spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Dreißigstes (letztes) Kapitel: Pilger für immer? BERTHOLD VOLBERG |
[art. 1] | druckversion: [gesamte ausgabe] |
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bolivien: Höhenforschung in den Anden
KATHARINA NICKOLEIT |
[art. 2] | ||
brasilien: Extrabreit in Rio
Tote mit bis zu 500 Kilogramm Körpergewicht THOMAS MILZ |
[art. 3] | ||
argentinien: Der Traum
ANDREAS DAUERER |
[art. 4] | ||
traubiges: Ode an die Biodynamik
Laderas de Montejurra 'Emilio Valerio' Navarra 2012 LARS BORCHERT |
[kol_1] | ||
erlesen: Von Myotragus zu Metellus.
Eine Reise in die Ur- und Frühgeschichte von Mallorca und Menorca |
[kol. 2] | ||
hopfiges: Cerveza Pacífico Clara (Mexiko)
DIRK KLAIBER |
[kol. 3] | ||
lauschrausch: Carminho
Canto TORSTEN EßER |
[kol. 4] |
[art_1] Spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana Etappen [29] [28] [27] [26] [25] [24] [23] [22] [21] [20] [19] [18] [17] [16] [15] [14] [13] [12] [11] [10] [9] [8] [7] [6] [5] [4] [3] [2] [1] Dreißigstes (letztes) Kapitel: Pilger für immer? 02.Juli 2013. Nach dem traurigen Triumph gestern am Tag der herbeigesehnten und doch gefürchteten Ankunft lassen wir uns heute treiben durch die Stadt aus Granit. Eigentlich wollten wir heute früh, am letzten Tag vor der Heimreise, zum Kap Finisterre ans Ende der Welt, wo die Pilger des Mittelalters auf die düsteren Wellenberge des Atlantiks starrten und glaubten, hinter dem Horizont in ein gnadenlos schwarzes Universum zu stürzen. Doch nachdem wir gestern Abend die Wetterprognosen gesehen hatten, die für die Atlantikküste ergiebigen Regen und Sturm, für die Stadt Santiago aber ein eher heiteres Panorama und 25° Grad voraussagten, ließen wir diesen Plan fallen. Meine Begleiterin Cayetana stellte widerspruchslos fest: "Es reicht jetzt!" Und sie zählte stolz nochmals die Daten unseres langen Pilgermarsches auf: "tausend" Kilometer (sie übertreibt wie immer, es waren nur 878), fünf Gebirgszüge und 28 Flüsse (OK, es waren auch kleine dabei).
Jetzt liegen wir, den Kopf auf unseren Rucksack gebettet, mitten auf der von Menschen übervölkerten Plaza de Obradoiro, lauschen der meditativen Dudelsack-Musik und starren die steile Doppelturmfassade der Kathedrale empor. "Wieso können wir nicht für immer Pilger sein?", fragt mich Cayetana plötzlich. Ich bin eine Minute sprachlos vor Überraschung, bevor ich antworte: "Aber wie stellst Du Dir das vor - sollen wir so leben wie Maggie und als Vagabunden das ganze Jahr über alle Pilgerwege abklappern, um uns dann im Winter irgendwo bei Freunden einzuquartieren bis man uns am ersten Frühlingstag rauswirft?" Sie schaut mich an, dann wieder auf die Himmelstreppe, zieht sich ihre Baseball-Mütze halb übers Gesicht, verschränkt die Arme und schmollt. "Dann eben nicht!" Offenbar hatte sie sich mehr moralische Unterstützung für ihren gewagten Vorschlag erhofft. Nur sie selbst weiß, ob es ihr wirklich ernst war mit dieser Idee. Schweigend liegen wir nebeneinander auf dem Pilgerplatz und blicken in die schnell gleitenden Wolkenschatten am Himmel.
Links der Mond- und rechts der Sonnenaltar, im Zentrum das zerklüftete und Schwindel erregende Figurengetümmel des Hauptaltars mit seinen wunderschönen Engeln.
Das besondere in der Kirche San Martín Pinario ist, dass dieser riesige Altar nicht wie so viele andere nur abgesperrt aus der Ferne zu betrachten ist, sondern wir dürfen mitten in dieses vergoldete Altargebirge mit seinen himmelsstürmenden Heiligenskulpturen hinein klettern! Am Eingang zum Altar steht der von einem durch ein Fenster fallenden Sonnen-Spot angestrahlte Erzengel Gabriel und lächelt den Pilgern entgegen, scheint Glück und Frieden zu versprechen. Wir verlieren uns in diesem Wunderwerk von unzähligen golden leuchtenden Figuren, steigen immer höher bis wir von hoch oben das ganze Kirchenschiff überblicken können und uns umringt von Engeln und nah der lichtdurchfluteten Kuppel schon fast im Himmel wähnen. Diese ganze Kirche ist großes Barock-Theater und der gigantische Altar die Bühne für all die Engel und Heiligenstatuen. Cayetana lässt ihren Blick ringsumher über die goldenen Lichtreflexe wandern und meint: "Sieht aus, als ob wir im Paradies angekommen wären inmitten so vieler Engel... Jetzt nachdem wir den Pilgerweg geschafft haben, kommen wir doch nach dem Tod auf jeden Fall ins Paradies - oder?"
Ich blicke in ihre fragenden Augen und will sie nicht enttäuschen, bin mir aber nicht mehr so sicher: "Naja, das hoffen wir natürlich. Aber vielleicht ist Gott - und damit das Leben nach dem Tod - nur die schönste Illusion, die Menschen je erfunden haben...?" Sie wirkt etwas erschrocken nach meiner unerwarteten Antwort, die eine Frage ist, doch irgendwie spüre ich, dass ihr selbst dieser Gedanke auch schon gekommen ist. Ihr Blick verliert sich in der Kirchenkuppel und nach einer Minute des Schweigens erwidert sie ungewohnt leise: "Ist ja auch egal, jedenfalls haben wir es geschafft und stehen jetzt hier..."
In dieser Nacht vor der Rückkehr träumt Cayetana, dass sie wieder die Himmelstreppe zur Kathedrale empor steigt und ein Engel ihr lächelnd das Portal öffnet - ganz weit. Im Innern des Tempels sind zwischen den Säulen Tausende von Menschen versammelt - und unter waberndem Weihrauchnebel tanzen sie in der Kathedrale! An diesen Traum wird sie sich ein Leben lang erinnern. Text und Fotos: Berthold Volberg Tipps und Links: Letzte Etappe von Arca do Pino bis zur Kathedrale von Santiago: 20 Kilometer www.santiagoturismo.com www.peregrinossantiago.es Nochmals Dank für Unterstützung und lebenswichtige Informationen an: Freundeskreis der Jakobuspilger - Hermandad Santiago e.V., Paderborn www.jakobusfreunde-paderborn.eu Cordula Rabe: "Spanischer Jakobsweg", Reihe "Rother Wanderführer", München 2011 Übernachtung in Santiago: Hotel Compostela, C. Hórreo 1, Tel. 981-585700, zentral am östlichen Rand der Altstadt gelegenes 4*-Hotel mit komfortablen Zimmern ab 75 Euro. www.hotelcompostela.es/de/ Verpflegung in Santiago: Restaurant „Casa Paredes“, Calle Carretas 1 / Ecke Rúa das Hortas, Tel. 981-557102, Spezialität Lammgerichte Kirchen: Kathedrale von Santiago de Compostela: eine der größten und bedeutendsten romanischen Kirchen Europas, zu Recht berühmt das Hauptportal „Portico de la Gloria“ mit Apostelskulpturen des Meisters Mateo (1160 1188). Ein Kuriosum: Der romanische Bau ist fast komplett barock ummantelt, so dass man das romanische Portal hinter der bombastischen barocken Doppelturmfassade (1750) von außen gar nicht sieht. Diese barocke „Verpackung“ hat sicher auch dazu beigetragen, dass die über 800 Jahre alten Romanik-Skulpturen trotz des Dauerregens in Galizien so erstaunlich gut erhalten sind. Während der Barock außen grandios wirkt, sind die barocken Einfügungen im Innern des romanischen Tempels eher störend: der kolossale Hauptaltar wirkt hier unpassend und erreicht auch nicht die Qualität der genialen Barockaltäre des Klosters San Martín Pinario (s.u.). Empfehlenswert die Führung über die Dächer der Kathedrale (12 Euro) www.catedraldesantiago.es Geöffnet: Kathedrale 7 20 Uhr (Juni-Sept. bis 21 Uhr); Kathedralmuseum: Mo. Sa. 10 13.30 und 16 18.30 (Juni-Sept. bis 20 Uhr), So. 10 14 Uhr. Eintritt 6 Euro Kloster San Martín Pinario: das riesige Barockkloster hat die sehenswerteste Kirche von Santiago, die zusammen mit angrenzenden Museumssälen besichtigt werden kann. Geöffnet: Di. So. 11 13.30 Uhr und 16 bis 18.30 Uhr (Sommer bis 19 Uhr). Eintritt: 2,50 Euro. Im Hauptschiff der Kirche drei gigantische, vergoldete Barockaltäre (rechts Sonnen-, links Mondaltar, der Hauptaltar des Barockmeisters Casas y Novoa ist wie ein Gebirge aus Statuen, Engeln, Baldachinen), im Obergeschoss das Renaissance-Chorgestühl, das aus der Kathedrale von Santiago stammt. www.museosanmartinpinario.com www.santiagoturismo.com/monumentos/mosteiro-e-igrexa-de-san-martino-pinario Romanische Kirche Santa María la Real de Sar (frühes 12. Jahrhundert): gilt als älteste Kirche Santiagos, etwas außerhalb in einem südöstlichen Vorort. Bemerkenswert die dramatisch schiefen Säulen und Wände. Schöne Madonnenstatue im Chor. Romanischer Kreuzgang und kleines Museum. Geöffnet: Mo. Sa. 10 13 Uhr und 16 19 Uhr, So. nur 10 13 Uhr. Eintritt: 1 Euro. Renaissance-Kirche San Francisco aus dem 16. Jahrhundert (erneuert im 18. Jahrhundert) mit monumentaler Doppelturm-Fassade und großer Franziskus-Statue mit Jesuskind zwischen vier Säulen. Innen klassizistischer Hauptaltar und links vom Hauptaltar in einer Vitrine ein entzückend realistisches Jesuskind. Geöffnet: nur kurz vor und nach den Messen, Eintritt frei. [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien] |
[art_2] Bolivien: Höhenforschung in den Anden Normalerweise leben die Reichen einer Stadt in der Höhe, wo man eine gute Aussicht hat und ein frischer Wind weht. In la Paz, der Hauptstadt Boliviens ist das anders. Dort sind die teuersten Grundstücke die, die tief liegen. Tief ist relativ, das sind immer noch 3.200 Meter über Meeresniveau. Die Höhe birgt eine ganze Reihe gesundheitlicher Risiken, über die bislang wenig bekannt ist. Katharina Nickoleit hat das Höhenforschungsinstitut in La Paz besucht. Neu angekommene Besucher erkennt man in La Paz sofort: Sie schnappen heftig nach Luft, wenn sie die steilen Straßen hinauf gehen. Das Zentrum der bolivianischen Hauptstadt liegt auf 3600 Metern Höhe und an die dünne Luft muss sich der Körper erst einmal gewöhnen. Aber auch Einwohner, die in der Höhe geboren wurden, können Probleme bekommen. "Unter den Menschen, die hier geboren wurden, findet sich eine Krankheit, die wir als „Chronische Nichtgewöhnung an die Höhe“ bezeichnen. Auch bekannt unter dem Begriff Hyperglobulie, also die erhöhte Anzahl der roten Blutkörperchen, die zu Chronischen Herzgefäßerkrankungen führt. Zehn Prozent der erwachsenen Männer leiden darunter", beschreibt Mercedes Villena, die Direktorin des bolivianischen Höheninstituts IBBA, ein nationales Gesundheitsproblem. In der kleinen und sehr einfach gehaltenen Forschungseinrichtung werden seit 1963 diverse Krankheiten und ihr Zusammenhang mit dem Leben in der Höhe erforscht. So zum Beispiel auch die Frage: Welche Rolle spielt bei Herzkrankheiten etwa der Aufenthaltsort der Mutter während der Schwangerschaft? Um darauf eine Antwort zu finden, brachte Doktor Carlos Salinas befruchtete Hühnereier vom Tiefland in die Höhe. An der Wand hängt eine Tafel mit seine Studienergebnisse: Fotos, auf denen die Hauptschlagadern verschiedener Küken zu sehen sind. "Hier sehen sie den normalen Durchmesser der Aorta bei einem Küken, das in der Höhe geboren wurden. Dieses Bild dagegen zeigt die Aorta eines Kükens zur Welt gekommen auf Meeresniveau. Die Aorta aus der Höhe hat einen wesentlichen größeren Durchmesser als die aus dem Tiefland", erklärt Carlos Salinas. Beide Bilder zeigen kreisrunde Blutgefäße, das aus der Höhe ist mindestens doppelt so breit wie das aus der Tiefe. Auf einem dritten Foto ist ein ovales, fast schon flaches Gebilde zu sehen: Die Aorta eines Kükens, das während der Inkubationszeit aus dem Tiefland nach La Paz gebracht wurde. "Wenn ein Embryo aus dem Tiefland in die Höhe gebracht wird, verläuft das Wachstum sehr unregelmäßig. Ein Mensch mit so einer Aorta würde mit hoher Wahrscheinlichkeit Herzprobleme bekommen." Ein weiterer Befund seiner über neun Jahre andauernden Studie ist, dass aus Eiern, die in die Höhe gebracht wurden, kleine und schwache Küken schlüpften. Kamen die Eier hingegen aus La Paz ins Tiefland, entwickelten sich die Küken besonders gut. Daraus leitet Carlos Salinas eine klare Empfehlung an alle Frauen ab: "Wenn Du auf Meeresniveau schwanger wirst, dann bleibst du, wo du bist. Wirst du allerdings in der Höhe schwanger, ist es vorteilhaft, sich während der Schwangerschaft eher auf Meeresniveau aufzuhalten," so Salinas. Wenig ist auch darüber bekannt, welche Faktoren dazu führen, dass Menschen, die in der Höhe geboren wurden, mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Frage betrifft rund 250 Millionen Menschen, die weltweit auf einer Höhe von mehr als 3.000 Metern leben. Deshalb ist das Höhenforschungsinstitut auch für Forscher aus Europa und den USA interessant. Für diese sind La Paz und seine Bevölkerung so etwas wie ein natürliches Labor. "Dort wo sie herkommen, können sie einen so niedrigen Sauerstoffgehalt im Blut, wie wir ihn hier haben, gar nicht beobachten." Mercedes Villena ist erkennbar stolz auf die außergewöhnlichen Forschungsbedingungen, die sie Wissenschaftlern aus aller Welt bieten kann. Trotz der Bescheidenheit ihres kleinen Institutes. Text: Katharina Nickoleit Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter: www.katharina-nickoleit.de [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien] |
[art_3] Brasilien: Extrabreit in Rio Tote mit bis zu 500 Kilogramm Körpergewicht Beleibte wohin man blickt. Die Zahl übergewichtiger Brasilianer ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Nun reagiert aber nicht etwa das Gesundheitsministerium, sondern ein Friedhof in Rio de Janeiro. Die Gräber dort halten ab sofort Tote mit bis zu 500 Kilogramm Körpergewicht aus. Vom „Cemitério da Penitência” im Stadtteil Caju aus kann man den Zuckerhut sehen, wenn auch gerade noch so, und auch die Cristo-Figur auf dem Corcovado-Berg erkennt man vage am fernen Horizont. Davor verläuft eine Schnellstraße, die das Zentrum mit der nach Niterói führenden Brücke verbindet. Bei dem ständigen Verkehrslärm fragt man sich, wie man hier wohl seine letzte Ruhe finden kann. In der Nähe des Eingangs sind Arbeiter damit beschäftigt, zwei Reihen frisch gemauerter Gruften mit Granitplatten zu verkleiden. Hier sollen demnächst richtige Schwergewichtler ruhen. Bis maximal 500 Kilogramm schwere Tote würden die Spezialgräber aushalten, berichtet der Friedhofsmanager. Breiter, länger und stabiler als normale Standardgruften seien sie, so die Erklärung.
Friedhofsbranche müsse da reagieren. Bisher gäbe es für schwergewichtige Leichen weder Gräber noch Särge, weshalb XL-Personen immer noch direkt in der Erde beerdigt würden. „In Rio ist das immer noch zulässig.“ Nur: Umsonst ist der Tod das XL-Grab allerdings nicht. 75.000 R$, rund €20.000 kosten die permanenten Grabstätten, 20.000 R$ mehr als üblich. Dafür aber ist Ratenzahlung möglich. Na dann! Text und Fotos: Thomas Milz [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]
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[art_4] Argentinien: Der Traum Vorbei! Der Mann ist aufgewacht und blinzelt mit kleinen Augen gegen die Sonne. Es ist ein lauer Tag in Buenos Aires und die Stadt atmet spürbar durch. Die letzten Wochen waren unerträglich. Überall Hitze, Schweiß, unangenehmer Geruch und man beklagte sogar ein paar Tote aufgrund des akuten Wassermangels. Dabei handelte es sich natürlich nicht um wichtige Leute. Laut landläufiger Meinung herrscht in Argentinien kein Wassermangel und das ist auch bis zu einem gewissen Grad richtig, denn der patagonische Süden besitzt eine Menge Wasser, nur funktioniert die Umverteilung - wie in so manch anderem lateinamerikanischen Land - schlichtweg nicht. Dies allerdings tut für die vorliegende Geschichte nichts zur Sache, auch wenn sie von Hitze handeln wird. Der Mann also, ein wenig bleich vielleicht, erhebt sich langsam und bahnt sich einen Weg durch die Menschenmenge, die ihn umgibt. Überall sind Menschen. Sie laufen, rufen, schreien und weinen. Auch Krankenwagen und Polizei sind vor Ort und ergänzen das Bild. Santiago Bustos tritt nach etwa fünf ihm endlos erscheinenden Minuten durch die Menge an den Zaun. Gerade noch rechtzeitig, um niemanden in der Menge mit seinem Erbrochenen.... Aber es wird nur eine kurze Erleichterung sein und schließlich kommen all die Bilder in seinem Kopf wieder hoch und er übergibt sich ein weiteres Mal. Ihm ist so übel, wie nie zuvor in seinem Leben. Rauch war da, schreiende Menschen, Musik, Lärm, Angst und Zorn, das die Nacht durchdringende Heulen der Sirenen... Und immer wieder die verweinten Augen, die verrußten Gesichter. Es ging alles viel zu schnell. "Plötzlich umgab uns dieser dunkle Vorhang, der uns das Atmen schwer machte und wie eine Horde Ratten versuchten wir ins Freie zu kommen." Santiago war dabei hingefallen und nun bemerkte er auch den Schmerz in seinem Rücken, weil viele, wenn nicht alle, die von hinten nachdrängten über ihn hinweg trampelten. Ohne Rücksicht, in panischer Angst. Nun ist es vorbei. Beinahe wenigstens, denn die Wunden klaffen auf, es schmerzt und es fehlen die Worte. Zumindest Santiago kann nichts mehr sagen. Hier und heute. Er hatte noch versucht, den jungen Mann zu finden, der ihm offensichtlich hochgeholfen hatte, als er wie von Kugeln niedergestreckt unter der Menschenmenge lag. Einen kurzen Augenblick nur konnte er sein Gesicht sehen. Wahrscheinlich, das wurde ihm jetzt mehr denn je bewusst, hatte er ihn nicht nur vor weiteren Fußtritten, sondern auch vor dem dichten, dunklen Rauch bewahrt. Ein schwarzer Tod. Alle hätten ihm entkommen können. Ja, können, wenn nicht müssen! Aber nichts dergleichen geschah! Santiago weint. Nie zuvor hatte er weinen müssen. Nicht einmal beim Tode seiner Großmutter. Heute ist einer dieser Tage, an denen sich Leben ändern, Werte sich zu verschieben beginnen, wo alles der Wirklichkeit weichen muss. "Einer von ihnen hätte ich sein können. Einer von ihnen." Sekunden entscheiden über Liebe, über Leben, über Tod, über Endlichkeit. Verlust. Kann man würdig sterben? Oder: darf man unwürdig diese Welt verlassen? Diese Welt, in die wir alle geworfen werden, ohne dass wir jemals danach gefragt wurden. Mit der wir umgehen, in der wir uns bewegen. Wir finden nichts und suchen alles. Der Weg gabelt sich und dennoch ist es das Labyrinth, aus dem wir nicht herauskommen. Gestern Nacht war dieser Irrweg zum Greifen nahe und Minotaurus wartete auf viele von ihnen, um sie endlich, Opfern gleich, zu zerreißen. "Die Körper säumen die Straße, es stinkt, es setzt mir zu. Ich übergebe mich, aber es ist nichts mehr in meinem Bauch. Ich bin leer. Der Kopf, der Körper, alles fällt von mir ab. Ein Gefühl der Taubheit macht sich breit." Benommen wankt Santiago am Zaun entlang, aber findet keinen Ausweg. Heute nicht und morgen nicht. Text: Andreas Dauerer Die Nacht vom 29. auf den 30. Dezember vergangenen Jahres wird in der Hauptstadt Buenos Aires niemand so schnell vergessen. Im Barrio Once spielt die Rockband Callejeros. An sich nichts Ungewöhnliches, allerdings bricht während des Konzerts ein Feuer aus. Durch einen Feuerwerkskörper gerät die Decke in Brand und plötzlich finden sich alle inmitten dichten Rauches wieder. Panik bricht aus. Die Notausgänge sind verschlossen. Wohl aus Angst, dass jemand das Konzert besuchen könnte, ohne dafür zu bezahlen. 192 Menschenleben fordert diese Nacht im Boliche República Cromagnon. Bis zum heutigen Tage hat kein Nachtclub in Buenos Aires geöffnet. Die Verhandlungen, wer für das Blockieren der Notausgänge zuständig war, dauern noch immer an.
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[kol_1] Traubiges: Ode an die Biodynamik
Laderas de Montejurra 'Emilio Valerio' Navarra 2012 Biodynamischer Anbau bedeutet im Weinbau vor allem eines: Der Weinberg wird als lebendiger Organismus verstanden und so gepflegt, dass er sich selbst erhält. So kommen ausschließlich biodynamische Pflanzenstärkungsmittel sowie Kompost-Präparate zu ganz bestimmten Zeiten zum Einsatz. Die Produzenten setzen lediglich in bestimmten Mengen die sogenannte „Bordeaux-Brühe“ (Kupfer) und Schwefel ein, um den Echten und Falschen Mehltau zu bekämpfen. Konventionelle Agrochemikalien und Düngemittel sind nicht erlaubt. Viele Menschen bezweifeln, dass diese Art Weinbau funktionieren kann und behaupten, dass Wein, den man sich selbst überlässt, automatisch zu Essig wird. Dass dies ein Vorurteil ist, beweisen die vielen großartigen Gewächse, die es mittlerweile gibt. Eines der Weingüter, das zu einem echten Experten im biodynamischen Weinbau geworden ist, ist „Laderas de Montejurra“ in Dicastillo im ehemaligen Königreich Navarra. Das kreisförmige Gebäude der Bodega wurde vor sieben Jahren erbaut und befindet sich inmitten von 25 Hektar Weinbergen, die an den Hängen des Montejurra liegen. Dabei handelt es sich um ein Massiv, das vor allem durch Sand- und Kalkstein geprägt ist. Die Winde Navarras sind etwas rauer und salzhaltiger als im Rest des Landes und die Parzellen der Bodega, die aufgrund des Bodens und ihrer Ausrichtung alle etwas anders beschaffen sind, befinden sich rund 400 bis knapp 700 Meter über dem Meeresspiegel. Auch der Niederschlag variiert hier stark; gemessen wurden in den vergangenen Jahren zwischen 200 und 1.000 Liter pro Quadratmeter pro Jahr. Aufgrund dieser Herausforderungen hat sich lange Zeit niemand getraut, Weinbau zu betreiben bis die Eigentümerfamilien von Laderas de Montejurra in den 1980er Jahren damit begannen, dieses Terroir zu kultivieren. Ihnen ist es gelungen, die Vielfalt der Böden und Höhen sowie die besonderen geologischen und klimatischen Gegebenheiten für die biodynamische Herstellung ihrer charakterstarken Weine zu nutzen. Dabei bestand die erste große Herausforderung darin herauszufinden, welche Rebsorten am besten zu den jeweiligen Parzellen passen. Im Weinkeller wird der Wein jeder Parzelle separat in Holzfass, Stahltank oder Beton ausgebaut. Auch der Emilio Valerio 2012 ist ein biodynamisch erzeugter Wein, der die Leidenschaft der Winzer und ihren Respekt vor der Natur vereint. Vier Rebsorten hat die Bodega in diesem Wein assembliert: Cabernet Sauvignon, Merlot, Graciano und Garnacha. Schon seine Farbe demonstriert die Kraft dieses Weins: Kirschrot fließt er ins Glas. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich violette Reflexe. Intensive Aromen von Waldbeeren, Sauerkirsche und Cassis steigen in die Nase, begleitet von üppigen Thymian-, Rosmarin und Salbeinoten. Am Gaumen dominieren ebenfalls Sauerkirsche und Cassis, ergänzt von einer feinen Mineralität und einer belebenden Säure. Auch im Nachhall demonstriert dieser Wein seine Kraft: langanhaltend, aromatisch, leicht würzig und mit erfrischenden Fruchtnoten verabschiedet er sich. Von Essig keine Spur. Text: Lars Borchert Über den Autor: Lars Borchert ist Journalist und schreibt seit einigen Jahren über Weine aus Ländern und Anbauregionen, die in Deutschland weitestgehend unbekannt sind. Diese Nische würdigt er mit seinem Webjournal wein-vagabund.net. Auf caiman.de berichtet er jeden Monat über unbekannte Weine aus der Iberischen Halbinsel und Lateinamerika. [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: traubiges] |
[kol_2] Erlesen: Von Myotragus zu Metellus. Eine Reise in die Ur- und Frühgeschichte von Mallorca und Menorca Während die Strände und landschaftlichen Höhepunkte im Landesinneren von Mallorca und ihrer Nachbarinseln vielen Urlaubern bestens bekannt sind, befassen sich die wenigsten mit der Kultur und Geschichte der Balearen, obwohl archäologische Grabungen viele neue Einsichten in die frühgeschichtliche Kultur der ersten Siedler eröffnet haben.
Woher kamen die ersten Einwanderer? Traf der Mensch tatsächlich erst vor 9000 Jahren auf den Balearen ein? Was hat es mit dem ausgestorbenen Myotragus auf sich? Was sind Talayots und wozu dienten sie? Foto: Grab-Naveta von Es Tudons (Ciutadella, Menorca) Mark Van Strydonck nimmt den Leser in Von Myotragus zu Metellus mit auf eine Reise durch die Kultur und Frühgeschichte der Balearen und befasst sich dabei mit solchen und vielen weiteren spannenden Fragen. Neben der Kolonisation des Archipels und seiner typischen prähistorischen Kulturen führt Van Strydonck in die Tierwelt, das Klima sowie die Geografie der Inseln ein. Chronologisch bewegt er sich von der Kupfer- über die Bronzezeit bis hin zur Eroberung der Inselgruppe durch die Römer. Foto: Die Nekropole von Son Real (Mallorca) Zahlreiche Fotos, Grafiken und Landkarten veranschaulichen die Ausführungen. Daher ist das Buch nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht interessant, sondern eignet sich auch als Reisebegleiter für all jene, die die Balearen abseits des Strandes erkunden wollen. Erhältlich im Buchhandel oder bei www.librumstore.com Foto: Das römische Pollentia (Mallorca) Der Autor Mark Van Strydonck ist Leiter des Radiokarbon-Labors am Royal Institute of Cultural Heritage in Brüssel (Belgien). Während 25 Jahren arbeitete er mit bekannten spanischen, amerikanischen und englischen Forschungsinstituten zur archäologischen Erforschung der Balearen zusammen und ist zu einem der besten Kenner von Geschichte und Kultur Mallorcas und Menorcas geworden. Fotos: Mark Van Strydonck [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen] |
[kol_3] Hopfiges: Clara Cerveza del Pacífico (Mexiko) Clara und Maria Josefa sind Kita-Kolleginnen. Diese Woche ist Claras Opa, Don Cervecita, aus der Hafenstadt Mazatlán am Pazifik zu Besuch in Berlin. Clara und Maria Josefa haben sich für heute verabredet. Don Cervecíta ist mit von der Partie. Naheliegend also, dass ich Don Cervecita erst einmal eine Clara Cerveza del Pacífico offerieren werde. Doch zuvor möchte ich das Bier testen. Der Kronenkorken ist das visuelle Highlight: Die lila-blau-farbene Schrift spielt in der Sonne mit dem gelben Hintergrund und lockt den Öffner. Plopp! Ein erstes Schnuppern ist zunächst verblüffend neutral, dann muffig-zitronig. Der erste Schluck aus der Flasche lässt jegliche Tiefe vermissen. Der muffigen schließt sich eine leicht schweflige Geschmacksnote an. Als Praktikant in der Cervezería Gallo in Guatemala hatte ich vor vielen Jahren gelernt, dass fast alle mexikanische Biere zu einem hohen Prozentsatz aus Chemie bestehen… Ich will also gar nicht wissen, welcher Zusatz die Schaumbildung verhindert, als ich das klare Getränk ins Glas eingieße. Ich schnuppere noch einmal und stelle das Bier zur Seite. Eigentlich geht das so auch nicht. Mexikanische Getränke und vor allem die Biere leben vom Ambiente, vom Meeresrauschen, den Mariachis und den dazu gereichten Leckereien wie der Erdnuss-Knoblauch-Röstung oder halt nur von Salz und Limetten. Im Regal finde ich ein paar Erdnüsse aus dem letzten Spanien-Urlaub. Geröstet in der Schäle und mit einem dicken weißen Salzmantel überzogen. Zum Nachmittags-Bier unschlagbar. Auf youtube entdecke ich auf die Schnelle ein ebenfalls außerhalb Mexikos aufgezeichnetes Mariachi-Video der inoffiziellen, mexikanischen Nationalhymne El Rey. Und trotzdem, obwohl meine Hüften wie von Geisterhand in Bewegung geraten und Tränen der Ergriffenheit kullern: Es schmeckt immer noch nicht. Da hilft nur eins: Etiketten lösen und auf gemochtes hiesiges Bier kleben. Es wirkt: Stunden später, Claras Mutter hat schon drei Mal angerufen und gefragt, wo die beiden bleiben, liegen Don Cervecita und ich uns von unzähligen unklaren Claras gezeichnet in den Armen und singen aus Leibeskräften: Llorar y llorar... Bewertung Clara
Text + Fotos: Dirk Klaiber [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: hopfiges] |
[kol_4] Lauschrausch: Carminho
Canto Das neue Album “Canto” der Sängerin Carminho (Maria do Carmo de Carvalho) ist nun auch in Deutschland erhältlich - nachdem es erwartungsgemäß in Portugal wieder Verkaufsrekorde erzielt hat. Carminho, eine der Erneuerinnen des Fado, eröffnet ganz klassisch mit einem tieftraurigen fado menor („A ponte“), um dann mit „Saia Rodada“ sofort ein fröhliches Lied folgen zu lassen, geschrieben u.a. von ihrem Produzenten Diogo Clemente, der auf dem Album auch die viola spielt. Und so wird klar, dass die Reise nicht ausschließlich im klassischen Fado weiter geht. Mit „Ventura“ folgt zwar wieder ein trauriges Stück, aber hier beginnt auch die musikalische Zusammenarbeit mit brasilianischen Künstlern, die sich durch „Canto“ zieht. Nach Carminhos Erfolgen mit ihrem Vorgängeralbum in Brasilien, feiert die 29jährige nun die lusophonia. und setzt brasilianische Akzente: in „Ventura“ steuert das Cello von Jaques Morelenbaum aus Rio die Melancholie bei (besonders schön zu hören in der Akustikversion am Ende des Albums); die Ballade „Chuva no mar“ (Regen auf dem Meer) singt Carminho gemeinsam mit Brasiliens Superstar Marisa Monte, die das Stück zusammen mit Arnaldo Antunes geschrieben hat, in dem es um diejenigen Veränderungen im Leben geht, die uns formen, die wir aber nicht bewusst steuern können: Das Meer sieht nach einem Regenguss genau so aus wie zuvor, aber es enthält nun mehr Wasser! Caetano Veloso hat Carminho den Text für „O sol eu e tu“ geschrieben, eine Hymne an die Sonne. Und der Perkussionist Nana Vasconcelos begleitet Carminho im fröhlichen Liebeslied „Destinos“. Das Album ist insgesamt sehr abwechslungsreich. Neben „reinen“ Fados „Espera“, “Vem“ erklingen schwungvolle Lieder wie die Eigenkomposition „Andorinha“, über die kleine Schwalbe, oder nach Folk klingende Liebeslieder („A canção“). In ihrem zweiten eigenen Stück „Contra a maré“ ertönt, wie in einigen anderen Titeln, ein sehnsüchtiges Akkordeon und in „Na ribeira deste rio“ veredelt Carminho mit ihrer Stimme einen Text von Nationaldichter Fernando Pessoa und schlägt musikalisch die Brücke ins Nachbarland, mit den Gitarrenklängen des Spaniers Javier Limón, der kurz in einen interessanten Dialog mit einer Mundharmonika tritt. Die Beschwingtheit vieler Stücke, die Öffnung zu brasilianischen Rhythmen, die abwechslungsreiche Instrumentierung, aber auch die Texte und Melodien werden dazu beitragen, dass noch mehr junge Portugiesen (und andere Europäer) den Fado für sich entdecken, auch auf der Suche nach einer Identität in einem von Krisen geschüttelten kleinen Land an der Peripherie Europas. Text: Torsten Eßer Cover: amazon [druckversion ed 06/2015] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch] |