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[art_1] Spanien: Filigrane Fabelwesen
Der romanische Kreuzgang von Santo Domingo de Silos
 
Noch auf der Fahrt durch die verregnete grüne Einsamkeit hatte Manuel, ein Professor der Kunstgeschichte aus Madrid, mir versprochen, mich zu einem der wertvollsten Monumente Spaniens zu führen. Abgeschieden von der Welt, ca. 50 Kilometer südlich von Burgos auf fast 1000 Metern Höhe umgeben von den noch 400 Meter höheren Peñas de Cervera liegt das Kloster Santo Domingo de Silos. Zwar ist die spätbarocke Klosterkirche auch sehenswert, aber nichts Besonderes. Der eigentliche Schatz dieses Klosterkomplexes ist der wohl berühmteste romanische Kreuzgang Spaniens, entstanden zwischen 1080 und 1140.  Umschlossen wird dieses Weltkulturerbe von einer düsteren, zinnenbewehrten Mauer. Der erste Eindruck ist abweisend: Es scheint als solle diese Festungsmauer alle neugierigen Blicke vom Heiligtum abhalten.

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Das ganze Dorf ist auf das Benediktinerkloster ausgerichtet, das vor zweieinhalb Jahrzehnten aus akustischen Gründen Weltruhm erlangte. Die gregorianischen Gesänge der Mönche von Silos, aufgenommen hier im Kloster, gehören bis heute zu den meistverkauften spanischen Tonträgern überhaupt und wurden mehrfach in Techno- und Trance-Nummern hinein gesampelt. Nach wie vor kann man hier diese meditativen Choräle aber auch live erleben - z.B. jeden Sonntagabend zur Vesper um 19.00 Uhr, zur Complet um 21.40 Uhr oder zur Sonntagsmesse um 11.00 Uhr morgens. (Hörprobe: http://www.abadiadesilos.es/escuchar.htm)

Viele fromme Besucher nehmen dafür weite Wege auf sich und es wird berichtet, dass manch ein gestresster Manager so verzaubert wurde von diesem sakralen Sirenengesang, dass er spontan entschied, die schnöde Welt hinter sich zu lassen und von einem Tag auf den anderen hier ins Kloster eintrat.

Zumindest hätte er eines damit gewonnen: den ständigen Ausblick auf ein Weltwunder romanischer Kunst, das aus je zweimal 16 und 14 Bögen besteht. Dieser Kreuzgang von Santo Domingo de Silos erstreckt sich auf zwei Ebenen, wobei die Säulen und Kapitelle im Erdgeschoss künstlerisch bedeutend wertvoller sind als die Galerie im Obergeschoss. Die Ost- und Nordseite des unteren Kreuzgangs ist der älteste Teil des Komplexes und der einzige, der schon vor 1100 errichtet wurde.

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Dort ruht der Gründer des Klosters, der heilige Abt Domingo (ca. 1000 - 1073), in einem steinernen Sarkophag, der von drei drolligen Löwen getragen wird. Berühmt ist der Kreuzgang von Silos durch die auffällige Dekoration der Säulenkapitelle, die sich durch enormen Phantasiereichtum auszeichnet. Typisch für den älteren Part auf der Nord- und Ostseite sind zum einen filigrane Fabelwesen wie kuriose, Flamingo ähnliche Vögel, bei denen jede Feder einzeln gemeißelt wurde. Daneben entdeckt man rätselhafte Vogelwesen mit Menschengesichtern oder expressionistischen Monsterfratzen, bedrohliche Harpyien, aus deren Schnäbeln sich Schlangen heraus winden.

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Diese drastischen Schreckensfiguren sollten Mönche und sonstige Menschen stets an das Jüngste Gericht und drohende Bestrafungen für ihre Sünden erinnern. Wie zur Beruhigung öffnen sich zwischen den Säulenkapitellen, die von Monstern bevölkert werden, immer wieder Blicke in das grüne Heckenlabyrinth des Innenhofs, in dem sich ein Naturmonument erhebt: eine majestätische Zypresse, deren Alter auf mindestens ein halbes Jahrtausend geschätzt wird. Sie hat den spanischen Dichter Gerardo Diego im Jahr 1924 zu einem genialen Sonett inspiriert.

Die biblischen Szenen in diesem Kreuzgang konzentrieren sich besonders auf die Apostelgeschichte: der auferstandene Christus mit Aposteln auf dem Weg nach Emmaus, Christus und der ungläubige Thomas, das Pfingstwunder. Charakteristisch für die Darstellung von Silos sind flächig gemeißelte, überlang gestreckte Figuren, ikonenhaft und ohne Raumtiefe präsentiert.

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Während vor allem die frühromanischen Bauten in Katalonien eher unter italienischem Einfluss entstanden (Kloster von Ripoll, San Vicente in Cardona, Sant Pere de Galligans in Girona) oder sogar von italienischen Baumeistern entworfen wurden (Kathedrale von Seo de Urgel), kamen bei der Errichtung romanischer Kirchen in Kastilien besonders französische Einflüsse zur Geltung. Einige Kunsthistoriker wollen in Santo Domingo große Ähnlichkeit mit der Gestaltung der Kapitelle in St. Pierre im französischen Moissac entdeckt haben, andere betonen arabisch-orientalische Einflüsse bei der Dekoration. Beides ist wohl zutreffend. Denn das filigrane Steingeflecht dieser Kapitelle erinnert an die "steinernen Vorhänge" der islamischen Kalifatskunst von Córdoba (Medina Azahara) und die Kapitelle der von muslimischen Baumeistern entworfenen Synagoge von Toledo.

Und in der Verschmelzung von gegensätzlichen Vorbildern aus dem keltisch-christlichen Norden und dem muslimischen Süden entstand damit ein einzigartiges und aufgrund dieser Mischung wiederum typisch spanisches Kunstwerk, das seit einem Jahrtausend alle Besucher zum Staunen bringt.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
Kloster Santo Domingo de Silos: www.abadiadesilos.es
Öffnungszeiten des romanischen Kreuzgangs: Dienstag - Samstag: jeweils 10.00 -13.00 Uhr und 16.30 - 18.00 Uhr, Sonntag: 12.00 - 13.00 Uhr und 16.00 - 18.00 Uhr, Montag: geschlossen

Gregorianische Gesänge: bei jedem Gottesdienst (in unterschiedlichem Umfang, je nach Dauer und Feierlichkeit): Vigilia: 6.00 Uhr morgens, Laudes: 7.30 Uhr, Sonntagsmesse um 11.00 Uhr, Vesper: 19.00 Uhr, Complet: 21.40 Uhr

Hotel Santo Domingo de Silos:
Calle Santo Domingo 14
Tel. (0034) 947 390053
www.hotelsantodomingodesilos.com

Gutes Drei-Sterne-Hotel in zentraler Lage, das auch ein empfehlenswertes Restaurant unterhält. EZ ab 54 Euro, DZ ab 78 Euro. Im Restaurant kastilische Spezialitäten von Lammhaxe bis Spanferkel und Blutwurstplatte. Herzlicher Empfang.

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