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[art_1] Brasilien: Minc, die MP 458 und ein Adeus an den Regenwald
Wie 67 Millionen Hektar staatliche Ländereien den Eigentümer wechseln
 
In der brasilianischen Regierung ist Carlos Minc eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur wegen seines wirren grauen Haarschopfes und der legeren Hippie-Kleidung inklusive Stoffweste. Minc liebt Polemiken so sehr, dass sie ihn meist an den Rand der Amtsenthebung bringen. Der 57-jährige ist seit etwas mehr als einen Jahr Brasiliens Umweltminister, Nachfolger der grünen Kämpferin Marina Silva, dem "Grünen Feigenblatt der Regierung Lula", die im Mai 2008 entnervt das Handtuch warf. 

Soja frisst Regenwand [zoom]
in Belterra bei Santarem [zoom]

Minc ist der geborene Umweltminister – was ein simpler Blick auf seinen deutschen Nachnamen verdeutlichen mag: Baumfeld! Eventuell war es dieses Detail, was ihm zuletzt den Job gerettet hatte als er Kongressabgeordnete und Vertreter der Agrarlobby als "vigaristas" (Heuchler, Betrüger) beschimpft hatte (nicht selten handelt es sich übrigens bei Abgeordneten und Lobbyisten um ein und dieselbe Person). Was war geschehen?  

Die Regierung hatte die MP 458, ein präsidiales Dekret zur Regulierung von Eigentumsrechten im Amazonasgebiet, zur Abstimmung in den Kongress eingebracht. Es sieht die Überschreibung von Besitztiteln für illegal besetztes Staatsland vor. Man schätzt, dass etwa 400.000 Ländereien im Laufe der letzten 30 Jahre illegal entstanden sind. 

Soja frisst Regenwand [zoom]
Agrargrenze im Amazonasgebiet [zoom]

Prinzipiell herrscht Konsens, dass dringend eine Regelung gefunden werden muss. Es geht um 67 Millionen Hektar, eine Fläche von der Größe Frankreichs und Italiens. Die illegale Besiedlung führt zu Brandrodungen, die Platz für Soja- und Maisanbau sowie Viehweiden schaffen und nebenbei 75% des brasilianischen Treibhausgasausstoßes verursachen – und den Regenwald Stück für Stück von der Vertikalen in die Horizontale überführen. 

Eine Legalisierung könnte die von Besetzern zu Besitzern gewandelten Bauern verpflichten, die Umweltgesetze einzuhalten, so meinen Befürworter. So darf man laut Verfassung lediglich 20% der Fläche landwirtschaftlich nutzen, die restlichen 80% müssen in ihrem ursprünglichen bewaldeten Zustand verbleiben. Was in der Praxis meist so nicht passiert, auch deshalb, weil es kaum Kontrollen oder wirklich greifende Strafen gibt. 

Intakter Urwand / Manaus [zoom]
Präsident Lula [zoom]

Die MP 458 sieht vor, dass kleine Landgüter bis 100 Hektar verschenkt werden, was selbst die Kritiker als Teil einer notwendigen Agrarreform begrüßen. Dissens erregten der symbolische Preis von mittelgroßen Flächen (100 bis 400 Hektar), sowie die niedrigen Preise für Flächen zwischen 400 und 1500 Hektar. Noch größere Ländereien werden versteigert. 

Der Kongress öffnete diese Auktionen für Nichtanwohner der Region und Unternehmen. Zudem wurde die ursprüngliche Weiterverkaufs-Sperrfrist von 10 auf 3 Jahre verkürzt, was Landspekulanten belohne, so die Kritiker, und Umweltminister Carlos Baumfeld dazu veranlasste, laut "vigaristas" zu rufen. Woraufhin ihn die Senatorin Katia Abreu, gleichzeitig Vorsitzende des Bauernverbandes, als "Öko-Schiiten" abkanzelte und seinen Kopf forderte. 

Präsident Lula [zoom]
Präsident Lula [zoom]

Präsident Lula rügte den wirschen Umweltminister, der sich daraufhin öffentlich für sein Verhalten entschuldigte und so wohl seinen grau behaarten Struwelkopf gerade noch einmal aus der Schlinge zog. Für Lula war der Streit lediglich "Kindergezoff". Minc sei jemand, so der Präsident, der nachts den Kühlschrank aufmache und daraufhin am nächsten Morgen eine Pressekonferenz einberufe, auf der er verkünde, das "Licht" gesehen zu haben. 

Ende Juni unterzeichnete Präsident Lula die MP 458. Den Zusatz, dass Nicht-Anwohner der Region und Unternehmen an den Landversteigerungen teilnehmen und damit Land zugeteilt bekommen können, strich er aus der MP wieder heraus. Den Rufen nach einer vollständigen Ablehnung des Dekrets folgte er jedoch nicht. Dabei hatte es selbst in der katholischen Kirche Widerstand gegen die Neuregelung der Eigentumsverhältnisse am Amazonas gegeben. 

"Die offizielle Politik des Landes unterwirft sich dem gnadenlosen Spruch des kapitalistischen Systems und unterstützt und fördert offen das Agro-Business", so die Landpastorale CPT in einem offenen Brief. Seit Jahren kämpfe man für die Begrenzung von Landbesitz. Doch "die Konzentration wächst, während tausende Familien immer noch an Straßenrändern campieren und auf Landzuteilungen warten, die ihnen Würde und Bürgerrechte gäbe." Präsident Lula würde statt der versprochenen Agrarreform nun den Raub von Staatseigentum legalisieren. 

Soja-Farm / Alta Floresta [zoom]
Bundesstaat Mato Grosso [zoom]

Und auf den Webseiten der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB sowie des Indigenen-Missionsrat CIMI kritisierte die ehemalige Umweltministerin Marina Silva, dass den Großgrundbesitzern 49 Millionen Hektar staatliches Land übergeben würden. Die räuberische Landverschiebung werde erleichtert und die gegen die Landspekulanten und Umweltsünder gerichtete Arbeit der Staatsanwaltschaft zunichte gemacht. "Was hier verändert wird, ist das Gerüst der brasilianischen Umweltgesetzgebung", warnte Silva.

Auch Fernando Prioste von der Landrechts-NGO "Terra de Direitos" ist mit dem Ausgang nicht zufrieden. "In Wirklichkeit stellt die MP 458 keine Neuregelung von Besitzverhältnissen am Amazonas dar, sondern legalisiert über Jahre hinweg verübtes Unrecht." Prioste kritisiert besonders die Eile, mit der die MP durchgeboxt wurde. "Eine für die Amazonasregion und seine Einwohner derart wichtige Frage hätte durch ein "normales" Gesetz geregelt werden müssen, mit Diskussionen aller Beteiligten, öffentlichen Anhörungen etc. Aber nicht per Dekret."

Soja-Farm / Santarem [zoom]
Soja umschließt Urwand / Santarem [zoom]

Für ihn liegt eine besondere Brisanz der MP in der Nichtberücksichtigung der Quilombos, Gebieten auf denen Nachkommen afrikanischer Sklaven siedeln. Genau wie den Indios steht ihnen ihr Siedlungsgebiet laut Verfassung zu. In der ursprünglich von der Regierung an den Kongress weitergereichten Fassung der MP 458 wurde deshalb illegal besetztes Quilombo-Land von der Legalisierung ausgeschlossen, genau wie illegal besetztes Indio-Land. Doch in der endgültigen Fassung fehlt dieser Zusatz. "Wer Quliombo-Land gestohlen und die Bewohner vertrieben hat, bekommt das Land nun rechtmäßig überschrieben. Das wird in Zukunft noch zu vielen Konflikten führen", so Fernando.

Sojafeld / Santarem [zoom]
Sojatransport / Santarem [zoom]

Unweigerlich fühlt man sich an ein anderes Kapitel der brasilianischen Agrargeschichte erinnert: die Legalisierung von Gen-Soja. Zwar wurde deren Anpflanzung per Gerichtsurteil 1998 verboten. Doch über die argentinische Grenze hielt Gen-Soja dann doch Einzug auf den Feldern Süd- und Zentralbrasiliens. Aufgrund fehlender Kontrollen und der Unwirksamkeit von Strafen kapitulierte man schließlich vor der Realität: ein präsidiales Dekret gab 2003 die Gen-Soja-Pflanzungen frei. 

Es scheint, als ob sich das Prinzip der "illegal geschaffenen Tatsachen" in beiden Fällen ausgezahlt hätte.

Text + Fotos: Thomas Milz

Link:
Carlos Minc, auch auf mit dem Tanzbein eine Ausnahmeerscheinung (youtube)

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