spanien: Filigrane Fabelwesen
Der romanische Kreuzgang von Santo Domingo de Silos BERTHOLD VOLBERG |
[art. 1] | druckversion: [gesamte ausgabe] |
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bolivien: Quinoa und das Fairhandelshaus Gepa
KATHARINA NICKOLEIT |
[art. 2] | ||
kuba: Nachrichten aus Kuba
Ein Gespräch mit dem kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura (Teil 1) THOMAS MILZ |
[art. 3] | ||
peru: Pisco, Guano und die Seelöwen
NIL THRABY |
[art. 4] | ||
traubiges: Riojano Irresistible
La Rioja Alta 'Gran Reserva 890' LARS BORCHERT |
[kol_1] | ||
grenzfall: Salsa auf dem Trockenen und abgelaufenes San Miguel
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER |
[kol. 2] | ||
helden brasiliens: Oh Rio de Janeiro so schön...
... und voller olympischer Probleme THOMAS MILZ |
[kol. 3] | ||
lauschrausch: Wundersame Klänge aus Peru
Kanaku y el Tigre trifft Novalima TORSTEN EßER |
[kol. 4] |
[art_1] Spanien: Filigrane Fabelwesen Der romanische Kreuzgang von Santo Domingo de Silos Noch auf der Fahrt durch die verregnete grüne Einsamkeit hatte Manuel, ein Professor der Kunstgeschichte aus Madrid, mir versprochen, mich zu einem der wertvollsten Monumente Spaniens zu führen. Abgeschieden von der Welt, ca. 50 Kilometer südlich von Burgos auf fast 1000 Metern Höhe umgeben von den noch 400 Meter höheren Peñas de Cervera liegt das Kloster Santo Domingo de Silos. Zwar ist die spätbarocke Klosterkirche auch sehenswert, aber nichts Besonderes. Der eigentliche Schatz dieses Klosterkomplexes ist der wohl berühmteste romanische Kreuzgang Spaniens, entstanden zwischen 1080 und 1140. Umschlossen wird dieses Weltkulturerbe von einer düsteren, zinnenbewehrten Mauer. Der erste Eindruck ist abweisend: Es scheint als solle diese Festungsmauer alle neugierigen Blicke vom Heiligtum abhalten.
Das ganze Dorf ist auf das Benediktinerkloster ausgerichtet, das vor zweieinhalb Jahrzehnten aus akustischen Gründen Weltruhm erlangte. Die gregorianischen Gesänge der Mönche von Silos, aufgenommen hier im Kloster, gehören bis heute zu den meistverkauften spanischen Tonträgern überhaupt und wurden mehrfach in Techno- und Trance-Nummern hinein gesampelt. Nach wie vor kann man hier diese meditativen Choräle aber auch live erleben - z.B. jeden Sonntagabend zur Vesper um 19.00 Uhr, zur Complet um 21.40 Uhr oder zur Sonntagsmesse um 11.00 Uhr morgens. (Hörprobe: http://www.abadiadesilos.es/escuchar.htm) Viele fromme Besucher nehmen dafür weite Wege auf sich und es wird berichtet, dass manch ein gestresster Manager so verzaubert wurde von diesem sakralen Sirenengesang, dass er spontan entschied, die schnöde Welt hinter sich zu lassen und von einem Tag auf den anderen hier ins Kloster eintrat. Zumindest hätte er eines damit gewonnen: den ständigen Ausblick auf ein Weltwunder romanischer Kunst, das aus je zweimal 16 und 14 Bögen besteht. Dieser Kreuzgang von Santo Domingo de Silos erstreckt sich auf zwei Ebenen, wobei die Säulen und Kapitelle im Erdgeschoss künstlerisch bedeutend wertvoller sind als die Galerie im Obergeschoss. Die Ost- und Nordseite des unteren Kreuzgangs ist der älteste Teil des Komplexes und der einzige, der schon vor 1100 errichtet wurde.
Dort ruht der Gründer des Klosters, der heilige Abt Domingo (ca. 1000 - 1073), in einem steinernen Sarkophag, der von drei drolligen Löwen getragen wird. Berühmt ist der Kreuzgang von Silos durch die auffällige Dekoration der Säulenkapitelle, die sich durch enormen Phantasiereichtum auszeichnet. Typisch für den älteren Part auf der Nord- und Ostseite sind zum einen filigrane Fabelwesen wie kuriose, Flamingo ähnliche Vögel, bei denen jede Feder einzeln gemeißelt wurde. Daneben entdeckt man rätselhafte Vogelwesen mit Menschengesichtern oder expressionistischen Monsterfratzen, bedrohliche Harpyien, aus deren Schnäbeln sich Schlangen heraus winden.
Diese drastischen Schreckensfiguren sollten Mönche und sonstige Menschen stets an das Jüngste Gericht und drohende Bestrafungen für ihre Sünden erinnern. Wie zur Beruhigung öffnen sich zwischen den Säulenkapitellen, die von Monstern bevölkert werden, immer wieder Blicke in das grüne Heckenlabyrinth des Innenhofs, in dem sich ein Naturmonument erhebt: eine majestätische Zypresse, deren Alter auf mindestens ein halbes Jahrtausend geschätzt wird. Sie hat den spanischen Dichter Gerardo Diego im Jahr 1924 zu einem genialen Sonett inspiriert. Die biblischen Szenen in diesem Kreuzgang konzentrieren sich besonders auf die Apostelgeschichte: der auferstandene Christus mit Aposteln auf dem Weg nach Emmaus, Christus und der ungläubige Thomas, das Pfingstwunder. Charakteristisch für die Darstellung von Silos sind flächig gemeißelte, überlang gestreckte Figuren, ikonenhaft und ohne Raumtiefe präsentiert.
Während vor allem die frühromanischen Bauten in Katalonien eher unter italienischem Einfluss entstanden (Kloster von Ripoll, San Vicente in Cardona, Sant Pere de Galligans in Girona) oder sogar von italienischen Baumeistern entworfen wurden (Kathedrale von Seo de Urgel), kamen bei der Errichtung romanischer Kirchen in Kastilien besonders französische Einflüsse zur Geltung. Einige Kunsthistoriker wollen in Santo Domingo große Ähnlichkeit mit der Gestaltung der Kapitelle in St. Pierre im französischen Moissac entdeckt haben, andere betonen arabisch-orientalische Einflüsse bei der Dekoration. Beides ist wohl zutreffend. Denn das filigrane Steingeflecht dieser Kapitelle erinnert an die "steinernen Vorhänge" der islamischen Kalifatskunst von Córdoba (Medina Azahara) und die Kapitelle der von muslimischen Baumeistern entworfenen Synagoge von Toledo. Und in der Verschmelzung von gegensätzlichen Vorbildern aus dem keltisch-christlichen Norden und dem muslimischen Süden entstand damit ein einzigartiges und aufgrund dieser Mischung wiederum typisch spanisches Kunstwerk, das seit einem Jahrtausend alle Besucher zum Staunen bringt. Text und Fotos: Berthold Volberg Tipps und Links: Kloster Santo Domingo de Silos: www.abadiadesilos.es Öffnungszeiten des romanischen Kreuzgangs: Dienstag - Samstag: jeweils 10.00 -13.00 Uhr und 16.30 - 18.00 Uhr, Sonntag: 12.00 - 13.00 Uhr und 16.00 - 18.00 Uhr, Montag: geschlossen Gregorianische Gesänge: bei jedem Gottesdienst (in unterschiedlichem Umfang, je nach Dauer und Feierlichkeit): Vigilia: 6.00 Uhr morgens, Laudes: 7.30 Uhr, Sonntagsmesse um 11.00 Uhr, Vesper: 19.00 Uhr, Complet: 21.40 Uhr Hotel Santo Domingo de Silos: Calle Santo Domingo 14 Tel. (0034) 947 390053 www.hotelsantodomingodesilos.com Gutes Drei-Sterne-Hotel in zentraler Lage, das auch ein empfehlenswertes Restaurant unterhält. EZ ab 54 Euro, DZ ab 78 Euro. Im Restaurant kastilische Spezialitäten von Lammhaxe bis Spanferkel und Blutwurstplatte. Herzlicher Empfang. [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien] |
[art_2] Bolivien: Quinoa und das Fairhandelshaus Gepa Das Fairhandelshaus Gepa aus Wuppertal importiert seit bald 40 Jahren Produkte aus der ganzen Welt und verteilt sie von hier aus an Geschäfte in ganz Deutschland. Das Ziel: den Produzenten in den Entwicklungsländern ein ausreichendes Einkommen zu sichern und den Kunden in Deutschland hochwertige Biolebensmittel aus nachhaltigem Anbau anzubieten. Ein Besuch in Bolivien. Das Altiplano, die Hochebene Boliviens, ist ein lebensfeindlicher Ort: auf 4000 Meter Höhe, trocken, kalt, windig. Und trotzdem wächst hier etwas, das die Menschen ernährt: Quinoa. "Ein Geschenk Gottes" sagen die Menschen, die hier leben. Doch das Geschenk Gottes ist nicht umsonst. Nur wer es pflegt und schützt, wird belohnt. Um das zu tun, steht Doña Lydia auch heute wie jeden Morgen um fünf Uhr in der Frühe auf, kocht ein herzhaftes Frühstück aus Quinoa und Lamafleisch und macht sich auf den Weg. Nicht zu ihren Feldern, sondern in die entgegen gesetzte Richtung zu ihren Lamas. Um Quinoa anzubauen, braucht man Lamas, denn so anspruchslos die Pflanze auch sein mag, sie benötigt den Dung der Kleinkamele um zu gedeihen. Doña Lydia hat sich ein wollenes Tuch um die Schultern gewickelt. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen und auf der Hochebene weht der Wind eisig kalt. Nach sechs Kilometern hat sie die Weidegründe ihrer Lamas erreicht. 120 Tiere sind es, die mit fast hochmütigem Blick zwischen den stacheligen Büschen entlang schreiten. Doña Lydia treibt die Herde zusammen und führt sie an eine ganz bestimmt Stelle. "Hier will ich nächstes Jahr Quinoa pflanzen", sagt sie. Doña Lydia ist 55 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben in dem Dörfchen San Pedro de Quemez, einige Kilometer vom Salar de Uyuni entfernt, verbracht. Quinoa anzubauen und Lamas zu züchten ist in der wüsten Einöde des bolivianischen Südwestens die einzige Möglichkeit, zu überleben. Lange Zeit kamen die Menschen hier so gerade eben über die Runden. Sie ernährten sich von ihrer Quinoa und den Lamas, aber Geld war damit nicht zu verdienen. "Manchmal kamen Händler mit Lastwagen voller Lebensmittel. Für einen Sack Mehl oder Zucker verlangten sie zwei Säcke Quinoa. Wir hatten keine Wahl, wir mussten unsere Quinoa mehr oder weniger verschenken, denn es gab keinen Markt dafür", erinnert sich Doña Lydia. Die Kleinbauern wollten das nicht länger hinnehmen. Sie schlossen sich 1983 zu der Kooperative Anapqui zusammen und suchten nach Käufern, die sie nicht übervorteilten. Und die fanden sie in Wuppertal bei der Gepa. "Plötzlich waren wir nicht mehr der Willkür der Händler ausgeliefert, sondern hatten Käufer, die uns einen fairen Preis für unser Produkt bezahlten." Die Geschichte der Kooperative Anapqui und ihrer Zusammenarbeit mit der Gepa ist exemplarisch. Das Fairhandelshaus bezieht seine Produkte von 155 Handelspartnern aus 47 Ländern rund um den Globus. Kaffee aus Mexiko. Tee aus Sri Lanka. Zucker von den Philippinen. Kakao von der Elfenbeinküste, Reis aus Indien. Um nur einige Beispiele zu nennen. Seit 1975 sind die dahinter stehenden Prinzipien dieselben geblieben: "Wir wollen Kleinbauern, die sonst keine Möglichkeit haben ihre Produkte zu exportieren, einen Zugang zum Markt bieten", erläutert Andrea Fütterer, die Grundsatzreferentin der Gepa. "Dazu unterstützen wir sie in vielen Punkten, zum Beispiel bei Qualitätsfragen, bei der Exportabwicklung oder der Umstellung auf Biologische Landwirtschaft." Außerdem zahlt die Gepa den Partnerorganisationen eine "Fairhandelsprämie". Die Mitglieder der Kooperativen entscheiden gemeinsam darüber, wie dieses zusätzliche Geld verwendet werden soll. Da werden Altersvorsorgekassen eingerichtet, Straßen in Dörfern angelegt oder Grundschulen errichtet. Die Mitglieder von Anapqui verwenden das Geld für Universitätsstipendien ihrer Kinder. Außerdem ist der Aufbau zweier Gesundheitsstationen für Mitglieder und ihre Familien geplant. Quinoa wird im Andenhochland schon seit vielen Jahrhunderten angebaut. Sie ist äußerst nahrhaft und gesund und gehörte bereits bei den Inkas zu den Grundnahrungsmitteln. In den letzten Jahren erlebte die Quinoa einen ungeahnten Boom. Sie enthält viele Proteine und ist damit ein idealer Ausgleich für Vegetarier, die auf tierisches Protein verzichten. Außerdem verzichten immer mehr Menschen auf Gluten. Mit der Quinoa können sie herkömmliche Nudeln, Frühstücksflocken und Mehl aus Weizen ersetzen. So ist die Nachfrage nach dem "Korn der Inka" weltweit steil angestiegen. Für die Bauern im Hochland Boliviens sind goldene Zeiten angebrochen, denn zum ersten Mal können sie auf ihren kargen Wüstenböden etwas ernten, was wirklich Geld einbringt. Für einen Sack Quinoa bekommen sie heute vier Säcke Mehl, Zucker, Reis oder Nudeln. Eigentlich könnte sich die Gepa zurückziehen, doch das tut sie nicht. Und das hat einen guten Grund. "Dieser Quinoa-Boom hat ernste Folgen für das Ökosystem in den Anden. Weil alle soviel wie möglich damit verdienen wollen, werden überall Büsche gerodet um Quinoafelder anlegen zu können", hat Andrea Fütterer beobachtet. Doch die karge Ebene des Altiplanos ist für den intensiven Anbau nicht geeignet. Das bisschen fruchtbare Erde im Sand ist das Ergebnis Jahrhunderte langer Beweidung mit Lamas. "Wenn der Boden einfach aufgebrochen wird, trägt der Wind diesen wenigen Mutterboden in kürzester Zeit davon und dann haben die Bauern nichts mehr." Doch kann man es den Bauern verdenken, dass sie endlich einmal Geld verdienen und nicht immer nur am Existenzminimum leben wollen? Kann man von ihnen erwarten, dass sie um der Nachhaltigkeit Willen auf ein Einkommen verzichten und weiterhin nur winzige Parzellen für den Eigenbedarf anpflanzen? Die Gepa versucht, den Bauern zu helfen, einen Mittelweg zu finden, der beiden gerecht wird: dem Gedanken der Nachhaltigkeit und dem Bedürfnis der Bauern nach einem angemessenen Auskommen. Ihre Rolle allerdings hat sich dabei geändert. Ging es früher darum, Märkte zu erschließen, so steht heute der nachhaltige Anbau im Vordergrund. Andrea Fütterer war gerade zum dritten Mal in Bolivien um mit den Mitgliedern von Anapqui darüber zu sprechen, was zu tun ist. Das Ergebnis: Der Bau der Gesundheitsstation wird verschoben. "Anapqui wird mit der Fairhandelsprämie stattdessen eine kleine Baumschule ins leben rufen, damit die Bauern zur Verfügung haben um die Felder bepflanzen zu können. Die sollen die Krume vor dem Wind schützen." Und um die Qualität des Bodens zu erhalten, werden den Bauern, die keine Lamas haben zur Anschaffung solcher, Kleinkredite gewährt. Was den lukrativen Einsatz von Lamas angeht, ist Doña Lydia schon ganz weit vorne. Sie lässt ihre Tiere konsequent dort weiden, wo sie im nächsten Jahr ein Quionoafeld anlegen will. Während ihres Besuchs bei der Lamaherde hat Lydia einen Sack voll Lamaköttel eingesammelt. Sie setzt damit Dünger an. Um ihn herzustellen, versenkt sie den wasserdurchlässigen Sack wie einen gigantischen Teebeutel in einer halbgefüllten Wassertonne und deckt sie mit einer Plastikfolie ab. Mindestens zwei Monate lang muss das Gebräu ziehen. Eine andere Tonne enthält bereits fertigen Dünger. Lydia füllt einen 10 Liter Kanister ab und läuft mit der schweren Last vier Kilometer weit zu ihrem Feld. Unterwegs macht sie bei einem weiteren Mitglied der Kooperative halt und übernimmt das Sprühgerät. Es wurde mit Geldern aus der Fairtradeprämie angeschafft und wird von mehreren Mitgliedern Anapquis gemeinsam genutzt. Im beige-braunen Altiplano fällt Doña Lydias leuchtend grünes Quinoafeld sofort ins Auge. Noch sind die Pflanzen klein, es sieht ein wenig so aus, als hätten sie sich in einer Sanddüne verirrt. Doña Lydia besprüht eine nach der anderen mit flüssigem Lamadung. Diese nachhaltige Art des Quinoaanbaus ist mühsam, keine Frage. Für die Produzenten bedeutet es viel zusätzlichen Aufwand und für die Gepa langwierige Überzeugungsarbeit. Aber für die Bauern ist es die einzige Aussicht auf langfristige Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse. Und wenn alles gut geht, wird es auch irgendwann die Gesundheitsstation geben. Text: Katharina Nickoleit Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter: www.katharina-nickoleit.de
[druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien] |
[art_3] Kuba: Nachrichten aus Kuba (Teil 1) (Teil 2)
Ein Gespräch mit dem kubanischen Schriftsteller Leonardo Padura
Leonardo Padura ist einer der bedeutendsten Vertreter der gegenwärtigen kubanischen Literaturszene. Weltweit bekannt machten ihn seine in den 80er und 90er Jahren publizierten Kriminalromane rund um den Detektiv Mario Conde. Zuletzt wurde Padura für seinen Roman "Der Mann der die Hunde liebte" (2009) von der Kritik gefeiert. Das Buch rekonstruiert die Geschichte der Ermordung Leon Trotzkys durch Ramón Mercader. Wir trafen Padura in Brasilien, wo er Anfang Juli an dem Literaturfestival FLIP teilnahm. Die Hochzeiten der lateinamerikanischen Literatur, angefeuert durch den "Magischen Realismus", sind vorbei. Wie steht denn die lateinamerikanische Literatur derzeit im globalen Literaturbetrieb da? Da hat sich viel verändert. Die Epoche des magischen Realismus hat etwas besonders Wichtiges erreicht, nämlich ein Bild von Lateinamerika zu vermitteln das man in Europa nicht kannte. Und plötzlich waren da 8, 10 oder sogar 15 Schriftsteller von allererstem Rang. Jetzt ist alles anders geworden. Die Logik des Publishings hat sich weltweit verändert, man liest weniger, man verkauft weniger Bücher. Und der Stellenwert der Schriftsteller ist heute wesentlich geringer als damals. Heute haben es die lateinamerikanischen Schriftsteller schwer, sich einen Platz auf dem Weltmarkt zu ergattern. Was hätten denn die Schriftsteller Lateinamerikas dem Rest der Welt an aktuellen Themen zu bieten? Wir bilden das moderne Leben in Lateinamerika ab. Zur Zeit des magischen Realismus dominierten noch die Themen des ländlichen Lebens die Literaturszene, wie "100 Jahre Einsamkeit", die Geschichte eines kleinen, in der kolumbianischen Küstenregion verlorenen Dorfes. Heute schreibt man über Städte wie Lima, Rio de Janeiro, Buenos Aires oder Havanna. Diese neue Literatur hat einen viel stärker urban geprägten Charakter, und in ihrem Mittelpunkt stehen Themen wie der Drogenhandel, die Gewalt, Angst und soziale Konflikte. All diese Themen sind heute viel präsenter. Ihre Kriminalromane sind von nordamerikanischen Schriftstellern wie Dashiell Hammett und Raymond Chandler inspiriert. Wie nah ist die US-Kultur eigentlich der lateinamerikanischen? Im Fall Kubas ist man sich schon sehr nah. In Lateinamerika insgesamt ist diese Nähe jedoch von Land zu Land verschieden. Manche stehen den USA sehr nahe, andere weniger. Und manche stehen praktisch als Antagonisten zur US-amerikanischen Kultur. Was Kuba und die USA angeht, hat man zahlreiche Verbindungen im Bereich der Musik. Der Latin Jazz ist ja ein äußerst bedeutender Musikstil, und er ist das Resultat des Zusammenwirkens von kubanischen Musikern, die in New York lebten, mit der dortigen schwarzen Musikszene. In den vierziger Jahren entstand damals der Ursprung des Latin Jazz, der Cubop. Zudem hat die US-Literatur einen großen Einfluss in Kuba gehabt. Ich habe als Autor sehr viel von den US-Literaten des 20. Jahrhunderts gelernt, allen voran Hemingway, Faulkner, Dos Passos, Salinger und natürlich den Krimiautoren wie Hammett und Chandler. Aber meine literarischen Referenzen sind noch viel breiter aufgestellt, sowohl was meine Krimis wie die Romane angeht. Und manchmal stehen meine Romane viel mehr in dieser Krimi-Tradition als meine Kriminalliteratur. Denn ich benutze die Instrumente des Krimigenres um Literatur zu kreieren. Ich wende punktuell die Form, die Struktur und die Erzählstruktur des Kriminalromans an, weil mir dies als ein sehr effizienter Kommunikationskanal mit den Lesern erscheint. Woher kommt denn diese Liebesbeziehung zum Krimi? Mir gefällt dieser Stil ganz einfach, und deshalb las ich viel von Hammett und Chandler, und anderen. In den 80er Jahren habe ich dann Schritt für Schritt die jüngeren Krimiautoren entdeckt, wie den Spanier Manuel Vásquez Montalbán, der in seiner Literatur einen viel stärkeren sozialen Ansatz hatte. Und natürlich den Brasilianer Rubem Fonseca, für den der Blick auf die Gesellschaft stets wichtiger war als die Kriminalhandlung. Und genau das habe ich auch in meinen Büchern umzusetzen versucht. Und ich bin da nicht der einzige, vielmehr ist das eine globale Bewegung. Schauen Sie wie viele gute Krimiautoren es in Skandinavien gibt, allen voran Henning Mankell, den ich für einen großartigen Autor halte. Diese Autoren gehen bei der Erschaffung ihrer Figuren sehr tief, genau wie in der Beschreibung der auf den ersten Blick perfekt erscheinenden Gesellschaften. Und alle diese Autoren haben dann die dunklen Seiten dieser Gesellschaften aus dem Verborgenen gehoben und für alle sichtbar gemacht. Text + Fotos: Thomas Milz Eduardo Padura - editora en Brasil: http://www.boitempoeditorial.com.br/v3/Autores/visualizar/leonardo-padura Text und Fotos: Thomas Milz [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: kuba]
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[art_4] Peru: Pisco, Guano und die Seelöwen
Wenn man Lust hat zu arbeiten, dann kann man hier auch Geld verdienen. Ich zum Beispiel komme aus Sabadell (bei Barcelona) und besaß noch nie so viel Geld wie hier - wenn man Geld haben jedenfalls in dem bemisst, was man normalerweise so kauft: ein Haus oder eine Wohnung, ein Auto. Ich habe seit fünf Jahren dieses Hotel und konnte nicht nur die angrenzenden Häuser erwerben, sondern mir auch eine Wohnung in Lima leisten. Und demnächst lege ich mir ein zweites Auto zu. (Juan, Hotelier in Pisco) Nach ein paar kurzen Tagen in Lima haben wir gestern unsere Südtour begonnen. Da hier demnächst die Regenzeit beginnt, haben wir uns entschlossen, zuerst den Süden und danach erst den Norden zu besuchen.
Der Busbahnhof schuf nicht unbedingt Vertrauen. Einer von uns blieb immer ganz dicht beim Gepäck und kontrollierte ständig die Vorübergehenden. Vielleicht etwas übertrieben, aber Vorsicht ist ja bekanntlich die Mutter der Porzellankiste. In dem Bus waren wir die einzigen gringos, der Rest Peruaner verschiedenster Hautfarbe. Die Busse sind nicht mit unseren Standards zu messen (eine Staubwolke stieg aus einem der Sitze auf, als ich etwas darauf warf), allerdings die Preise auch nicht: sehr preiswert und sie zeigen sogar ein Video (OmU). Bei der Ausfahrt aus Lima kann man die cerros (Hügel) bewundern, die Lima umgeben und an deren Hängen hausähnliche Konstruktionen sich gen Gipfel schieben. Immerhin noch aus Stein... Die Küstenlandschaft ist wüst; im wahren Sinne des Wortes. Leider keine aufregend schöne Sanddünenwüste beim Sonnenaufgang, sondern sehr grau und einfach: wüst. In Peru -vielleicht als Fortsetzung der Tradition Nazca- wird gerne in / auf die Hänge geschrieben: politische oder kommerzielle Werbung, manchmal auch einfach der Name der Region oder anderes. Während der Busfahrt steigen ab und zu fliegende Händler ein und verkaufen Essbares: Früchte, Maiskolben (mit einem uns unbekannten, sehr großkörnigen Mais), Kuchen, Gebäck, Erdnüsse und Getränke. Immer wenn der Bus anhält, gilt unser Blick der Gepäckklappe. Der Busfahrer lässt uns an einer Kreuzung raus, denn er fährt nicht rein nach Pisco. Dort aber überfallen uns schon die Taxis und bald sind wir uns handelseinig. Der Fahrer schließt natürlich die Kofferraumklappe ab. Die Taxis sind klein und halboffiziell und es muss sich auch auf dem Fahrer- und dem Beifahrersitz angeschnallt werden. Der Taxifahrer bringt uns zu der Posada Hispana, einem Hotel der Mittelklasse. Dort treffen wir auf Juan aus Sabadell (bei Barcelona). Leider ist sein Hotel voll belegt, aber er verspricht uns für morgen ein Zimmer. Seine Zimmer, die er uns gerne zeigt, sind wirklich herrlich. Wenn man die Standards von hier anlegt, luxuriös. Und der Preis ist völlig ok. Wir schlafen derweil in einer sehr einfachen Pension (3,5 mal so billig und trotzdem sauber und mit mehr oder weniger warmem Wasser). An der plaza de armas findet man diese Kirche, die einige erstaunliche Preziosen enthält, die gerne von dem Wächter gezeigt werden. Jedenfalls, wenn die Kinder ihn lassen. Pisco hat angeblich 90.000 Einwohner, von denen man allerdings nichts merkt. Eher Kleinststadtflair. Der Hauptplatz -der hier häufig la plaza de armas, also der Waffenplatz, genannt wird- hat eine schöne Kirche und ein Rathaus im Kolonialstil. Die Leute (wir sehen auch ein paar Touristen) sitzen auf Bänken und schwatzen. Außer der plaza de armas gibt es nicht viel zu sehen, wenn man auf "Sehenswürdigkeiten" aus ist. Wir besuchen eine völlig herunter gekommene Kirche mit Führung und ich spiele ein bisschen mit den Kindern, die versuchen, den Führer nervös zu machen.
Noch traue ich mich nicht, frei mit der Kamera herumzulaufen, sonst hätte ich gestern sicherlich die dreifache Menge an Photos gemacht. Die Farben sind schrill, die Kombinationen sehr ungewohnt, die Gesichter phantastisch! Mal abgesehen von den motorisierten Dreiradtaxis, die sich gestern Abend vor unserer Hoteltür versammelten, als ob sie eine Demonstration abhalten wollten. Es gibt viel Wahlpropaganda, allerdings direkt auf die Häuserwände gemalt. Jeder Kandidat hat, neben seiner Listennummer, auch ein Zeichen. Nicht alle können lesen.
Wie gesagt hält Pisco einige kleinere Sehenswürdigkeiten bereit. Aber die eigentliche raison d’être für die vielen kleinen Reisebüros ist die Halbinsel von Parracas und die in der Nähe liegenden Ballesta-Inseln. Letztere werden auch manchmal die "Galapagos des kleinen Mannes" genannt.
Schließlich ist das Betreten der Inseln nur alle paar Jahre erlaubt, wenn das Guano, der Vogelkot, dort abgebaut wird. Ansonsten sind die Inseln noch nicht einmal für Einheimische zu begehen. Bei der Auswahl des Reisebüros trafen wir zum ersten Mal auf ein Phänomen, das wir auch in Zukunft des häufigeren erleben würden: eigentlich klang das Angebot sämtlicher Organisatoren vollkommen identisch, der Preis war auch derselbe. Nur der Name und die Freundlichkeit der Verkäuferin oder des Verkäufers differierten. Die Halbinsel Parracas liegt ungefähr eine halbe Busstunde vom Zentrum Piscos entfernt. Dort gelangt man zum Hafen, an dem unübersehbar die Hauptbeschäftigung der Tourismus ist. Kaum dem Bus entstiegen, werden einem Mützen, Schals, Filme und sonstige Artikel angeboten, die Touristen eben so brauchen. Die Boote am Landungssteg sind überwiegend dazu gedacht, die gringos zu den Inseln zu transportieren. Aber es gibt immer noch ein paar Fischerboote, die um diese Tageszeit von Pelikanschwärmen umringt sind, die auf Fischreste hoffen. Dort, wo die Fischer solche Reste über Bord werfen, finden sich bis zu hundert Tiere ein. Pelikane (oder zumindest die Art, die wir hier antreffen) sind nicht eigentlich hübsch. Sie haben ein braun-weißes Gefieder, das ein bisschen schmutzig wirkt. Aber wenn sie in der Luft sind und man nur ihre schwarze Silhouette sieht, dann macht sie das zu sehr schönen Vögeln. Ihr Flug ist überaus elegant. Sie fliegen in Schwärmen, und es ist beeindruckend zu sehen, wie koordiniert die einzelnen Tiere hintereinander herfliegen.
Und auf der abfallenden Dünenflanke ist ein riesiger Geoglyph, ein übergroßer Kandelaber zu erkennen. Es ist schwer zu schätzen, wie groß er ist, aber er wird 40 Meter hoch und vielleicht 20 Meter breit sein. Keiner weiß so recht, woher dieser Kandelaber kommt, wer ihn in den Sand gegraben hat und wann. Es gibt viele Theorien, von denen eine besagt, dass der Kandelaber zur Zeit der Parracas-Kultur (700 v. Chr. - 200 n. Chr.) entstanden ist. Und dass dieser Kandelaber in Wirklichkeit ein St. Pedro-Kaktus ist. Aus dem Saft dieses Kaktus wird ein halluzinogener Stoff gewonnen, der hier schon immer von Schamanen für die Zukunftsfindung benutzt wurde. Das andere Extrem besagt, dass der Kandelaber Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Die Linien, die diesen Kandelaber bilden, sind ca. 20 Zentimeter in den Boden gegraben. Und - so zumindest behaupten das die Einheimischen - sie werden nicht gepflegt, nie nachgezogen oder sonst wie instand gehalten. Wenn man sich die Wüstenei um den Kandelaber herum ansieht, kommt einem das reichlich mysteriös vor, denn bei dem Wind, der uns fast die Mützen vom Kopf weht, sollte man eigentlich erwarten, dass der Kandelaber binnen kürzester Zeit zugeweht ist. Dann geht die Reise weiter über den Ozean: ein herrlich blauer Tag reflektiert sich im Wasser und lässt auch dieses tiefblau erscheinen. Der Wind pfeift unablässig, aber wir schauen nur nach vorne und freuen uns an dem herrlichen Wetter. Die Inseln kommen in Sicht und beeindrucken sofort mit einem riesigen Felsbogen, eine Art Durchstich durch die Hauptinsel. Noch bevor wir ganz herankommen liegt links etwas Obskures im Wasser, das der Führer schnell beseitigt. Wir fragen ihn auf Spanisch, was denn das gewesen sei: eine Pinguinhaut. Die Fischer, erzählt er uns, erjagen von Zeit zu Zeit auch einen Pinguin, obwohl das streng verboten ist.
Das nächste, was wir bemerken, ist der unglaubliche Gestank, den Seelöwen und sonstiges Getier ausströmen. Zuerst sehen wir die Silhouetten der Seelöwen unter dem Felsbogen, etwas später dann fahren wir in kaum 30 Meter Abstand an ihnen vorbei. Sie fläzen sich auf den Felsblöcken herum oder springen ins Wasser und baden. Der Lärm, den sie machen, ist absolut beeindruckend. Etwas später werden wir an eine Art Badestrand kommen, an dem einige tausend Tiere liegen: da muss man sich schon fast die Ohren zuhalten. Die Seelöwinnen (-löwen gibt es eigentlich nur ein paar) machen den Eindruck eines völlig entspannten Lebens. Nicht einmal dass Geier eine verstorbene Kollegin zerfleischen, hält sie davon ab, kaum ein paar Handbreit daneben in der Sonne zu liegen. Auf den Inseln gibt es aber nicht nur Seelöwen. Von den seltenen und sehr kleinen Pinguinen, die dort dank des (ziemlich) kalten Humboldtstromes überleben können, sehen wir nur einen Schatten, der sich in die Ecke einer kleinen Grotte drückt. Nur an seinem weißen Brustgefieder ist er zu erkennen. Ansonsten: Vögel, Vögel und noch mal Vögel. Die Guano-Anlagen stören das Bild ein wenig. Ihre Existenz wird etwas verständlicher, wenn man weiß, dass Peru eine seiner goldenen Phasen der Postkolonialzeit dem Guano verdankt. Das Wort "Guano" kommt sogar aus dem Quechua (einer der beiden einheimischen Sprachen Perus und die Sprache der Inka) und bedeutet genau das, was man auch heute unter Guano versteht: (ein natürlicher Dünger aus) Vogelscheiße. Guano wird in Peru seit vielen hundert Jahren als Dünger benützt. Die Inkas kannten es bereits und es war ihnen so wertvoll, dass ein Guano-Dieb dem sicheren Tod ins Auge sehen musste.
Die hoch verschuldete peruanische Regierung sah einen möglichen Ausweg aus der Krise und ließ Guano abbauen, was das Zeugs hielt. Dass Guano über Hunderten von Jahren entsteht, war dabei natürlich nicht so entscheidend. Man muss allerdings zugeben, dass die drei wesentlichen Guano-produzierenden Vogelarten erstaunliche Mengen hervorbringen können: auf einer der Inseln leben bis zu einer Millionen Tiere, die wiederum bis zu 11 000 Tonnen jährlich "produzieren". Und vielleicht hinzufügen, dass Peru mit einer horrenden Summe verschuldet war; sie hofften, die gesamten Schulden mit dem natürlichen Dünger bezahlen zu können. Guano wurde so bedeutend, dass es fast zu einem Krieg zwischen Peru und den USA gekommen wäre, als im Jahre 1852 ein großes Vorkommen auf den Lobos-Inseln entdeckt wurde, und die USA die Inseln schlicht annektierten. Man einigte sich letztendlich gütlich: Peru senkte den Preis drastisch und bekam dafür die Inseln zugesprochen, aber die Idee schien den Nordamerikanern gefallen zu haben: 1856 beschloss der amerikanische Kongress, dass seine Staatsbürger jede Insel im Pazifik oder in der karibischen See mit Guano-Vorkommen, die noch nicht "rechtmäßig" zu einem anderen Land gehöre, besetzen könnten und dass diese Insel zu amerikanischem Staatsgebiet erklärt werden könne und schließlich, dass sie keinesfalls "zurückgegeben" würde, bis die Vorkommen erschöpft seien. Die Vorkommen wurden unter unmenschlichsten Bedingungen abgebaut. Tausende chinesischer Arbeiter - die meisten von ihnen schanghait - arbeiteten unter katastrophalen Umständen: fast nackt, ohne jegliches Recht auf Ruhe oder gar Urlaub. Viele begingen Selbstmord. Zusammen mit den Chinesen arbeiteten Strafgefangene und ein paar Polynesier. John Moresby beschrieb das 1913 mit den Worten, es gäbe kaum eine Parallele hinsichtlich kaltblütiger Grausamkeit. Ähnlich wie das andere große Zeitalter, das des Kautschuks, wurde der Guano-Reichtum jäh durch die Erfindung eines künstlichen und preiswerteren Ersatzstoffes, in diesem Falle dem Kunstdünger - Justus Liebig ist hier der große Name-, beendet. Und da das meiste Geld aus dem Erlös des Guanos nicht in die Hände der Arbeiter gelangt war, sondern für die Staatsschulden aufgebraucht oder im Missmanagement verdunsten war, hieß das schlicht und einfach mal wieder Misere für die Einheimischen.
Auf jeden Fall war der Anblick, Geruch und das Geräusch der vielen tausend Seelöwen mehr als beeindruckend. Ein wirklich schönes Erlebnis! Text + Fotos: Nil Thraby [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: peru] |
[kol_1] Traubiges: Riojano Irresistible
La Rioja Alta 'Gran Reserva 890' Warum soll man nicht mal über einen Kultwein schreiben? Einen, der Weinliebhaber, -kenner und -kritiker gleichermaßen um den Verstand bringt. Einen, der zwar schon ziemlich ins Geld geht, aber im Vergleich zu den vielen höchstpreisigen französischen Gewächsen doch eher wie ein Schnäppchen daherkommt. Einen, den man ohne Weiteres mit solchen Begriffen wie Grandseigneur der Gran Reservas oder als Rioja-Rakete betiteln kann oder auch ganz sinnlich als Verführer. Aber von vorne: Es war im Jahr 1890 als fünf baskische Weinbauern mit Wurzeln in der Rioja ein Weingut gründeten und damit das Fundament für großartige Gewächse legten. Sie hatten von Anfang an das Ziel, in der höchsten Liga der Weinwelt mitzuspielen und engagierten daher sogar einen französischen Önologen. Schon damals wurden alle Fässer in der bodega-eigenen Küferei hergestellt. Qualität war nicht nur die Maxime im Weinberg, sondern auch im Weinkeller. Zwei lange Jahre gab und gibt man dem aus Amerika importierten Holz Zeit zu trocknen, bevor es zu Fässern verarbeitet wird. Heute gehört das Weingut, das übrigens "Rioja Alta" heißt, zu den Klassikern der Rioja.
Aber er lohnt sich! Und er hat diesen Wein (und mit ihm die Bodega) berühmt gemacht: "Bester Rioja" oder aber "einer der zehn besten Weine Spaniens" lauten derzeit die Beurteilungen für den Jahrgang 1998 dieses Weins. Aber was bedeuten schon Superlative? Was dem eenen sin Uul, is dem andere sin Nachtijall. Trotzdem ist es nicht weit hergeholt, diesen Wein als Gentleman oder eben sogar als Verführer zu bezeichnen. Denn sein Reiz beginnt schon beim Öffnen der Flasche: Sobald er mit all seiner Intensität ins Glas fließt, offenbart er sein intensives Kaminrot, das im Kern immer dunkler wird, aber am Rand schon fast ziegelfarben schillert. Sein Bukett ist kraftvoll und ausdrucksstark aber auch elegant und überhaupt nicht aufdringlich. Reife dunkle Früchte und Konfitürenoten gepaart mit Tabak, Gewürzen, Leder, Vanille und Zimt steigen zur Nase auf. Dann der erste Schluck: Geschmeidig, vollmundig und charaktervoll legt er sich über den Gaumen. Noble Aromen edler Schokolade, schwarzer Waldbeeren und frischer Muskatnuss umspülen die Zunge. Seine geschmolzenen Tannine sind samtweich und im Hintergrund dominieren zarte Eukalyptusanklänge. Sein Abgang ist genau so, wie er sein soll: extrem lang, außerdem geprägt von Frucht und Gewürzen, mit einem Hauch Barrique. Absolut unwiderstehlich! Text: Lars Borchert Foto: Grupo La Rioja Alta, S.A. Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika. [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges] |
[kol_2] Grenzfall: Salsa auf dem Trockenen und abgelaufenes San Miguel Das Leben meint es diesen Monat wirklich nicht besonders gut mit mir. Erst verbringe ich ein tierisch verregnetes Wochenende zwischen fassungslos vor Entsetzen starren und ängstlich wimmernden Kindern, die am Thüringer Meer ihren Eltern beim Salsa-Workshop des Grauens beiwohnen müssen.
Einen Schritt vor, einen zurück. Jetzt die Jungs. Vor und zurück. Halbe Drehung. Mein Blick fällt auf der Suche nach meiner Tochter auf die Salsa-Gesellschaft. Mitleid! Tag zwei des Workshops und immer noch keine Musik. Kein Hauch von Spass liegt in der Luft. Ernsthaftigkeit pur. Trauer allenthalben. Salsa halt. Jetzt sitze ich im Zug. Müde, leer, verloren, ein Städchen nach dem anderen passierend. Wie läuft wohl ein Salsa-Workshop in Hildesheim, Fulda, Hanau ab?, frage ich mich gerade, da entdecke ich, dass das San Miguel bereits im Mai abgelaufen ist… Danke Jungs! Beim Öffnen fällt mir dann noch auf, dass ich das 1516er die ganze Nacht in der Tasche und nicht in der Kühlung hatte. Angewidert schweifen meine Gedanken nach Saalfeld zum Salsa-Lehrer: Blond, schütteres Haar, Bierbauch, aber vermutlich leichten Schrittes, so mein erster Eindruck. Obwohl in Anbetracht der plattgetretenen schrill schreienden Tanzschuhe… Passend zum Schuh das Shirt, in der Jeans getragen. Unheimlich das alles. Wie dann der Zufall will, steht er plötzlich neben meiner Freundin aus El Salvador und mir und erklärt uns Lateinamerika: In Kuba sitzt an jeder Ecke eine alte Frau ohne Zähne und raucht eine dicke Zigarre. Brasilien ist Samba, Tanga, Fußball. In Peru spielen die Lamas Panflöte. Und in Mexiko hab ich an der Seite der Azteken die Spanier verdroschen. Toll ich, oder? Also doch lieber ein warmes San Miguel Edition Reinheitsgebot von 1516. Schluck! Geht! Nicht so schlecht! Weg in einem Zug! Auf den Geschmack gekommen, eile ich ins Bord-Bistro und spüle nach. Per SMS buche ich den Salsa-Trainer für die nächste Redaktionssitzung als Überraschungs-Akt und wünsche den beiden Täubchen, dass sie den Kindern gleich das Grauen frösteln lässt. Text + Foto: Maria Josefa Hausmeister [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall] |
[kol_3] Helden Brasiliens: Oh Rio de Janeiro so schön...
... und voller
olympischer
Probleme
Noch genau ein Jahr, dann starten die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro. Derzeit gleicht die Stadt einer einzigen riesigen Baustelle. Wir haben den Biologen Mario Moscatelli getroffen, der seit Jahren an vorderster Front für die Reinigung der Gewässer der "wundervollen Stadt" kämpft, der Flüsse, Lagunen und der Guanabarabucht. Vor sieben Jahren hatte uns Moscatelli seine Projekte zur Reinigung der Bucht vorgestellt, seine Mangrovenpflanzungen und Schutzzäune gezeigt, die den im Wasser treibenden Müll von den Pflanzen fernhalten sollen. http://www.caiman.de/12_07/kol_1/index.shtml Als der Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2009 an Rio ging, versprachen die Behörden, die Bucht zu säubern; 80% aller Einleitungen sollten in Kläranlagen gesäubert werden. Heute sind es maximal 50%, und das laut Angaben der Regierung. Moscatelli glaubt jedoch, dass sich seit 2009 praktisch nichts getan habe. Zumal die Projekte zur Reinigung der Bucht wegen Geldmangels bereits ausgesetzt wurden. Als letzte Möglichkeit, die Gesundheit der Athleten zu schützen, empfiehlt Moscatelli ihnen deshalb eine gute Impfung gegen Hepatitis. Für alles andere sei keine Zeit mehr, so der Biologe. Vor wenigen Tagen hat nun auch noch die Agentur Associated Press eine eigens durchgeführte Untersuchung der Gewässer veröffentlicht. Man entnahm dabei an den olympischen Sportstätten in Copacabana (Schwimmen), in der Rodrigo de Freitas Lagune (Rudern) und der Guanabarabucht (Segeln) Wasserproben, die extrem hohe Grade an Verseuchung durch Viren ergaben. Das Wasser weise Werte auf, die sonst nur in purem Abwasser gefunden würden, so die Wissenschaftler. Die Behörden erklärten derweil, dass alles im grünen und gesunden Bereich sei. Gefahr für die Gesundheit der Sportler bestünde nicht. Wie diese Novela ausgeht, werden wir spätestens in einem Jahr bei Olympia sehen. Aber die eigentliche Tragödie wird weit über Olympia hinaus reichen. Denn wenn es nicht möglich war, vor Olympia die Bucht zu säubern, wird es danach wohl noch schwieriger werden. Denn dann schaut die Weltöffentlichkeit nicht mehr auf die "cidade maravilhosa". Text und Fotos: Thomas Milz [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]
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[kol_4] Lauschrausch: Wundersame Klänge aus Peru
Kanaku y el Tigre trifft Novalima Dieses Album ist ein Kandidat für DIE Platte des Jahres aus Lateinamerika. Kanaku y el Tigre, ein Projekt der beiden Peruaner Nicolás Saba und Bruno Bellatín, überrascht mit einer einzigartigen Klangwelt, die sich aus komplexen Schichten zusammensetzt, die es zu entblättern gilt und die Instrumente wie Gitarre, Akkordeon, Charango, Glockenspiel und Klavier mit sanfter Elektronik und Chorgesang vereint. Dieses Fest der Klänge manifestiert sich in schönen Melodien und mit einer Energie, die sofort auf den Hörer überspringt - man beachte nur das expressive Cover-Artwork. Schon der erste Titel "Quema, quema, quema" (mit englischem Text) noch einer der weniger originellen mischt Hawaiigitarrensounds mit dschungelähnlichen Chorussen und elektronischen Verzerrungen à la Talk Talk zu einem psychedelischen Gesamtkunstwerk, das zwischen laut und leise changiert und gleichzeitig groovt. "El diablo bailando en mi sala..." heißt es irgendwo im zweiten Song "Nunca me perdí" und tatsächlich scheinen immer wieder "teuflische" Elemente zwischen den Melodien durch (hier ein "twang" der an "Bela Lugosi’s Dead" von Bauhaus erinnert). Chorgesang spielt auch hier eine tragende Rolle, die er sich mit einer hawaiianischen Slidegitarre teilen muss. Und so geht es weiter: Das langsame, aber energiegeladene "Pulpos" wird von der spanischen Gastsängerin Leonor Watling veredelt, die über Fuzzgitarren und leise elektronische Beats singt. Diese Westernstimmung erhält sich in "Quien se queda, quien se va", einem tarantinomäßigen Roadsong, in dem Ukulele-Klänge die Sehnsucht erhöhen. Tatsächlich hat sich die Band für ihr Album von Jack Kerouac’s Kultroman "On the Road" inspirieren lassen, was sich auch in den Texten niederschlägt. Verzerrte Gitarren, Raumschiffsounds, Chöre und eine schöne Melodie handeln das Thema "Si Te Mueres Mañana" sehr beschwingt ab. Ein scheinbarer Gegensatz zur akustischen Gitarre und Klavier im Country-Rhythmus, die meinen Lieblingssong "Bubucelas" einleiten, ein melancholisches Liebeslied, das aber keineswegs traurig macht. Auch die weiteren vier Songs u.a. mit den Gastsänger(inne)n Pamela Rodríguez und Sergio Saba halten das anspruchsvolle Niveau einer Wundertüte voller Überraschungen. Wundersame und vielschichtige Folk-Pop-Perlen mit einer düster-karnevalesken Grundstimmung, die man sich geduldig entwickeln lassen sollte. Stellen Sie den CD-Spieler (falls Sie noch einen haben) auf Repeat! Von einer Musik der Sklaven hat sich die afroperuanische Musik in den vergangenen 100 Jahren zu einer nationalen Musik entwickelt und ist mit Bands wie Novalima im elektronischen Zeitalter angekommen. Die siebenköpfige Truppe legt mit Planetario nun ihr fünftes Album vor und globalisiert mit vielen internationalen Gästen die heimischen Klänge. Mit afroperuanischer Perkussion, die in Dancefloorelektronik übergeht, startet die Singleauskopplung "Como yo", ein Song, der das Leben feiert und damit einen Wunsch von Mangue Vasqzuez erfüllt, dem 2014 verstorbenen Perkussionisten der Band. ¡Pura Vida! Genieße das Leben!, heißt es auch im zweiten Song "Beto Kele", einer cumbia, in der neben der Stimme der Kolumbianerin Eka Muñoz (von der Band Sidestepper) zum Beat eine gaita cajamarca erklingt, eine alte peruanische Doppelflöte, mein Favorit auf dem Album, hör- und sehr tanzbar. Novalima belassen es aber nicht bei Ausflügen in die afro-kolumbianische Musik, sie flechten auch kubanische Elemente ein in ihr Gerüst aus akustischer und elektronischer Percussion. U.a. in "Santero" oder im vom kubanischen Rapper Kumar mitgesungenen "Mi canto", das sich um die Ahnen(kulte) dreht. "Tinkalamina" und "Memekume" werden geprägt von einem schwirrenden Gitarrenspiel, welches sich elegant über die Beats legt. Selten beginnen die allzu einfachen Rhythmen und repetitiven Texte zu nerven, wie in "San Antonio", einem traditionellen peruanischen Lied. Novalima kombinieren Tradition und globale DJ-Kultur sehr geschickt, was im Song "Quebranto" von Tato Guzmán deutlich wird: die Aufnahme eines traditionellen Liedes aus den 1950er Jahren der Sängerin Rosa Guzmán wird mit den Klängen der cajón (die in Peru erfunden wurde) und elektronischen Beeps elegant ins 21. Jahrhundert katapultiert. "Tanzmusik" greift zu kurz als Bezeichnung für diese Musik, aber tanzbar ist sie allemal. Text: Torsten Eßer Cover: amazon [druckversion ed 08/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch] |