ed 10/2010 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [forum] / [archiv]


[art_1] Brasilien: Dilma, übernehmen Sie!
Lulas rechte Hand vor dem Einzug in den Präsidentenpalast
 
Wenn nicht noch etwas gründlich schief geht, wird Dilma Rousseff bereits im ersten Wahlgang am 3. Oktober zu Brasiliens Präsidentin gewählt werden. Ein Triumph ohne gleichen wäre ihr Sieg vor allem für ihren politischen Ziehvater, Staatspräsident Luiz Inacio Lula da Silva. Der hätte die 62-jährige Tochter eines bulgarischen Einwanderers und dessen brasilianischer Frau damit aus dem Nichts ins höchste Staatsamt gehievt, ohne dass Dilma jemals zuvor einen Wahlkampf betrieben hätte. Auch das ist ungewöhnlich in Brasiliens politischem System, in dem man sich meist erst von einem Amt zum nächsten und durch die Parteiinstanzen nach oben wählen lassen muss. Doch am Sonntag könnte es die ehemalige Freiheitskämpferin auf Anhieb zur ersten Frau an der Spitze Brasiliens schaffen.



Als er Dilma zum ersten Mal traf, habe er sofort gewusst, dass sie die Richtige sei, betont Lula stets. Kurz vor seinem Amtsantritt 2003 tauchte Dilma, damals noch Energiesekretärin auf Landesebene in Rio Grande do Sul, lediglich mit einem Laptop bewaffnet im Präsidentenpalast auf und erklärte dem verblüfften Lula kurz und knapp, an was es denn in Brasiliens Energienetz so alles hapere. Der Präsident zögerte nicht lange und machte Dilma zu seiner Ministerin für Energie und Bergbau.

Die "Power-Point-Königin", wie man sie bald schon nannte, hatte eine Aufgabe nach ihrem Zuschnitt gefunden. "Technokratisch" sei sie veranlagt, lästerten viele, besessen sei sie im Jonglieren mit Zahlen. Und Angst hatte man vor ihr, die kein Blatt vor den Mund nahm und ihre Mitarbeiter gerne vor versammelter Mannschaft niedermachte. Manch ein Journalist überlegte zweimal, welche Frage er der resoluten Dame mit dem explosiven Temperament denn wohl zu stellen wagte.



"Absolut geradlinig" sei sie schon immer gewesen, berichten Mitarbeiter. In den 60er Jahren schloss sich Dilma einer radikalen Stalinistengruppe an, die den bewaffneten Kampf gegen das Militärregime aufnahm. Dieses sperrte die widerspenstige Guerrilheira ins Gefängnis und folterte sie. Nach dem Ende der Militärdiktatur half Dilma zunächst ihrem damaligen Ehemann bei dessen landespolitischen Aufstieg im Bundesstaat Rio Grande do Sul, bevor sie dort selber ihre politische Karriere begann. Erst 2001 trat sie in Lulas Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) ein, ohne jedoch parteiintern groß Karriere zu machen. So kam ihre Berufung zur Energie- und Bergbauministerin dann auch überraschend. Für die Öffentlichkeit und selbst für die eigene Partei war sie eine Unbekannte.

Dilmas große Stunde schlug mit der "Mensalão"-Krise, die 2005 beinahe die gesamte Regierung inklusive Präsident Lula hinweggefegt hätte. Ein Politiker der Regierungskoalition hatte gegenüber der Presse über ein Schmiergeldschema geplaudert, mit dessen Hilfe sich die Regierung die im Kongress fehlenden Stimmen gekauft haben sollte. Im Regierungslager stürzte daraufhin einer der PT-Granden nach dem anderen, während sich Staatschef Lula mit Hilfe einer tropikalen Version der Dolchstoßlegende gerade noch retten konnte. Der schmerzlichste Verlust war wohl das Ausscheiden Jose Dirceus, dem Mastermind der PT, der über mehr als 20 Jahre lang die Machtübernahme im Bund vorbereitet hatte.



Mit Dirceus Sturz wurde der Posten des Kanzleramtschefs frei. Und diesen übernahm Dilma, die nun für die Umsetzung der immer gigantischer werdenden Sozial- und Infrastrukturprogramme zuständig war. Spätestens nach dem Sturz des allmächtigen Finanzministers Antonio Palocci, Lulas Wunschkandidat für seine Nachfolge, dämmerte es dem Präsidenten, dass eigentlich nur noch Dilma als mögliche Kandidatin übrig blieb. So baute der Präsident die resolute Dame ab 2008 stetig zur Kandidatin auf. Lediglich ein Versuchsballon sei dies gewesen, munkelt man, denn bald schon wurde bekannt, dass Dilma an einem aggressiven Lymphdrüsenkrebs litt. Doch Lula hielt auch während der Krankheit an Dilma fest, verordnete ihr eine visuelle Generalüberholung inklusive einiger Schönheitsoperationen, schicker Anzüge und weich gespültem Diskurs. Vielleicht auch deshalb, weil sich Palocci entgegen aller Erwartungen nicht gänzlich von den Skandalvorwürfen gegen ihn befreien konnte. So blieb es also bei Dilma.

Nachdem diese Anfang 2010 angeblich völlig geheilt wieder auf die politische Bühne trat, gab es auch in den Umfragen kein Halten mehr. Dabei profitierte sie von Lulas unglaublichen Beliebtheitswerten jenseits der 80%. Dieser ließ wiederum keine Gelegenheit aus, seine Kanzleramtschefin über den grünen Klee zu loben. Auf den Wahlkampfbühnen des Landes wurde zwar schnell klar, dass die Technokratin Dilma kein Meister des Wortes ist wie etwa ihr Guru Lula. "Vielleicht bekommen wir ja so eine Präsidentin, die weniger redet und dafür mehr tut", unkte der Soziologe Demetrio Magnoli.



Doch für was Dilma Rousseff tatsächlich steht, welche Politik sie als Präsidentin verfolgen wird und ob sie sich vom dann Ex-Präsidenten Lula fernsteuern lassen wird, wie viele vermuten, steht in den Sternen. Brasilien kennt Dilma Rousseff nicht. Für viele ist sie lediglich "die Frau an Lulas Seite". Das mag bereits Grund genug sein, um ihr am 3. Oktober die Stimme zu geben. Und solange dann alles so bleibt wie unter Lula, werden die meisten zufrieden sein.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 10/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]


© caiman.de: [impressum] / [disclaimer] / [datenschutz] / [kontakt]