ed 07/2009 : caiman.de

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brasilien: Minc, die MP 458 und ein Adeus an den Regenwald
Wie 67 Millionen Hektar den Eigentümer wechseln
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Ein Che Guevara ohne Ernstfall
Maradona trotz Selbstzerstörung nationale Leitfigur
FERNANDO A. IGLESIAS
[art. 2]
spanien: Interview mit dem Bildhauer Francisco Romero Zafra
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
venezuela: Domino in Chávezlandia
ANDREAS DAUERER
[art. 4]
erlesen: Das Guayana-Projekt:
Ein deutsches Abenteuer am Amazonas
Ein Buch von Jens Glüsing
THOMAS MILZ
[kol. 1]
lauschrausch: Urlaub im Ohr
Akustische Reisen von Barcelona bis Havanna
TORSTEN EßER
[kol. 2]
macht laune: Gazpacho Krise
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 3]
veranstaltung: Kölner Konzert für Flutopfer in Brasilien
ANDREA WEINDL
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Minc, die MP 458 und ein Adeus an den Regenwald
Wie 67 Millionen Hektar staatliche Ländereien den Eigentümer wechseln
 
In der brasilianischen Regierung ist Carlos Minc eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur wegen seines wirren grauen Haarschopfes und der legeren Hippie-Kleidung inklusive Stoffweste. Minc liebt Polemiken so sehr, dass sie ihn meist an den Rand der Amtsenthebung bringen. Der 57-jährige ist seit etwas mehr als einen Jahr Brasiliens Umweltminister, Nachfolger der grünen Kämpferin Marina Silva, dem "Grünen Feigenblatt der Regierung Lula", die im Mai 2008 entnervt das Handtuch warf. 

Soja frisst Regenwand [zoom]
in Belterra bei Santarem [zoom]

Minc ist der geborene Umweltminister – was ein simpler Blick auf seinen deutschen Nachnamen verdeutlichen mag: Baumfeld! Eventuell war es dieses Detail, was ihm zuletzt den Job gerettet hatte als er Kongressabgeordnete und Vertreter der Agrarlobby als "vigaristas" (Heuchler, Betrüger) beschimpft hatte (nicht selten handelt es sich übrigens bei Abgeordneten und Lobbyisten um ein und dieselbe Person). Was war geschehen?  

Die Regierung hatte die MP 458, ein präsidiales Dekret zur Regulierung von Eigentumsrechten im Amazonasgebiet, zur Abstimmung in den Kongress eingebracht. Es sieht die Überschreibung von Besitztiteln für illegal besetztes Staatsland vor. Man schätzt, dass etwa 400.000 Ländereien im Laufe der letzten 30 Jahre illegal entstanden sind. 

Soja frisst Regenwand [zoom]
Agrargrenze im Amazonasgebiet [zoom]

Prinzipiell herrscht Konsens, dass dringend eine Regelung gefunden werden muss. Es geht um 67 Millionen Hektar, eine Fläche von der Größe Frankreichs und Italiens. Die illegale Besiedlung führt zu Brandrodungen, die Platz für Soja- und Maisanbau sowie Viehweiden schaffen und nebenbei 75% des brasilianischen Treibhausgasausstoßes verursachen – und den Regenwald Stück für Stück von der Vertikalen in die Horizontale überführen. 

Eine Legalisierung könnte die von Besetzern zu Besitzern gewandelten Bauern verpflichten, die Umweltgesetze einzuhalten, so meinen Befürworter. So darf man laut Verfassung lediglich 20% der Fläche landwirtschaftlich nutzen, die restlichen 80% müssen in ihrem ursprünglichen bewaldeten Zustand verbleiben. Was in der Praxis meist so nicht passiert, auch deshalb, weil es kaum Kontrollen oder wirklich greifende Strafen gibt. 

Intakter Urwand / Manaus [zoom]
Präsident Lula [zoom]

Die MP 458 sieht vor, dass kleine Landgüter bis 100 Hektar verschenkt werden, was selbst die Kritiker als Teil einer notwendigen Agrarreform begrüßen. Dissens erregten der symbolische Preis von mittelgroßen Flächen (100 bis 400 Hektar), sowie die niedrigen Preise für Flächen zwischen 400 und 1500 Hektar. Noch größere Ländereien werden versteigert. 

Der Kongress öffnete diese Auktionen für Nichtanwohner der Region und Unternehmen. Zudem wurde die ursprüngliche Weiterverkaufs-Sperrfrist von 10 auf 3 Jahre verkürzt, was Landspekulanten belohne, so die Kritiker, und Umweltminister Carlos Baumfeld dazu veranlasste, laut "vigaristas" zu rufen. Woraufhin ihn die Senatorin Katia Abreu, gleichzeitig Vorsitzende des Bauernverbandes, als "Öko-Schiiten" abkanzelte und seinen Kopf forderte. 

Präsident Lula [zoom]
Präsident Lula [zoom]

Präsident Lula rügte den wirschen Umweltminister, der sich daraufhin öffentlich für sein Verhalten entschuldigte und so wohl seinen grau behaarten Struwelkopf gerade noch einmal aus der Schlinge zog. Für Lula war der Streit lediglich "Kindergezoff". Minc sei jemand, so der Präsident, der nachts den Kühlschrank aufmache und daraufhin am nächsten Morgen eine Pressekonferenz einberufe, auf der er verkünde, das "Licht" gesehen zu haben. 

Ende Juni unterzeichnete Präsident Lula die MP 458. Den Zusatz, dass Nicht-Anwohner der Region und Unternehmen an den Landversteigerungen teilnehmen und damit Land zugeteilt bekommen können, strich er aus der MP wieder heraus. Den Rufen nach einer vollständigen Ablehnung des Dekrets folgte er jedoch nicht. Dabei hatte es selbst in der katholischen Kirche Widerstand gegen die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse am Amazonas gegeben. 

"Die offizielle Politik des Landes unterwirft sich dem gnadenlosen Spruch des kapitalistischen Systems und unterstützt und fördert offen das Agro-Business", so die Landpastorale CPT in einem offenen Brief. Seit Jahren kämpfe man für die Begrenzung von Landbesitz. Doch "die Konzentration wächst, während tausende Familien immer noch an Straßenrändern campieren und auf Landzuteilungen warten, die ihnen Würde und Bürgerrechte gäbe." Präsident Lula würde statt der versprochenen Agrarreform nun den Raub von Staatseigentum legalisieren. 

Soja-Farm / Alta Floresta [zoom]
Bundesstaat Mato Grosso [zoom]

Und auf den Webseiten der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB sowie des Indigenen-Missionsrat CIMI kritisierte die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, dass den Großgrundbesitzern 49 Millionen Hektar staatliches Land übergeben würden. Die räuberische Landverschiebung werde erleichtert und die gegen die Landspekulanten und Umweltsünder gerichtete Arbeit der Staatsanwaltschaft zunichte gemacht. "Was hier verändert wird, ist das Gerüst der brasilianischen Umweltgesetzgebung", warnte Silva.

Auch Fernando Prioste von der Landrechts-NGO "Terra de Direitos" ist mit dem Ausgang nicht zufrieden. "In Wirklichkeit stellt die MP 458 keine Neuregelung von Besitzverhältnissen am Amazonas dar, sondern legalisiert über Jahre hinweg verübtes Unrecht." Prioste kritisiert besonders die Eile, mit der die MP durchgeboxt wurde. "Eine für die Amazonasregion und seine Einwohner derart wichtige Frage hätte durch ein "normales" Gesetz geregelt werden müssen, mit Diskussionen aller Beteiligten, öffentlichen Anhörungen etc. Aber nicht per Dekret."

Soja-Farm / Santarem [zoom]
Soja umschließt Urwand / Santarem [zoom]

Für ihn liegt eine besondere Brisanz der MP in der Nichtberücksichtigung der Quilombos, Gebieten auf denen Nachkommen afrikanischer Sklaven siedeln. Genau wie den Indios steht ihnen ihr Siedlungsgebiet laut Verfassung zu. In der ursprünglich von der Regierung an den Kongress weitergereichten Fassung der MP 458 wurde deshalb illegal besetztes Quilombo-Land von der Legalisierung ausgeschlossen, genau wie illegal besetztes Indio-Land. Doch in der endgültigen Fassung fehlt dieser Zusatz. "Wer Quliombo-Land gestohlen und die Bewohner vertrieben hat, bekommt das Land nun rechtmäßig überschrieben. Das wird in Zukunft noch zu vielen Konflikten führen", so Fernando.

Sojafeld / Santarem [zoom]
Sojatransport / Santarem [zoom]

Unweigerlich fühlt man sich an ein anderes Kapitel der brasilianischen Agrargeschichte erinnert: die Legalisierung von Gen-Soja. Zwar wurde deren Anpflanzung per Gerichtsurteil 1998 verboten. Doch über die argentinische Grenze hielt Gen-Soja dann doch Einzug auf den Feldern Süd- und Zentralbrasiliens. Aufgrund fehlender Kontrollen und der Unwirksamkeit von Strafen kapitulierte man schließlich vor der Realität: ein präsidiales Dekret gab 2003 die Gen-Soja-Pflanzungen frei. 

Es scheint, als ob sich das Prinzip der "illegal geschaffenen Tatsachen" in beiden Fällen ausgezahlt hätte.

Text + Fotos: Thomas Milz

Link:
Carlos Minc, auch auf mit dem Tanzbein eine Ausnahmeerscheinung (youtube)

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_2] Argentinien: Ein Che Guevara ohne Ernstfall
Diego Maradona trotz fortschreitender Selbstzerstörung nationale Leitfigur

Ein in Argentinien häufig erzählter Witz besagt, dass es vier Arten von Ländern gibt: entwickelte, unterentwickelte, Japan, von dem niemand weiß, warum es entwickelt ist, und Argentinien, von dem niemand weiß, warum es unterentwickelt ist. Über solche Witzeleien hinaus kann die Symmetrie zwischen der nationalen Leitfigur Diego Maradona und denen, die ihn zum Idol erkoren haben, dazu beitragen, die Besonderheit der argentinischen Verhältnisse zu erklären. Zwar ist der Begriff der "nationalen Identität" von vager Allgemeinheit und trägt oft nur zur Mystifizierung der Tatsachen bei. Doch welche Vorbilder sich eine Gesellschaft erwählt, ist weder Zufall noch reine Willkür.



Von Neapel nach Neapel
Der Niedergang des Sterns Maradona hatte schon Ende der achtziger Jahre begonnen. Dennoch liefern die Massenmedien mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Ausschluss von der Fußball- WM in den USA (1994), der das Ende seiner internationalen Karriere bedeutete, regelmäßig Nachrichten über die Stationen seines Kreuzwegs. Wie John Lennon einst mit Bezug auf die Beatles könnte Maradona heute sagen, er sei berühmter als Jesus Christus. Vielleicht verdankt er diesen Ruhm der Tatsache, dass er nicht nur einmal, sondern zweimal auferstanden ist: nach zwei Episoden, bei denen er für tot erklärt worden war. Eine solche Leistung rechtfertigt den Titel, den ihm seine Landsleute verliehen haben: "D10S", mit seiner Nummer 10 im spanischen Wort für Gott.

Es gibt vielerlei Gründe, weshalb die Popularität Maradonas während seines sportlichen und persönlichen Verfalls so rasant angestiegen ist. In einer politisch korrekten Welt, wo sich Politiker aller Schattierungen Mühe geben, Konflikte zu vermeiden, auch um den Preis, dass ihre Worte nichts mehr sagen, bringt die lockere Nonchalance der öffentlichen Erklärungen Maradonas einen frischen Wind und den Geschmack des Verbotenen. So stammen die letzten Meldungen von Diegos Kampf gegen die Welt nicht aus Kuba, sondern aus dem Venezuela von Oberst Chávez, wo er seiner Rolle als schwarzer Papst treu geblieben ist, als er den versprochenen Waffenlieferungen an den populistischen Präsidenten Venezuelas durch die Regierungschefs von Brasilien und Spanien seinen Segen gab.

Immer wenn italienische Freunde von mir zum ersten Mal nach Argentinien kommen, begrüße ich sie am Flughafen mit den Worten: "Benvenuti a Napoli." Vom Stadtrand von Buenos Aires zur sozialen Peripherie von Neapel ist es nicht weit. Für die Welt ist Maradona der Inbegriff der "neapolitanischen" Charakterzüge der argentinischen Gesellschaft: Genialität, aber auch Korruption; Kreativität und Missachtung aller Regeln; Talent, aber geringer Arbeitseifer; viele Tugenden im Privaten, aber allzu viele Laster im öffentlichen Bereich. Der Erfolg Maradonas als Idol von Argentiniern und Neapolitanern scheint - zusammen mit dem relativen Misserfolg in Barcelona und der Verachtung, die ihm die restliche italienische Gesellschaft entgegenbringt - den Platz zu bestätigen, den ihm die globale Alltagsmythologie zugewiesen hat.



Zwei Tore eines argentinischen Gottes
Das Ereignis, das die Ambivalenz dieses "Genies ohne Regeln" symbolisiert, ist das Spiel zwischen England und Argentinien während der Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko. Maradona schoss damals die zwei berühmtesten und sinnbildlichsten Tore seiner Karriere. Beim ersten sprang er nach einem Ball, der in die Strafraummitte geflankt worden war, und kam dem Torhüter zuvor, indem er den Ball versteckt mit der Faust ins Tor beförderte. Beim zweiten Tor, das die englische Mannschaft aus dem Turnier warf und von den argentinischen Medien als "Rache für Falkland" bezeichnet wurde, lief Maradona mit dem Ball am Fuß über das halbe Spielfeld und durch die gesamte englische Verteidigung und erzielte eines der schönsten Tore überhaupt.

In der Umkleidekabine klärte Maradona das "Geheimnis" des ersten Tors auf, das für das Auge der angeblich allwissenden Fernsehkameras unsichtbar blieb: "Es war die Hand Gottes", sagte er - ein Spruch, der ihn bis zu seinen jüngsten Auferstehungen begleiten sollte. Nicht zufällig reimt sich seine Erklärung mit einer verbreiteten Redensart, die man in Argentinien oft hört, wenn die Bewohner des Landes mit ihrem Latein am Ende sind: Machen wir uns keine Sorgen, irgendeine Lösung wird sich schon finden, denn "Gott ist Argentinier".

Auch wenn er von den Anhängern des volkstümlichsten Fußballvereins, Boca Juniors, besonders verehrt wird, ist die Liebe zu Maradona doch unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und dem "Bekenntnis" zu einem der argentinischen Fußballklubs. Die Gültigkeit des Mythos von der göttlichen Nummer 10 und der mythopoetischen Liebe zwischen ihm und weiten Teilen der Einwohnerschaft ist ungebrochen. Viele Argentinier verehren Maradona wegen des Talents, das sein zweites Tor gegen England versinnbildlicht. Andere wegen der "kreolischen Schläue" (ein anderer nationaler Mythos), mit welcher er den ersten Treffer erzielte. Manche verabscheuen ihn auch, aber keinem ist er gleichgültig. Der Gegensatz zwischen der volkstümlichen Maradona-Partei und den Antimaradonisten ist ein ethischer. Eine Befragung hinsichtlich der Vorliebe für das von der "Hand Gottes" erschwindelte Tor oder für das perfekte Dribbling würde Argentinien in zwei unversöhnliche Gruppen teilen, die sich wechselseitig beschuldigen, den Ruin des Landes verursacht zu haben: sei es durch ein Übermaß an Naivität in einer Welt gnadenloser Interessen, sei es durch den Zynismus der Korruption.

Maradona wird nicht nur im Ausland als der Vertreter Argentiniens wahrgenommen, er dient auch als Spiegel, in dem sich die Argentinier selbst betrachten. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Staatssekretariats für Massenmedien ergab, dass ihn mehr als die Hälfte der Befragten als ihr nationales Idol nannten. Wie in einem doppelten Spiegel wird Maradona so zum Dolmetscher jenes unentwirrbaren Widerspruchs, den in den Augen vieler Beobachter die Republik Argentinien darstellt: ein Land auf halbem Weg zwischen seiner europäischen Tradition und seinen lateinamerikanischen Wurzeln, zwischen Entwicklung und Unterentwicklung, zwischen einer glänzenden Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft; ein Land mit riesigen natürlichen Ressourcen und spärlicher Bevölkerung, von der die Hälfte unter der offiziellen Armutsgrenze lebt.



Ein Leben zwischen Himmel und Hölle
Maradonas Unfähigkeit zu systematischer Anstrengung findet ein Gegengewicht in seinem unglaublichen Gespür für heroische Gesten: Einerseits fehlte er gern im Training, andererseits spielte er mit dick angeschwollenem Knöchel. Seine Verachtung für soziale Regeln, die er gern als falsch und verlogen verhöhnt, verbindet sich mit einem hemmungslosen medialen Komödiantentum - zwei Züge, die die argentinische Kultur der letzten zwei Jahrzehnte kennzeichnen. Was Maradona und die ihn bewundernde Gesellschaft aber vor allem gemeinsam haben, sind ungebremste Allmachtsphantasien, die paradoxerweise mit einer stilisierten Neigung zum Selbstmitleid in der Opferrolle einhergehen. Wer glaubt, der Allerbeste zu sein, dann aber scheitert, wird den Misserfolg kaum auf eigene Fehler zurückführen. Deshalb ist Argentinien ein Land, das aus seinen Fehlern nichts lernt und zwischen zwei ideologischen Extremen schwankt, die beide davon ausgehen, dass die Methode der Tabula rasa die beste von allen sei.

Die Unfähigkeit zur Selbstkritik veranlasst viele, sich mit einem Hof professioneller Schmeichler zu umgeben - eine auffällige Schwäche fast aller politischen Führer seit Perón, von Maradona zur höchsten Blüte getrieben - und die Schuld für die eigenen Irrtümer irgendeinem undurchsichtigen Komplott zuzuweisen. So führte die gesamte argentinische Linke der siebziger Jahre sämtliche Übel des Landes auf den amerikanischen Imperialismus zurück. Die folgende Militärdiktatur rechtfertigte den systematischen Massenmord, begangen zur Verteidigung des "nationalen Wesens", mit der "heimatlosen Anarchie der Marxisten" und bezeichnete die Proteste, die im Ausland wegen der horrenden Menschenrechtsverletzungen laut wurden, als "antiargentinisches Komplott". Und die bekannteste Vertreterin des Kampfes gegen die Diktatur und Vorsitzende der Vereinigung der Madres de Plaza de Mayo, Hebe de Bonafini, besteht noch heute darauf, dass der Mord an dreißigtausend Argentiniern das Werk der Nordamerikaner gewesen sei.

Im Fall von Maradona bezieht sich die Paranoia der Verschwörung auf die angeblichen Machenschaften von Julio Grondona, Präsident des argentinischen Fußballverbandes, Corrado Ferlaino, Präsident der SSC Napoli, den italienischen Fußballverband, die Fifa João Havelanges und die argentinische Bundespolizei, wobei die drei Letztgenannten schuld sein sollen an den zahlreichen Disqualifizierungen wegen Dopings, die der "Diego des Volks" - so der Titel seiner Autobiografie - erlitten hat.



Ein Schicksal von Tod oder Glorie
Wahrscheinlich ist nur ein Argentinier imstande, im Zeitraum von wenigen Stunden und ohne jede Nuancierung zu behaupten, sein Land sei das beste und das schlechteste auf der Welt. Auch Maradona ist vom Virus des Ausnahmelandes mit seinem Schicksal von Tod oder Glorie befallen wie es die letzte Strophe der Nationalhymne evoziert: "Lasst uns von Ruhm gekrönt leben oder schwören, in Glorie zu sterben!" Nicht zufällig ist bei den meisten nationalargentinischen Idolen wie Carlos Gardel, Evita Perón oder Che Guevara der Ruhm mit den Phantasmen von Exil und Tod verbunden. Wie Argentinien als Land blieb Maradona trotz seiner Erfolge weit unter seinen Möglichkeiten. Wie Argentinien hatte er einmal alles, aber fast nichts davon ist ihm geblieben. Wie Argentinien lebt er weiter, während ihn fast alle für tot erklären.

Lieber tot als "ernst" oder "normal" (was in der argentinischen Werteskala so viel wie "mittelmäßig" bedeutet), verkörpert Maradona jenen Lebensstil, der in den neunziger Jahren um sich griff. Die Vorliebe für gefährliche Freundschaften und Familienbündnisse nach neapolitanischer Art, die Lust an Gefahr und Provokation haben verhindert, dass er wurde, wozu er die besten Voraussetzungen hatte: ein glückliches Menschenkind. "Pizza und Champagner" war das vulgär-hedonistische Motto der neunziger Jahre, Maradona der wichtigste Prophet dieser "Ideologie". Jeder seiner Schritte in der Öffentlichkeit gab ein perfektes, von den Fernsehkameras begierig aufgezeichnetes und vergrößertes Bild vom Zustand der "neuen" argentinischen Gesellschaft.

Wer das politische Puzzlespiel Argentiniens und die tragische Verstrickung von populistischem Nationalismus und Linksparteien nicht kennt, wird sich wundern über das Prestige, das Maradona nach wie vor bei der argentinischen Linken genießt. Diese weidet sich an Maradonas Familienfotos mit Fidel Castro und vergisst nebenbei, dass er den neoliberalen Präsidenten Menem vor dem entscheidenden Moment seiner Wiederwahl unterstützt hatte.

Sie ergötzt sich an seiner unermüdlich beteuerten Liebe zum Volk, vergisst jedoch die Schüsse, die Maradona auf die Journalisten vor seinem Haus abgab, und überhört Äußerungen wie die über Argentinien als "ein Land von Verrätern".

Sie bewundert seine Identifikation mit den Villas, den argentinischen Slums, und sieht über seine schrankenlose Konsumsucht hinweg. Sie zeigt auf die Che-Guevara- Tätowierung an seinem Arm und ignoriert die sinnbildliche Bedeutung seines Ferrari und seiner Nerzmäntel.

Die heilige Dreifaltigkeit Argentiniens
Maradona wiederholt, indem er sie vereint und zugleich banalisiert, die wichtigsten Werte der beiden anderen argentinischen mythischen Gestalten, die im 20. Jahrhundert Weltruhm erlangten: Evita Perón und Che Guevara. Von jener hat er die Mixtur aus plebejischer Herkunft und demonstrativer Verschwendung. Eva Duarte, die spätere Frau Peróns, war ein uneheliches Kind aus Los Toldos, einem Dorf in der Provinz Buenos Aires; Maradona ein Villero aus Villa Fiorito am Stadtrand von Buenos Aires, einer Gegend, wo sich das "Lumpenproletariat" drängt (dies die Bezeichnung der Arbeiter, für die der Ausdruck Villero einer Beleidigung gleichkommt).

Einmal an der Macht, beruhte die soziale und politische Wirkung Evitas auf zwei anderen "maradonianischen" Konstanten: die systematische und obsessive Beschwörung des Volkes ("mis cabecitas negras" - "meine Schwarzköpfe") neben ihrer Vorliebe für Juwelen und Haute Couture, die Maradona ungleich vulgärer mit seinen monumentalen Goldringen, weißen Chinchilla-Jacken und Versace-Anzügen wiederholt.

Die für Argentinien lange Zeit kennzeichnende soziale Mobilität zeigt sich hier von der übelsten Seite: Es ist der Geschmack der Neureichen, eine Kitschkultur ohne Distanz und Ironie, mit dem einzigen Zweck, den Reichtum zur Schau zu stellen.

Der andere Vorläufer, Che Guevara, hatte das zentrale Credo in Europa vor dem Ersten Weltkrieg - "gefährlich leben" - wiederbelebt und verkörperte mit dem Gestus jugendlicher Rebellion den Widerstand gegen die etablierten Machthaber. Beide Elemente sind für die argentinischen Bewunderer Maradonas und Ches Selbstzweck, also Werte an sich, unabhängig von den konkreten Auswirkungen. Guevara vollbrachte seine heroischen Abenteuer am Vorabend und später im Kontext einer Diktatur, die in Kuba noch heute herrscht, und seine Praxis der "revolutionären Gewalt", die Lateinamerika und Europa erschütterte, bot den besten Vorwand für den Staatsstreich von 1976 und den nachfolgenden Massenmord. Aber das alles kümmert die einstmals guevarianischen, heute maradonianischen Aktivisten nicht, die beide Ikonen auf eine Ebene stellen und dabei vergessen, dass es eine Sache ist, die Armee des Tyrannen Batista anzugreifen, aber eine andere, der Fifa des Bürokraten Havelange die Stirn zu bieten. Sie vergessen, dass der Tod im Kugelhagel des Feindes sich anders anfühlt als die langsame Selbstzerstörung durch Kokain und dass der bewaffnete Kampf im Dschungel etwas härter ist als die Ostentation einer Che-Tätowierung beim Fischen auf einer Jacht in der Karibik.

Kurz, Maradona ist ein Guevara ohne Ernstfall, ein Held ohne Heldentum, dessen Versuch, Himmel und Hölle, Revolution und Konsumismus zu vereinen, nur ins traurigste Fegefeuer führen kann. Für den postmodernen, guevaristisch angehauchten Maradona-Fan ist der Heroismus gar nicht so wichtig - oder genauer, vom Heroismus genügt ihm die Pose. Und wenn man bedenkt, wohin die Heroismen der jüngsten Vergangenheit geführt haben, enthält dieser naive Glaube vielleicht sogar eine Prise Weisheit.

Verantwortung übernehmen
Der Zufall hat Maradona ein außerordentliches Talent geschenkt, mit dem Ball umzugehen. Hinzu kam, dass dieses Talent in den bescheidenen Verhältnissen, denen er entstammte, als höchste aller menschlichen Fähigkeiten angesehen wurde und wird. Fußballerisches Geschick stellt in der argentinischen Gesellschaft eine der besten Möglichkeiten dar, soziale und wirtschaftliche Anerkennung zu erringen. Es ist etwas Tragisches und Rührendes an der Liebe, die die Argentinier heute diesem gefallenen und weltweit verhöhnten Idol entgegenbringen, in einem Land, dessen Ressourcen zu den bedeutendsten der Erde zählen, das aber auch, im Verlauf weniger Jahrzehnte, die schwersten sozialen und politischen Katastrophen erlebte.

Vor noch gar nicht so langer Zeit hat sich in der argentinischen Umgangssprache ein Ausdruck breit gemacht, "hacerse cargo" (Verantwortung übernehmen) - Verantwortung für die Folgen des eigenen Handelns. Noch lässt sich nicht sagen, ob es sich um eine vorübergehende Mode des Sprachgebrauchs handelt oder ob sich darin ein tieferer gesellschaftlicher Wandel spiegelt. Zur Verteidigung Maradonas sei gesagt, dass er absichtlich oder instinktiv die Verantwortung für sein eigenes Schicksal übernommen und einen hohen Preis für seine Irrtümer und Fehler bezahlt hat.

Text: Fernando A. Iglesias
Fotos:
Thomas Milz

Über den Autor:
Fernando A. Iglesias ist argentinischer Schriftsteller, Journalist und Abgeordneter des Argentinischen Parlaments für die Coalición Cívica (Mandat 2007-2011).

Sein Wissensgebiet ist die Globalisierung mit ihren politischen Aspekten auf nationaler und internationaler Ebene. Er ist einer der Gründer von "Democracia Global- Movimiento por la Unión Sudamericana y el Parlamento Mundial" sowie Mitglied des Direktorenrates des "World Federalist Movement".

Iglesias hat bisher folgende Buecher veröffentlicht: "República de la Tierra-Globalización: el fin de las Modernidades Nacionales" (Buenos Aires 2000), "Twin Towers: el colapso de los estados nacionales" (Barcelona 2002), "¿Qué significa hoy ser de Izquierda? - Reflexiones sobre la Democracia en los tiempos de la Globalización" (Buenos Aires 2004), "Globalizar la Democracia - Por un Parlamento Mundial" (Buenos Aires 2006) sowie "Kirchner y yo - por qué no soy kirchnerista" (Buenos Aires 2007).

Sein neuestes Buch "Qué significa ser progresista en la Argentina del Siglo XXI" ist soeben (Juni 2009) in Buenos Aires erschienen.

Seine beiden größten Leidenschaften haben aber auf den ersten Blick nichts mit Politik oder Globalisierung zu tun: Fußball und Tango. Wobei Iglesias selber dies vehement bestreitet.

Kontakt:
www.fernandoaiglesias.com
www.fernandoiglesias.blogspot.com
www.fernandoiglesiaslibros.blogspot.com

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_3] Spanien: Interview mit dem Bildhauer Francisco Romero Zafra
 
1. Wie man Ihren biographischen Daten entnehmen kann, sind Sie als Autodidakt ungewöhnlich spät, erst im Alter von 34 Jahren, zum Bildhauer geworden. Warum so spät? War es eine Entscheidung, die Sie plötzlich getroffen haben und falls ja, können Sie uns sagen, ob es einen bestimmten Moment, eine Art Initiation oder ein Schlüsselerlebnis gab, wodurch Sie zum Bildhauer wurden?
Ich habe stets gesagt, dass mein Berufsweg als Bildhauer sicherlich nicht typisch verlief, sondern dass ich eher wie zufällig zu dieser Beschäftigung kam. Ich habe mich zwar schon als Kind auffällig für die Kunst interessiert, ich zeichnete und malte auch Ölgemälde in meiner Freizeit, habe mich jedoch nie beruflich damit beschäftigt.

Mit der Bildhauerei zu beginnen, war eigentlich keine bewusst getroffene Entscheidung, sondern eher das Ergebnis einer Erfahrung: im Jahr 1990 organisierte die religiöse Bruderschaft La Merced in meiner Heimatstadt Córdoba eine Kunstausstellung, in der unter anderem auch Werke von jungen Nachwuchs-Bildhauern gezeigt wurden. Drei Jahre lang wurden diese Skulpturen ausgestellt.

Der "auferstandene Christus" von Martos (Jaén)

Ermutigt durch einen Freund, der später zehn Jahre lang mein Werkstatt-Teilhaber sein sollte, modellierte ich Maria als Schmerzensmutter aus Terrakotta und nannte das Werk "Jungfrau der Tränen" - sie wurde von der Bruderschaft der Vergebung (Cofradía del Perdón) gekauft. Es war das erste Mal, dass ich eine Skulptur modellierte und ich spürte, dass ich mich dabei wohler fühlte als beim Malen eines Bildes. In diesem Moment erinnerte ich mich daran, dass ich früher als Kind in der Schule schon immer die besten Noten für Handwerken und dreidimensionale Kunstwerke erhielt, aber nicht für das Zeichnen oder Malen. Ich denke, dass es zum menschlichen Schicksal gehört, dass das Leben einem solche Signale gibt, man sie jedoch in vielen Fällen gar nicht oder erst viel später bemerkt.

Diese Erfahrung gefiel mir, ich fühlte danach geradezu ein Bedürfnis, immer wieder durch Modellieren von Terrakotta oder Holz Gefühle auszudrücken -  so sind ich und mein Freund fast beiläufig, jedenfalls ohne es bewusst geplant zu haben, in die Welt der Bildhauerei geraten.

 
Die Jungfrau der Sieben Schmerzen,
Klosterkirche Santo Ángel (Sevilla)


Für mich persönlich ist es nicht wirklich wichtig, Bildhauer oder Arzt oder Architekt sein zu wollen, sondern man sollte vom Wunsch getrieben sein, eine Skulptur zu erschaffen, Kranke zu heilen oder Bauwerke zu entwerfen, etc... alles andere ergibt sich dann nach dem Prinzip Ursache und Wirkung.

2. Ihre Inspirationsquellen: könnte man sie eher als religiös im "orthodoxen" Sinne (z. B. auf der Heiligen Schrift basierend) bezeichnen oder gibt es auch  "profane" Inspirationsquellen (z. B. eigene Erlebnisse oder Personen, die einen starken Eindruck auf Sie gemacht haben)?
Es kommt da von allem etwas zusammen, denn als Bildhauer stellt man Geschichten dar, die von Menschen erlebt wurden - in der Grundform ist es eine Geschichte (im Fall der Passion Christi stets dieselbe), aber in der detaillierten Ausgestaltung wechseln meine Inspirationsquellen von Tag zu Tag. Sowohl in den Massenmedien als auch im realen Leben werden wir täglich mit ähnlichen Menschenschicksalen konfrontiert. Der Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat, wird stets der gleiche sein, durch alle Jahrhunderte hindurch. Gewalt und Folter sind immer ungerecht und doch werden wir täglich damit konfrontiert, Tausende von Kindern leiden und sterben überall auf der Welt... in unserer Gesellschaft sind Schmerz und Ungerechtigkeit so präsent, dass es gar nicht nötig ist, in der Bibel nach Inspirationen zu suchen.

3.Bevorzugen Sie eher lebende Personen als Modelle für Ihre Skulpturen oder lassen Sie sich eher durch bildliche Darstellungen inspirieren? Gibt es Beispiele, wo Sie reale mit fiktiven Modellen kombinieren?
Für das Abbilden und Modellieren von Körpern und anatomischen Details bevorzuge ich immer ein lebendes Modell, aber der Gefühlsausdruck ist oft frei erfunden und für die Gesichter von Madonnen und Christusstatuen nehme ich niemals lebende Modelle.

Die Heilige Theresa und ein Engel

Auch in der Klassik der Antike finde ich Bezugspunkte und Inspirationen ...aber es geht nie darum, etwas zu kopieren, sondern nur um eine Ausgangsidee, die hinführt zu einem neuen Werk.

4. Ihre Werke sind geprägt von einem charakteristischen Stil und von einer ergreifenden, manchmal kaum zu ertragenden, Intensität. Wenn ich Sie dennoch bitten würde, uns zu verraten, durch welche Vorbilder Sie in Ihren Schöpfungen beeinflusst wurden (insbesondere ganz am Anfang Ihrer Karriere) - welche würden Sie uns nennen? Wenn ich mich nicht täusche, gibt es - zumindest bei Ihren Marienskulpturen auf den ersten Blick - einen prägenden Einfluss der Bildhauerschule von Granada, vor allem Pedro de Mena...?
Dieser Eindruck ist in der Tat zutreffend. Der Einfluss von Pedro de Mena in meinen Dolorosas (Schmerzensmüttern) ist auf jeden Fall vorhanden, ebenso gibt es Spuren der Meister Mora, Risueño, (Juan de) Mesa, (Martínez) Montañés, Salvador Carmona, Gregorio Fernández, Michelangelo, Bernini usw. die Vieles so wunderbar dargestellt haben, dass man sie in Betracht ziehen muss, aber - ich wiederhole mich - nicht um sie zu kopieren, denn für Kopien... zählt nur das Original.

Der ausgeprägte eigene Stil, den Sie erwähnen, ist letztlich nichts anderes als das Ergebnis eines langen Weges und des brennenden Wunsches, alles auf meine ganz persönliche Weise auszudrücken, ohne andere Künstler herabsetzen zu wollen. Auch die Tatsache, dass ich als Autodidakt zur Bildhauerei gekommen bin, ist ein Beleg dafür, dass ich nicht durch die Darstellungsweise eines einzelnen Meisters beeinflusst worden bin.

5. Welches würden Sie zum aktuellen Zeitpunkt als Ihr vollkommenstes Werk bezeichnen?
Das ist natürlich eine sehr schwierige Frage, aber ich würde den Auferstandenen Christus von Pozoblanco nennen, auch deshalb, weil die Szene der Auferstehung ikonographisch in der Bildhauerei des Goldenen Zeitalters (17. Jahrhundert) kaum dargestellt wurde, so dass es kaum Vorbilder für diesen Typus von Christusstatuen gibt. Daher hat dieses Frühwerk meiner Laufbahn als Bildhauer eine besondere Bedeutung und bietet eine originelle, außergewöhnliche Darstellung dieser Szene des wiedergeborenen Erlösers.

Der Auferstandene Christus von Pozoblanco

6. Können Sie uns etwas über die Materialien erzählen, die Sie bevorzugt verwenden und über die "Geheimnisse" der Bemalung, durch die Ihre Skulpturen so besonders realistisch erscheinen?
Das Material par excellence ist Terrakotta, es ist so leicht zu modellieren. Aber für Prozessions- oder Altarskulpturen verwende ich immer Zedernholz, es besitzt die besten Eigenschaften für solche Kunstwerke.

Es gibt kein Geheimnis in meiner Polychromie, ich bemale eine Skulptur so wie jeder Bildhauer oder wie jeder Maler ein Bild malt; das "Geheimnis" liegt dabei höchstens in der besonderen Intensität.

7. Wenn Sie die Herkunft der Aufträge, die Sie erhalten, in Gruppierungen einteilen: z. B. von Bruderschaften, Pfarrkirchen, Privatpersonen - was wäre (in Prozentzahlen) die wichtigste Gruppierung von Kunden, die interessiert an Ihrer Kunst sind?
Dies sind bei weitem die religiösen Bruderschaften mit etwa 80%, während 15% der Aufträge von Privatpersonen und nur 5% von Pfarrgemeinden kommen. Dabei muss man natürlich berücksichtigen, dass die Bruderschaften ja ihre Skulpturen sowieso in den Pfarrkirchen zur Verehrung ausstellen. Aus diesem Grund sehen die meisten Kirchen keine Veranlassung, zusätzliche Statuen in Auftrag zu geben.

8. Haben Sie irgendwann mal eine "schöpferische Krise" erlebt?
Bis jetzt noch nicht, allerdings gibt es Momente von großer und von weniger stark empfundener Inspiration. Aber irgendwie überkommt mich die Inspiration immer und dann es ist wichtig, sie sofort in ein Werk umzusetzen.

9. Haben Sie so etwas wie einen "kreativen Konflikt" erlebt zwischen der Verpflichtung, ein Auftragswerk zu einem bestimmten Zeitpunkt zu vollenden und der plötzlich brennenden Inspiration, gleichzeitig ein anderes Werk  (spontan und vielleicht sogar ganz ohne Auftrag) in Angriff zu nehmen?

 Der heilige Johannes Evangelist von La Rambla


In vielen Momenten kann die Zeit sowohl der größte Feind der Kunst als auch ihr wichtigster Verbündeter sein: wenn die Zeit fehlt... kann sie blind machen bei der Fertigstellung eines Kunstwerks und wenn man plötzlich Zeit zuviel hat... öffnet sie einem die Augen... oft bemerkt man dann erst später Fehler und Irrtümer, die man zuvor übersehen hat.

Es gibt Auftraggeber, die manchmal versuchen, Druck auszuüben, damit ich schneller arbeite, aber ich stelle die Bedingungen. Daher mache ich niemals Entwürfe oder Modelle für ein bestimmtes Werk sehr weit im Voraus, denn ich bin keine Maschine, sondern ein Mensch mit vielen Schwächen... so wie viele andere auch - es ist die öffentliche Meinung, die mich und mein Werk oft überbewertet.

10. Was können Sie uns sagen über den Zeitraum, der für die Vollendung eines Werks zur Verfügung steht: gibt es normalerweise einen festen Abgabetermin, den es einzuhalten gilt oder steht es Ihnen oft frei, wann Sie ein Kunstwerk fertig stellen und abliefern?
Es gibt immer einen Abgabetermin, z. B. die Semana Santa (Karwoche) im nächsten Jahr, da zur Zeit fast alle meine Aufträge, an denen ich arbeite, Prozessions-Skulpturen sind. Ich habe allerdings auch schon Aufträge für die fernere Zukunft - bis zum Jahr 2016 - in solchen Fällen ist es kaum möglich, einen ganz konkreten Termin festzulegen, es wird also ein Zeitraum von bis zu zwei Jahren für die Fertigstellung vereinbart.

11. Welches Werk würden Sie als die beste andalusische Skulptur des Goldenen Zeitalters (17. Jahrhundert) bezeichnen?
Es ist kaum möglich, sich dabei nur auf eine einzige festzulegen, aber da kommt mir in den Sinn der Christus von (Juan de) Mesa in Vergara (heute im Baskenland), der Christus der Kelche von (Martínez) Montañés oder ein "liegender Christus" von Gregorio Fernandez.

12. Eine fertige, dem Auftraggeber übergebene Skulptur  - kann man das ein wenig vergleichen mit "einem Kind, das ein Elternhaus verlässt" oder wie würden Sie jenes Gefühl beschreiben, ein Werk "zu verlieren"?
Es ist eigentlich nie ein Gefühl des Verlustes, sondern eher ein Gefühl der Weitergabe, eine Mission, die erfüllt wurde, denn danach befindet sich mein Werk ja an dem Platz für den es geschaffen worden ist. Es gibt vielleicht den Verlust der materiellen Präsenz einer Skulptur, was aber nicht traumatisch ist. Denn ich bleibe immer der "moralische Eigentümer", der Autor meiner Werke. Oft sage ich mir, auch wenn meine Werke ("meine Kinder") mein Haus oder meine Werkstatt verlassen, so bleibt mir doch die Befriedigung, dass sie quasi ein Eigenleben beginnen, indem sie öffentliche Verehrung erfahren und populär werden.

13. Gibt es zur Zeit in Ihrer Werkstatt ein konkretes Projekt für einen Auftraggeber in Sevilla?
Nein, und ich fürchte, dass es einen Auftrag aus Sevilla für mich so bald nicht geben wird, denn es gibt da einen gewissen Chauvinismus, diesen wohl bekannten Stolz der Sevillaner... und dies ist durchaus verständlich, weil man in Sevilla Jahrhunderte lang daran gewöhnt war, alles, was mit bildender Kunst zu tun hat, direkt vor der Haustür zu haben. Und heute wäre es ein Eingeständnis, das dies im Moment nicht mehr so ist, wenn man aus Sevilla Aufträge für Statuen oder Skulpturen nach außen vergeben würde.

14. Ist es zutreffend (dies ist zumindest ein Eindruck, den viele Ausländer haben, wenn sie die religiösen Skulpturen in den Kirchen von Sevilla, Córdoba oder Granada betrachten), dass in Andalusien die Darstellungen der Passion Christi immer viel beliebter sind und höher bewertet werden als andere religiöse Kunst, und falls ja, worin liegt dieses Phänomen begründet?
Es ist sehr einfach zu erklären, denn in Andalusien haben die besondere Feier der Karwoche und die Erinnerung an die Leidensgeschichte Christi eine lange Tradition, die viele Jahrhunderte zurück reicht.

Die künstlerische Darstellung von Schmerz und die Ausdruckskraft von Klagegesängen, die Zuschauer und Zuhörer ergreifen, sind tief verwurzelt in der andalusischen Bevölkerung, in diesen Glaubenskundgebungen vermischen sich Folklore und Frömmigkeit.

Die Jungfrau der Tränen

Andalusien hat - im Gegensatz zu Kastilien oder anderen Regionen Spaniens -  in seiner Semana Santa eine ganz besondere Form gefunden, den Schmerz zu "veredeln" - mit Gefühlsnuancen, die alle Sinne des Menschen ansprechen in einem öffentlichen Gesamtkunstwerk: man kann die Altarbühnen (Pasos) berühren, um den Sinneseindruck vollkommen zu machen, man spürt den Duft von Blumen, Wachs und Weihrauch ...man kann sich kaum satt sehen an all den Altarbühnen, die in diesen Tagen durch die ganze Stadt getragen werden, und man hört überall die wunderbare Palette der Musik, von der die Pasos begleitet werden, oder die Saetas, die von Gläubigen gesungen werden, sogar das eindrucksvolle Schweigen, das manchen Prozessionen eigen ist, wird ein Teil des Ganzen. Und begleitet wird diese Heilige Woche natürlich auch vom Aroma der besonderen gastronomischen Spezialitäten, die man sich in ganz Andalusien schmecken lassen kann.

15. Vor dem Hintergrund der überlieferten Tatsache, dass der große Martínez Montañés 1615 seinem Jesus der Passion selbst durch die Straßen Sevillas folgte, um zu sehen, wie sich seine Statue des Erlösers bewegte - wie könnte man das Gefühl beschreiben, das einen während der Semana Santa ergreift, wenn zum ersten Mal eine selbst geschaffene Skulptur vor Ihren Augen durch die Stadt getragen wird? Welches ist das dominierende Gefühl?
Anfangs ist es fast ein wenig Furcht vor sich selbst, vor der eigenen Reaktion, denn es könnte sein, dass mir diese erste Prozession meiner Skulptur nicht genug gefällt. Schließlich bin ich selbst der erste Kritiker meiner Kunstwerke, doch wenn dieser bittersüße Moment des ersten Anblicks überwunden ist ...dominiert meist eine große Zufriedenheit, etwas geschaffen zu haben, das bei den Menschen, die es betrachten, tiefe Gefühle aufkommen lässt und sie manchmal sogar zu Tränen bewegen kann. Es gefällt mir, mich anonym mitten in die Zuschauermenge zu stellen, wo ich die direkten Reaktionen der Leute sehen und ihre spontanen, unverfälschten  Kommentare angesichts meiner Werke hören kann.

Ich darf mich glücklich schätzen, da ich schon auf viele schöne und emotionale Momente zurück blicken kann, die ich bei ersten Prozessionen meiner Skulpturen erlebte - so wie am vergangenen Palmsonntag in Cádiz, wo fast die ganze Stadt zusammen kam, um zu sehen, wie meine Christusstatue durch die Straßen getragen wurde.

Interview: Berthold Volberg
Fotos: Francisco Romero Zafra (franciscoromerozafra.com) + Berthold Volberg

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_4] Venezuela: Domino in Chávezlandia
 
Irgendwo ganz weit draußen, kurz bevor dieses unendlich lange Moloch Caracas tatsächlich zu existieren aufhört, hab ich dann doch noch was von der cultura caraceña mitbekommen.



Abseits von jeglichem Innenstadt-Trubel, genau dort, wo ein gewöhnlicher Tourist normalerweise nicht hinkommt - warum ich ausgerechnet dort gelandet bin, tut hier nichts zur Sache - und die dünn gesäte Mittelschicht in ihren Trabantenstädten dahinvegetiert. Anders kann man diese Residenciales beim besten Willen nicht benennen. Kennst du eine, kennst du alle. Grau, Plattenbauweise, und schön sozialistisch einheitlich. Sogar der Schnitt der Zimmer ist bis hinauf unters Dach in den 14. Stock identisch. Allein die Bewohner unterscheiden sich noch ein klein wenig voneinander. Ich jedenfalls durfte auf wundersame Weise eine Nacht in einem solchen Betongefängnis verbringen.

Es war schon weit nach Mitternacht als José mich nach dem vierten Rum fragte, ob ich denn Domino spielen könne.
»Moment, ist das nicht dieses Kinderspiel?!«
»Genau das.«
»Gleiche Regeln?«
»Gleiche Regeln.«
»Also gut, warum nicht.«

Meine Antwort hatte ich noch betont lässig gegeben. Aber was bitteschön sollte ich nur auf einem Domino-Spiele-Abend? Entweder hatte ich gerade einen fatalen Fehler begangen oder alles richtig gemacht; jedenfalls war es vorbei mit dem geruhsamen Abend.

Nach einem Griff ins Rumregal ging es im rechten Trabantenturm in den 14. Stock. Schon als die Tür des Fahrstuhls aufsprang, wusste ich, dass „Domino-Spielen“in Venezuela vor allem fiesta heißt. Alle vier gegenüberliegenden Apartmenttüren standen sperrangelweit offen und aus allen vieren drang rhythmische Latino-Musik. Aus vierfachem Stereo konnten wir glücklicherweise dann einen machen. Der Grund: nur hinter einer Tür sollte wirklich Domino gespielt werden, die anderen waren nur dazu da, dass sich keiner der Untermieter allzu leicht in den Schlaf mogelte.



Meinen Spielpartnern war ziemlich schnell anzusehen, dass sie gewiss nicht erst seit kurzem mit dem Steinchen anlegen begonnen hatten. Ich musste mich schon höllisch konzentrieren überhaupt ihre Namen zu verstehen. Und das, obwohl ich noch einen gehörigen Rückstand in Sachen Cuba libre hatte. Doch nach dem vierten Glas sollte der dann auch nicht mehr ins Gewicht fallen. Wir setzten uns also an den viereckigen Filztisch; ganz so, als würde man eine Runde Karten spielen, nur eben diesmal mit kleinen schwarzen Steinen.

Ob ich was trinken wolle, fragte mich Jorge, in dessen Wohnung wir waren. Klar! Cuba libre! Also blaffte er meinen Wunsch gleich seinem zwölfjährigem Sohn Aurelio zu, der sich allerdings nur widerwillig von seinem Internetspiel losmachen wollte. Inzwischen war es gut und gerne ein Uhr durch. Aber, und das muss man dem Jungen lassen, trotz dieser späten Stunde erledigte er seine Cocktail-Pflichten ohne Murren und, was noch wichtiger ist, auch mit äußerster Sorgfalt. Es war einer der besten Cuba libre, die ich in Venezuela vorgesetzt bekam.

Mittlerweile war das Spiel in vollem Gang. Die sich gegenüber Sitzenden bildeten stets ein Paar und Ziel war es alle Steine schneller loszuwerden als der Gegner. Das ganze ging dann im Urzeigersinn reihum. Angelegt werden durften natürlich nur jeweils Steine mit der richtigen Anzahl an Pünktchen. Ansonsten keine weiteren Erklärungen. Außer vielleicht, dass man nicht mit abgezockten Venezolanern spielen sollte. Die haben, auch wenn man es diesem Spiel nicht auf den ersten Blick ansieht, tatsächlich ein paar taktische Finessen drauf. Hauptaugenmerk liegt allerdings auf der Kommunikation mit dem Gegner. Pepe, im normalen Leben ein blasser Angestellter einer IT-Firma und stets adrett in Markenkleidung gehüllt, macht nebenher die offensichtlich lukrativeren Geschäfte mit dem Dollarkurs. In Venezuela ist es nämlich mit der Währung ein wenig verzwickt. Es gibt einen offiziellen Chávez-Dollar-Kurs, bei dem vor allem die Touristen geschröpft werden sollen. Und es gibt einen inoffiziellen, der dem realen Kurs entspricht. Differenz: je nach Kurs doppelt oder fast dreimal so viel.



Weil aber in Venezuela das Dollartauschen für die Einwohner reglementiert, sprich deutlich eingeschränkt, ist, man den Green Back als Auslands- oder Geschäftsreisender aber trotzdem braucht, ergibt sich für viele eine nette Einnahmequelle. Kurzum: Pepe drangsalierte mich unaufhörlich mit den zu erwartenden Kursen am nächsten Morgen, wenn ich bei ihm nur meine Dollar eintauschen würde. Das machte er derart geschickt, dass ich weder Zeit hatte, mal eine Wasserpause zu machen noch vernünftig meine Steine zu sortieren, geschweige denn anzulegen.

Was soll ich sagen? Leg Dich bloß nie mit einem Dollar tauschenden Venezolaner an; insbesondere dann nicht, wenn Du ihn beim Domino als Gegner hast. Am Ende hatte meine Pechsträhne aber doch noch was Gutes an sich. Weil ich wohl nach drei Stunden Domino mit diesen Kerlen etwas bedauernswert dreingeblickt haben durfte, hatte Pepe tatsächlich ein Einsehen. Er tauschte mir die Dollar zu einem Kurs, den ich in ganz Venezuela nie mehr finden sollte.

Text: Andreas Dauerer
Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[kol_1] Erlesen: "Das Guayana-Projekt: Ein deutsches Abenteuer am Amazonas"
Ein Buch von Jens Glüsing

Die Nazis am Amazonas? Der Urwald als Teil eines Plans zur Erlangung der Weltherrschaft? Verdutzt reibt man sich die Augen. Kann das wohl so gewesen sein?

Es kann, und es war auch so, wie der Journalist Jens Glüsing, Spiegel-Korrespondent in Lateinamerika mit Wohn- und Arbeitssitz Rio de Janeiro, auf 240 Seiten belegt. Sein Buch "Das Guayana-Projekt. Ein deutsches Abenteuer am Amazonas" (Ch. Links Verlag, Berlin 2008) erzählt die Geschichte des deutschen Biologen Otto Schulz-Kampfhenkel und seiner Mitstreiter, die sich zwischen 1935 und 1937 durch den Dschungel Nordbrasiliens kämpften.

Schulz-Kampfhenkels Idee: die Möglichkeit für die Errichtung eines Brückenkopfs Nazi-Deutschlands in Südamerika auszukundschaften. Genauer gesagt in Französisch Guayana, dem fernen Übersee-Departement des Erzfeindes. Jahrelang wühlte sich Glüsing durch längst vergessene Archive in den USA, Brasilien und Deutschland. Zutage kam Erstaunliches.

Die Kapitel über den späteren SS-Offizier Schulz-Kampfhenkel wechseln sich ab mit Schilderungen einer Reise, die der Autor 70 Jahre später durch dieselbe Region machte. Gemeinsam mit dem deutschstämmigen Wissenschaftler Christoph Jaster, Leiter des größten Regenwaldschutzgebietes der Erde, dem Tumucumaque-Nationalpark, gelegen an der Grenze Brasiliens zu Französisch Guayana, folgt Glüsing den Spuren von Schulz-Kampfhenkels "Jary-Expedition" durch den gefahrenvollen Busch.

Neben einem mit einem Hakenkreuz verzierten Grabkreuz eines der Expeditionsteilnehmer fand Glüsing viele bewegende und spannende Geschichten über die Menschen dieser entlegenen Region; über Indios, Goldgräber und sonstige Glücksritter.


Schulz-Kampfhenkel verstarb 1989, kinderlos und nahezu in Vergessenheit gearten. Zwar hatte er 1938 seine Erinnerungen in Buchform unter dem Titel "Rätsel der Urwaldhölle" veröffentlicht und einen Dokumentarfilm über die "Jary-Expedition" mit Hilfe der UFA realisiert. Doch nach dem Krieg tauchte der SS-Offizier aus der Öffentlichkeit ab.

Was ihn tatsächlich an den Amazonas trieb, nahm er mit ins Grab. Bis Jens Glüsing die spannende Geschichte wieder ans Tageslicht förderte.

Text + Foto: Thomas Milz
Buchcover: Ch. Links Verlag

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Lauschrausch: Urlaub im Ohr
Akustische Reisen von Barcelona bis Havanna

Betrachtet man heutzutage die Reisenden in einer Eisen- oder Straßenbahn fällt auf, dass rund die Hälfte von ihnen Ohrstecker trägt, manchmal zum Telefonieren, meistens jedoch, um Musik oder Hörbüchern zu lauschen. Angesichts der Tatsache, dass man als Fahrgast häufig gezwungen ist, sinnfreien Konversationen zuhören zu müssen, eine wunderbare Alternative. Und warum dann nicht gleich in den Urlaub entschwinden mit einem Reisehörbuch? geophon ist einer der Verlage, die dieses Bedürfnis bedienen. Ich bin mit seinen CDs aus der Reihe "Urlaub im Ohr" nach Mallorca, Barcelona, Madrid und Kuba gereist.

Barcelona
Eine akustische Reise zwischen Les Rambles und Sagrada Familia
Hörbuch-CD mit Booklet
geophon

Die CD's bringen dem Hörer die jeweils wichtigsten touristischen Attraktionen nahe. So reist man auf der Baleareninsel u.a. mit einem historischen Zug nach Sóller, besucht mit Chopinklängen untermalt Valldemossa, fährt zum Kloster Lluc oder geht durch die Stiftung Joan Miró. Wir reisen nach Artá zum Fest des Heiligen Antonius, das ebenso bildhaft beschrieben wird wie die nahe gelegenen Ausgrabungsstätten der Talaiotkultur und die zu dieser Zeit - also vor ca. 6.000 Jahren - bewohnten Höhlen. Natürlich fehlt auch ein Rundgang zu Palmas Sehenswürdigkeiten und Restaurants nicht, wobei lobenswerterweise die katalanischen Namen genannt werden, erleichtert es doch die Suche vor Ort (den Booklets sind übrigens immer grobe Karten und Pläne beigefügt). In Madrid führen uns die Autoren u.a. in den Prado und den Königspalast, kaufen mit uns auf dem riesigen Flohmarkt "El rastro" ein und machen auf den Spuren von Cervantes einen Ausflug nach Alcala de Henares. Außerdem klärt uns eine Sekretärin über die Lotterie-Verrücktheit der Spanier auf und über die verschiedenen Legenden zur Erfindung der tapas. In der katalanischen Metropole Barcelona bummeln wir gemeinsam über die Rambles, besuchen die Bauten von Gaudí, das moderne Hafenviertel, das Barri Gòtic und das Raval. In Kuba schlendern wir in Havanna u.a. über die Plaza de Armas, besuchen das Revolutionsmuseum, den Malecón und den berühmten Friedhof, auf dem ein Grab mit einem Telefon ausgestattet ist (warum? Hören Sie selbst!). Die Autoren beschreiben die Stadt und ihre Gegensätze und erwähnen auch negative Seiten (Verfall, Gütermangel etc.) ohne allerdings gesellschaftspolitisch in die Tiefe zu gehen, was man von einem Reisführer wohl auch nicht erwartet. Musik begleitet uns in Havanna (das unvermeidliche "Chan, chan") und während der 1.000 Kilometer langen Reise von Havanna über Varadero, Pinar del Rio, wo alte Männer decimas zum Besten geben, Cienfuegos und Trinidad nach Santiago de Cuba, der karibischsten Stadt der Insel.

Madrid
Eine akustische Reise zwischen Königspalast und Puerta del Sol
Hörbuch-CD mit Booklet
geophon

Die Hörbücher beschränken sich jedoch nicht auf die trockene Beschreibung der touristischen Highlights. Ihre Texte schildern lebhaft und plastisch das jeweilige Bauwerk, den Markt oder die Lokalität. Musik, Stimmengewirr und unterlegter Lärm sorgen für eine authentische Atmosphäre, ebenso die Interviewpartner, deren O-Töne lang genug frei stehen. Sie vermitteln uns ihr Wissen, vor allem über den Alltag. Der mallorquinische Fischhändler plaudert über seine Spezialitäten, der Schuhputzer aus Madrid über seinen Job und der deutsche Archäologe berichtet über römische Ausgrabungen bei Alcúdia. Von ihm erfährt man auch, woher der Name “Balearen” kommt, nämlich vom griechischen balein (werfen), da die in der Antike auf den Inseln siedelnden Stämme sich mit Steinschleudern verteidigten. Gerade die Mischung aus Experten und "Normalos" läßt die Rundgänge lebhaft und lehrreich erscheinen. Denn in den Erklärungen der Interviewpartner liegt so mancher "Geheimtipp" verborgen, vor allem was Einkauf und Restauration betrifft.

Erfreulich ist, dass in Barcelona und Mallorca mehrheitlich katalanische / mallorquinische O-Töne gesammelt wurden, so dass beim Hörer das Bewußtsein geweckt wird, dass dort Zweisprachigkeit herrscht (und damit ist im Fall von Mallorca nicht Deutsch gemeint). Ständige Sprecherwechsel lassen auch bei längeren Textpassagen keine Langeweile aufkommen und die jeweiligen Sprecher liefern eine professionelle Arbeit ab. Allerdings schleichen sich manchmal unnötige Fehler ein: So ist die Aussprache von oso (CD Madrid) katastrophal, das Hotel in Havanna heißt Ambos Mundos, (nicht Amos Mundos) und der kubanische Sänger Carlos Puebla, nicht Carlo (auch wenn Kubaner gerne das auslautende "s" verschlucken). Eine weitere Kritik gilt - seltenen - Längen, so z.B. der Beschreibung des "magischen" Brunnens in Barcelona, bei der der Hörer rund 40 Sekunden klassische Musik zu hören bekommt, aber keine Beschreibung der Lichtspiele, die man ja nicht sehen kann.

Mallorca
Eine akustische Reise zwischen Palma und Alcúdia
Hörbuch-CD mit Booklet
geophon

Insgesamt bieten die CD's eine gut dosierte Mischung aus Alltagsgeschichten, Anekdoten, historischen Fakten, kulturellen Informationen und handfesten Servicetipps. Sprechertexte wechseln sich ab mit Musik, Interviews und Alltagslärm und lassen so eine Reise im Kopf entstehen, entweder zu Hause auf dem Sofa oder im CD-Spieler des Mietwagens am Reiseziel. Ausschnitte aus literarischen Werken unterstützen auf manchen CD's die eigene Phantasie (Mallorca: Jules Verne und George Sand). Die Dauer der CD's beläuft sich i.d.R. auf ca. 70 Minuten (warum man sich bei einer Stadt wie Barcelona mit nur 51 Minuten begnügt, erschließt sich mir nicht). Die Booklets bieten neben den schon erwähnten Karten mit der Kennzeichnung der beschriebenen Orte noch die Adressen der Restaurants, Museen etc. sowie Links und Literaturtipps, manchmal auch Rezepte (Kuba und Madrid). Viele Produktionen können auch als mp3-Dateien im Internet heruntergeladen werden, z.B. unter www.soforthoeren.de oder www.claudio.de.

Die Produktionen "Barcelona", "Kuba" und "Mallorca" sind in der Reihe "fernweh" auch in der Originalsprache erhältlich, wobei die Reisen bzw. Rundgänge weitestgehend identisch mit der deutschen Ausgabe sind. Auf der Mallorca-CD werden die Texte in einem sehr gut verständlichen Spanisch präsentiert, alle Text werden im Beiheft mit einigen erklärten Vokabeln abgedruckt. Trotzdem eignet sie sich nur für Fortgeschrittene oder Sprach-Profis. Die allerdings erhalten einen authentischeren und somit schöneren Eindruck vom Reiseziel. Leider werden die fernweh-CDs ohne Sprecherwechsel produziert, was im direkten Vergleich etwas eintönig klingt.

Kuba
Eine akustische Reise zwischen Havanna und Santiago de Cuba
Hörbuch-CD mit Booklet
geophon

Fazit: Die akustischen Reiseführer sind eine tolle Ergänzung zum Printprodukt und machen Lust zu reisen. In Abwandlung des madrilener Spruchs ¡De Madrid al cielo! sage ich: ¡Con geophon al cielo!

Text: Torsten Eßer
Cover: geophon

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





[kol_3] Macht Laune: Gazpacho Krise
 
Gestern saß ich mit einem verstimmten Freund zusammen. Seit einer Woche hat er die Steuerprüfung im Haus. Zur Last gelegt wird ihm, dass er für eine Veranstaltung, die er ohne Gewerbeschein durchgeführt hat, sprich als Freiberuflicher, 3 Euro Fünfzig an Gewerbesteuer hätte zahlen müssen. So wie ich auch, arbeiten und leben mehrere Freiberufler und Studenten von den Jobs, die mein Freund vermittelt. Er füttert, vor allem in der momentanen Krisenzeit, eine ganze Reihe Leute mit durch – somit kann er als eine Art Wohltäter bezeichnet werden – selbst weit vom Reichtum entfernt. Als korrekter Selbständiger hat er einen Steuerberater. Dieser hat ihn darauf hingewiesen, dass er sich mit dieser einen Veranstaltung in einem nicht klar definierten Bereich zwischen Gewerbe und Freiberuf befindet. Dass er nun seitens der Steuerbehörde als Verbrecher behandelt wird, stört ihn, aber dass allein ein Tag der Steuerprüfung für die Steuerzahler mehr Kosten verursacht als der fällig werdende Betrag der Gewerbesteuer-Nachzahlung, macht ihn, mit dem Herz eines Schwaben ausgestattet, rasend vor Wut.

"Ich schmeiß hin", sagt er zu mir.
Mit Gazpacho Krise stimme ich ihn noch am gleichen Abend um und rette somit nicht nur mein eigenes Dasein als Selbständiger.



Ein anderer Freund versucht seit geraumer Zeit, eine Bar zu eröffnen. Seit Monaten schlägt er sich mit diversen Ämtern herum. Als neueste Auflage wird der Bau einer Wand mitten durch den 60 Quadratmeter großen Gastraum gefordert. – Gründe sind Bestandsschutz und Toiletten-EU-Richtlinien. Um ihn zu beruhigen, gab man ihm mit auf den Weg: Die Wand könne auch als mobile Trennwand eingesetzt werden!? So wartet mein Freund seit Monaten auf die Konzession, die Erlaubnis Alkohol ausschenken zu dürfen. Vier Studenten hätten bereits seit Monaten in der Bar meines Freundes jobben und ihr Studium finanzieren können.

"Ich schmeiß hin", sagt er zu mir.
Mit Gazpacho Krise stimme ich ihn um und so kämpft er weiter um die Schanklizenz.

Ungern gehe ich in Deutschland zum Friseur. Immer muss ich mich erklären: "Im Prinzip soll es so bleiben wie es ist, nur kürzer. Also Seiten und hinten kurz, oben und vorne lang." Immer bekomme ich zu hören: "Das geht nicht! Wie soll ich denn da einen vernünftigen Übergang schneiden." Jedes Mal einigen wir uns auf: "Ich versuche mal." "O.k." Jedes Mal denke ich, dass war mein letzter Friseurbesuch.



Dann warte ich auf den nächsten Aufenthalt in Venezuela und lege bis es soweit ist selber Hand an mein Haar. In Venezuela werde ich auch gefragt, wie ich es gerne hätte. Ich antworte mit den gleichen Worten wie in Deutschland. Es folgt ein 10-minütges Scherengeklapper und immer gefällts. Zurück in Deutschland vergesse ich dann jedes Mal, dass ich hier keinen Friseur mehr an mein Haar lassen wollte. Was unterscheidet denn nun so manch einen Friseur in Venezuela von so manch einem in Deutschland? Alles! Intuition, Menschenkenntnis, Liebe zu Beruf und Haar. Eine professionelle Einstellung also auf der venezolanischen Seite. Schema F auf der deutschen. Jedes Mal, wenn mit dem ersten Schnitt die Frage kommt: Waren Sie im Urlaub, Sie sind so braun? möchte ich aufspringen und wegrennen. Schema F, emotionslos und ohne Anteilnahme vorgetragen.

Schema F ist vielen Friseuren und Beamten scheinbar gemein. Auch die Bild-Zeitung schreibt es seit Monaten: Wir stecken voll fett in der Krise! Nur, es dauert halt bis auch Friseure und Beamte dies zu erkennen bereit sind. So wie meine Freunde darum kämpfen, ihren Beitrag gegen die Wirtschaftskrise zu leisen und durch unflexible Beamte in ihrem Engagement gebremst werden, so wird mir der Friseurbesuch ein ums andere Mal verleidet durch Kreativitätsverweigerung.

"Ich rasiere mir ne Glatze", sage ich dann zu mir.
Mit Gazpacho Krise stimme ich mich um, gehe zum Friseur und erzähle ihm von dem Spaß, den mir das Haarekürzen in Venezuela bereitet: "...und zu Silvester bekam ich um 10 Uhr morgens in der peloquería in den Anden Whiskey gereicht, während ich hier jedes Mal zur Aggressionsbewältigung zu Gazpacho Krise greifen muss."
"Gazpacho Krise?", hakt der Friseur nach.



Ich verrate ihm die Formel und hoffe, dass er sich nicht mit Schema F ans Nachkochen macht: "Radieschen, Senf, grüne Paprika, Natur-Joghurt, Kresse, Thunfisch, Frühlingszwiebeln und Minze in den Mixer, abschmecken, fertig.

Text: Maria Josefa Hausmeister
Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_4] Veranstaltung: Kölner Konzert für Flutopfer in Brasilien (2009)

Im Frühjahr des Jahres 2009 erlebte der Norden und Nordosten Brasilien, ohnehin eine der ärmsten Regionen des Landes, eine der schlimmsten Hochwasserkatastrophen der letzten Jahrzehnte. Ungefähr 270.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und insgesamt betroffen sind eine Million Menschen.

In Maranhão im Nordosten Brasiliens ist der Fluss Mearim während der Regenzeit erneut über die Ufer getreten. Vor allem die Menschen in Bacabal und Umgebung sind vom Hochwasser betroffen.

Während in den Vorjahren der Wasserpegel zum Ende der Regenzeit wieder sank, gab es in diesem Jahr acht Tage lang so schwere Regenfälle, dass der Wasserpegel noch einmal dramatisch angestiegen ist.

Sechs Bundes- und zahlreiche Landstraßen sind unterbrochen, so dass vor allem kleinere Kreisstädte von der Außenwelt abgeschnitten sind. Die Versorgungslage spitzt sich zu und die Ernten sind in Gefahr. Insgesamt sind dort 113.000 Personen in 39 Landkreisen vom Hochwasser betroffen. Nach offiziellen Angaben sind bisher sechs Menschen ums Leben gekommen und 25.000 Personen haben ihr Heim verloren, von denen 20.000 provisorisch in öffentlichen Gebäuden untergebracht sind.

Mittlerweile sind Hilfsaktionen von Seiten der Bundesregierung, des Technischen Hilfswerks, des Zivilschutzes und der Franziskaner-Mönche vor Ort angelaufen.

Britta Schlüter de Castro, die selbst einige Monate in Hilfsprojekten im Nordosten Brasiliens tätig war, hat in Zusammenarbeit mit der wohn-bar Köln ein Benefizkonzert zugunsten der Opfer der Flutkatastrophe organisiert. Am Donnerstag, den 9.7.2009, gibt Heleno Castro aus São Luis in Nordostbrasilien gemeinsam mit Musikerkollegen aus aller Welt im Lager der wohn-bar in Köln-Ehrenfeld ein Konzert. Der Eintritt in Höhe von sechs Euro pro Person wird zu 100 % an die notleidende Bevölkerung in Maranhão weitergeleitet. Persönliche Kontakte zum Bischof der betroffenen Region Bacabal, Dom Armando Martín Gutiérrez, Mitglied des Franziskanerordens, der sich im Juli auf einer Deutschlandreise befindet, ermöglichen die direkte Übergabe der Einnahmen und garantieren, dass jeder Euro auch an die Betroffenen geht.

Näheres zu dem Hochwasser in der Region Bacabal / Maranhão finden Sie auch unter:
www.franziskanermission.de

Benefizkonzert zugunsten der Flutkatastrophenopfer in Brasilien am 9.7.2009 um 20.00 Uhr im Lager der wohn-bar, Heliosstr. 15 (Hinterhof), 50825 Köln-Ehrenfeld: Eintritt 6 Euro

Text: Andrea Weindl
Fotos: P. Lucas Brägelmann

[druckversion ed 07/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





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