ed 07/2014 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Zwanzigste Etappe: Kunstrausch in León, der schönsten Stadt des Camino
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


peru: Ofen-Meerschweinchen mit gefüllten Paprikas
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 2]
brasilien: Fan in Action live
Der normale Wahnsinn um die besten WM-Momente
THOMAS MILZ
[art. 3]
peru: Lima – 2150, ungefähr
NIL THRABY
[art. 4]
macht laune: Kleben bis das Album voll ist!
Panini-WM 2014 – Endrunde: die letzten 50 Tüten (?)
THOMAS MILZ
[kol. 1]
traubiges: Malva-was?
Muga Blanco Rioja 2013
LARS BORCHERT
[kol. 2]
grenzfall: Teneriffas wildes Wasserwirtschaften
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Gipsy Rhumba
TORSTEN EßER
[kol. 4]

[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Zwanzigste Etappe: Kunstrausch in León, der schönsten Stadt des Camino
 
17. Juni 2013: Um 6:30 Uhr brechen wir voller Vorfreude auf, denn heute erwartet uns nach endlosen Steppen-Etappen durch kleine Schafdörfer endlich mal wieder eine richtige Stadt. Und zwar nicht irgendeine, sondern die allerschönste Stadt des gesamten Jakobsweges: León, ein Mini-Paris in Kastilien. Doch ein Spaziergang wird das nicht.

Nur drei Kilometer hinter Reliegos erscheint statt der erhofften Morgensonne ein veritables Gewitter am gnadenlosen Himmel. Blitze und Donner auf nüchternen Magen. Dunkelviolette Wolkengebirge türmen sich am Horizont – und kommen beängstigend schnell näher.

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Cayetana, noch halb verschlafen, kramt fluchend in den Tiefen ihres Rucksacks und zaubert nach minutenlanger Suche ihr grellrotes Regencape hervor. Zum ersten Mal während unseres langen Weges regnet es heftig und am Horizont ist kein Lichtstreif zu entdecken. Als wir im ersten Ort, Mansilla de las Mulas, ankommen, müssen wir nicht groß diskutieren. Bei diesem Regen wird nicht weiter gegangen, und so stürzen wir durch die Tür der erstbesten Cafetería. Eine gute Wahl, denn sie gehört zur Pilgerherberge des Ortes. Hier schlagen wir die Zeit tot, frühstücken zweimal, während der Regen draußen niederprasselt. Cayetana stopft pausenlos Magdalena-Biskuits in sich hinein, nach der zwölften habe ich aufgehört zu zählen.

Irgendwann lässt der Regen nach und wir wagen uns wieder hinaus auf die windgepeitschte Hochebene. Kurz hinter der Stadtmauer von Mansillas treffen wir auf Andrew, einen jungen Mann aus Birma, der in London lebt. Wir helfen ihm, sein Regencape über den Rucksack zu ziehen. Andrew sieht den Camino eher sportlich. Tagesetappen von 50 Kilometern und mehr (!) sind für ihn normal. Ob er bei solchem Tempo überhaupt irgendwas links oder rechts des Weges registriert, bleibt sein Geheimnis. Aber er ist sehr nett und wir verabreden uns zur Besichtigung der Kathedrale am Nachmittag. Dann verabschiedet er sich, denn an unser "superlangsames" Tempo kann er sich als Camino-Jogger nicht gewöhnen.

Irgendein Scherzkeks hat in den östlichen Vororten von León falsche gelbe Pfeile auf Hauswände gepinselt, die uns nicht zur Kathedrale, sondern Richtung Stierkampfarena führen. Dadurch sind wir gezwungen, einen langen, halbkreisförmigen Umweg zu gehen. Cayetana findet das nicht lustig. Immer noch nass vom Regen, ist ihre Geduld nicht weiter strapazierfähig, sie will sofort eine heiße Dusche und "endlich ein richtiges Bett". Also greift sie ihr Mobiltelefon, wählt die Nummer des Hotels, wo wir ein Zimmer reserviert haben, und lässt sich Schritt für Schritt dorthin dirigieren. Nach der Siesta ist sie wieder ansprechbar und ahnt, was sie erwartet: Kultur total. Um ihre Abwehrhaltung zu schwächen und sie zu ködern, lade ich sie zunächst in der Calle Ancha zu Kaffee und Törtchen ein. Ein voller Erfolg! Denn zusätzlich zum von Cayetana bestellten Stück Cremetorte aus weißer Schokolade gibt es noch ein Reistörtchen gratis dazu – als "Tapa".

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Doppelt gestärkt dringen wir ein in das tausendfarbene Dämmerlicht der Kathedrale von León und sind sofort wie verzaubert. Denn diese Kirche gleicht einem Kristalltempel, die hoch ragenden Wände scheinen eher aus geheimnisvoll glitzerndem Glas als aus Stein zu bestehen. Stumm schreiten wir, ständig nach oben blickend, diese gläserne Galerie von Heiligenfiguren ab, die seit Jahrhunderten von oben auf die Ströme der winzigen Pilger hinab blicken, die sich auf der Suche nach innerer Erleuchtung hier vom farbenprächtigen Lichtspiel inspirieren lassen. Ganz großes Kino des Mittelalters. Nachdem wir den ersten Schock angesichts so überirdisch strahlender Schönheit überwunden haben und wieder rechts und links blicken, spüren wir, dass alle Besucher ähnlich ergriffen sind. Obwohl eine Menge Menschen unterwegs sind, hört man nicht das übliche Stimmengewirr, sondern nur ein sehr leises Flüstern zwischen den Säulen der Erde. Und Gesichter, Stein und Luft leuchten in tiefstem Blau, feurigem Rot und mystischem Violett.

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Ohne es zu wollen, holt Cayetana schließlich den Augenblick wieder in sehr irdische Sphären zurück. "Da guck mal, da oben tanzen Äffchen!" In der Tat tanzt ganz hoch oben rund um den heiligen Antonius eine Horde affenähnlicher Fabelwesen. Es wäre interessant zu erfahren, ob dieses Fenster wirklich mittelalterlich ist oder ob sich hier ein moderner Künstler bei Restaurierung/Ersetzung alter Kirchenfenster einen virtuosen Scherz erlaubt hat. Neben den grandiosen Fenstern fällt vor allem der wunderbare Hauptaltar mit seinen Bildtafeln aus dem 15. Jahrhundert ins Auge. Aber wir lassen uns auch  Zeit, um die versteckten Schätze der Kathedrale zu entdecken. Im kunstvoll geschnitzten Chorgestühl sind zahlreiche originelle Monster verborgen und König Salomon und die Königin von Saba laden einträchtig nebeneinander zum Sitzen ein. Als wir diesen Traumtempel wieder verlassen, haben sich die düsteren Wolken verzogen und die filigranen Fassadenfiguren von Leons Hauptkirche erstrahlen hell im Sonnenlicht. Nur die üblichen, Zähne fletschenden und Sünder verschlingenden Monster rechts vom Hauptportal blicken immer noch grimmig auf die Pilger. Zum Ausgleich grüßt vom Mittelpfeiler des Portals freundlich die berühmte weiße Madonna mit Kind (heute nur noch eine Kopie, das Original befindet sich im Museum der Kathedrale).

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Dieses Museum besuchen wir jetzt, seine Räume erreicht man bei einem Rundgang durch den Kreuzgang der Kathedrale. Unter seinen Gewölben geschützt vor Wind und Regen, sind viele der schönen Originalskulpturen der Fassade aufgereiht. Nachdem sie Jahrhunderte lang außen an vorderster Front dem Wetter trotzen mussten, befinden sie sich hier nun im wohl verdienten Ruhestand. In einer Kapelle erblicken wir durch ein Gitter interessante Objekte in einem Abstellraum. "Ohne die Deutschen und ihre Technik läuft anscheinend auch in diesem Himmeltempel nichts", bemerke ich halb ernst, halb ironisch und deute auf die deutschen Verpackungsaufschriften auf den Kisten, die in dieser "Rumpelkammer" der Kathedrale gestapelt sind: "Kanalanlage", "Treppenstück", "Kabel blau".  Cayetana schaut leicht angewidert auf die deutschen Pakete: "Also die Merkel verfolgt uns jetzt schon bis in die Kathedrale von León..."

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Nach dem gestrigen Regen und dem sakralen Dämmerlicht der Museumsräume genießen wir nun die Sonne des späten Nachmittags und flanieren durch die Gassen der schönsten Altstadt am Jakobsweg. León präsentiert sich gleichzeitig gemütlich und auf seinen monumentalen Plätzen wie der Plaza de San Martín oder dem Rathausplatz als mondäne Metropole. Einer Hauptstadt würdig ist zweifellos auch die gigantische, über hundert Meter lange Fassade des Klosters San Marcos. Heute ist diese mittelalterliche Pilgerherberge ein Luxushotel für die ganz reichen Pilger. Geblieben ist eine der repräsentativsten Renaissance-Fassaden der Welt, errichtet um 1550 in diesem rein spanischen estilo plateresco, der in vielen Details schon fast barock wirkt. Ein ganzes Universum an Figuren wurde hier in Stein gemeißelt. Im Zentrum Santiago hoch zu Pferd und das Schwert schwingend und über ihm, als krönender Abschluss des Portals, prangt das kastilische Wappen und ein filigranes Sonnenrad, durch das man auf den blauen Himmel blickt. Dieser Prunkbau – man mag es kaum glauben – diente vorübergehend als Gefängnis: der geniale und gefährlich kritische Barockdichter Francisco de Quevedo saß hier vier Jahre lang im Kerker der Inquisition. "Hier wär ich auch gern mal gefangen!", kommentiert Cayetana mit fasziniertem Blick auf das Figurengetümmel. Ich gebe aber zu bedenken, dass hinter dieser Fassade nicht immer ein Luxushotel war und dass die kahlen Kammern im 17. Jahrhundert ohne Heizung sehr kalt waren. Für Quevedo war es in San Marcos wohl alles andere als gemütlich.

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Kurz vor 19 Uhr müssen wir uns beeilen, denn eine wichtige Sehenswürdigkeit dieser monumentalen Stadt fehlt uns noch, und zwar die für Jakobuspilger allerwichtigste: die romanische Kirche San Isidoro. Wenn man die Kathedralen ausklammert, ist dies der edelste Tempel des ganzen Camino. Wir steigen zunächst hinab in die Krypta und während Cayetana sich wundert, dass man hier 5 Euro Eintritt bezahlen muss, kläre ich sie darüber auf, dass dieser unterirdische Raum wegen der grandiosen Fresken aus dem 12. Jahrhundert als "Sixtinische Kapelle der Romanik" gilt. Die Kapelle ist gefüllt mit 25 Königsgräbern und zahlreichen Touristen und Pilgern. Es herrscht absolutes Foto-Verbot, um die wertvollen Fresken zu schützen. Besonders berühmt sind der thronende Pantokrator und die Tierdarstellungen, allen voran ein Paar kämpfender Geißböcke. "Fünf Euro nur um ein paar gemalte Ziegen zu sehen?", flüstert Cayetana mir entrüstet zu. Ich gebe auf, sie ist blind für den unschätzbaren Wert dieser Kunstwerke.

Drei Minuten später ist ihre Laune wieder bestens. Laut lachend steht sie Auge in Auge mit den beiden besonders dämlich dreinblickenden Monsterköpfen links und rechts am Hauptportal von San Isidoro, die keinen Schrecken mehr verbreiten. Innen empfängt ein sehr schöner Jesus die Besucher mit der Bitte, Stille zu bewahren und während der zahlreichen Messen nicht umherzugehen.

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Während der blauen Stunde zwischen neun und zehn Uhr abends machen wir uns auf die Suche nach einem Abendessen mit Weinprobe. Und da haben wir im "Barrio húmedo", dem "feuchten Viertel" rund um die Plaza Mayor eher die Qual der Wahl. Schließlich betreten wir das "Abanico" und ich atme erleichtert auf, als ich hinter dem Tresen nur weibliche Bedienung entdecke. Damit besteht keine Gefahr, dass Cayetana sich wieder mal in einen Barmann verliebt (so wie in Logroño) und wir können uns in aller Ruhe und ohne erotische Störfeuer den kulinarischen Genüssen und den großartigen Rotweinen aus dem Bierzo-Tal widmen. Auf dem Rückweg zum Hotel kommen wir noch einmal an der Kathedrale vorbei, die wie ein goldenes Schiff über der Stadt schwebt. Der Abschied von León wird uns schwer fallen, kein anderer Ort am Camino bietet so viel Flair und Grandeza. Und beides werden wir am nächsten Tag sehr vermissen. In dieser Nacht träumt Cayetana, sie sei eingeschlossen in einem riesigen Saphir aus blauem Glas und ein goldener Stern werfe vom Gewölbe einen Lichtkegel auf sie.

Text und Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links: Etappe von Reliegos nach León: 25 Kilometer

www.arteguias.com/catedral/leon.htm
www.sanisidorodeleon.net
www.museodeleon.com
www.redalberguessantiago.com
www.turismocastillayleon.com

Unterkunft und Verpflegung:
Unterkunft in León: Pilgerherberge des Benediktinerklosters "Las Carbajalas", Plaza Santa María del Camino, Tel. 987-252866, Waschmaschine, Trockner, keine Küche, aber Frühstück + Abendessen, schon um 21.30 Uhr Nachtruhe. Massenherberge, aber freundliche Aufnahme und herzliche Atmosphäre. Übernachtung: freiwillige Spende.

Um aber nicht schon ins Bett zu müssen wenn es noch hell ist, empfiehlt sich in der schönsten Stadt des Camino auch eine Hotelübernachtung, z. B. im Hotel "Posada Regia", Calle Regidores Nr. 9 – 11, Tel. 987-213173, schönes historisches Drei-Sterne-Hotel mitten in der Altstadt, mit kleinen, aber gemütlichen Zimmern. Übernachtung ohne Frühstück ab 50 Euro.

Verpflegung in León: Restaurant der Pilgerherberge des Benediktinerklosters "Las Carbajalas",  (s.o.)": Pilgermenü (3 Gänge inkl. Wein) 8 Euro.

In der Calle Zapaterías gibt es (fast ähnlich wie in der C. Laurel in Logroño) viele gute Restaurants, z.B. "El Abanico" und "El Latino", die großartige Rotweine der Region León ausschenken, z.B. Villa Cezán oder Bierzo Dom Abad.

Restaurant "La Bien Querida", schickes Restaurant/Weinstube in der Calle del Pozo Nr. 2, Tel. 987-075507, vinoteca@labienquerida.com bietet innovative Küche und großartige Weine wie den himbeerigen Roséwein PardeValles und Bierzo-Rotweine von der Mencía-Traube.

Bodega (Weinstube) "El Grifo", Plaza Santa María del Camino, sehr gute Weinkarte – und wenn die besten Tropfen vergriffen sind, sorgt man schnell für (fast) gleichwertigen Ersatz, v.a. Rotweine der Mencía-Traube wie "El Aprendiz" oder vom Anbaugebiet Toro ("Rompesedas – Reserva").

Übernachtung / Verpflegung in Mansilla de las Mulas: Private Pilgerherberge "El Jardín del Camino", C. Camino de Santiago 1 (am Ortseingang). Tel. 987-310232. Heizung, Waschmaschine und Trockner, Restaurant. Übernachtung 10 Euro.

Kirchen:
Kathedrale von León: ein gotischer Kristalltempel, schönere Kirchenfenster gibt es nicht (höchstens vielleicht in Chartres), mit ungleichen Türmen (68 und 65 Meter hoch), dazwischen wunderbare Fensterrose, innen spätgotischer Hochaltar (15. Jahrhundert) und kunstvolles Chorgestühl. Im Museum der Kathedrale Skulpturen von Juan de Juni, ein Silber-Sarkophag von Enrique de Arfe und Gemälde ("Anbetung der Hirten" vom flämischen Renaissance-Maler Pedro de Campaña). Öffnungszeiten (Kathedrale): Montag – Samstag 8.30 Uhr – 13.30 Uhr und 16 Uhr – 20 Uhr, Sonntag 8.30 Uhr – 14.30 Uhr und 17 Uhr – 20 Uhr, Eintritt jeweils 3 Euro (Kathedrale/Museum). Sehr empfehlenswert die nächtlichen Führungen  "dream of light" (6 Euro, nur nach vorheriger Anmeldung: proyectocultural@catedarldeleon.org)

Romanische Kirche San Isidoro (León): die wohl wichtigste Kirche des ganzen Camino, mit der "Sixtinischen Kapelle der Romanik" in der Krypta ("Panteón de los Reyes", Fresken aus dem 12. Jahrhundert, separater Eingang – Eintritt 5 Euro), Hauptkirche romanisch mit phantasievollen Kapitellen (Fabeltiere, Monster), besonders drollige Monsterköpfe flankieren das Hauptportal, spätgotischer Hochaltar (16. Jahrhundert). Öffnungszeiten: Montag – Samstag: 10.00 Uhr – 13.30 Uhr und 16 Uhr – 18.30 Uhr (nur im Juli / August durchgehend geöffnet und dann bis 20 Uhr).

Renaissance-Kirche San Marcos (León): heute nur noch ein kleines, aber feines Anhängsel des gigantischen Parador Nacional (Luxushotel, ehemalige Pilgerherberge des Klosters San Marcos), nach der Universität von Salamanca hat dieser Komplex die prächtigste Renaissance-Fassade Spaniens (über 100 Meter lang). Kirche: Eintritt frei, der Innenhof ist allerdings Teil des Archäologischen  Museums (Eingang links, nachdem man die Kirche betreten hat).

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Peru: Ofen-Meerschweinchen mit gefüllten Paprikas

Auf der Suche nach Rocotos eilt Doña Claudia von Marktfrau zu Marktfrau. Die scharfen Paprikaschoten sind ihr mal zu teuer, mal zu weich oder zu klein. Es dauert lange, bis sie fündig wird und nach hartnäckigem Feilschen eine Tüte voller gün-gelb-rot-oranger Früchte ihr Eigen nennt. Nun braucht sie noch Erbsen und Möhren. Wir trotten hinter Doña Claudia her, den Blick auf den Boden gerichtet, denn dort präsentieren Bäuerinnen in traditioneller Tracht die Überschüsse ihrer Ernte. Tomaten, Maiskolben und Rote Bete türmen sich zu kunstvollen Pyramiden. Der Duft von Koriander, Gladiolen und Ziegenkäse liegt in der Luft. Schafsköpfe, Heilkräuter und Zimtstangen wechseln ihren Besitzer. Auf einmal hallt ein tiefes Tuten durch den Ort. "Das sind die Varayocs, die Bürgermeister aus den umliegenden Gemeinden. Sie kommen jeden Sonntag nach Pisac, um an der Elf-Uhr-Messe teilzunehmen. Lauft schnell rüber zur Kirche und schaut. Ich gehe derweil nach Hause und fange schon mal mit dem Kochen an", sagt Doña Claudia und ist weg

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Vor dem weiß getünchten Gotteshaus stehen sieben Männer in farbenfrohen Ponchos. Sie tragen schüsselförmige, rote Hüte und halten zum Zeichen ihrer Würde silberbeschlagene Zeremonienstäbe in den Händen. Begleitet werden die Varayocs von zipfelbemützten Jungen mit Schneckenhörnern, den sogenannten Pututus. Diesen entlocken sie das tiefe Tuten, um böse Geister zu vertreiben. Immer mehr Gläubige strömen in die Kirche. Die Bürgermeister samt Gefolge schließen sich an. Der Gottesdienst beginnt. Er wird von einem katholischen Pfarrer mit Headset-Mikrofon auf Quechua gehalten. Die Jahrtausende alte Andensprache klingt kehlig-schön, wir verstehen allerdings kein Wort. Weil wir Doña Claudia versprochen haben, beim Kochen zu helfen, verlassen wir frühzeitig ganz leise die feierliche Messe.

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Pisac ist ein kleines Örtchen in den peruanischen Anden. Es liegt in 2950 Meter Höhe und wird von Quechua-Indígenas bewohnt. Die Straßen sind kopfsteingepflastert und führen uns aus dem Zentrum hinaus zu Doña Claudias Adobe-Häuschen. Hier wohnt sie gemeinsam mit ihrem Mann, acht Kindern und drei Enkeln. Wir werden freudig empfangen und vernehmen inmitten des Begrüßungsspektakels "Gut, dass ihr da seid, denn die Meerschweinchen müssen dringend zum Ofen gebracht werden".

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Wie die meisten Quechua-Indígenas züchtet auch Doña Claudia Meerschweinchen, die in Peru Cuy heißen und bis zu 35 Zentimeter lang werden. Am Vorabend hat sie drei Cuys geschlachtet, vom Fell befreit, ausgenommen und mit einer Knoblauch-Kreuzkümmel-Huacatay-Sauce mariniert. Nun liegen die pestogrünen nackten Nager mit rot-gelb-gesprenkelten Kartoffeln in einer Plastikwanne. Gemeinsam mit Ehemann Don Florentino bringen wir sie zu einem von sieben großen Lehmöfen, die die Bewohner Pisacs gemeinschaftlich nützen. Darin glühen Kohlen, die die Cuys und Erdäpfel goldgelb grillen. Zwei Stunden später sind die Ofen-Meerschweinchen (Cuys al Horno) und -Kartoffeln (Patatas) fertig. Dazu serviert Doña Claudia Erdnusssauce (Salsa de Maní) und scharfe Paprikaschoten, die wir zwischenzeitlich mit einem Möhren-Zwiebel-Erbsen-Gemisch gefüllt haben (Rocotos Rellenos).

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Meerschweinchen zu essen, fällt uns nicht schwer. Schließlich sind wir weltoffen, neugierig und haben Respekt vor den Traditionen unserer Gastgeber. Dennoch oder gerade darum erzählt Michael während des köstlichen Mahls von Hansi, seinem niedlichen Streicheltier aus Kindheitstagen. Im Gegenzug erfahren wir, dass Cuys erst im 18. Jahrhundert mit den Spaniern von Südamerika nach Europa gelangten. In Peru hingegen sind sie seit 7000 Jahren ein wichtiges, proteinhaltiges Nahrungsmittel.

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Dass schon in prähispanischer Zeit Meerschweinchen gezüchtet wurden, zeigt uns Doña Claudia beim Besuch der Ruinenstätte Pisac, die auf einem Berg über dem gleichnamigen Ort thront. Die Felsenfestung wurde vermutlich 1450 von den Inka erbaut, ist weitläufig und in mehrere Abschnitte untergliedert. Einer ist der Wohnbereich, der das Zuhause von Menschen und domestizierten Meerschweinchen war. Die kleinen Tierchen lebten in der Küche und unter den Betten, wovon bis heute cuy-große Löcher in den steinernen Schlafstätten zeugen. Allerdings sind nicht die Meerschweinchen-Behausungen der Höhepunkt der Inka-Ruinen. Vielmehr gibt es mehrere Hundert Gräber, Wachtürme und ein zeremonielles Zentrum mit mächtigem Felsblock, dem Intihuatana. Das ist ein Quechua-Wort und heißt "Ort, an dem man die Sonne fesselt". Welche Bedeutung der Intihuatana tatsächlich hatte, weiß man nicht. Wahrscheinlich haben Astronomen mit seiner Hilfe den Sonnenlauf und damit Saat- und Erntezeitpunkte bestimmt.

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Ebenfalls beeindruckend finden wir die Terassenfelder, die die Felsenfestung umgeben. Sie wurden von den Inka im bergigen Gelände angelegt, um horizontale Flächen und damit Ackerland zu gewinnen. Kanäle verbinden die Terrassen und ermöglichten so eine rationelle Bewässerung der Felder. Auf ihnen wurden bereits in prähispanischer Zeit Kartoffeln, Mais, Quinoa, Kürbisse, Tomaten, Erdnüsse und Rocotos angebaut. "Es ist unglaublich, dass ich heute mit den selben Zutaten koche wie meine Vorfahren vor Jahrhunderten!", sagt Doña Claudia begeistert. "Morgen werde ich für euch eine Quinoasuppe zubereiten, übermorgen Kartoffelpüree und dann einen Kürbisauflauf..." Uns gelingt es kaum, den Redefluss unserer Gastgeberin zu stoppen. Wir mögen die peruanische Küche und vor allem Doña Claudias Hausmannskost. Aber unsere Zeit ist begrenzt, so dass wir leider unmöglich alle regionalen Spezialitäten probieren können. - Doch vielleicht beim nächsten Mal!

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de & www.facebook.com/lobOlmo

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[art_3] Brasilien: Fan in Action live
Der normale Wahnsinn um die besten WM-Momente

Diese Weltmeisterschaft im Land des Fußballs geht an Nerven und Substanz. Spannung pur auf Spielfeld und Ticketumschlag-Platz neben dem Platz. Hier die bisherigen Highlights:
 

 
Donnerstag, 12. Juni, Copacabana, Rio de Janeiro
In São Paulo startet die WM mit dem Spiel des Gastgebers gegen Kroatien. Der caiman ist in Rio, an der Copacabana, mit 20.000 Fußballbegeisterten auf dem Fan-Fest. Die Lage ist angespannt – aber nicht wegen des Brasilien-Spiels, das schaukelt der japanische Schiri schon nach Hause. Morgen steigt der Knüller Spanien gegen Niederlande an in Salvador. Wir haben Karten, die aber in der Post hängen geblieben sind. Die Post sagt, dass sie sie nicht mehr findet. Was nun? Die nette Dame von der FIFA schlägt vor, die Karten als gestohlen zu melden – dann könnte sie neue ausstellen. Also nix wie hin zur Polizei in Copacabana. Mit der Diebstahls-Anzeige zur FIFA zurück – man verspricht, die verschwundenen Karten noch heute zu stornieren und neu auszudrucken. Mal sehn...

Auf dem Fan-Fest tanzen Mexikaner, Argentinier und US-Amerikaner, während Brasilianer auf den umliegenden Straßen Bier-Dosen zum doppelten Preis an die Gringos verkaufen. Schweinerei! Wir boykottieren das.



Zurück zur FIFA – die Karten sind da. Flüge gab es auch noch, zumindest als wir morgens schauten. Jetzt am Vorabend kosten sie dreimal soviel. Panik bricht aus. Doch nicht fliegen?



Zum Glück zeigt ein Blick kurz vor Mitternacht noch ein Last-Minute-Angebot. Günstig hin- und zurück! Auf geht’s zum Flughafen. Schlaf gibt’s später.

Freitag, 13. Juni – Arena Fonte Nova, Salvador da Bahia



Sause vom Feinsten. Der Pelourinho-Platz im historischen Stadtzentrum ist ganz in Orange gehüllt. Die Niederländer haben eigene Musikwagen mitgebracht und tanzen zu Tausenden durch die Straßen. Die Brasilianer sind verstört – wer sind diese Menschen in den Frau-Antje-Kostümen?



Dann wälzt sich eine orange Welle ins nahe Stadion. Schwarzhändler bieten Tickets für 400 R$ an, 700 R$ kosten die Karten für das Spiel Deutschland gegen Portugal am Montag. Aber wir haben unser Ticket und flüchten vor der Affenhitze ins Stadion.



Das Spiel ist atemberaubend, die Niederländer feiern Carnaval und spielen den Weltmeister an die Wand. Van Persies Flugkopfball ist ein episches Gemälde, er liegt gefühlte drei Minuten in der Luft. Und Robben jagt quer über den Platz und lässt Casillas auf den Knien vor sich her rutschen. Hier geht der Wahnsinn ab. Die Fonte Nova brennt. Magie pur!



Zurück nach Rio, mitten in der Nacht. Kein Schlaf seit zwei Tagen, das kann nicht gutgehen.

Mittwoch, 18. Juni, Estádio Maracanã, Rio de Janeiro



Die Hütte kocht. Für Weltmeister Spanien geht es bereits um die Wurst, Chile hingegen hat das Stadion auf seiner Seite. Von hoch oben aus dem Stadion heraus sehen wir einen Knäuel aus chilenischen Fans, die offenbar nicht mehr an Tickets gekommen sind. Wenige Minuten später stürmen sie das Stadion durch das Pressezentrum, rund 100 von ihnen werden wieder eingefangen und des Landes verwiesen, weitere 150 schaffen es auf die Tribünen und werden von ihren Landsleute dort versteckt. Die FIFA-Sicherheitsleute laufen Amok im Stadionbereich. In jeder Ecke haben sich Fans versteckt. Mythos Maracanã!



Amok auch bei den Spaniern, die Chilenen machen Druck und zwei Tore. Das Maracanã kocht, "Chile Chile", peitschen die Fans ihr Team nach vorne. Sie seien die wirkliche "La Roja", sagen sie, und nicht die spanischen Namensklauer. Sensationelles Spiel, tolle Stimmung, Spanien draußen. Wer hätte das gedacht?



Samstag, 21. Juni, Estadio Castelão, Fortaleza
Am Vortag über die FIFA-Seite noch eine Karte ergattert, dazu einen Hin- und Rückflug nach bekanntem Schema: mitten in der Nacht hin, mitten in der Nacht zurück.



Die Müdigkeit ist ohrenbetäubend – nicht nur, dass man in der Nacht fliegt; wer noch Karten über die FIFA-Seite bekommen will, sitzt schon mal bis in die frühen Morgenstunden vor dem Laptop.

In Fortaleza dann mehr deutsche als ghanaische Fans. Es ist unglaublich heiß, die Sonne brennt. Statt im Stadion hält man sich so lange wie möglich bei einem kühlen Bierchen in den Katakomben auf.



Deutschland beginnt behäbig, die erste Halbzeit plätschert vor sich hin. Dafür ist die zweite dann unglaublich!

Erst das seltsame Tor von Mario Götze, mehr Knie als Kopf. Dann prügeln sich deutsche Fans mit Ordnern, die die mitgebrachten Fahnen abhängen wollen. Die deutschen Fans sind außer sich, es kommt zu turbulenten Szenen.

Turbulenzen auch auf dem Platz. Ghana gleicht aus und führt plötzlich, die Deutschen werden komplett an die Wand gedrückt. Die brasilianischen Fans im Stadion laufen zu Ghana über. Die Deutschen beherrscht die Angst.



Gefühlte 5 Minuten stehen Schweinsteiger und Klose an der Seitenlinie, wollen eingewechselt werden. Das deutsche Spiel schreit förmlich nach Schweinsteiger, doch Ghana drückt und drückt.

Dann kommen beide rein und blasen zum Angriff. Jetzt ist es ein richtiger Fight geworden, ohne Deckung und Plan – einfach anrennen. Klose macht die Hütte und fast noch das Siegtor.



Aus! 2 : 2 – was für ein Spiel. An der Beira-Mar tanzen die deutschen Fans bis in die Morgenstunden. Da sitzen wir schon wieder im Flieger Richtung Rio.

Montag, 23. Juni, Estádio Mané Garrincha, Brasília
Die brasilianische Regierung war so nett, uns einzuladen. Jetzt geht es mit einem geräumigen Bus vom Hotel Richtung Stadion. Und da erst einmal in den FIFA-Hospitality-Bereich, wo ein wundervolles Buffet wartet.



Hübsche Frauen in netten Kleidchen reichen Champagner, die Stimmung ist toll. Das Stadion gigantisch, wie man das für einen 500 Millionen Euro Bau auch erwarten darf. Und komplett in Gelb-Grün getaucht. Kamerun kann einem Leid tun, die schlechteste Mannschaft der WM. Und auch nur angetreten nachdem die Prämien geflossen sind.



Neymar ist überall, reißt das Spiel Brasiliens an sich. Auch weil der Rest der Truppe eher schwach auf der Brust ist. Nachdem Kamerun ausgleicht, schleicht Angst über die Ränge. Das feine Hauptstadtpublikum vergisst, dass es im Stadion ist und nicht vor dem Fernseher sitzt. Statt anzufeuern, kaut man Fingernägel. Geschenkt, Neymar richtet es schon.



Zum Ende wird es beinahe ein Schützenfest, die Brasilianer singen vergnügt. "Das war aber auch einfach" denkt man bei sich. Gigantisches Stadion, Wahnsinn. Und ab zurück in den Hospitality-Bereich. Der Nachtisch wartet.

Donnerstag, 26. Juni, Arena Pernambuco, Recife
Und wieder hat es geklappt! Die Karte über die FIFA-Seite 24 Stunden vor dem Spiel, ein günstiges (naja) Flugticket von Rio nach Recife, wo man am Vorabend bei einem Kumpel unterkommt.

Am nächsten Morgen soll es früh losgehen, schließlich beginnt die Partie zwischen Deutschland und den USA (Klinsmann!) schon um 13 Uhr. Man erwacht, schaut aus dem Fenster – und sieht Recife unter Wasser. Es regnet in Strömen. Ach was, das ist die Sintflut, das Ende der Welt.

Am besten mit der Metro zum Stadion, doch wie kommt man zur nächsten Metro-Station? Keine Taxis weit und breit. Also laufen, über Straßen, die sich in Sturzbäche verwandelt haben. Nach zwei Sekunden ist man pitschnass, und vor einem liegt noch ein ganzer Tag.



Irgendwo nimmt man einen Bus, der dann zur nächsten Metrostation fährt. Die Straßen haben sich in Lagunen verwandelt, es geht schleppend voran. An der Metro steht die Schlange aus deutschen und US-Fans vor dem Schalter. "Man sollte Herrn Blatter verklagen, Scheiß-Organisation", hört man deutsche Stimmen schimpfen.



Dann eine halbe Stunde Metro-Fahrt, danach die nächste Schlange, um in die Zubringerbusse zur Arena zu kommen. 15 Minuten fahrt bis zur Arena – oder fast: man wird einen Kilometer vorher abgesetzt. Laufen durch den Regen, auch egal, sind eh schon nass bis auf die Knochen.





Im Stadion dann us-amerikanische Übermacht und Ordner, die die deutschen Banner wieder abnehmen. Dieses Mal verzichten die deutschen Fans auf Krawall – und die deutsche Mannschaft darauf, sich wie gegen Ghana überrennen zu lassen. Kontrolle pur, die Deutschen dominieren das Spiel. Nach dem 1:0 ziehen sie die Handbremse. Man will wohl der Klinsi-Truppe nicht zu sehr zusetzten.

Die freuen sich dann auch nach dem Schlusspfiff über den Einzug ins Achtelfinale. Alle sind glücklich, man verbrüdert sich vor dem Stadion. Dann geht die ganze Transporttortur wieder von vorne los.

An der Metrostation stehen brasilianische Kids Spalier, bitten um Trinkbecher und sonstige Souvenirs von der Partie, die sie selber nur im Fernsehen gucken konnten. Und Recife steht immer noch unter Wasser!
 
Letztes Highlight



Montag, 30. Juni, Fan-Fest, Recife
Mal wieder hat die FIFA-Webseite ein Ticket ausgespuckt, dieses Mal für das Spiel Deutschland gegen Algerien. Aber die Flugpreise nach Porto Alegre sind einfach eine Unverschämtheit. Deshalb: auf zum Fan-Fest in Recife. Dürfte auch nett werden.

Mal sehen, ob das mit den Highlights so munter weitergeht...

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_4] Peru: Lima – 2150, ungefähr

Meine Rettung war meine dunkle Hautfarbe und eine seltsame Frau mit Namen Erika. Ohne sie hätte ich diese Reise wohl kaum überlebt. Dabei hatte alles so angenehm angefangen. Eines Morgens kam die Chefin in meine Zelle und sagte zu mir: "Clark, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen! Sie haben sich einen Urlaub verdient. Die nächsten zehn Tage will ich Sie hier nicht sehen. Spannen Sie mal richtig aus, machen Sie einen Kurztrip oder was immer Ihnen Spaß bereitet."

In dem Reisebüro an der Ecke gab es ein Sonderangebot: 10 Tage alte Kulturen Amerikas. Peru und die Inkas. Nun ist Peru, wie der Rest der Länder südlich der Grenze USA-Mexiko, Touristensperrgebiet. Seit der letzten, der Großen Weltwirtschaftsreform, in der vom Traum einer gesamtheitlich zivilisierten Welt endlich Abschied genommen wurde und in der im wesentlichen beschlossen wurde, die ärmsten Länder sich selbst zu überlassen, ist Südamerika sowie weite Teile Asiens für den Besuch gesperrt. Aber mein Reiseagent hatte ein Programm aufgetan, das echtes Abenteuer versprach: eine sichere Sache, aber mit dem Geruch nach ein bisschen Gefahr.

Alles begann wie versprochen. Von Washington aus nahm die Reisegruppe einen Spezialjet, der nach allzu langweiligen zwei Stunden auf dem Spezialflughafen in Lima landete. Ein bisschen störte die Präsenz der Rednecks, aber es war ja nur zu unserem Schutz. Einreiseformalitäten waren erfreulicherweise nicht mehr nötig, seit die USA die Nationalrechte Perus aberkannt hatte. So konnten wir ungestört vom Jet aus in unser Glasmobil steigen, das uns eine perfekte Sicht unter Panzerglas erlaubte. Die Agentur hatte mir versichert, dass das Glas unzerstörbar wäre. Nicht dass die Peruaner noch Waffen hätten, erläuterte schmunzelnd der Verkäufer, das haben wir schon vor einiger Zeit erledigt, aber man weiß ja nie. Und wir wollen schließlich nicht, dass unseren Kunden etwas passiert!

Trotzdem war es ein mulmiges Gefühl, als wir auf die ersten Eingeborenen stießen. Sie waren schrecklich schmutzig und dürr. Ein paar warfen sich vor unser Mobil, aber die eingebauten Wasserwerfer wurden leicht mit ihnen fertig. Die Hauswände waren beschmiert mit hässlichen Sprüchen, in deren Mehrheit das Wort ‚Amerika’ und irgendein Schimpfwort vorkamen. Ich hörte meine Nachbarin sagen: "Ich wusste gar nicht, dass die hier auch schreiben können!" Tatsächlich war auch ich überrascht, hatte ich doch noch in den Ohren, wie meine Erdkundelehrerin uns die Grenzen der zivilisierten Welt erklärte und was dahinter lag. Der Transfer zum Hotel außerhalb der hässlichen und heruntergekommenen Stadt Lima verlief reibungslos, auch wenn uns allen ein bisschen die Haare zu Berge standen, wenn wir die brennenden Müllhaufen und die darum gescharten Leute sahen. Mehr als einmal hörte ich erschrockene Ausrufe. Unsere Multimediakameras surrten ohne Ende.

Das Hotel war erstklassig, ebenso wie der Empfang. Das Gelände war bestens gegen Peruaner abgeschirmt, erklärte uns der Führer, der uns die nächsten zehn Tage begleiten sollte; dachten wir jedenfalls. Er versicherte uns, dass kein Mensch in der Lage wäre, lebendig die Mauern des Hotels zu übersteigen und noch viel weniger den Gürtel der intelligenten Minen zu durchqueren. Wir könnten beruhigt schlafen. No problem. Er schärfte uns allerdings ein, die Sicherheitszone des Hotels nicht zu verlassen, da die Minen, fügte er achselzuckend hinzu, leider immer noch nicht zwischen einem Amerikaner und einem Peruaner unterscheiden könnten. Obwohl sie intelligent hießen. Vereinzeltes Gelächter der Gruppe. Ich unterhielt mich mittlerweile mit einer hübschen Blondine aus Oregon, einer Spezialistin in Geruchsdesign. Ich ließ mir erklären, was genau das sei, ohne eigentlich Interesse daran zu haben. Der Führer sprach indes weiter über die große Zeit der Inkakulturen; er erwähnte auch, dass die wichtigen Ruinen geräumt worden waren, kurz nach der Weltwirtschaftsreform, um das kulturelle Erbe zu sichern. Peruaner waren seitdem in einer Sicherheitszone von fünf Kilometern rund um die Ruinen nicht zugelassen. Einige Dörfer hatten geräumt werden müssen, aber dafür, so der Führer, sei der Zerstörung der Ruinen Einhalt geboten worden. Teams von amerikanischen Spezialisten arbeiteten seitdem konstant an der Rekonstruktion der originalen Städte und Siedlungen, und auf unserer Reise würden wir Gelegenheit haben, einige echte Inkastädte zu besuchen. Mit Originalinkas (Schauspieler, natürlich), die uns in ihre Zeit zurückholen würden. Immerhin über 600 Jahre her. Wir würden Gelegenheit haben zu erleben, wie der Inka und seine Ñusta in Cuzco gelebt haben. Die koloniale Stadt war in den 30ern dieses Jahrhunderts geschleift worden, um der alten Pracht wieder ihre Geltung zu verschaffen. Dort würden wir auch die prachtvolle Krönungszeremonie erleben und einem Menschenopfer beiwohnen. Letzteres sei natürlich gestellt, fügte der Führer lüstern grinsend hinzu. Mehr wolle er uns heute nicht verraten, denn erstens warte das Essen und zweitens sei Spannung doch die halbe Miete. Verhaltenes Klatschen der Reisenden.

Das Essen war erstaunlich normal. Die Hamburger in Peru schmecken fast so wie bei uns, obwohl sie anders heißen. Ich konnte mir den komplizierten Namen nicht merken. Einige von uns fragten den Führer, ob das Essen auch sicher sei und ob es denn nichts von zu Hause gäbe. Er versicherte, dass die Lebensmittel einer ständigen Kontrolle unterliegen und so wenig wie irgend möglich mit Eingeborenen in Kontakt kämen. Und dass die Herrschaften ruhig mal die Reise auch durch den Gaumen genießen sollten. Das Bier war kalt; meine Nachbarin leider auch. Ich kam an diesem Abend keinen Schritt weiter. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass mich das Thema Geruchsdesign nur nebensächlich interessierte.

Am nächsten Morgen ärgerte ich mich mit der Dusche herum, weil sie gerade mal 38°C heißes Wasser produzierte. Ich hasse das! Mein Wasser muss morgens mindestens 42°C haben, damit ich in Schwung komme. Ich rief bei der Rezeption an, aber sie waren nicht in der Lage, mein Problem zu beheben. Wahrscheinlich wird man so, wenn man hier länger ist: ein bisschen langsam im Service.

Nach dem Frühstück (die Blonde hatte sich ostentativ an einen anderen Tisch gesetzt) ging es dann los in unserem Glasmobil. Und was wir dort aus unseren Fenstern sehen konnten, war schon eine Reise wert. Nach der Reform, als Amerika endgültig und offiziell zur weltweit herrschenden Nation erklärt wurde, haben wir die Agrikultur in die halbgesicherten Gebiete rund um Europa verlegt. Das war ein ökonomisch sehr sinnvoller Schritt, denn unsere eigenen Bauern waren viel zu teuer geworden. Und der Boden viel zu kostbar, um darauf Kartoffeln anzubauen. Bei einer stetigen Wachstumsrate der Bevölkerung von 10%, wo sollten wir mit den ganzen Leuten hin? Und in den halbgesicherten Zonen waren sie auch glücklich, denn so hatten sie einen riesigen Absatzmarkt. Außerdem wurden Gemüse und Fleisch so billig, dass unser Armutsproblem, das wir noch fast bis Mitte letzten Jahrhunderts hatten, gelöst wurde.

Aber es war schon interessant, Landwirtschaft einmal mit eigenen Augen zu sehen. Ochsen kannte ich ja noch aus dem Zoo, aber einen Pflug nur noch aus dem Geschichtsbuch. Wir sahen auch Leute auf Eseln reiten, den Boden hacken, Mangos ernten. Der Führer erklärte uns alles, während wir an den Feldern lautlos entlang fuhren. Die Leute sahen von ihrer Arbeit auf und ihre Augen waren leer. Irgendwie so unmenschlich leer. Ich versuchte, mit meiner Banknachbarin ein Gespräch darüber zu führen, aber sie konnte für die Menschen kein Interesse aufbringen. Das einzige, was sie faszinierte, waren Esel, Maultiere und Hunde in freier Wildbahn.

In Cuzco verbrachten wir zwei ganze Tage. Sehr interessant, muss ich sagen. Wir wurden vom Inka persönlich begrüßt. Ein sehr zivilisierter Mensch, der übrigens auch ein ausgezeichnetes Englisch sprach. Seine Frau, die sich Ñusta nennen ließ, war sehr hübsch, aber nur wenig gesprächig. Die Stadt bestand aus beeindruckenden Bauten. Ich wollte zwar nicht glauben, dass die fein geschliffenen Steine, die fugenlos aneinandergefügt waren, ohne Hilfe eines Lasers hergestellt worden waren, aber abgesehen davon, war die Szenerie phantastisch ebenso wie die Krönungszeremonie. Der Mantel aus Papageienfedern, den der Inka trug und die Brustplatten aus echtem Gold. Prachtvoll!

Etwas allerdings empörte uns alle: bei dem Festmahl nach der Krönung wollte man uns doch glatt im Ofen gebratenes Meerschweinchen vorsetzen! Sie nannten das cuy und eine Spezialität der Inkas. Unter der Gruppe brach helle Empörung aus. Ein Professor für Anthropologie, der mit seiner Gattin diese Reise wohl aus wissenschaftlichem Interesse unternommen hatte, wies entrüstet darauf hin, dass man schließlich heute auch keinen Dreck mehr fräße wie die frühen Menschenkulturen. Der Protest der gesamten Gruppe führte schließlich dazu, dass die Reiseleitung die Teller mit den abscheulichen Tierchen wieder abräumte und uns echte peruanische Spaghetti servieren ließ. Die waren in Ordnung, obwohl ich eine Menge Ketchup darauf geben musste.

Wir kamen erst spät ins Bett, weil das Menschenopfer, das wir nach dem Abendessen sehen sollten, sich aus irgendeinem Grunde verzögerte. So ist das eben auf Abenteuerreisen, versuchte ich mich bei der Eselsliebhaberin, da ist nicht alles so perfekt wie sonst. Im Bett versuchte ich sie mit Meerschweinchenpiepen aufzulockern, aber das fand sie gar nicht komisch.

Am zweiten Tag fuhren wir nach Macchu Pichu. Dort erwartete uns die Ñusta, denn – so wurde uns erklärt – Macchu Pichu galt als die geheime Stadt der Frauen. Die Umgebung war beeindruckend. In einem kleinen Tal inmitten der Anden gelegen, von schneebedeckten Gipfeln umringt. Das Sauerstoffgerät störte ein bisschen, aber man hatte uns erklärt, dass man sich – nicht wie in Cuzco – dazu entschlossen hatte, keine Glaskuppel über die Stadt zu bauen, da die Sonnenauf- und -untergänge sonst in ihrer Pracht beeinträchtigt worden wären. Und tatsächlich war der Sonnenuntergang, den wir – begleitet von einigen Initiationsriten der jungen Frauen des Inka – sahen, sehr bemerkenswert. Die Frauen kreischten ein bisschen bei der expliziten Darstellung, aber ich beruhigte meine Eselsliebhaberin und Meerschweingeräuschhasserin damit, dass das ja alles Vergangenheit war und nur noch für uns Touristen gemachte wurde. Und dass sie froh sein solle, nicht hier geboren zu sein.

Ich weiß nicht, woher zum Teufel sie Dynamit gehabt haben könnten. Es ist mir unbegreiflich, denn schließlich liegt schon seit über hundert Jahren ein Waffenembargo auf dem gesamten südlichen Kontinent. Aber sie hatten es irgendwoher und sie haben es benutzt. Ich hatte zu Hause noch etwas von den terroristischen Banden in Peru gehört, ich weiß nicht mehr von wem. Aber von Übergriffen auf Reisegruppen? Das war unerhört. Natürlich hatten wir bewaffnete Begleitung für den Fall der Fälle, aber niemand konnte mit einem Attentat rechnen. Vielleicht hätte der Fahrer schneller schalten müssen, als er das fremde Auto auf der amerikanischen Straße sah. Wie auch immer.

Wir waren die Nacht über gefahren: direkt von Macchu Pichu zurück nach Lima, denn dort stand das einzige annehmbare Hotel. Über die Herberge in Cuzco habe ich bisher geschwiegen, aber nur weil das Teil der Abmachung mit meinem Reisebüro ist. Schließlich haben sie teuer dafür bezahlt.

Es passierte kurz nachdem wir in Lima eingefahren waren. Wir hatten auf dem Weg einige Protestler gesehen, die uns wütend anschrieen. Ihre Ähnlichkeit mit Affen ließ mich über die Gegner der Theorie Darwins nachdenken. Immerhin die Hälfte der Amerikaner, hatte ich neulich gelesen, glauben nicht an die Theorie der Evolution. Dabei reichte doch eine einzige Reise nach Peru, um das mehr als offensichtlich zu machen. Der missing link, dachte ich lächelnd, als ich ein schönes und wahrscheinlich besonders laut brüllendes Exemplar ausmachte.

Der Kleinlaster kam von links. Ich hatte ihn nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen und in dem Bruchteil des Augenblicks bis zur Explosion blieb nicht genügend Zeit, um mich darüber zu wundern, dass auf einer kreuzungslosen Straße ein Auto von links kommen kann.

Über die nächsten paar Stunden kann ich kaum Auskunft geben. Es gab einen fürchterlichen Krach, etwas fiel mir auf den Kopf, ich flog in hohem Bogen durch die Gegend und danach weiß ich gar nichts mehr. Als ich erwachte, war es dunkel, und ich lag verborgen hinter einem verbeulten Stück Metall, das mir die Sicht nahm. Und wohl auch den Terroristen die Sicht genommen hatte, denn ich war bis auf ein paar Beulen unverletzt geblieben. Als ich vorsichtig hinter dem Stück Metall hervorblickte, sah ich auf ein brennendes Feuer und eine Menschenmenge. Ich sah auch einige von unserer Reisegruppe gefesselt am Boden sitzen. Später sind alle freigekommen, gegen ein saftiges Lösegeld, versteht sich, aber das konnte ich in diesem Moment nicht wissen.

Um die Wahrheit zu sagen, mir sank das Herz in die Hose. Die Gruppe, die um meine Mitreisenden herumstand, sprach eine unverständliche Sprache, nur entfernt mit unserem Spanisch verwandt. Sie sahen furchterregend aus. Ich entdeckte weder den Fahrer, noch den Führer, noch unsere bewaffneten Begleiter. Ich hörte eine helle Stimme kreischen: "Meinen Ehering nicht", und dann eine saftige Ohrfeige klatschen. Leises Weinen.

Ich musste einen Weg finden, von hier zu verschwinden. Jeden Augenblick konnten sie mich entdecken, und dann würde es mir nicht besser ergehen als der armen Gruppe. Gott sei Dank lag die Stadt fast völlig im Dunkeln. Außer dem Feuer ein paar Schritte von mir entfernt, konnte ich in der Ferne einige Lichtpunkte sehen, die sicherlich von ähnlichen Lichtquellen stammten. Der Rest aber lag in schwarzer Nacht.

Die größte Gefahr war jetzt, von dem nahen Feuer beleuchtet zu werden, während ich davon robbte. Ich warf mir einen alten und stinkigen Fetzen über, der weiß der Himmel woher kam und kroch los. Ich wusste zwar nicht wohin, aber das war im Moment zweitrangig. Erst mal weg und dann weitersehen. Die einzigen beiden Punkte der Stadt, an denen ich sicher sein würde, waren das Hotel und der Flughafen. Aber wie dort hinkommen?

Das Glück ist mit den Tüchtigen, sagt man. Und ich hatte in dieser Nacht gleich mehrfach Glück. Zuerst ließ mich das Schicksal dem Feuer entkommen. Ich war noch dazu in die richtige Richtung gerobbt, denn bald entdeckte ich die Bresche in der hohen, weißen Mauer, die die amerikanische Straße von dem Rest Limas abschotten sollte. Und die kein echtes Hindernis darstellte.

Ich hielt mich im Schatten der Mauer auf der anderen Seite und fürchtete nichts mehr, als irgendjemandem zu begegnen. Und dabei sollte die Begegnung, die sich jetzt gleich ereignen würde, mir das Leben retten.

Ich hielt den stinkigen Lappen fest um mich gewickelt, aber sowohl die Beine als auch vor allem meine neuen Nikes, die ich extra für die Reise gekauft hatte, würden mich sofort an die Eingeborenen verraten. Meine Tarnung war also alles andere als perfekt, aber ich musste es versuchen. Ich dachte angestrengt darüber nach, wie ich wohl zum Hotel finden sollte, als ich an der gegenüberliegenden Hauswand einen Schatten ausmachte, der sich in meine Richtung bewegte. Sofort verharrte ich in meiner Bewegung, versuchte die alte Taktik, die man mir für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich jemals einer Schlange begegnen sollte, beigebracht hatte: nicht bewegen. Keinen Muskel.

Leider war der Schatten nicht der einer Schlange: sie war schneller über mir, als ich auch nur mit dem Lid hätte zucken können. Und bevor ich Cheesecake sagen konnte, hatte ich ein Messer an meiner Kehle. "Lauf oder stirb!", sagte eine weibliche Stimme in verständlichem Spanisch. Ich versuchte es mit einem: "Ok."

Sie sprang einen halben Schritt von mir weg, das Messer immer noch auf mich gerichtet: "Wer oder was bist Du?", fragte sie in noch verständlicherem Englisch. Ich war meinerseits überrascht, schaltete aber schnell: dies war meine Chance, wenn ich denn eine hätte. "Ich bin ein amerikanischer Tourist. Unser Glasmobil ist von Terroristen überfallen worden, und ich bin der einzige, der entkommen ist. Bitte lass mich gehen!"

Sie schaute mich zweifelnd an, aber das Messer sank um einige Zentimeter nach unten. "Ja, ich habe von dem Überfall gehört", sagte sie mich nachdenklich anblickend. "Lima ist eine sehr gefährliche Stadt. Wo willst du hin?", fügte sie nach einem Moment des Schweigens hinzu. Ich hatte in der Zwischenzeit in Gedanken schon meine Dollar gezählt, denn ich war davon überzeugt, meine Freiheit mit ein paar Scheinen erkaufen zu können. Aber sie erwähnte das Geld nicht einmal. "Alleine überlebst du keine zehn Minuten auf den Straßen hier. Ich wohne nicht weit weg. Komm erst mal mit, dann sehen wir weiter."

Ich wusste nicht recht, was ich machen sollte. Mit einer Eingeborenen nach Hause gehen? Andererseits hatte sie vermutlich recht, ich würde keine Chance haben auf den Straßen Limas. Und wenn sie mir eine Falle stellen wollte, um mich umzubringen, dann hätte sie einfach nur zustechen müssen, als sich ihr Messer noch an meiner Kehle befand. Ich nickte. Sie warf mir ihren Poncho über und hieß mich, hinter ihr zu laufen und um keinen Preis den Mund aufzumachen, geschehe, was geschehe.

Doch auf dem Weg zu ihr begegneten wir niemandem. Ein oder zweimal hatte ich den Eindruck, dass wir beobachtet würden, aber vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Bei ihr zuhause erfuhr ich, dass sie Erika hieß und dass sie kein Telefon besaß. Sie lachte laut, als ich sie fragte. "Mein Urgroßvater hatte noch eines, erzählte mir mein Vater immer, wenn er melancholischer Stimmung war." Ich fragte nicht, was mit ihrem Vater geschehen war. Sie hatte die Fensterläden geschlossen, bevor sie die Öllampen angezündet hatte, die ein eigenartig flackerndes Licht auf die Wände warfen. Ich blickte mich um, aber in Wirklichkeit war nicht viel zu sehen außer den Rissen im Gemäuer. Ein hölzerner Hocker und ein wackelnder Stuhl standen um einen alten Tisch herum. Die Tischdecke war grau vom vielen Waschen. In einem kurzen Moment der Entspannung vermisste ich meine Kamera: das wäre ein explosives Material zu Hause! Ein echtes Haus einer Eingeborenen! National Geographic würde gutes Geld dafür zahlen. Dann stürzte die Wirklichkeit wieder auf mich ein. "Hör zu, ich muss zu dem amerikanischen Hotel oder zum Flughafen für Touristen", sagte ich. Erika blickte mich an. "Das ist sehr gefährlich. Vielleicht sogar unmöglich. Man kommt von außen nicht einmal in die Nähe."

"Egal, irgendwie muss ich dahin. Oder an ein Telefon." Ich konnte immer noch nicht glauben, dass es hier kein Telefon geben sollte. Vielleicht hatte sie keines, aber die Geschichte von ihrem Urgroßvater konnte ich ihr unmöglich abnehmen. Jeder Mensch hat Telefon.

"Es ist sehr gefährlich", wiederholte sie nachdenklich, "und alleine schaffst du das niemals. Hier in Lima ist es selbst für einen von uns schwer zu überleben. An der nächsten Ecke nehmen sie dich hoch, wenn sie merken, dass du ein Gringo bist." "Dann hilf mir. Bitte!", fügte ich hinzu.

"Warum sollte ich meine Haut für dich riskieren?" Ich überlegte, ob ich das Thema Dollars riskieren sollte. Sicherlich würde sie alles für ein paar Scheine, vielleicht sogar für ein paar Münzen machen. Aber bevor ich etwas sagen konnte, sprach sie schon weiter.

"Ich werde dir helfen. Du musst wissen, dass nicht nur du, sondern auch ich mein Leben dabei riskiere. Und dass ich nicht weiß, ob wir es schaffen können. Ich kann dich nur bis zum Rande der Touristensperrzone bringen. Danach musst du selber einen Weg hineinfinden. Mich würden sie sofort erschießen, wenn ich versuchen würde, dort einzudringen. Und jetzt, nach dem Überfall noch eher."

"Aber das hat seinen Preis." Sie blickte mich einen Moment aus ihren tiefbraunen Augen an. "Du musst mir ein Visum verschaffen. Du musst allen erzählen, dass ich es war, die dich hier herausgebracht hat. Dass ich dich gerettet habe und dass ich Englisch spreche. Dass ich Zahnärztin bin und dass ich in Amerika leben will. Du musst alles daran setzen, dass ich ein Visum bekomme, versprichst du mir das?" Ich versprach es ihr natürlich. Das und noch viel mehr hätte ich ihr versprochen. Einen Haufen Gold, ein Königreich, wenn es sie gefreut hätte. Was hatte ich zu verlieren? "Ich muss dir vertrauen, so wie du mir vertrauen musst." Sie dachte einen Moment lang nach: "Kann ich dir vertrauen?"

Ich versicherte, alles Menschenmögliche zu unternehmen, damit sie ihr Visum bekäme. Ich gab vor, Freunde bei der Einwanderungsbehörde zu besitzen, darauf zählend, dass sie nicht wusste, dass die Einwanderungsbehörde schon in meiner Jugend aus dem einfachen Grund abgeschafft worden war, weil es keine Einwanderung mehr gab. Sie schluckte es nicht nur, sondern freute sich sogar sichtlich. Ich gab vor, dass ich kein Problem mit ihrer Einreise sähe, wenn ich erst mal zurück zu Hause wäre und die Geschichte dort erzählen könnte.

Wir brachen noch in derselben Nacht auf. Ein unidentifizierbares Getränk, das sie irreführenderweise Kaffee nannte, lehnte ich dankend ab. Sie wirkte angespannt, aber zufrieden mit mir, und ich tat alles, um diesen Eindruck zu verstärken. Sie bat mich, ihr von Amerika zu erzählen, aber ich wusste nicht recht, was ich ihr erzählen sollte. Ich war noch nie jemandem begegnet, der nicht alle Folgen von „Fünf Teufel und George“ mindestens dreimal gesehen hatte: was erzählt man da? Sie hatte damit kein Problem: das sollte ich bald merken.

In ihrem Schrank suchte sie eine unauffällige (will sagen: dreckige, verschlissene und abgrundhässliche) Jacke heraus, die ich anziehen sollte. Die Hosen, die sie mir gab, waren genauso „unauffällig“ und dazu noch zu klein. Sie gab mir einen Strick aus irgendeinem Naturmaterial: den sollte ich als Gürtel benutzen. Alleine meine Schuhe waren ein Problem. Die neonfarbigen Nikes würden sicherlich sofort auffallen und zu einer gründlichen Untersuchung, mit einiger Wahrscheinlichkeit unter Zuhilfenahme eines Messers, einladen. Nach reiflicher Überlegung schlug sie mir vor, barfuss zu gehen. Ich lehnte natürlich ab: das würde meine Socken kaputt machen. Sie erklärte mir, dass sie „mit nackten Füßen“ gemeint hatte. Ich war entsetzt. Sie hieß mich die Schuhe und Strümpfe ausziehen, und als sie meine Füße sah, lachte sie laut. "Nein, das wird auch nichts: deine Füße leuchten ja noch heller als deine Schuhe!"

Zuletzt packte sie meine Schuhe in ein paar alte Lumpen, schnürte diese oben an meinem Knöchel zusammen, und wir waren beide zufrieden. "Kein Wort, unter keinen Umständen! Gut, dass dein Gesicht nicht so weiß wie deine Füße ist. Zieh dir diesen Chullo über, das wird deine Züge ein wenig verstecken." Sie reichte mir eine bunte Mütze, die oben spitz zulief und an den Seiten noch zwei hässliche Ohrklappen aufwies. Aber meine Widerstandskraft war längst gebrochen.

Als ich mich im Spiegel anschaute, erschrak ich zutiefst: ich sah wirklich fast aus wie einer von ihnen: genauso heruntergekommen, genauso dreckig, genauso hässlich angezogen. Die Präsenz meiner Schuhe unter den Lumpen beruhigte mich ungemein: wenigstens wusste ich so, dass ich anders war. Ich hebe dieses Paar Schuhe auch heute noch liebevoll auf, obwohl sie völlig aus der Mode geraten sind, und meine Kinder immer über mich lachen. Doch dieses Paar Nikes hat mich in jener dunklen Nacht Mensch sein lassen und anders als die, die da auf der Straße herumlungerten.

"Wenn uns jemand anhält, siehst du zu, dass kein Licht auf dich fällt. Ich werde sagen, dass du ein Freund aus der Sierra bist und dass Du nicht sprechen kannst. Die Leute aus der Sierra haben hier zwar keinen guten Ruf, aber man ist bereit zu glauben, dass sie ein bisschen komisch sind und dass sie nicht reden. Sowieso kein Spanisch. In den Bergen spricht man eine eigene Sprache, wusstest du das?" Ich nickte nur, um das Gespräch abzukürzen. Was interessierte mich die Sprache des Hochlandes?

Die ersten paar Straßen lief alles gut. Wir begegneten keinem Menschen, und ich war froh drum. Erika hatte mir für den Notfall noch ein Messer in die Hand gedrückt, und das hielt ich fest von meiner Faust umschlossen in der Tasche. Sie hatte mir gesagt, dass ich es nur im äußersten Notfall ziehen sollte, denn mit großer Sicherheit würde mein Gegenüber besser damit umzugehen wissen, aber ich war entschlossen, dem ersten, der mich genauer angucken würde, den Stahl so tief in die Brust zu rammen, wie ich nur irgendwie konnte.

Wir bewegten uns langsam aber stetig die Straßen entlang. Erika hatte sich bei mir eingehakt, weil das – wie sie sagte – am unauffälligsten wäre. Ich war überrascht, dass sie keinen unangenehmen Geruch ausströmte: ich hatte mir die Leute, an denen wir vorbeigefahren waren, immer von einer Art unangenehmen Geruchshülle umgeben vorgestellt.

Der Gebrauch von Englisch auf der Straße war auch zu gefährlich. Sie sprach leise in Spanisch auf mich ein, und zu meiner Verwunderung verstand ich viel mehr, als ich gedacht hätte. Und als mir lieb war. Denn Erika wurde nicht müde, mir von dem einzigen zu erzählen, was ich am liebsten ganz schnell vergessen wollte: von ihrem Land.

"Es begann alles mit dem Krieg gegen Afghanistan oder wenn du willst mit den Attentaten auf die Zwillingstürme in New York. Der Krieg, der sich bald ausweitete, brachte kaum die erwarteten Resultate. Das bestärkte die Stimmen, die schon seit langem gesagt hatten, dass man diese armen Staaten einfach aushungern sollte. Und aus diesem Gedanken erwachte mit Hilfe einiger neuer technologischer Entwicklungen eine neue politische Strömung, die erst die Vereinigten Staaten, dann aber auch Australien und Japan ergriff: die Lösung der Weltprobleme war endlich da! Sie war so simpel wie genial: man koppelt einfach zwei Drittel der Weltbevölkerung ab und überlässt sie sich selbst. Keine Spendenaktionen mehr, keine Bilder hungernder Kinder, keine Alphabetisierungskampagnen. Keine Umschuldung mehr, keine Kredite von der Weltbank. Die unterentwickelte Welt wurde geschlossen. In Peru haben wir länger als andere ausgehalten. Zu dem Zeitpunkt im Jahre 2030, als die Große Weltwirtschaftsreform durchgeführt wurde, ging es Peru gar nicht so schlecht. Wir hatten seit 2001 eine konstante demokratische Regierung, die Maßnahmen zur Bildung der Landbevölkerung waren in vollem Gange und die Rate derjenigen, die unter einem Dollar pro Tag verdienten, nahm ständig ab."

"Unsere Regierung hat volle fünf Jahre ausgehalten: ich weiß nicht, wie. Erst als Banditenhorden ganze Städte überfielen, gaben sie auf. Geld wurde nicht mehr gedruckt, und wir kehrten zur uralten Tauschwirtschaft zurück: ich gebe dir eine Rinderhälfte, du gibst mir einen Zentner Kartoffeln."

Erika erzählte ihre Geschichte so leicht und ohne jeglichen Vorwurf, dass es mir leicht fiel, nicht hinzuhören. Ich war ganz auf das Geschehen auf der Straße konzentriert. Keine Menschenseele war dort zu sehen, nur vereinzelt flackerte in der Ferne, zu sehen durch eine der leeren Straßenschluchten, ein Feuerschein. Sie sprach indes scheinbar unbeschwert weiter.

"Das System funktioniert aber nur solange, wie jeder etwas beisteuern kann, was direkt verwertbar ist. Aber nachdem wir keinen Import mehr hatten und damit zum Beispiel kein Benzin und dadurch wiederum die Autos überflüssig wurden, was sollte ein Automechaniker, ein Busfahrer da tauschen? Der Hunger war der Ursprung der bewaffneten Banden."

"Obwohl eigentlich die ersten, die die Folgen der Großen Wirtschaftsreform zu spüren bekamen, die Kinder waren. Die Schulen wurden geschlossen, denn die Lehrer mussten sich etwas suchen, was ihren knurrenden Magen beruhigte. Die werdenden Mütter wurden immer dürrer, von den Neugeborenen starb bald ein Drittel: schlimmer als zu Zeiten der Inka, sagt man. Bald breiteten sich Seuchen aus, denn der Müll wurde nicht mehr abgeholt."

"Es gab einige Initiativen, die öffentliche Ordnung trotz allem aufrecht zu erhalten. In Ayacucho, in der Sierra, gab es eine Organisation von Freiwilligen, die sich Esperanza nannte und versuchte, die grundlegenden Dienste auf freiwilliger Basis aufrecht zu erhalten. Sie erinnerten sich an die alten Traditionen aus den Zeiten, bevor die Spanier kamen. Die Angehörigen dieser Organisation betrachteten sich als Ayllu, als Gemeinschaft, und verrichteten neben ihrer normalen Arbeit gemeinsame Aufgaben."

"Die bewaffneten Banden waren es, die diese kleinen Versuche, trotz allem zu überleben, zerstörten. Einige Zeit kehrte Peru zur Leibeigenschaft zurück: Banditen kamen erst in die Dörfer, später sogar in die Städte und holten sich, was sie brauchten. Arbeiter, die ihre Felder bestellen, Frauen für ihre Küchen und Betten. Und das Schlimmste ist, dass die Leute sich daran gewöhnt haben. Immerhin, sagen sie, haben wir hier zu essen und müssen nicht hungern."

Ich hatte eine Bewegung am Ende der Straße gesehen und drückte Erikas Arm. Sie schaute überrascht zu mir, und einen Moment hatte ich den Eindruck, sie dächte, ich hätte ihr von ihrer Geschichte, der ich nur mit halbem Ohr zugehört hatte, bewegt den Arm gedrückt. Mein ängstlicher Gesichtsausdruck aber belehrte sie eines Besseren. Als sie die Schatten entdeckte, spannte sich ihr ganzer Körper an. Ich hätte mich gerne in eine Ecke verdrückt, aber es gab keine. Unerreichbar weit, 30 Meter vor uns, war ein Hauseingang. Aber wer wusste, was uns dahinter erwarten würde. Ich klammerte mich an das Messer als wäre es ein Stück Treibholz und ich ein Ertrinkender.

Sie hatten uns schnell umringt. Ein Bande von vielleicht zehn Halbwüchsigen und Kindern. Ich wollte mich schon etwas beruhigen, aber ich spürte, dass Erika sich nicht entspannte, sondern ihre Angst sogar wuchs. Ich zog mir die Mütze noch ein Stück tiefer ins Gesicht. Sie unterhielten sich in einer Sprache, von der ich nur Fetzen verstand. Es klang wie das, was die Terroristen gesprochen hatten. Ich verstand, dass die Kinder Alkohol wollten; sie stanken schon so entsetzlich danach. Erika versuchte, ihre Stimme ruhig und bestimmt klingen zu lassen. Sie verlangten auch zu wissen, wer ich sei. Das fehlende Licht, meine Hautfarbe, der ihren nicht unähnlich, und die Geschichte, die ich vermeinte Erika erzählen zu hören, ließ sie ihre Aufmerksamkeit von mir abwenden.

Dann verlangten sie in forderndem Ton etwas von Erika. Als sie verneinte, sprangen blitzende Messer aus ihren Hosentaschen. Mein Arm zuckte bereits, aber Erika, vielleicht meine Bewegung ahnend, war schneller und hielt mein Handgelenk eisern auf der Höhe meiner Jackentasche. Mein Messer war nicht einmal zum Vorschein gekommen. Sie sagte leise zu mir: "Warte hier", und verschwand mit den Älteren in dem Hauseingang. Die Jüngsten, vielleicht gerade mal fünf oder sechs Jahre alt, leisteten mir mit gezückten Messern und grimmigen Gesichtern Gesellschaft, während ich wartete. Ich versuchte, mir meine Chancen auszurechnen, wenn ich einfach losrannte, aber ich wusste ja noch nicht einmal wohin.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie zurückkam. Die Kleinen hatten sich inzwischen mehr als genug über mich und meine vermeintliche Taubheit lustig gemacht. Das verstand ich auch ohne die Worte zu erkennen. Erikas Augen waren leicht gerötet, als wenn sie geweint hätte.

Die Bande ließ uns passieren, und ich spürte plötzlich einen starken Drang, mich zu übergeben. Erika zerrte mich davon, in die Nacht hinein. Und sie fuhr an der Stelle fort, an der sie aufgehört hatte, so als ob nichts passiert wäre.

"Armut ist so viel mehr, als nur kein Geld zu haben, weißt du. Hunger ist schlimm, aber Hoffnungslosigkeit ist so viel schlimmer. Und die Verblödung. Wenn deine einzige Sorge ist, woher du heute zu Essen bekommst, dann denkst du nur noch daran. Alles andere ist dir egal. Als die Spanier hier ankamen, beherrschten die Inka ein Reich, wie nur wenige es jemals zu solcher Größe gebracht haben. Cuzco war zu diesem Zeitpunkt viel größer als Rom, London, Paris oder Madrid. Man hatte schon gelernt so zu bauen, dass bei einem Erdbeben die Häuser stehen blieben. Es gab frischen Fisch am Hofe des Inka und das, obwohl die Küste Hunderte von Kilometern entfernt ist.

Aber das alles haben wir vergessen. Unsere Gesellschaft heute ist soviel primitiver als die Gesellschaft vor 500 Jahren. Weil wir unsere Stärken vergessen haben, weil der Hunger uns alle Gedanken nimmt, weil wir nur um das nackte Überleben kämpfen."

"Damals, nach der Großen Wirtschaftsreform haben wir noch eine Zeit lang von den paar Touristen leben können. Die Amerikaner blieben eigentlich sofort weg und schon das brachte Armut, aber ein paar Jahre lang kamen noch einige verwegene Europäer nach Peru, damals als Cuzco noch stand und noch von Peruanern bewohnt war. Aber als auch die wegblieben, da war es um Peru geschehen."

"Was wollten die Kinder von dir?", versuchte ich ihren Monolog zu unterbrechen. "Das ist meine Sache. Du denk nur daran, dass ich das alles für dich mache und dass du versprochen hast, mir ein Visum zu besorgen. Das weißt du doch noch?" Ich nickte eifrig. Auch wenn Erika mir keine Angst mehr einflößte, wusste ich, dass sie meine einzige Hoffnung war, hier wieder herauszukommen. Und außerdem hatte sie gleich mir ein Messer in der Tasche, und ich war sicher, dass sie es besser benutzen konnte als ich.

Wir schritten nun forscher aus. Es mochte vielleicht drei Uhr morgens sein und es war bitterkalt. Ich sehnte mich nach meiner heißen Dusche, wie ich mich selten nach etwas gesehnt hatte. "Es ist nicht mehr weit bis zur Sperrzone", sagte sie unvermittelt und auf Englisch. "Ich muss schneller erzählen. Mitten in der Misere aber hat es immer Leute wie meinen Großvater und meinen Vater gegeben, die daran glaubten, dass wir es irgendwie schaffen können. Sie waren es mit ihren Freunden, die heimliche Zirkel abhielten und ihre Kinder und all diejenigen, die abends ein paar Stunden verschwinden konnten, unterrichteten. Daher spreche ich Englisch und deswegen bin ich Zahnärztin. Hast du geglaubt, hier in Peru würde irgend jemand einen Zahnarzt besuchen?" Sie lachte leise und bitter. "Es ist lange her, dass die Leute sich den Luxus leisten konnten, sich um ihre Zähne zu kümmern."

Auf einmal zeigte sie in die Ferne: "Siehst du den hellen Schein? Das ist die verbotene Zone. Wir kommen näher."

"Sie formten eine Art Geheimbund, der versuchte, das Wissen im Land zu halten. Zu dem Bund gehören all die Berufe, die längst verschwunden sind: Rechtsanwälte, Ärzte, Naturwissenschaftler, sogar Philosophen und Sprachwissenschaftler. Wir haben es geschafft, dieses Wissen über ein Jahrhundert zu retten und sogar zu vertiefen. Was wir heute über die antiken Kulturen wissen, geht weit über das hinaus, was in den Büchern steht. Jedenfalls in den paar, die wir noch haben", fügte sie ein wenig verschämt hinzu. Die Lichter in der Ferne wurden immer deutlicher als hohe Scheinwerfertürme sichtbar.

"Warum willst du dann nicht hier bleiben?", fragte ich sie, den Blick fest auf die sich nähernden Scheinwerfer gerichtet. Sie zögerte ein wenig mit der Antwort. "Weil ich nicht mehr kann. Früher, als ich noch jünger war, träumte ich davon, nach Amerika zu gehen und kofferweise Bücher zu kaufen, an der besten Universität gleichzeitig mehrere Fächer zu studieren und dann mit all diesen Schätzen nach Peru zurückzukehren. Ich träumte von einem Neuanfang und davon, dass ich mit meinen Freunden wieder eine Regierung bilden würde, nach über hundert Jahren die erste. Aber ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr hungern, nicht mehr mein Elend ertragen und erst recht nicht das der anderen. Ich kann nicht mehr die Straßen entlang gehen und vor den kleinen Teufeln wegrennen, die entweder dein Leben oder deine", hier kam ein Wort, das ich nicht verstand, "wollen. Ich will mich einmal ohne Hunger und ohne Angst auf der Straße bewegen können und ich will die Chance haben, meine Künste als Zahnärztin zu beweisen. Ich will nach vorne schauen können, ohne sehen zu müssen, dass meine Mitmenschen immer mehr nach hinten verschwinden. Oh, bitte, ich muss nach Amerika. Du denkst doch an dein Versprechen? Du wirst allen sagen, dass ich dich gerettet habe, nicht wahr?"

Ich versicherte ihr, dass ich, kaum im Hotel angekommen, bereits anfangen würde von ihr zu sprechen. Vielleicht konnte sie meinen ironischen Unterton merken – obwohl es doch heißt, dass die einfachen Völker die Ironie nicht kennen – jedenfalls schaute sie mich merkwürdig an. "Unsere Vorfahren, die Inka, besaßen statt der Zehn Gebote der Christen nur drei. Aber wer diese drei nicht einhielt, der war es nicht würdig, ein Mensch unter Menschen zu sein, und dementsprechend wurde gehandelt. Das erste Gebot ist: Du sollst nicht faul sein, das zweite: Du sollst nicht töten und das dritte: Du sollst nicht lügen." Wir waren fast bei den Scheinwerfern angekommen. Ein großes weißes Tor erschien am Ende der Straße, von dem gleißenden Licht eigentümlich unwirklich beleuchtet. Es sah fast wie ein Gefängnistor aus, und doch erschien es mir wie das Tor zum Paradies.

Aber in dem Augenblick, als wir das Ende der Odyssee erblickten, hörten wir auch ein Geschrei hinter uns. Eifrige Füße kleiner, wilder Menschen waren mit einem Mal hinter uns. Die Bande war uns gefolgt, offenbar ahnend, dass etwas mit mir faul war. Erika schrie: "Lauf! Lauf um dein Leben. Ich halte sie auf. Und vergiss mich nicht! Sag ihnen, dass ich es war, die dich gerettet hat! Lauf! Lauf!" Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Ich nahm meine Beine in die Hand und rannte, was meine Lunge hergab. Während ich die letzten Meter zum Tor zurücklegte, hoffte ich inständig, dass die Videoanlage funktionieren würde. Hinter mir hörte ich Geschrei, aber ich drehte mich nicht um.

Schon wenige Meter vor dem weißen Ungetüm, fing ich an zu rufen. Ich schlug auf das Tor ein, aber es öffnete sich nicht. Da riss ich meine Verkleidung von mir, schmiss die vermaledeite Mütze in den Dreck, rupfte mir die Lumpen von den Füssen. Da endlich schwang das Tor auf. Ich ließ das Kriegsgeschrei hinter mir. "Ich hätte fast nicht geöffnet, Sir. Mit der Bande Wilder da draußen vor dem Tor, da hätte ich bestimmt nicht geöffnet. Zumal wir doch dachten, dass die ganze Gruppe von den Terroristen festgehalten wird. Wenn ich Ihre Nikes nicht gesehen hätte, Sir, ich hätte ganz sicher nicht geöffnet."

Ich habe meinen Job gekündigt. Ganz zum Leidwesen meiner Chefin, die mir einen wirklich schönen Abschied gab. Mit köstlichem Essen, französischem Champagner und allem Drum und Dran. Ein sehr bewegender Moment. Aber mit dem Geld, das ich durch den Prozess gegen meine Reiseagentur und den Tantiemen für die Veröffentlichung meines Buches: Lima – 2150, ungefähr (ich hatte wirklich Glück mit dem Ghostwriter) verdient habe, kann ich bequem leben. Natürlich habe ich ein paar Dinge geändert: Erika ist in meinem Buch männlich und heißt George oder so ähnlich. Auch vom Visum ist selbstverständlicherweise nicht die Rede. Ein paar Dollars übernehmen dessen Rolle in meinem Bestseller.

Ich denke nicht gerne an sie. Manchmal erinnere ich mich sogar an ihre letzten Worte und dann brauche ich immer eine schöne, heiße Dusche.

Text: Nil Thraby

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]




[kol_1] Macht Laune: Kleben bis das Album voll ist!
Panini-WM 2014 – Endrunde: die letzten 50 Tüten (?)

Willkommen zur diesjährigen Panini-WM! Sie wird in drei Runden zu jeweils 50 Tüten a 5 Klebebilder ausgespielt.

Die dritte und damit letzte Runde wird übrigens in Recife hoch im Nordosten ausgetragen, während des Spiels Costa Rica gegen Griechenland. Und los geht’s, Anpfiff!

Verhaltener Beginn, Tüte 1 nur Doppelungen. Das haben wir natürlich erwartet, die Chancen ein neues Klebebild zu finden, werden schließlich von mal zu mal geringer.

Xabi Alonso und der Kolumbianer Falcao in Tüte 2 – wie hat sich Falcao da wohl reingeschlichen, ist doch verletzt und nicht dabei? Und Alonso – der ist doch bereits zurück in Spanien und wieder auf Formel 1 umgestiegen...

Mann, mann, das Geplänkel geht weiter, genau wie bei Costa Rica gegen Griechenland. Überhaupt die alten Maurer, die Griechen... würde mich nicht wundern, wenn sich unter die Tüten ein Sack Zement eingeschlichen hätte. Wie ich den dann auf die Seite mit den Griechen-Klebebildern festtackern soll, weiß ich auch nicht.

Erst in Tüte 6 passiert wieder was: Marcelo für Brasilien, den haben wir natürlich schon oft. Aber so schlecht, wie der spielt, braucht man ihn wohl mehrfach.

Oh, die Stadien werden langsam fertig. Rechte Seite Maracana in Tüte 7. In Tüte 8 van Persie – hatten wir schon, aber so ausgelaugt wie der heute aussah, ist es gut, wenn er noch mal frisch aus der Tüte kommt.

Schweini in Tüte 9, der ist ja sowieso im Kommen. Tüte 10 – Salvador, das Stadion rechte Seite.

In Tüte 11 Huntelaar – passend, der kam ja heute direkt als Elfmeter-Vollstrecker auf den Platz. Wenigstens ein Schalker, der spielt. (Anm. der Red.: Höwedes spielt doch auch, wenn auch nicht im Panini-Album!) 

Jetzt wieder Flaute, nur Doppelte von Mannschaften, die schon längst daheim sind: Japan, Südkorea, Russland – wieso sortiert Panini die eigentlich nicht aus? Frechheit, die immer noch zu verkaufen!

Tüte 18 hat mal wieder den Fred, aber ohne den neuen Schnurbart. Das sollte aktualisiert werden.

Mario Götze in Tüte 21 – allerdings nur Brustbild, das Knie, mit dem er traf, sieht man nicht.

Ab jetzt hat jede Tüte (gefühlt) den Franzosen Varane – Omen für das mögliche Halbfinale gegen Deutschland?

Tüte 25 kommt mit Cavani – Uruguay ist doch schon draußen, was soll das?

Halbzeit!

Fazit: viele Doppelte, wir haben das ja schon erwartet. Aber immerhin gibts nun einen hohen Stapel zum Tauschen. Weiter geht’s!

Tüte 26: ein Skandal: Buffon, Eto`o und Pirlo – alle schon daheim. Panini!

Hier tut sich wenig, genau wie in der Arena Recife, wo Griechenland gegen Costa Rica dahinplätschert. Tüte 30 mit Schürrle und Kroos – gute Kombination, den Podolski finde ich sowieso enttäuschend.

Tüte 33 kommt mit Stadion-Bauteilen: Recife rechts und Cuiabá rechts – dabei wird in Cuiabá schon gar nicht mehr WM gespielt. Aber man konnte das ja schon mehrfach nachlesen, nichts wurde pünktlich fertig in Cuiabá. Und Recife – dass mitten im Spiel noch am Stadion gebaut wird, ist auch ein Skandal – vielleicht schaffen es die Griechen deshalb nicht ein Tor zu schießen... FIFA, FIFA, so gehts nicht!

Die Tüte 35 ist komplett japanisch – ob ich da statt einer Panini-Tüte deren Flieger back home erwischt habe?

Costa Rica führt übrigens und die Griechen rennen verzweifelt an. Das Spiel ist jetzt spannender als das Tüten-Aufreißen.

Jordi Alba kommt noch mal in Tüte 36 und 37, eindeutig zu spät, Spanien ist schon lange draußen.

Auch Olic und Thiago Motta kommen zu spät. Griechenland rennt an, jetzt wo die Arena Pernambuco in Recife komplett ist, geben sie alles.

41. Tüte, Lahm kommt raus – immer da, wenn man ihn braucht, trotz aller Journalistenschelte der letzten Tage. Und Götze noch mal in Tüte 43. Und der Schweini, noch mal in Tüte 46, knapp vor Balotelli – der ja schon daheim ist. Egal, den sieht man immer gerne.

Die letzten zwei Tüten laufen: Tüte 49 mit einem Gruppenbild der Japaner – geschenkt.  Tüte 50 endet mit doppelten Koreanern, enttäuschend. Viel spannender die Griechen – Ausgleich in der letzten Sekunde.

Aus!

Die Panini-WM ist vorbei, die Griechen spielen noch mal 30 Minuten weiter. Costa Rica nicht, die sind nämlich fertig und stehen nur noch.

Fazit unserer Finalrunde: 178 von 250 Bildern waren doppelt. Von den Stadien sind kaum welche fertig: Brasília, Fortaleza, Porto Alegre (wichtig, da spielt Deutschland gegen Algerien) und Recife.

Unser Album ist auch nicht komplett – wir müssen – wie die Griechen – wohl in die Verlängerung. Tauschen! Ein Freund aus Argentinien hat einen ganz dicken Stapel Doppelter dabei. Dessen Album hat sogar noch mehr Lücken als unseres – wir geben an ihn ab: Davi Silva, Cassilas, Cahill, Van Persie, Lampard, Balotelli, Drogba und Depay. Im Gegenzug bekommen wir das halbe Uruguay-Team. Ohne Suarez natürlich, der darf ja nicht mehr ins Album.

Der Kumpel aus Argentinien hat noch ne Menge Wappen, die uns fehlen, doch was ist das? Die Glitzerbilder aus Argentinien haben nicht die Wasserzeichen / Hologramme wie die brasilianischen Panini-Bilder. Billigdruck, gruselig!

Große Frage jetzt: wie bekommen wir unser Album voll? Und was machen wir mit unseren Doppelten? Und dann auch noch: Panini hat eine Extra-Tüte mit 71 (!) Bildern rausgegeben, mit Spielern, die noch nachgerückt sind. Höwedes und Großkreutz sollen auch dabei sein. Man möge die aussortierten Spieler einfach überkleben. Da machen wir nicht mit!


Schnell am Kiosk ein zweites Album gekauft, dieses mal mit festem Einband. (5 mal so teuer, egal) Da kommen die neuen Spieler rein, danach füllen wir es mit den Doppelten auf. Und kaufen neue Tüten – neue Runde, neues Glück!

Diese WM muss in die Verlängerung, und notfalls auch ins Elfmeter-Schießen – so lange bis die Alben voll sind. Genau wie die Griechen, die gerade einen Elfmeter verschießen und rausfliegen – Viva Costa Rica! Bei denen fehlen mir noch drei Bilder...

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]






[kol_2] Traubiges: Malva-was?
Muga Blanco Rioja 2013
 
Weine aus Chardonnay, Riesling oder Sauvignon Blanc hat jeder schon einmal getrunken. Die finden sich in fast jedem Restaurant und kein Weinladen kommt ohne sie aus. Aber es gibt Rebsorten, die kaum jemand in Deutschland kennt. Viura oder Malvasia zum Beispiel. Dabei werden sie in Spanien schon seit Jahrhunderten kultiviert. Gerade die Viura gehört zu den klassisch spanischen Rebsorten. Und die Bodegas Muga gehören zu den Weingütern, die traditionellerweise klassisch spanische Weine herstellen. Das Weingut selbst ist schon seit fast einem Jahrhundert eine Institution im spanischen Weinbau. Es befindet sich direkt am alten Bahnhof in Haro, dem Weinbauzentrum der Rioja. Hier kommen die technischen Errungenschaften moderner Önologie genauso zum Einsatz wie das Wissen der mehr als einhundert Jahre alten Weinbauerfahrung. Das Weingut ist eines der wenigen, das noch immer all seine Gebinde aus Holz in der hauseigenen Küferei herstellt. So findet die komplette Weinbereitung ganz traditionell in Holzfässern statt. Mit Erfolg: Viele der Muga-Weine haben Weltruf und das Weingut wird in Fachkreisen als Repräsentant spanischer Weinkultur gehandelt.

Dabei sind Muga-Weine schon für unter zehn Euro zu haben – können aber bis zu 120 Euro kosten. Eines der Flagschiffe am unteren Ende der Preisskala ist der Muga Blanco Rioja, eine Cuveé aus: Viura und Malvasia! Die Viura-Traube ist die wichtigste Rebsorte unter den Weißweinen in der Rioja. Rund 15 Prozent der Anbaufläche sind hier mit ihr bepflanzt. Meist werden leichte, erfrischende Weine aus ihr gekeltert, die jung trinkbar sind und eine angenehm präsente Säure haben. Die Rebsorte eignet sich aber ebenso zur Herstellung sehr körperreicher Weine. Malvasia wird gerade einmal auf einem Viertel Prozent der Rebfläche in der Rioja kultiviert. Diese gelb-rötliche Traube, die ursprünglich aus Griechenland stammen soll, steht für intensiven Geschmack, kräftige Säure und eine geschmeidige Konsistenz. Malvasia nimmt beim Fassausbau sehr gut das Vanillearoma des Barriques an. Gemischt mit Viura bildet diese Rebsorte die Grundlage für die großen, fassausgebauten weißen Riojas. Dabei wurden noch bis vor einigen Jahrzehnten eher schwere süße Weine aus ihr vinifiziert.

Der Muga Blanco Rioja 2013 steht für beides: Leichtigkeit und Körperreichtum. Die Cuveé betört schon durch ihre Farbe. In einem herrlich zarten Gelb fließt sie mit hellen Reflexen, die zwischen Grün und Silber changieren, ins Glas. Dabei offenbart sie ihr schlankes, frisches Bukett, das an Zitrusfrüchte, Blumen und Gräser erinnert. Zugleich ist dieser junge Wein am Gaumen herrlich fruchtig, aber eben zugleich opulent. Leichte Anklänge an Vanille- und Röstaromen verraten den kurzen Barrique-Ausbau in den Muga-Fässern (ungefähr ein Vierteljahr). Ein herrlicher, sehr individueller Wein, mit einem lang anhaltenden, frisch-körperreichen Nachhall. Ein Wein, der uns neben seinem fabelhaften Geschmack noch etwas vermittelt: Chardonnay und Co. sind toll – aber es wird höchste Zeit, mal etwas Neues kennenzulernen!

Text: Lars Borchert
Foto: Bodegas Muga

Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er nun mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika.

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges]





[kol_3] Grenzfall: Teneriffas wildes Wasserwirtschaften
 
Mit Hochgefühl landen. An der Playa und im Fischrestaurant zwei Tage akklimatisieren. Und dann langsam den Berg hoch kämpfen. Das ist der Plan.



Nach dem bewegungsarmen Winter wählen wir als Wandereinstieg eine kurze Strecke mit dem Schwierigkeitsgrad gering. Der Start erfolgt am Kirchplatz in Guía la Isora, im Süden Teneriffas gelegen. Kaum habe wir die Altstadt verlassen, grünt’s, blüht’s und kakteet’s auf schwarzem Lavagestein.



Nach gefühlten 200 Metern überqueren wir Wasserleitungen unterschiedlicher Rohrdicke.



Der Weg führt bald entlang einer gemauerten Wasserleitung und vorbei an einem Ochsendreschplatz. Landschaftlich flacht das Gelände ab und wir sehnen uns zurück zu den ersten 200 Metern Weg.





Dann jedoch ein echter Knaller: das Dorf Aripe. Ein Dorf wie es in den Anden stehen könnte. Die Bauweise der Häuser im Kolonialstiel ist begeisternd.



Und so – abseits der Touristenzentren – lässt sich erahnen, welchen Schatz Teneriffa parat hält: Ein koloniales Erprobungsfeld für die Kolonialisierung der karibischen Inseln und weiten Teilen des amerikanischen Festlandes durch die Spanier.



Nun ist es nicht mehr nur der Teide, der alles überragende Vulkan, sondern auch die historischen Dörfer und Städte, die uns voller Vorfreude auf die Insel direkt in Aripes Kiosk-Bar führen und von dort zurück nach Guía la Isora auf der so gut wie nicht befahrenen Asphaltstraße.

Und dieser Entschluss zur Umkehr lässt sich unter hochgradig glücklicher Fügung verbuchen, denn etwas oberhalb des Ortes treffen wir auf die Wasseraufbreitungsanlage und ein bis dahin nie gesehenes aber faszinierendes Chaos an Wasserleitungen.







Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] Lauschrausch: Gipsy Rhumba
 
Wer kennt nicht die Gypsy Kings? Und welcher Musik-"Experte" rümpft nicht die Nase bei diesem Namen (um dann zu später Partystunde doch auf "Bamboleo" oder "Djobi, Djoba" zu tanzen und/oder mitzusingen). Tatsächlich ist die aus Südfrankreich stammende Gruppe nur die international erfolgreiche Spitze einer Bewegung, die ihre Wurzeln im Barcelona der 1960er Jahre hat. Dort vermischten die gitanos die Klänge ihres Flamenco mit der kubanischen Rumba und anderen karibischen Genres und gaben noch einen Schuss Rock ‚n’ Roll hinzu (z.B. bei "Tequila" von "Juncal y sus Calistros"), später auch Funk & Soul.

Gipsy Rhumba
Soul Jazz Records
CD 275

Sie entwickelten eine neue Spieltechnik auf der Gitarre, den sog. ventilador, bei dem während die Saiten angeschlagen werden, die Handinnenfläche den Gitarrenkörper als Rhythmusinstrument spielt. Ob nun der "Rey de la rumba", Peret, oder Antonio González "El Pescailla" diese Technik erfunden hat - beide stritten sich jahrzehntelang darum -, ist nebensächlich, hat sie doch auch auf den "echten" Flamenco eingewirkt.

Die gitanos adaptierten oft Songs aus Lateinamerika, oft ohne zu wissen, wer sie komponiert hatte. Der berühmte argentinische Musiker Atahualpa Yupanqui hörte so eines Tages in Malaga sein Lied "Los ejes de mi carreta" in der Rumbaversion, ohne dass sein Name damit in Verbindung gebracht wurde. Es hat ihn stolz gemacht. Diese Anekdote steht im 60-seitigen Booklet (engl. und span.) zur CD, in dem die Geschichte der rumba catalana, wie sie auch heißt, kenntnisreich präsentiert wird. Ergänzt werden die Texte von den Bildern des französischen Fotografen Jacques Léonard, der in den 60er Jahren durch seine Heirat mit einer gitana einen sehr intimen Zugang zum Leben der gitanos erhielt. Hier hat Soul Jazz Records (und die beiden Compiler David El Indio und Jose Manuel Gómez) es (wieder einmal) geschafft, ein Gesamtkunstwerk herauszubringen, musikhistorisch wertvoll und gleichzeitig partytauglich. Denn die einzelnen Titel aus den Jahren 1965-74, seien sie vom "Erdbeben" Dolores Vargas, von Peret oder anderen, sind echte Knaller. Und so kann die Gypsy Kings-CD endlich zuhause bleiben und keiner der so genannten Experten braucht sich mehr zu schämen.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 07/2014] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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