ed 07/2013 : caiman.de

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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Achte Etappe: Zwei Kirchenwunder in der Provinz - Los Arcos und Torres del Río
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Wer hätte das gedacht?
THOMAS MILZ
[art. 2]
spanien: Cap de Creus (Bildergalerie Teil 2)
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[art. 3]
portugal: Lissabon - Die Wunderbare am Fuße des Tejo
ANDREAS DAUERER
[art. 4]
erlesen: Verdammt, Méndez!
"Der Tod wohnt nebenan" von Francisco González Ledesma
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
grenzfall:Warten auf den Papa
THOMAS MILZ
[kol. 2]
pancho: Von Cebiche und anderen Leckereien
NIL THRABY
[kol. 3]
lauschrausch: Aktuelle Alben von Ramón Valle
TORSTEN EßER
[kol. 4]


[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Etappen [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1]
Achte Etappe: Zwei Kirchenwunder in der Provinz - Los Arcos und Torres del Río
 
24. August 2012. Aus dem Tiefschlaf aufgeschreckt starre ich ins Dunkel und muss ein paar Sekunden lang überlegen, wo ich überhaupt bin. Geräuschvolle Schatten um mich herum, sie flüstern, klappern und packen. Ich bin im Massen-Schlafsaal der Pilgerherberge von Estella. Cayetana und ich hatten beide keine Steckdose zum Handy-Aufladen gefunden und haben deshalb keine Ahnung, wie spät es jetzt ist. Der Dunkelheit zum Trotz fährt ein halbes Dutzend Frühaufsteh-Pilger fortgeschrittenen Alters unbeirrt fort, mit rücksichtslosem Rucksackrascheln und Skistock-Geklapper den ganzen Schlafsaal aufzuwecken, frei nach dem Motto: Wir brechen auf - ihr wacht auf!

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Jetzt schnallen sie sich sogar Grubenlampen auf die Stirn und bieten den Ausdemschlafgerissenen eine bizarre Lightshow. Und sie unterhalten sich im Kommandoton und ungenierter Lautstärke: natürlich in Deutsch mit deutlich alpenländischem Akzent! Cayetana schaut aus ihrem Hochbett verschlafen zu mir herab und fragt mich, ob die mit den Taschenlampen Einbrecher seien. Ihre zweite Frage gilt der Uhrzeit und bleibt unbeantwortet. Fakt ist, wir sind nun wach und können nicht mehr einschlafen. Also rüsten auch wir zum Aufbruch, allerdings im Flüsterton und bemüht, die wenigen, die von den Skistock-Opas nicht aus dem Reich der Träume gerissen wurden, dort zu belassen.

Unausgeschlafen stolpern wir aus der Herberge in die Nacht und dass meine andalusische Begleiterin in dieser Situation nicht die beste Laune hat, ist verständlich. Wir kommen an einer Apotheke vorbei und erspähen endlich eine Uhr: 5.20 (!) Wir blicken uns einigermaßen entsetzt an. "Das war ja wieder klar - die Deutschen müssen zuerst halb Europa aufwecken, um dann halbblind mit Bergwerksleuchten durchs Dunkel zu tapsen!", macht eine unausgeschlafene Cayetana ihrer spanischen Wut Luft. Ich bitte sie, jetzt keine Vorurteile von Disziplin und Frühaufstehern zu bemühen und gebe außerdem zu bedenken, dass unser rabiates Weckpersonal eher aus Österreichern bestand. "Aber das sind doch die deutschesten Deutschen!", bemerkt Cayetana und kann sich kaum beruhigen. Ich selbst bin auch ein wenig ungehalten über diese Grubenlampen-Fraktion, deren Lichter einen halben Kilometer vor uns durch die Finsternis irren.

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Es macht keinen Sinn, derart früh aufzubrechen: man sieht nichts von der Landschaft, kann keine Fotos machen und die Gefahr, in der Dunkelheit einen der als Wegweiser dienenden gelben Pfeile zu übersehen, ist hoch. "Und sie erschrecken die Hunde!", beklagt Cayetana. In der Tat werden wir bei der Ankunft am Kloster Irache von wütendem Hundegebell begrüßt. Und es ist zu dunkel, um Fotos zu machen. Das Blitzlicht-Foto vom berühmten Weinbrunnen des Klosters, an dem jeder Pilger sich gratis Rotwein abzapfen kann, will nicht gelingen. Während ich mir ein Fläschchen zum späteren Genuss abfülle, trinkt Cayetana ihren Wein sofort. Ich weise sie darauf hin, dass wir uns zeitlich noch vor Sonnenaufgang befinden. Sie kontert: "Ja genau, mein Englischlehrer hat immer gesagt: No alcohol before sunset - aber jetzt ist total danach!"

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Der Wein wird uns sowieso den ganzen Tag begleiten, denn im Süden Navarras ist er das wichtigste landwirtschaftliche Produkt und wir marschieren stundenlang durch Weinfelder. Als endlich die Sonne aufgeht und die Österreicher ihre Grubenlampen wegpacken können, nähern wir uns dem kegelförmigen Hügel mit Burgruine, unter dem das romantische Dorf Villamayor de Monjardín die Pilger mit schöner Aussicht und einer hübschen Dorfkirche erwartet. Und auch dieser Ort ist umgeben von Weinreben, soweit das Auge reicht.

Nach dem Aufstieg müssen wir zuerst am Dorfbrunnen unsere Wasservorräte auffüllen, bevor wir die Aussicht genießen und dann weiter nach Westen Richtung Los Arcos marschieren. Hinter Monjardín wird die Landschaft trockener und eintöniger. Statt üppiger Weinberge dominieren hier vorübergehend graugelbe, abgeerntete Kornfelder mit turmhoch aufgeschichteten Strohballen und statt romantischer Burgruinen grüßen nun Armeen von Windrädern von den Bergrücken. Lang und ereignislos zieht sich der Camino durch diese Kornfeldsteppe mit weiten Horizonten. Wenn die Umgebung mit visuellen Reizen geizt, schaltet man irgendwie ab, versinkt in den meditativen Rhythmus gleichmäßigen Gehens und wandert irgendwann wie in Trance. Ein langes Schweigen brechend, frage ich meine Begleiterin: "An was hast Du gerade gedacht?" - "An nichts! Und Du?" - "Ebenso." Erstaunlich!

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Es ist erst 11 Uhr, als wir Los Arcos erreichen und ich hatte Cayetana eine echte Barockkirche (im Nordosten Spaniens eine Seltenheit) versprochen, die ihren andalusischen Geschmack treffen würde. Die Kirche Santa María Asunción (St. Maria Himmelfahrt) ist äußerlich ein Bau der Renaissance: monumental für eine Dorfkirche, mit platereskem Portal, achteckiger Kuppel und einem majestätischen, sehr schönen Turm. Aber sie ist geschlossen! Auf den Schock müssen wir den ersten Kaffee des Tages trinken, begleitet von einem Schoko-Croissant und der vagen Hoffnung, dass dieses spektakuläre Gotteshaus seine Pforten doch noch öffnen möge.

Und das Wunder geschieht. Als wir schon enttäuscht wieder losziehen wollen, sehen wir, wie das Portal von zwei resoluten Großmüttern geöffnet wird. Wir treten ein und verlieren uns in der barocken Bilderwelt dieser fast andalusisch wirkenden Kirche. Hier wurde kein Zentimeter ohne Schmuck belassen.

Zahlreiche Hochaltäre, vor allem die goldstrahlende Wand des Hauptaltars mit ihrem Gewimmel von Skulpturen, bunte Fresken an den Deckengewölben, tanzende Englein in der Kuppel. Cayetana steht entzückt vor einer Statue des Santiago mit Pilgerstab, während ich fasziniert einen schönen Altar mit spätgotischen Gemälden betrachte. Und die beiden Schlüssel-Omas, die uns das Tor zu diesem Paradies geöffnet haben, sitzen tuschelnd und sich Luft zu fächelnd auf einer Kirchenbank und beobachten mit Stolz unsere Begeisterung über ihre Dorfkirche, die eher wie eine Kathedrale wirkt.

Spontan beschließen wir, uns bei den beiden zu bedanken, aber nicht mit schnödem Geld. Uns kommt eine bessere Idee. Als leidenschaftliche Anhänger der Semana Santa von Sevilla haben wir ganze Päckchen von "estampitas" (kleine Madonnen- bzw. Christusbildchen, denen magische Wirkung zugeschrieben wird) dabei. Und auch in Nordspanien sind diese Mini-Ikonen der religiösen Bruderschaften Sevillas oft heiß begehrt, denn die Macarena-Madonna und andere Prozessions-Kunstwerke sind nationale Berühmtheiten. Also hole ich ein kleines Macarena-Foto hervor und überreiche es einer der beiden Wächterinnen mit dem Wunsch, es solle sie beschützen und ihr Glück bringen. Cayetana überreicht mit einem ähnlichen Spruch ein Foto des Christus von Triana. Die Reaktion ist überwältigend, selten wurden mit einem so kleinen Geschenk so viele Emotionen ausgelöst. Die Empfängerinnen sind begeistert, natürlich kennen sie die Macarena-Prozession und auch die von Triana aus dem Fernsehen und nun vergleichen sie die beiden Segen bringenden Bildchen und beginnen schon zu diskutieren, welches schöner ist.

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Cayetana überreicht mit einem ähnlichen Spruch ein Foto des Christus von Triana. Die Reaktion ist überwältigend, selten wurden mit einem so kleinen Geschenk so viele Emotionen ausgelöst. Die Empfängerinnen sind begeistert, natürlich kennen sie die Macarena-Prozession und auch die von Triana aus dem Fernsehen und nun vergleichen sie die beiden Segen bringenden Bildchen und beginnen schon zu diskutieren, welches schöner ist.

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Wir überlassen die beiden alten Damen ihrem entzückenden Estampita-Vergleich und wenden uns dem Kreuzgang der Kirche zu. Durch die gotischen Bögen hat man einen besonders schönen Blick auf den Kirchturm und Cayetana entdeckt am Deckengewölbe ein rätselhaftes Detail: eine Sonne (oder Vollmond?), von einem Halbmond umfasst. Was dies bedeuten soll, können uns auch unsere beiden wackeren Kirchenhüterinnen nicht erklären, von denen wir uns nun herzlich verabschieden.

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Nach dem Bilder-Paradies erwartet uns draußen die Hölle - staubgrau führt der scheinbar endlose Weg durch die Hitze flimmernde Ebene Richtung Sansol. Es ist zwar relativ bewölkt, die Sonne brennt weniger gnadenlos, aber die schwüle Luft scheint ein nahendes Gewitter anzukündigen. Der Kirchturm am Horizont wirkt nah, doch es ist ein quälender Marsch bis Torres del Río. Unterwegs passieren wir ein Schild, auf dem ein Pilger folgende Inschrift hinterlassen hat: "El Planeta es nuestro" (der Planet gehört uns!). "Sowieso!" kommentiert Cayetana selbstbewusst und marschiert mit letzter Kraft weiter. Drei Ewigkeiten später haben wir den Hügel erklommen, auf dem das romantische Dorf Torres del Río liegt, das in den letzten Jahren durch seine Beliebtheit bei den Jakobspilgern einen großen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren hat. Wir klingeln an der Pilgerherberge Casa Mari, die längst nur mehr eine von vielen ist. Es ist Siesta und wir haben nach diesem Gewaltmarsch nichts dagegen, diese mit einem kurzen Mittagsschlaf zu ehren.

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Später dann nähern wir uns voller Erwartung dem zweiten Kirchenwunder im Süden Navarras: der Kirche vom Heiligen Grab - Santo Sepulcro. Davor sitzt wieder eine betagte "Herrin der Schlüssel", die gegen 1 Euro für jeden die Kirchentür aufschließt. Sie befindet sich in angeregter Unterhaltung mit einer jungen Pilgergruppe, die aussieht wie Hippies der Flower Power Generation. Offenbar verweilen sie schon länger hier in diesem Ort, denn sie kennen sich erstaunlich gut aus und scheinen kein besonderes Interesse daran zu haben, überhaupt in Santiago anzukommen. Einer von ihnen hat der Schlüssel-Oma, deren Alter ich auf knapp 80 schätzen würde, aus der Bar gegenüber ein Glas Cuba Libre mitgebracht. Sehr skeptisch beäugt die alte Dame das Getränk und meint, bei Rotwein wüsste sie ja, auf was sie sich einließe, aber dieses dunkle Gemisch sei ihr nicht geheuer. Der junge Hippie redet ihr zu, versucht sie zu überzeugen. In diesem Moment stellen wir zaghaft die Frage nach dem Schlüssel.

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Wir treten ein in den kühlen, dämmrigen Sakralraum und sind sofort umgeben und erfüllt von absoluter Stille. Santo Sepulcro wurde wahrscheinlich wie die Kapelle von Eunate im frühen 12. Jahrhundert als Grabkirche von den Tempelrittern am Camino erbaut - daher erklärt sich die Ähnlichkeit beider Kirchen. Auch hier stehen wir staunend in einem achteckigen Zentralbau mit achteckiger Kuppel und kleinen Fenstern. Auch hier wie in Eunate - und ganz im Gegensatz zur bunten Kirche von Los Arcos - herrscht Architektur pur, fast ohne Dekoration. Einziger Schmuck sind interessante Kapitelle und eine kleine romanische Christusskulptur.

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Allerdings ist Santo Sepulcro deutlich höher und monumentaler als Eunate. Und rein architektonisch betrachtet, stehen wir hier in einer Moschee. Der achteckige Stern der Kuppel über uns mit ihren sich überkreuzenden Rippen wurde zweifellos von der Mihrabkuppel der Großen Moschee von Córdoba inspiriert und möglicherweise sogar von muslimischen Baumeistern in christlichem Auftrag ausgeführt. Die steinernen, filigranen Fenstergitter sind ebenfalls in arabischem Stil und tauchen den ganzen Sakralraum in ein gefiltertes und geheimnisvolles Licht. Cayetana hat sich auf einer Bank nieder gelassen und starrt Minuten lang bewegungslos in diese maurische Sternenkuppel. Diesmal weint sie nicht, aber ihr Anblick ist viel dramatischer. Sie sieht aus wie eine Statue, als habe ihre Seele den Körper verlassen, irgendwo schwebend im Kuppelgewölbe. Ich bin so fasziniert von ihrer unerwarteten Ergriffenheit, dass ich mich kaum auf meine eigene Meditation konzentrieren kann. Wir müssen sehr lange in diesem mystischen Zustand versunken sein, als plötzlich von draußen die alte Herrin der Schlüssel besorgt herein ruft: "Geht es euch gut? Braucht ihr noch lange? Ihr müsst nämlich wissen: meine Enkel warten auf mich…"

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Als wir hinaus ins Abendlicht treten, ist das Cuba Libre Glas in der Hand der alten Dame fast leer und sie selbst erfreut sich bester Stimmung. Nachdem wir uns bedankt haben, hören wir noch, wie der Hippie, der gerade seinen Joint zu Ende raucht, sie für ihren Mut lobt, in ihrem Alter den ungewohnten Longdrink auszuprobieren. Beim Sonnenuntergang auf der Terrasse sitzend, murmelt Cayetana - ich weiß nicht, ob an mich gerichtet oder nur zu sich selbst: "In dieser Kirche muss einfach jeder beten, sogar wenn er an gar nichts glaubt." Und ich würde hinzufügen: in Santo Sepulcro, dieser Moschee-Kirche, könnten Christen und Muslime gemeinsam beten.

Text + Fotos: Berthold Volberg

Tipps und Links:
http://es.wikipedia.org/wiki/Los_Arcos
www.turismonavarra.es
www.arteguias.com/iglesia/torresdelrio.htm
http://de.wikipedia.org/wiki/Torres_del_Rio

Etappe Estella über Los Arcos nach Torres del Río: 30 Km

Unterkunft in Los Arcos:
Private Pilgerherberge "La Fuente - Casa de Austria", Travesía del Estanco, Tel. 948-640797: sehr stimmungsvoll (von der Decke strahlt eine Nachbildung der Milchstraße - des Sternenwegs) und komplett: Küche, Waschmaschine, Trockner, Internet, Getränkeautomat. Übernachtung 8 Euro.

Verpflegung in Los Arcos:
Auf dem Kirchplatz bieten mehrere Restaurants mittags und abends Pilger- Menüs für 10-12 Euro an

Unterkunft in Torres del Río:
Private Pilgerherberge Casa Mari, C. Casas Nuevas 13, Tel. 948-648409: empfehlenswert, klein und gemütlich, schöne Terrasse, Waschmaschine, Getränkeverkauf, freundliche Herbergsmutter. Übernachtung 8 Euro

Private Pilgerherberge "La Pata de Oca", Calle Mayor 5, Tel. 948-378457: Luxusausgabe einer Herberge: neu und groß, mit Schwimmbad und Terrasse, Waschmaschine und Trockner, Restaurant. Übernachtung 10 Euro

Verpflegung in Torres del Río:
Empfehlenswert: Restaurant der Herberge "La Pata de Oca" (siehe oben): Pilgermenü 12 Euro

Kirchen:
Kloster Santa María de Irache (Weinbrunnen!), ca. 3 Km hinter Estella, geöffnet: Mi. - So. 9.00 - 13.30 und 17.00 - 19.00 Uhr, Di. nur vormittags 9.00 - 13.30, Mo. geschlossen
Iglesia de San Andrés, Villamayor de Monjardín: im Ortszentrum, geöffnet: täglich 8.00 - 20.00
Iglesia Santa María, Los Arcos: geöffnet: nur vor und nach den Messen ca. 12.00 - 14.00 und 18.00 - 20.00, evtl. hat man Glück und es wird auch zwischendurch aufgeschlossen
Iglesia del Santo Sepulcro, Torres del Río, geöffnet täglich 9.00 - 13.00 und 16.30 - 19.00 Uhr, Eintritt: 1 Euro

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Wer hätte das gedacht?
 
Da reibt man sich die Augen. Statt daheim vor dem Fernseher die Spiele des FIFA-Confed-Cups zu verfolgen, ziehen Hunderttausende von Brasilianern über die sonst hoffnungslos mit Autos verstopften Großstadtstraßen. Sie feiern jedoch nicht den Siegeszug der Seleção, sondern demonstrieren gegen FIFA und Regierung.
 


Demonstrationen Cup statt Konföderationen Cup nennt man die zweiwöchigen Spiele bereits. Wer hätte das gedacht? Gerade die Brasilianer, die sonst nur Party und Vergnügen im Kopf haben, lassen sich jetzt von der Polizei für Verbesserungen im Gesundheits- und Bildungssektor verprügeln. Und prügeln sogar ab und zu zurück.



Wer die 1. Mai-Krawalle in Berlin oder die Studentendemos in Chile kennt, den erschrecken die vereinzelten Gewaltausbrüche bei den Massendemos in Brasilien kaum. Doch die Brasilianer sind Derartiges nicht gewöhnt. Gewalt ja, aber bitte daheim im eigenen Viertel, Massen auf der Straße ja, aber bitte in Form eines Carnaval-Umzugs. Aber beides zusammen? Schnell werden Rufe nach der harten Hand des Staates laut, der Taxifahrer sehnt sich sogar die Militärs an die Regierung zurück.



Die Regierung beeilt sich, seit Jahren in diversen Schubladen liegende Gesetze zu verabschieden, um der Straße und der Masse zu signalisieren: Es tut sich was! Wer hätte das gedacht?

Dass die Politik auf Demos, Krawalle und den Druck der Straße reagiert, ist allerdings erschreckend. “Man muss also schreien um was zu bewegen?”, hatte zuletzt eine Zeitschrift getitelt. Anscheinend schon.



Die Frage bleibt: was nun? Brasilien hat den unleidlichen ConFed-Cup gewonnen. Die FIFA reist auch wieder ab. – Werden die Proteste trotzdem weitergehen? Auch wenn die ausländische Presse nicht mehr zuschaut? Auch wenn die Tränengasschwaden nicht bis in die nach FIFA-Standard gebauten WM-Stadien hineinziehen? Und wie kann man einen Protest, der sich gegen das gesamte politische System richtet, politisch umsetzen?



Antworten darauf hat derzeit niemand. Aber erstaunt sind dann doch alle. Über den Sieg der Brasilianer beim ConFed Cup, über die ängstlich-hastige Reaktion der Politik auf den Druck der Massen. Und über den eigenen Mut, endlich mal aufzustehen. “Der Gigant ist erwacht”, sangen die Demonstranten. Mal sehen wie lange er wach bleibt.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_3] Spanien: Cap de Creus (Bildergalerie Teil 2) (Teil 1)
 
Wenns mit dem Sommer mal wieder ein wenig länger dauert, klick ich mich tagelang durch Bildergalerien vergangener Urlaube. An manche Orte zieht es mich immer wieder zurück. So auch ans Cap de Creus, eine unfassbar betörende Mittelmeer-Halbinsel an der französischen Grenze gelegen, wo jedes Stimmungstief verweht.

Im zweiten Teil findest du ein paar Bilder vom alten Wanderweg zwischen der Bucht Port Lligat, dem Wohnort Salvador Dalís, und dem Leuchtturm am Cap de Creus. Neben dem Leuchtturm steht das Ziel der Wanderung: ein Restaurant mit spanisch-indischer Küche und einer gigantischen Aussicht...

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Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Portugal: Lissabon – Die Wunderbare am Fuße des Tejo

Es soll tatsächlich Menschen geben, die Lissabon nicht mögen. Ja, dem ist wirklich so. Sie beginnen dann die Sätze gerne mit einem "zu", also etwa zu hektisch, zu groß, zu laut, zu schmutzig, zu heiß, zu kalt, zu irgendwas. Hauptsache zu eben. So richtig verstehen mag ich das aber nicht. Wer Städte, egal wo die auch sein mögen, mit einem "zu" beschreiben muss, der sollte eigentlich seine freie Zeit auf dem Land verbringen. Nicht aber in einer Stadt. Denn in Städten ist irgendwas doch immer zu. Und das ist eigentlich nur schlimm, wenn es sich eben nicht um eine Präposition handelt, sondern der Kiosk um die Ecke längst seine schweren Holzbalken vorgeschoben hat und man nichts mehr zu trinken bekommt.

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Aber zurück zu Lissabon. Mensch, wie können die nur? Lissabon, Hauptstadt Portugals, dem letzten Land vor dem großen Atlantik, ist einfach eine Erscheinung. Allein dieses Licht, das muss man mögen. Morgens für ein paar Augenblicke so schön weich bis der Planet von oben bald ordentlich und furchtbar unbarmherzig auf die Bewohner und Touristen knallt. Böswillige würden es dann "zu heiß" nennen, aber da oftmals eine leichte Brise vom Tejo herüber weht, ist das bestens auszuhalten, auch wenn man nur kurz in der Stadt weilen sollte. Bis es dann wirklich wärmer und gleißend hell geworden ist, sollte man sich wenigstens ein klein wenig bewegt haben. Zum ersten Kaffee versteht sich. Das kann man in Lissabon eigentlich überall wunderbar und in annehmbarer Qualität machen, besonders gut aber in Belém, dem Viertel, wo die Morgensonne das Kloster dos Jerónimos regelmäßig in weiches Licht rückt.

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Viel berühmter als für den Turm oder das Kloster ist der Stadtteil jedoch für seine kleinen Naschereien, die man offiziell Pastéis de Nata nennt und in der Antiga Fábrica de Pastéis de Belém bekommt (die aber auch überall in der Stadt verkauft werden). Weil sie jedoch genau aus diesem Viertel kommen, nennen sie alle nur Pastéis de Belém. Mir ist eigentlich egal, wie man die kleinen Törtchen nennt, denn wichtiger ist der Geschmack. Und der, ich verrate es sofort, ist unübertroffen gut. Die Cremetörtchen aus Blätterteig mit dem süßen Eigelb-Vanille-Inneren sind ein ganz besonderer Genuss und machen aus einem schönen Morgen einen noch schöneren.

Angeblich sollen nur drei Patissiere das gut gehütete Geheim-Rezept kennen, das man einst den benachbarten Mönchen abluchste und welches jetzt Grundstock eines veritablen und, nicht unwichtig, äußerst rentablen Familienunternehmens ist. Ofenwarm müssen sie serviert werden, damit der erste Bissen auch zur Geschmacksexplosion taugt. Und das gelingt, ehe sich der goldgelbe Inhalt scheinbar in Luft aufgelöst hat, quasi ohne zu schlucken. Sehr fein ist das und der Kaffee trägt sein übriges dazu bei, dass man bester Laune den Naschtempel verlässt.

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Anschließend kann man dann das Touristenprogramm herunter spulen – eine Fahrt mit der Trambahn 23 soll sehr bliebt sein, von der Burg oben und dem stählernen Lift Santa Justa von Eiffel im Zentrum hat man eine tolle Aussicht über die Dächer Lissabons und vielleicht ist ja auch noch ein Museum geöffnet – oder einfach den Reiseführer samt Stadtplan weglegen und sich ein bisschen treiben lassen. Hektisch ist nämlich maximal das Touristenprogramm, nicht aber die Stadt. Das liegt sicherlich auch an dem vielen Licht, dass die Lissabonner tagein tagaus haben und das glücklich machen soll, selbst wenn die Stadtbewohner immer ein wenig melancholisch dreingucken.

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Der Elevador de Santa Justa verbindet die beiden Stadtviertel Baixa und Chiado und weiter in dieser Richtung liegt das Bairro Alto. In den engen verwinkelten Gassen findet man tagsüber vor der Sonne Schutz und saugt das träge Leben der Stadt auf. Auf dem Largo de Camões sitzt man dann zwar nicht alleine in den Plastikdrahtstühlen, die schon bessere Zeiten erlebt haben, aber trotzdem bequem unter dem Schatten der mächtigen Bäume. Kaffeezeit. Oder die der gegrillten Sardinen, deren Existenz besonders im Juni gehuldigt wird. Dann umweht einen in der ganzen Stadt der permanente Geruch gegrillter Sardinen, die hier vor allem während des Sommers ständig und überall verzehrt werden. Selbst ich als eher leidenschaftsloser Fischesser finde Gefallen an diesen kleinen Dingern, die mit einem nicht zu trockenen Weißwein schlicht unschlagbar sind.

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Wer dann noch kann und mag, der sollte der Rua do Loreto ein paar Meter abtrotzen und nach ein paar Minuten links in Richtung Miradouro de Santa Catarina abbiegen. Von dem kleinen Aussichtspunkt hat man einen herrlichen Blick hinüber auf Belem, den Tejo und die Ponte 25 de Abril, jene Brücke, die ein klein bisschen an eine Miniaturausgabe der Golden Gate Bridge in San Francisco erinnert. Aber keine Sorge, spätestens wenn man hier am kleinen grünen Kiosk einen Sitzplatz gefunden hat (ja, hier kann es bei schönem Wetter tatsächlich etwas voller werden, aber Gedränge sieht anders aus) und das kühle Sagres so einladend gelb aus seinem Glas leuchtet, dann weiß man sofort, das hier ist Portugal und nicht die USA. Das Sagres ist sogar ganz gut trinkbar, was schwere Folgen haben kann. Denn dieser Mix ist teuflisch: Schöner Platz, nettes Ambiente, süffiges Bier, da muss man schon recht standhaft bleiben, um nicht ganz zu versacken. Trotzdem, man sollte hier verweilen und den Sonnenuntergang erleben. Dann leuchtet die stahlgerippte Ponte nämlich noch einmal dunkelrot.

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Wer nun eine kleine Abkühlung benötigt, hat Glück, denn er befindet sich ja im Vergnügungsviertel Bairro Alto. Da, wo vorhin gar kein Leben in den kleinen Gassen stattfand, öffnet jetzt eine Bar nach der anderen, dazwischen Platten- und Klamottenläden und spät nachts dann auch der eine oder andere Club. Zugegeben, insbesondere von Donnerstag bis Sonntag ist es hier nach Sonnenuntergang mit der Ruhe vorbei. Doch wer die heiteren Nächte von Lissabon einmal erleben möchte, der kommt gar nicht umhin, ein bisschen Gedränge zuzulassen. Denn die nächste Trägheit kommt bestimmt. Spätestens nach Sonnenaufgang. Irgendwann.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: portugal]




[kol_1] Erlesen: Verdammt, Méndez
"Der Tod wohnt nebenan" von Francisco González Ledesma
 
"Und wie wär’s mit einer Havanna? – Sie machen einen Fehler, sie abzulehnen Señor Méndez. In einer Welt, in der alles maschinell gefertigt wird, bleiben nur noch zwei Dinge, die ausnahmslos Handarbeit sind: die Havanna und das Wichsen."

Welch ein Segen, endlich die Bekanntschaft von Inspector Méndez gemacht zu haben. Der kurz vor der Pension stehende Méndez – Ja, meine Welt ist tot, und eigenartigerweise lebe ich noch. Ich weiß nicht, warum sie mich haben rufen lassen Señor M., entgegnet Méndez Hauptkommissar Monterde als dieser ihm den Fall überträgt – entführt den Leser in ein Barcelona der Ganoven und Revolverhelden, der Dirnen und fiesen Garküchen. Und doch hat die Gentrifizierungswelle das Viertel Raval schon voll erwischt. Geschäfte mit Magermilchprodukten schießen aus dem Boden, die Madames sind verschwunden, und die Zahnärzte kommen. Sie nennen es nicht einmal mehr Barrio Chino.

Ein Toter. Viel weiß ich nicht über ihn, nur dass er Omedes hieß, nichts gelernt hatte und ein übler Geselle war. Er schlug sogar seine Mutter, verbrachte seine Kindheit in der Besserungsanstalt, die frühe Jugend im Gefängnis und später bei Madame Ruth.

Der Tod wohnt nebenan
Autor: Francisco González Ledesma

Taschenbuch: 320 Seiten
Verlag: Bastei Lübbe (August 2011)
ISBN-10: 3404160754 / ISBN-13: 978-3404160754



Ruth, immer wieder Ruth, die einstige Hure, die es zu Wohlstand gebracht hatte. Von der ersten bis zur letzten Seite ist sie allgegenwärtig. Dabei will sie nur noch sterben.

Sterben aber soll der Kompagnon von Omedes, ein gewisser Erasmus. Der jedoch ist gewieft, spielt in der Liga der Reichen und Wichtigen. Und er weiß, dass auch ihn der Hass des Vaters des bei einem gemeinsamen Überfall mit Omedes zu Tode gekommenen dreijährigen Jungen einholen wird, sollte er ihm nicht zuvor kommen. Der Vater, von dem die Rede ist und den Inspector Méndez als mutmaßlichen Mörder von Omedes im Blick behält, ist Miralles der Personenschützer mit dem schnellen Finger und dem alle Situationen erfassenden Weitblick. Miralles hat von Antrade, einem jüngst verstorbenen alten Polizisten, der sich für Straßenkinder einsetzte, Eva Expósita ans Herz und ins Heim gelegt bekommen. Eva, noch nicht volljährig, aber schon in der Ausbildung zur Personenschützerin, wird an der Seite Miralles zur Zielscheibe der gemeinsten und widerlichsten Kreaturen der Unterwelt Barcelonas.

Und immer wieder Ruth. Und irgendwie auch ihr Mädchen Mabel, die Miralles vor der heranschießenden Metro rettet.

Der Marques hatte ein Auge auf Mabel geworfen. Und so holte Ruth die damals 15-Jährige in ihr Bordel. Jahrzehnte später, der Marques war schon lange tot und hatte Ruth und Mabel sein Haus vermacht, lebten die ehemalige Kupplerin und das einst gute Mädchen gemeinsam im Anwesen des Marques. Mabel kümmert sich um die kranke alte Ruth, nicht aber ohne Gerechtigkeit zu üben und die Alte für jeden auferlegten Freier mit Leid bezahlen zu lassen. Dann kommt es am Abend des großen Showdowns, in dem der Autor ein atemberaubendes Tempo an den Tag legt, zu einem letzten klärenden Gespräch.

"Du hast mich immer gehasst, Mabel."
"Ja."
"Schon als du noch ein Mädchen warst."
"Ich war nie ein Mädchen."
"Doch, ich weiß, dass du das warst, Mabel. Als kleines Mädchen durftest du in der Messe nicht dienen, denn nur Jungs durften Messdiener werden, aber du hast mit deiner Mutter die Kirche gekehrt und geschrubbt. Ich sehe dich noch vor mir. Die Böden wurden auf Knien geschrubbt, und die Kirche wollte kein Ende nehmen."
"Stimmt. Ich hatte immer rote Knie, obwohl mir meine Mutter eine Matte unterlegte, damit ich nicht so sehr litt. Aber ich litt wegen etwas anderem."
"Weswegen?"
"Ich hatte in all der Stille das Gefühl, dass die Heiligenfiguren mir auf den Hintern schauten."

Fazit
Unbedingt lesen. Am liebsten hätte ich mich ganz zurück gehalten und nur zitiert, denn das Spiel des Autors, Francisco González Ledesma, mit der Sprache, den Tempowechseln von Vollgas zu Überschall, den Perspektivenwechsel, dem Verweben von Gedanken und Handlung, den Gedanken-Sprüngen, der amüsanten Auseinandersetzung mit der Küche, den Menschen, den Vierteln und nicht zuletzt seinen Protagonisten ist brillant. Auch in der deutschen Übersetzung.

Francisco González Ledesma hat reihenweise Literaturpreise abgeräumt und das seit seinem ersten Roman Sombre viejas, den er 1948 veröffentlichte. Die Inspector Méndez-Reihe startete er 1983. Zehn Titel sind bislang erschienen. 2011 fand sich mit Bastei-Lübbe erstmals ein Verlag, der eine deutsche Übersetzung publizierte: den hier besprochenen Kriminalroman Der Tod wohnt nebenan (Una novela de barrio, 2007). Es folgten noch in 2011 Die Rache der Träumerin (La dama de Cachemira, 1986) und in 2012 Gott wartet an der nächsten Ecke (Historia de Dios en una esquina, 1991). Es bleibt zu hoffen, dass Bastei-Lübbe in diesem Tempo auch noch die restlichen Méndez-Werke heraus gibt. Ruth, Mabel, Miralles und Eva werden dann bestimmt ersetzt, doch eines wird Bestand haben:

"Verdammt, Méndez", wie der Hauptkommissar immer sagte. – "Sie mischen sich aber auch in jeden verfluchten Schlammmassel ein. Ich weiß nicht mehr, was ich mit Ihnen machen soll. Erst schneiden Sie einem Kerl mit einer kaputten Weinflasche die Eier ab, die zu allem Überfluss noch Markenwein enthielt. Glauben Sie ja nicht, dass der Staat das zahlen wird. Und dann blasen Sie einem anderen das Hirn weg. Verdammt, Méndez."

Text: Dirk Klaiber
Foto: amazon

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Grenzfall: Warten auf den Papa
 
Obama war schon da, Paul McCartney auch und die Rolling Stones seit den 60ern immer mal wieder. Jetzt besucht auch Papst Franziskus das hippe Rio de Janeiro, bekanntlich die schönste Stadt der Welt, wie ihre Einwohner bestätigen werden.

Zusammen mit dem heiligen Vater kommen noch zwischen ein und drei Millionen Gläubige, die Ende Juli in Rio den Weltjugendtag feiern wollen. Es wird eng in der Stadt am Zuckerhut, bis zu 50.000 Autobusse (*Angabe des Organisationskomitees des Weltjugendtags) aus ganz Lateinamerika werden erwartet. Derzeit überlegt man noch, wo man die alle parken lässt.

Um dem apokalyptischen Verkehrsgau zu entkommen, hat Rios Bürgermeister seinen Untertanen frei gegeben – das hätte sich auch schon während des ConFed-Cups bewährt, hätten die ewigen Demos nicht den Verkehr komplett zum Erliegen gebracht. Nun also schon wieder frei – dabei hatte sich Rio doch derart bemüht, den Ruf als “Seebad” abzulegen. Rio sei keine Stadt, sondern ein Spa, sagen die arbeitswütigen Paulista, die Einwohner São Paulos. Sicher nichts als purer Neid ob der vielen Feiertage.

So freuen sich die katholischen Cariocas, also die Bewohner Rios, auf den Papst, während alle anderen eine Woche Ferien machen. Sicherlich werden viele aus Rio fliehen, jagt doch ein Event das nächste in der feierlichen Woche vom 23. Bis 28. Juli. Die größten davon an der Copacabana, wo zu zwei zentralen Akten mit dem Papst jeweils bis zu zwei Millionen Menschen erwartet werden.

Noch mal größer soll die Abschlussmesse werden, die im äußersten Westen von Rio im Stadtteil Guaratiba stattfindet. Hier sollen über zwei Millionen Menschen teilnehmen, wobei die letzten 13 Kilometer bis zu dem riesigen Feld zu Fuß zurückgelegt werden müssen. Eine wahre Probe für die Festigkeit des Glaubens und des Schuhwerks.

Unterkommen werden die katholischen Massen in Schul- und Unisporthallen sowie Gemeindesälen. Zudem haben Hunderttausende ihre Wohnungen zur Verfügung gestellt, um die Gäste aus dem In- und Ausland zu beherbergen. Das größte Besucher-Kontingent soll dabei aus dem Nachbarland Argentinien kommen, der Heimat des neuen Papstes. Dass ausgerechnet ein “hermano” statt eines Brasilianers Papst wurde, hatte zuerst geschmerzt. Doch jetzt freuen sich eigentlich alle auf den freundlichen Herren aus dem Vatikan.

Angst hat man eher vor den Kickern aus seiner Heimat. Er werde sich umbringen, sollte Argentinien im Juli 2014 im Maracanã-Stadion von Rio Weltmeister werden, hatte Rios Bürgermeister Eduardo Paes zuletzt von sich gegeben. Daraufhin sollen viele der Cariocas spontan angefangen haben, den Nachbarn die Daumen zu drücken. Doch wirkliche Gefahr besteht wohl eher nicht. Zwar mag der Papst Argentinier sein, Gott aber ist immer noch Brasilianer.

Text + Foto: Thomas Milz

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_3] Pancho: Von Cebiche und anderen Leckereien
 
Für Peruaner gilt das gleiche wie für Italiener und Franzosen: die Liebe zum Vaterland geht durch den Magen.

Der Zugang zur nationalen Küche ist denkbar einfach und erfordert lediglich ein wenig Spürsinn und Ausdauer. Das Ziel des Hungrigen sollten die Restaurants sein, die auf der unteren Preisskala rangieren und überwiegend von Peruanern (zumeist morgens und mittags, abends wird eher wenig gegessen) aufgesucht werden. Das garantiert authentische, ausgezeichnete Küche und bewahrt vor Touristenfallen mit el-condor-pasa-Musik.

Eine weitere hervorragende Quelle für die lokale und äußerst schmackhafte Küche sind die vielen Märkte, die allerdings für den ungewohnten Europäer hohe Anforderungen an dessen Toleranz in Hygienefragen stellen. Ein paar Vorsichtsmaßnahmen sind sinnvoll: kein Salat, kein Wasser, nichts was mit ungekochtem Wasser in Berührung gekommen sein könnte. Obst sollte geschält werden.

Paranoia jedoch ist nicht angebracht und die Belohnung für den Mutigen beträchtlich: Perus Küche ist völlig zu Recht der Stolz der Einheimischen. Suppenfreunde werden die wirklich ausgezeichneten Brühen und Eintöpfe lieben, die vor allem in den Anden gelöffelt und mit Limette und ziemlich scharfer Chilisoße (ají) erst richtig auf Trab gebracht werden.

Wer durch Puno kommt, sollte die Schafskopfsuppe nicht unversucht lassen. Wer’s lieber vegetarisch mag, muss die Quinoa-Suppe (ein andines Getreide, das zusammen mit anderem Gemüsen gekocht wird) probieren. Vegetarier sollten in Peru vorsichtig sein: die Titicaca-Inseln Amantaní und Taquile sind zwei der wenigen Orte, an denen wirklich fleischlos gegessen werden kann. Ansonsten wird einem auch schon mal ein x (Huhn) für ein u (vegetarische Kost) verkauft.

Andenbewohner beginnen ihren Tag kräftig. Der Markt in Puno ist angefüllt mit Menschen, die früh morgens Suppen aus gigantischen Schüsseln schöpfen und danach noch unvorstellbar große Portionen gesottenen Fleisches verzehren. Touristen, die es weniger deftig mögen, können ihr Frühstück an einem der vielen Saftstände einnehmen, die neben frischen Säften zu niedrigen Preisen, sehr lecker auch mit maca (Knollengewächs) oder alfalfa (Luzerne), Obstsalat und Kuchen anbieten.

Das Mittagessen dagegen besteht aus drei Gängen. Eine typische Vorspeise ist die papa a la huancaína, eine Kartoffel, die mit einer Soße aus ají escabeche (gelbe, nicht sehr scharfe Paprika), Käse und Keksen übergossen wird. Eine andere ist der tamal, den man aus Maisgrieß herstellt, der mit Fleisch durchsetzt in Bananenblätter verpackt und auch morgens an den Straßen verkauft wird. Das Hauptgericht besteht in erster Linie aus Fleisch, meist in Form des preiswerten Huhns, mitunter aber auch Rind und Schwein. Als Spezialität gilt Meerschweinchen, Alpaka und Kröte, im Dschungel auch unbekanntere Tiere. Gebratenes Fleisch ist in den billigen Restaurants oft zäh. Besser ist es, Geflügel oder an der Küste Fisch zu bestellen. Die sudados sind ebenfalls sehr zu empfehlen. Hierbei werden Fleisch oder Fisch in reichlich Flüssigkeit mit Gemüse gar und mürbe gekocht. Ihre Brüder, die chupes, sind deutlich flüssiger und würden bei uns als Eintopf gelten. Auch sie sind durchweg sehr schmackhaft.

In Peru gilt die Regel: was schmeckt, wird gegessen. Was macht schon der etwas seltsame Anblick einer Hühnerkralle in der Suppe, wenn diese dadurch so gut schmeckt, dass man sich die Finger danach leckt? Menschen mit empfindlichen Nerven sollten sich beim Kellner erkundigen, welcher Teil des Körpers ihnen zum Essen gereicht wird; das vermeidet unangenehme Überraschungen.

Aber Essen ist nicht nur einfache Sinnesfreude, manchmal kann uns die Küche eines Landes auch etwas über dessen Geschichte verraten. Nachdem die Sklaverei in Peru abgeschafft worden war und der Versuch, die Eingeborenen zur harten Feldarbeit heran zu ziehen, scheiterte, kam Domingo Elías die grandiose Idee, aus dem Hunger leidenden China Menschen auf seine Plantagen zu holen. Die fälschlich als Kulies Bezeichneten (ein Hindi-Wort für Tagelöhner) wurden dann de facto zu Sklaven und hauptsächlich auf den Guano-Inseln und zum Reisanbau eingesetzt. Oftmals erhielten sie die Erlaubnis, ihr Essen selbst zuzubereiten, woraus sich die sogenannten chifas, chinesische Restaurants, entwickelten, die heute über das ganze Land verteilt sind. Die Gerichte in diesen Restaurants sind das Ergebnis einer Verschmelzung der chinesischen mit der peruanischen Küche. Seitdem ist Reis aus der peruanischen Küche nicht mehr wegzudenken.

Auch spanische, schwarzafrikanische und japanische Einflüsse sind klar erkennbar. Die Nationalspeise Perus, das aus rohem, mit Limetten gebeiztem Fisch bestehende Cebiche ist der peruanische Verwandte des Sushi. Mit einem Glas kühlen Weißweins wird der Geschmackssinn von seiner fast brutalen Kraft beinahe überfordert. Dem Cebiche der Schwarzmuscheln (cebiche de conchas negras) wird sogar aphrodisierende Wirkung nachgesagt.

Allerdings gilt für Cebiche eine besondere Regel: lieber etwas mehr ausgeben und ein Restaurant besuchen, das wirklich frischen Fisch verarbeitet; am besten auf Empfehlung eines Einheimischen.

Zu guter Letzt soll nicht verschwiegen werden, dass die Peruaner auch in Sachen Nachspeisen durchaus mithalten können. Besonders bekannt für seine Leckereien ist die Hauptstadt Lima, nach der auch das wohl emblematischste Dessert benannt ist: der Seufzer von Lima (suspiro limeño). Viele Eier, Portwein und Kondensmilch machen ihn für eine Diät komplett ungeeignet. Meine Lieblingsnachspeise jedoch gibt es in Huancayo: ein Triple aus Milchreis, Mazamorra morada (aus Ananasstückchen gekocht und mit schwarzem Mais eingefärbt) und Pfirsichhälften im eigenen Saft. Hmmm! Ausgesprochen schmackhaft!

Text: Nil Thraby

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_4] Lauschrausch: Aktuelle Alben von Ramón Valle
 
Nach längerer Abwesenheit kehrte der kubanische Pianist Ramón Valle im April 2013 mit seinen beiden letzten CD-Produktionen im Gepäck in deutsche Konzertsäle zurück. Im Interview sprach er über die beiden Alben.

Auf "Flashes from Holland" befindet sich zum ersten Mal auf deinen Alben kein rein kubanisches Thema. Verlierst Du den Kontakt zu deinen Wurzeln?
Nein, bei "A Cuban lost" zum Beispiel ist die cubania ganz stark zu hören. Allerdings handelt die Musik natürlich erstmal von meinen Erfahrungen in Holland. Ich erzähle beispielsweise davon, wie ich nachts mit dem Rad auf dem Weg nach Hause über die Amsterdamer Brücken fahre und sich die Häuser im Wasser spiegeln. So habe ich "Puentes" komponiert, das sehr stark auf meinem Wissen über klassische Musik beruht. Oder "Nice piece of chess": Das handelt von Leuten auf der Straße, die mit einem dieser Schachspiele mit riesigen Figuren spielen. Ich sah das eines Tages und als ich näher kam, bemerkte ich, dass mitten unter den Zuschauern eine splitternackte Frau stand… splitternackt… und keinen – abgesehen von mir – interessierte das. Ich habe mir das eine Zeitlang angeschaut bis die Frau mit einem Mann davonging. So als wäre nichts gewesen. Das war schon sehr surreal, fast lateinamerikanisch, obwohl das so natürlich in Kuba nicht vorkommen würde.

Ramón Valle feat. Jesse van Ruller
Flashes from Holland
RVS 2012

Worum genau geht es bei "A Cuban lost"?
"A Cuban lost" handelt von Ramón, der in Holland verloren ist. Sowohl geographisch, als auch kulturell. Ich wohne in einem Vorort von Amsterdam und anfangs bin ich bei meiner Rückkehr nach Hause dreimal an unserem Haus vorbei geradelt, weil die Häuser für mich alle gleich aussehen. Ich habe auch schon versucht ins Nachbarhaus zu kommen, und ich war nicht betrunken. Aber noch mehr geht es um Kultur. Ich dachte irgendwann, die Niederländer verstehen mich nicht, ich muss meine Musik intellektueller angehen, sie halten das für zu banal. Ab diesem Moment spürte ich keine Musik mehr in mir, keine Inspiration, kein Gefühl. Gott sei Dank sprach ich mit Omar darüber, der schon lange in Hamburg lebt, und er gab mir den Tipp, mein erstes Album zu hören. Ich tat es und merkte, dass ich beim Spielen immer mal wieder "singe", ohne Text natürlich, so fühle ich die Musik besser. Und das hat mir geholfen. In Holland, in Europa, wird die Musik oft so intellektuell behandelt, dass es für mich schon keine Musik mehr ist, eher Mathematik.

Wie kamst Du auf die Idee Van Goghs Briefe musikalisch zu verarbeiten?
Was mich berührt hat, ist die tiefe Beziehung, die Van Gogh zu seinem Bruder hatte, das war echte Bruderliebe. Sein Bruder hat sich sehr um ihn gekümmert. Und das hat mich an meine Beziehung zu einer meiner fünf Schwestern erinnert. Diese Gefühle passten gut zu einem Thema, das ich schon fast fertig komponiert hatte.

Der Titel "Amsterdam Party Time" lässt darauf schließen, dass Dir das Leben dort gefällt!
Das stimmt, besonders in Amsterdam, denn das ist ja sehr international. Außerdem gibt es dort viele gute Musiker. Kleiner Nachteil: es gibt nur wenige Orte, an denen man auftreten kann; und da wollen sie dann alle hin. Das Stück handelt übrigens davon, dass wenn ich nachts nach Hause radle, es in vielen Straßen sehr ruhig zugeht. Doch der Schein trügt. Hinter ganz gewöhnlichen Türen feiern Hunderte von Leuten großartige Parties. Amsterdam feiert immer, manchmal eben etwas versteckt.

Was fasziniert Dich an Windmühlen?
Diese "Konstruktion" ist für mich wie ein Großvater, der unendlich viele Geschichten erzählen kann, über eine lange Zeit, die so eine Mühle arbeitet. Gleichzeitig sind viele Mühlen bis heute in Betrieb und produzieren noch. Welche "Konstruktion" sonst hat das über die Jahrhunderte geschafft? Außerdem sind sie wunderschön. All’ das hat mich zu dem Thema "De oude molen" inspiriert.

Sprichst Du denn inzwischen Niederländisch?
Sehr wenig. Der Witz ist, als ich in Holland ankam, konnte ich kein Englisch. Und da ich dort noch keinen Namen hatte, musste ich mich als Musiker wieder "hinten" anstellen. So ging ich zu Jam-Sessions und dort sprachen alle Englisch miteinander. Ich habe gar nichts verstanden, freundlich gelächelt und nach Gehör gespielt. So habe ich nach und nach Englisch gelernt, aber kein Niederländisch. Jetzt besuche ich allerdings Sprachkurse, schon der Kinder wegen.

Ja, Kinder! Auf dem Album "Playground" dominieren Titel, die von deinem Sohn Fabio handeln?
Es gab eine Zeit, in der ich nicht viel gespielt und komponiert habe. Als dann mein Sohn zur Welt kam, war das wie ein Feuerwerk, die Ideen sprudelten nur so aus mir heraus. Die CD war im Handumdrehen fertig.

Ramón Valle Trio
Playground
RVS 2010

Normalerweise haben frisch gebackene Eltern ja recht wenig Zeit...
Das stimmt, man muss sich seine Zeit ganz genau einteilen und sich selber gut organisieren. Aber gleichzeitig ist dieser neue Lebensabschnitt sehr anregend. Man nehme nur den Titel "Laberinto" - inspiriert von einem von Fabios Spielzeugen. Er handelt aber auch von den emotionalen Labyrinthen, durch die wir alle mal wandern - aber die Initialzündung kam von einem Spielzeug. Oder "Playground", das kommt auch durch Fabio. Mit ihm sitze ich ja oft da und erlebe seine guten und schlechten "Abenteuer" auf dem Spielplatz mit. Kinder sind eine neue Herausforderung, von morgens bis abends Fragen, und so habe ich dann "El reto" geschrieben.

Und dann kam das zweite Kind...
Ja, Dayla. Für sie habe ich ein Stück auf "Flashes from Holland" geschrieben, denn sie ist dort geboren und somit ist das auch ihr Land.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

Linktipp:
http://www.ramonvalle.nl

[druckversion ed 07/2013] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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