Passagen und Musik von argentinischen Komponisten wie Alberto Ginastera oder Carlos López Buchardo aufgelockert wird. Auch in den Kapiteln über das moderne Argentinien und natürlich erst Recht dort, wo es um Literatur (Borges/Cortázar) oder um Musik (Tango) geht, hat die Autorin Antje Hinz passende Texte und Musiktitel ausgewählt, u.a. aus den Werken "Martin Fierro" oder "Rayuela" sowie von den Musikern Atahualpa Yupanqui, Carlos Gardel und Mercedes Sosa.

Hier liegt vielleicht auch der einzige Kritikpunkt an diesem außergewöhnlich ausführlichen und interessanten Hörbuch: die Auswahl präsentiert wenig Überraschendes, modernere Literatur- und Musikströmungen bleiben außen vor.

Das Booklet enthält eine Chronologie der Geschichte des Landes sowie einige Abbildungen von im Text erwähnten Bau- oder Kunstwerken. Mit wie viel Enthusiasmus diese Hörbücher kreiert werden, enthüllt das Detail der auf die CD gedruckten Abbildung der ersten argentinischen Münze. Kurzum: wer vor einer Reise Argentinien kennen lernen und sich nicht durch Berge von Sachbüchern arbeiten möchte, der liegt mit diesem Hörbuch, dessen Texte wunderbar vom Schauspieler Josef Tarnik gesprochen werden, genau richtig.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

Hörproben findet ihr auf der seite des Verlages: Silberfuchs Verlag


Michael Riekenberg
Kleine Geschichte Argentiniens

C.H.Beck 2009
Argentinien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2010 und - wie nicht anders zu erwarten - steigen prompt die Publikationen zum Land und die Übersetzungen dortiger Autoren ins Deutsche sprunghaft an. Die "Kleine Geschichte Argentiniens" aus der "Beckschen Reihe" ist schon Ende 2009 erschienen und bildet somit den Auftakt des Veröffentlichung-Reigens.

Kleine Geschichte Argentiniens
Michael Riekenberg
Kleine Geschichte Argentiniens
206 Seiten incl. 2 Karten
Paperback
C.H.Beck 2009
ISBN-10: 3406585167

Der Autor Michael Riekenberg, Historiker an der Universität Leipzig, stellte sich der Aufgabe, die Geschichte des Landes auf knapp 200 Seiten darzustellen. Die frontier, also der Raum zwischen einem schon staatlich / kolonial annektierten Gebiet und den Siedlungsräumen indigener Völker, zieht sich als Leitmotiv durch einen großen Teil des Buches: "Weil die frontier eine ‚stumme Welt’ war, die in den Archiven nur wenig eigene schriftliche Quellen hinterlassen hat, ist sie in der Geschichtsschreibung lange Zeit kaum behandelt worden", schreibt Riekenberg und unternimmt den Versuch, dieses Defizit teilweise wieder gut zu machen. Anhand des frontier-Konzepts läßt sich u.a. gut die Entstehung einer "Kultur der Gewalt" erklären, die in Argentinien (und auch bei seinen Nachbarn) das gesellschaftliche Leben bis heute prägt. Denn in unentdeckte Gebiete vorzudringen war über Jahrhunderte mit Gewaltanwendung verbunden.

Riekenberg legt den Schwerpunkt seines Buches auf die Geschichte des Landes seit 1810, während Früh- und Kolonialzeit schnell durchlaufen werden. Leider werden auch die Zeit der Militärdiktatur und die Gegenwart (1976-2009) auf nur wenigen Seiten abgehandelt, so dass der nicht vorgebildete Leser dort Informationsdefizite erfährt, wo es für ihn als Zeitgenossen am interessantesten wird, vor allem, wenn er sich mit aktueller argentinischer Literatur befasst. Aber "Kleine Geschichten" leiden immer darunter, dass vieles verkürzt dargestellt bzw. weggelassen werden muss, wie z.B. auch alle wichtigen Ausprägungen der landeseigenen Kultur. Natürlich finden sich Hinweise auf den Tango oder auf die Literatur, die die Nationalgeschichte erschuf, aber "Kleine Geschichten", so auch diese, sind im wesentlichen "politische Geschichten" mit vielen Daten und Namen. Diese versteht Riekenberg jedoch zumeist lesefreundlich zu präsentieren, so dass nicht der Eindruck entsteht, es handele sich um vertextliche Zeittafeln. Sein Text bleibt dabei weitestgehend deskriptiv und verzichtet auf Analysen der jeweiligen Ereignisse.

Für die vermeintliche Zielgruppe - am Land interessierte Laien - stellt die "Kleine Geschichte" einen guten Überblick dar, mit weiterführender Literatur im Anhang. Aber gerade für diese Leser wäre es schön, zwischen den vielen Fakten die ein oder andere Anekdote lesen und auch weiter über den Tellerrand der Politik schauen zu können, wie es im Abschnitt "Metropolenbildung" ansatzweise geschieht.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[ausstellung] Tipp: BLACK BOX ECUADOR

Vier schwarze Würfel, verbunden durch einen mit Gartenplatten ausgelegten Weg, stehen auf dem Berliner Schlossplatz, gegenüber dem Deutschen Historischen Museum. Einer steht auf seiner Spitze und es schallen Humboldt-Zitate aus einem Lautsprecher. "Black Box Ecuador" steht in phosphorizierenden Lettern auf dem Würfel.

Ausstellung BLACK BOX ECUADOR
24.09.2010 - 22.10.2010
Berliner Schlossplatz, Berlin-Mitte
Tägl. zwischen 10:00 und 18:00 Uhr

Diese Installation setzt sich mit der Geschichte der Schwarzen in Ecuador auseinander, mit Sklaverei und Kolonialismus. Und das tut sie anhand der Bewohner des Chota-Tals, deren Besonderheiten auf dieser Mini-Ausstellungsfläche anhand von Texten, Fotos, Filmen und O-Tönen gezeigt werden. Da geht es um die schwarzen Fußballstars der ecuadorianischen Nationalmannschaft, die Sklaverei unter den Jesuitenpatern, um Volksfeste, Musik und religiöse Zeremonien. Das informative Begleitheft zur Ausstellung sollte man mitnehmen, um das Gesehene zu vertiefen. Es lohnt sich nicht für diese Mini-Ausstellung nach Berlin zu fahren, aber für Berliner und Besucher der Stadt ist sie einen Abstecher wert.

Text: Torsten Eßer

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel]





[film] Ankündigung: Im Oktober werden Wunder wahr
 


Im Leben des verschlossenen Pfandleihers Clemente hat alles seine genaue Ordnung. Tagein, tagaus kommen Leute aus dem Viertel zu ihm und bitten ihn um Geld, kleine Beträge nur, die er sorgsam in sein Buch einträgt und für die er sich von seinen Kunden entsprechende Sicherheiten geben lässt. Als er eines Tages ein Baby in seiner Wohnung findet, gerät diese schöne Ordnung des Gebens und Nehmens aus dem Gleichgewicht. Von den Bedürfnissen des Säuglings völlig überfordert, bittet er seine Nachbarin Sofia um Hilfe. Während Clemente versucht, die Mutter des Kindes ausfindig zu machen, zieht Sofia bei ihm ein, um sich um das Baby zu kümmern. Sofia betet jeden Tag zum Gott der Wunder und wartet auf ein Zeichen der Zuneigung von Clemente. Als sich auch Sofias Bekannter Don Fico und dessen Frau in Clementes Wohnung häuslich einrichten, muss er begreifen, dass man manchmal etwas bekommt, ohne es verdient zu haben. Mit Sofia, Don Fico, dessen Frau und dem unverhofften Nachwuchs lernt Clemente eine emotionale Nähe kennen, die er nie zuvor erlebt hat.



In Bildern von magischer Leuchtkraft, lakonisch und mit sanftem Humor erzählt die Komödie der Brüder Daniel und Diego Vega von Menschen, die ihre Sehnsüchte erst wieder neu entdecken müssen und die manchmal ein kleines Wunder brauchen, um zu erkennen, wie nah das Glück zu finden ist.

Im Oktober werden Wunder wahr
Komödie, Peru 2010
93 Minuten, OmU, 35mm
Regie: Daniel und Diego Vega

Kinostart: 14.10.2010

Trailer




Text + Filmstills: neuevisionen.de

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





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