ed 06/2009 : caiman.de

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costa rica: Emanzipation durch kommunalen Tourismus
Landfrauen bauen Öko-Hotels und produzieren Kunsthandwerk
JUTTA ULMER / MICHAEL WOLFSTEINER
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Freizügige Symbolik mittelalterlicher Bildhauer
Die Südfassade der Kirche San Pedro de Cervatos
ANDREA WEINDL
[art. 2]
brasilien: Die Juwelen der Natur
Vom Frosch bis zum Dinosaurierei - das Museum "Jóias da Natureza"
THOMAS MILZ
[art. 3]
spanien: Chronik einer "alternativen" Semana Santa (2009)
AMPARO GÓMEZ-REY
[art. 4]
venezuela: Langusten auf Los Roques
DIRK KLAIBER
[art. 5]
erlesen: Kuriositäten auf dem Jakobsweg
Anekdoten von Juan Ramón Corpas Mauleón
ALEXANDRA GEISER
[kol. 1]
helden brasiliens: Im Bus von Marabá nach Rio de Janeiro
ANJA KESSLER
[kol. 2]
lauschrausch: Die Liebe zum Flamenco
TORSTEN EßER
[kol. 3]




[art_1] Costa Rica: Emanzipation durch kommunalen Tourismus
Costaricanische Landfrauen bauen Öko-Hotels und produzieren Kunsthandwerk
 
Sie bauen Gemüse an, widmen sich der Hühnerzucht und erziehen die Kinder. Sie stehen in der Morgendämmerung auf, waschen die Wäsche, putzen, kochen und übernehmen die Pflege der Schwiegereltern.

Außerdem sammeln sie Brennholz, hüten die Schweine und ernten Mais bis sie am Abend müde ins Bett fallen. So oder so ähnlich sieht der Alltag vieler Landfrauen in Costa Rica aus. Sie leben in kleinen Dörfern, sind zumeist arm und ordnen sich pflichtbewusst ihren Ehegatten unter. Schließlich sind es die Männer, die die Entscheidungen treffen und als Fischer, Jäger oder Plantagenarbeiter etwas Geld verdienen.

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Es war ein Tag wie jeder andere als Mayra und Xenia in dem 300-Seelen-Dorf Los Planes beieinander saßen. Die beiden Bäuerinnen träumten von einer besseren Zukunft, in der sie selbst Geld verdienen und in Harmonie mit der Natur leben würden. Sie malten sich aus, eine Unterkunft für Touristen zu errichten und den Regenwald um Los Planes in ein Reservat zu verwandeln. "Wir haben anderen Frauen von unserem Traum erzählt, bis wir genügend waren, um für seine Realisierung zu kämpfen." Nachdenklich erinnert sich Mayra an jene Zeit als sie noch nicht wussten, wie man ein kommunales Tourismusprojekt auf die Füße stellt.

Hilfe kam von ACTUAR, einer staatlich subventionierten Organisation, die ländlichen Tourismus in Costa Rica fördert. Die Frauen nahmen an Seminaren teil, gründeten einen Umweltschutzverein und bauten ein Gästehaus aus einheimischen Hölzern.

Tesoro Verde heißt die gemütliche Öko-Lodge. Sie liegt auf der traumhaften Halbinsel Osa, bietet Platz für 18 Personen und wird von zwölf Hektar geschütztem Regenwald umgeben.

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Im offenen Speiseraum servieren die Frauen Hausmannskost. Die Produkte kommen aus der Umgebung, Solarstrom und der sparsame Umgang mit Wasser sind eine Selbstverständlichkeit. Auf Wunsch organisiert Mayra Tageswanderungen in den nahen Nationalpark Corcovado. Er ist eine der artenreichsten Zonen der Welt, so dass man gar nicht viel Glück benötigt, um Brüllaffenfamilien, Faultiere, Hellrote Aras, Kaimane, Nasen- und Ameisenbären zu Gesicht zu bekommen.

Der Halbinsel vorgelagert ist die Isla del Caño, deren Korallenriffe ein Paradies für Schnorchler und Taucher sind. Bei einem Bootsausflug zu der Insel kann man Delfine und Meeresschildkröten beobachten, sowie unter Wasser Riffhaien, Mantarochen, Papagei- und Nadelfischen folgen (Infos unter www.actuarcostarica.com).

Mayra und ihren Freundinnen gelang es, ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben in Los Planes zu verwirklichen. Was sich heute so einfach anhört, war allerdings harte Arbeit. Die Frauen erzählen vom Kampf mit ihren Ehemännern, die zunächst kein Verständnis dafür hatten, dass die Mütter ihrer Söhne eigene Ideen entwickeln: "Warum sollen Frauen an Tourismusseminaren teilnehmen? Und außerdem: Wer kümmert sich in dieser Zeit um Küche und Kinder?"

Gleiches berichtet Bernarda im Talamanca-Gebirge. Sie gehört dem Stamm der Bribrí-Indígenas an und lebt in der abgelegenen Gemeinde Yorkín.

Auch hier haben die Frauen ein kommunales Tourismusprojekt initiiert, als finanzielle Alternative zur Arbeit ihrer Ehemänner auf den Bananenplantagen der Fruchtmultis.

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Die Männer kamen nur selten nach Hause. Außerdem erkrankten viele an Hautausschlägen, Magengeschwüren und Krebs wegen der giftigen Chemikalien, die auf die Bananenstauden gesprüht werden.

Zunächst versuchten Bernarda und ihre Freundinnen selbst gebastelten Schmuck an die Touristen am Strand von Puerto Viejo zu verkaufen. Allerdings waren die Kosten für den Transport vom Dorf zur Küste so hoch, dass sich das Geschäft mit dem Kunsthandwerk nicht rechnete. "Wenn es sich nicht lohnt, dass wir zu den Touristen fahren, dann sollen die Touristen eben zu uns kommen, dachten wir damals." Lachend erzählt Bernarda, dass so die Idee für ihr Tourismusprojekt entstand. In Seminaren der Nichtregierungsorganisation ANAI lernten die Frauen Yorkíns, wie man ein Gästehaus baut, traditionelle Speisen touristengerecht serviert und europäische Großstädter durch den wuchernd-grünen Regenwald führt. Außerdem wurden sie dafür sensibilisiert, dass es auch als Frau wichtig ist, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, selbständig Entscheidungen zu treffen und sich zu behaupten. "Wir haben nun ein viel höheres Selbstwertgefühl als früher, was unsere Ehemänner nicht unbedingt schätzen. Sie waren es gewohnt, dass wir das tun, was sie sagen. Heute widersprechen wir ohne zu weinen und verdienen unser eigenes Geld."

Bernarda ist stolz auf die Emanzipation der Frauen Yorkíns, auch wenn es sie traurig stimmt, dass zwei Ehen daran zerbrachen.

Yorkín kann man nur mit dem Boot erreichen, wobei schon die Kanufahrt durch den Regenwald ein ganz besonderes Reiseerlebnis ist.

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In der Gemeinde angekommen, wird man von den Bribrí-Indígenas herzlich begrüßt und liebevoll in ihre Bräuche eingeführt. Die Frauen zeigen, wie man aus Kakaobohnen Schokolade macht und mit Palmblättern Dächer für Pfahlhäuser knüpft. Großen Spaß macht eine Wanderung hoch zum Aussichtspunkt Cerro Bella Vista. Gesäumt wird der steile Dschungelpfad von Mahagoni-, Zedern- und Bergmandelbäumen, in deren Ästen prächtig gefärbte Tukane kreischen. Auf skurrilen Farnen paaren sich knallrot schwarze Pfeilgiftfrösche, während am Boden fleißige Blattschneideameisen riesige Blattteile auf ihren kleinen Körpern balancieren.

Julio ist ein begnadeter Regenwaldführer und arbeitet nun, wie einige andere Männer auch, im Tourismusprojekt der Frauen. Die treffen nach wie vor die finanziellen und konzeptionellen Entscheidungen. Ihre Ehegatten übernehmen Wandertouren und Kanufahrten (Infos unter www.actuarcostarica.com).

Auch in Guaytil haben die Frauen eine Geschäftsidee realisiert, die heute beiden Geschlechtern Arbeit bietet.

Um ihre Lebensqualität zu verbessern, schlossen sich ein paar Dorfbewohnerinnen in einer Kooperative zusammen und begannen, Töpferwaren in der Tradition ihrer Vorfahren für Touristen herzustellen.

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Tonerde und Naturfarben stammen aus der Umgebung Guaytils. Daraus werden Vasen, Töpfe und Schüsseln geformt und mit jahrtausendealten Motiven der Chorotega Indígenas verziert. "Zunächst waren unsere Männer von unserem Engagement im Tourismussektor nicht begeistert. Sie sträubten sich sogar lange, in unserer Kooperative mitzuhelfen, da Töpfern und Malen nicht ihrer Vorstellung von Männlichkeit entsprachen." Kopfschüttelnd denkt Nury an die anfänglichen, machistischen Vorbehalte ihrer Ehepartner zurück, zumal heute ganze Familien in die Herstellung der Keramiken involviert sind. Die Besucher Guaytils können nun in den Gärten der Häuser Kunsthandwerkerinnen und -werkern verschiedener Generationen bei der Arbeit über die Schulter schauen: der Sohn stampft den Ton, der Schwager töpfert, die Tochter bemalt Vasen, die Enkelin poliert Teller, die Schwester graviert Tassen und der Ehemann überwacht den Brennvorgang der Einzelstücke im igluförmigen Lehmofen.

Die Töpferwaren aus Guaytil haben in Costa Rica Berühmtheit erlangt und werden von Reisenden sehr gerne als Mitbringsel gekauft.

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Neben beruflichem Erfolg und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit sehen die Frauen der drei besuchten Gemeinden einen weiteren Vorteil im kommunalen Tourismus: Da sie berufstätig sind, müssen die Ehemänner bei der Hausarbeit und Kinderbetreuung mithelfen, so dass traditionelle Rollenmuster verblassen. Ihre Söhne lernen so im Alltag, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Außerdem sind sie sicher, dass ihre Töchter mit einem höheren Selbstwertgefühl als sie selbst in den Stand der Ehe treten werden.

Einen Fehler sollen diese später als Mütter nämlich auf keinen Fall machen: Die eigenen Söhne zu Machos erziehen, was in der costaricanischen Gesellschaft üblich ist.

Text + Fotos: Dr. Jutta Ulmer + Dr. Michael Wolfsteiner

Weitere Informationen zu den Autoren und ihrem Projekt findet ihr unter:
www.lobOlmo.de

[druckversion ed 06/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: costa rica]





[art_2] Spanien: Freizügige Symbolik mittelalterlicher Bildhauer
Die Südfassade der Kirche San Pedro de Cervatos
 
In San Pedro de Cervatos ist es vor allem die Südfassade, die die Betrachter in ihren Bann zieht. Diese Fassade lässt sich lesen wie die Bildhandschrift einer abendländischen Version des Kamasutra. Fenster werden von Exhibitionisten eingerahmt, Tiere kopulieren mit Menschen, Männer mit Frauen, diese gebären... Alle Stadien von sexueller Lust, Vereinigung und Geburt wurden dem Künstler zum Thema. 


Seit dem Heiligen Jahr 1993 ist nicht nur eine Unmenge an Literatur zum Jakobsweg veröffentlicht worden, auch Fremdenverkehrsbehörden, Kulturämter und kirchliche Stellen trugen kräftig zur Renaissance dieser ersten gesamteuropäischen Kulturstraße bei. Meist steht das letzte Teilstück des Weges, der so genannte camino francés zwischen Saint Jean Pied-de-Port/Roncesvalles bzw. Somport und Santiago de Compostela im Zentrum der Aufmerksamkeit, jene knapp 800 Kilometer, auf denen wohl die meisten Europäer im Mittelalter ihren Weg vollendeten. Möglicherweise liegt jedoch die gesteigerte Aufmerksamkeit für gerade dieses Teilstück lediglich daran, dass darüber eine Art mittelalterlicher Reiseführer existiert, der Codex Calixtinus, verfasst von dem Franzosen Aimeric Picaud, der Station für Station den Weg, wie man ihn im 12. Jahrhundert nahm, beschrieb. Wie immer es auch gewesen sein mag, ob der camino francés in seinem heutigen Verlauf tatsächlich der am häufigsten frequentierte war oder nicht, die meisten Nordeuropäer mussten auf irgendeine Art den Norden Spaniens von Ost nach West durchqueren, zu Fuß oder zu Pferd, entweder nördlich oder südlich der kantabrischen Kordilleren, die sich von Santander fast bis Santiago parallel zur Küste ziehen. 

Im gesamten Gebiet, vor allem aber in den Provinzen, die als die Wiege Spaniens gelten, finden sich außerordentliche Kulturdenkmäler und nach und nach bemüht man sich darum, auch die abgelegeneren Dörfer und Weiler am Santiagoboom teilhaben zu lassen. Besonders eindrucksvoll sind die Zeugnisse von Baukunst und Bildhauerei der Romanik, deren geistige Grundlagen sich nicht zuletzt durch den Ausbau der Pilgerwege verbreiteten und die auf diese Weise zum ersten gesamteuropäischen Baustil heranreifte. 

Für den heutigen Beschauer oft rätselhaft ist die Symbolik der romanischen Bildhauer, antike Mythen paaren sich mit christlichen, selbst so fremde Zivilisationen wie die der Assyrer, Sumerer und Ägypter übten durch Kreuzzüge und Pilgerreisen Einfluss auf die europäischen Künstler aus. Oft füllte man bei der Christianisierung Europas lediglich heidnische Bräuche mit christlichen Inhalten oder jene Kulte überlebten nur notdürftig christlich übertüncht. 



Immer wieder lassen sich erotische Motive an christlichen Kirchen und Kapellen finden. Dabei kannten die mittelalterlichen Bildhauer eine Freizügigkeit, die dem späteren Christentum verloren ging. Sogar dem Trotaconventus, dem von Konvent zu Konvent streunenden Klosterbruder auf der Jagd nach erotischen Abenteuern, der durch den Arcipreste de Hita im Jahr 1330 literarisch verewigt wurde, wird durch die Figur eines seinen Habitus lüftenden Klosterbruders, der sein erigiertes Glied zum Vorschein bringt, ein steinernes Denkmal gesetzt. Noch heute greift den Betrachter vor allem der Realismus der Figuren an, deren verzückte Gesichtszüge die Zerstörungen der Jahrhunderte überdauerten. Es ist auch diese Lust, die die herkömmliche Interpretation des Phänomens so zweifelhaft erscheinen lässt. Demnach diente die Ikonographie der Sünde den Zwecken der Katechese. Geburten verwiesen auf die Folgen des Ehebruchs, die Darstellung der Wollust in all ihren Stadien sollte der Abschreckung vor dieser Todsünde dienen. Die Sodomie verstieß gegen die natürliche Ordnung der Welt. Das Weib, seit dem Sündenfall schuldig an der Vertreibung der Menschheit aus dem Paradies, galt der katholischen Moral als Verführerin, Ursache der Sünde. Zur Strafe beißen Schlangen ihre Brüste, Vögel hacken ihr die Augen aus. In einem Zeitalter, das Wollust zu den am weitest verbreiteten Lastern zählte, sollte der christlichen Askese die von der Natur diktierte Lust auch bildlich gegenüber gestellt werden. Der mittelalterliche Mensch war weniger durch das Wort als durch Bilder zu beeindrucken. 

Ein anderer Erklärungsansatz geht von den zahlreichen exhibitionistischen Abbildungen aus und setzt diese in Verbindung mit dem bäuerlichen Kalender. Die Exhibitionisten, sowohl Männer als auch Frauen, finden sich stets Seite an Seite mit im Februar zu verrichtenden Feldarbeiten. Die Darstellung der bäuerlichen Gewohnheit, sich mit erhobenen Rockschößen ohne Scham am Feuer zu wärmen, verwandelte sich so im Laufe der Zeit zum Topos des bäuerlichen Exhibitionisten.

Doch beide Erklärungsansätze werden der Qualität der Abbildungen und der Lust ihrer Bildner kaum gerecht. Nicht wenigen gilt heute das Mittelalter als Erfinder der Erotik. Die Liebe gepaart mit religiöser Ernsthaftigkeit als Voraussetzung für Minne und Frauendienst.  

Die für den Beschauer des 21. Jahrhunderts vielleicht schönste Theorie stammt von der italienischen Theologin Maria Caterina Giacobelli. Sie sieht die sexuelle Ekstase als Teil einer mittelalterlichen Theologie. Die sexuelle Vereinigung zweier Menschen galt als höchstes Gut des durch seine Körperlichkeit begrenzten Menschen. Sie ermöglichte die Teilhabe an der göttlichen Gnade. Das Osterfest, Höhepunkt des Kirchenjahres, wurde mit erotischen Gesten zelebriert. Eine deutsche Quelle des 16. Jahrhunderts erzählt gar von bei den Feierlichkeiten masturbierenden Priestern. Die obszönen Praktiken hätten den Risus Pascalis hervorgerufen, einen Heiterkeitsausbruch der Gläubigen, die so der österlichen Freude teilhaftig wurden. 

Wie weit die Darstellungen auch gingen, bereits früh meldeten sich auch deren Kritiker zu Wort. Schon im 9. Jahrhundert verbot der Erzbischof von Reims seinen Klerikern, sich zu betrinken und laszive Spiele zu erlauben. Im 13. Jahrhundert untersagte das Concilium Avernionense obszöne Gestiken in den Gotteshäusern ebenso wie das Rezitieren von Liebesgedichten und das Singen solcherlei Lieder. Das Konzil von Trient Mitte des 16. Jahrhunderts schaffte die obszönsten Gesten und Imitationen des Risus Pascalis ab, doch hielten sich diese Praktiken vereinzelt sogar bis ins 20. Jahrhundert wie eine Frankfurter Gazette noch 1911 zu berichten wusste. 



Der Reisende jedoch braucht sich um die akademischen Auseinandersetzungen nicht zu kümmern. Staunend steht er vor den romanischen Wunderkammern Kantabriens und der Provinzen Palencias, Burgos und Navarras. Unter den zahlreichen zoomorphen Dachkonsolen San Martin de Fromistas stößt er unvermutet auf gebärende Frauen, in San Vicente de la Barquera zeigt ein steinerner Klosterbruder ungeniert sein erigiertes Glied. Auf einem Säulenkapitell im Inneren in Santillana del Mar findet man ein eng verschlungenes Pärchen; sie streichelt sein übergroßes Glied, er liebkost ihre Brüste. San Cornelio und San Cipriano de Revilla de Santullan zeigen Fellatio und Schwangerschaft an eigentümlich roh gehaltenen Figuren. 

Ein Höhepunkt ist sicherlich die kleine Kirche San Pedro de Cervatos. An der Stelle, wo 999 vom Herzog Sancho de Castilla ein Kloster gegründet wurde, erhebt sich heute die in zwei Etappen gebaute Colegiata.

1129 errichtete man – von späteren Ergänzungen wie Apsis und Anbauten abgesehen – das Kirchenschiff, während man 70 Jahre darauf den dazugehörigen Turm fertig stellte, wie aus einer Inschrift zur Rechten des Eingangsportals hervorgeht.

Das Innere der kleinen Kirche ist späteren Datums, obwohl auch sehenswert doch kaum so in Staunen versetzend wie die provokativen erotischen Szenen der äußeren Fassade, die Gelehrte des vergangenen Jahrhunderts glauben ließen, es mit den Resten eines Tempels des Priapos zu tun zu haben, jenes kleinasiatischen Dämons, dessen Holzstatuen mit rot bemaltem, übergroßem Phalli in Wein- und Obstgärten installiert wurden, ebenso um das Glück anzuziehen wie um Diebe und Vögel abzuhalten. 

Welche Traditionen man auch immer aus dem dargestellten Bildkosmos lesen möchte, einen Abstecher von ausgetretenen Kirchenpfaden lohnt die Colegiata de San Pedro de Cervatos allemal.  

Text: Andrea Weindl
Fotos: G. Lanninger

[druckversion ed 06/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_3] Brasilien: Juwelen der Natur
Vom Frosch bis zum Dinosaurierei - das Museum "Jóias da Natureza"

Zweimal in der Woche hat die kleine Rubi plötzlich Hunger. Um den zu stillen, greift ihr Besitzer in den Gefrierschrank und holt eine tief gefrorene Mini-Maus heraus. Nur einen Tag alte Maus-Jungtiere kann der Winzling Rubi verschlingen, deren wissenschaftlicher Name Elaphe Guttata ist. Besser bekannt als Corn Snake, einer Schlangenart aus Texas.

Seitdem Rubi von einem Sammler aus den USA gestiftet wurde, lebt sie im naturwissenschaftlichen Museum „Jóias da Natureza” in São Vicente, der ältesten Stadt Brasiliens, gelegen an der Küste São Paulos. Das Museum bietet den Besuchern die größte Sammlung an Mineralien und Steinen Brasiliens, dazu Muscheln aus der ganzen Welt, Korallen, Meteoriten und Fossile – alle gesammelt oder getauscht von Paulo Matioli, dem Gründer und Kurator des Museums und Mädchen für alles.

Das Museum bietet neben technischen Spezialkursen besondere Führungen für Schul- und Universitätsklassen.

Öffnungszeiten:
Montags bis Freitags, von 9h bis 17h
Samstags und Feiertags, von 10h bis 18h
Rua Frei Gaspar, 1101 – Zentrum
São Vicente – São Paulo
Telefon – 0055 – 13 – 3329 – 7960

Text + Videos: Thomas Milz

[druckversion ed 03/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Spanien: Chronik einer "alternativen" Semana Santa (2009)
 
Samstag, 4. April 2009: in froher Erwartung
Wir, die Madrilenen, erwarten im Atocha-Bahnhof mit schwerem Gepäck und ungeduldiger Vorfreude den Zug, der uns unserer fünften Semana Santa in Sevilla entgegen fährt. Die letzte Woche vor dem großen Ereignis war immer geprägt von nervösen Vergleichen verschiedener Wetterprognosen, dem Schwelgen in Erinnerungen an vergangene Semanas Santas und den Verabredungen mit Freunden, um besonders spektakuläre Prozessionen zusammen zu genießen.

Sevilla empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein und dem Frühling des Südens in voller Blüte.

In unserer Gruppe von eingeschworenen Semana Santa Fans (bestehend aus unseren Sevillaner Freundinnen Amparo, Teresa und Regina, der Pumarejo-Familie und dem Freundespaar aus Madrid) gibt es zwei schmerzliche Lücken: es fehlen unser deutscher "Chef" und seine Freundin Cayetana (alle Namen wie immer von der Redaktion geändert).

Dieses Jahr konnten sie leider nicht kommen, aber ihre Gedanken werden in jedem Moment die Prozessionen Sevillas begleiten. Und vor allem für sie präsentieren wir diese nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2009.

Um unsere während des besonders kalten Winters eingeschlafenen Sinne langsam in Fahrt zu bringen, treffen wir uns mit Amparo in einer Bar mit "Prozessions-Ambiente": im Fernseher laufen Videos der Karwoche 2008, aus den Lautsprechern schmettern eher fröhliche Trauermärsche und über den fetten und verboten leckeren Kroketten wabert penetranter Weihrauch-Duft - die Semana Santa Droge, die uns schon am Vorabend des Palmsonntags ein wenig high macht. Zum Abschluss müssen wir natürlich den obligatorischen "Antrittsbesuch" in der Kapelle der Matrosen bei IHR machen (da ich erstmals diese Chronik schreibe, sind die Rollen vertauscht: die Macarena ist diesmal DIE ANDERE, während SIE die Esperanza de Triana ist.) Da oben thront sie in all ihrem Glanz, mit traurigem Blick und angedeutetem Lächeln... Plötzlich erklingt in der dicht gefüllten Kirche eine Saeta, gesungen von einem siebenjährigen Mädchen und eine Welle von Applaus brandet durch die Kapelle der Matrosen.

Palmsonntag, 5. April 2009
Der Palmsonntag beginnt mit hundertfachem Glockengeläut und mit dem üblichen Ankleide-Ritual, mit dem man sich in Sevilla auf den wichtigsten Sonntag des Jahres vorbereitet. Endlich kann ich, ausstaffiert wie eine Madonna im Krönungsmantel, an der Hand meines Mannes auf die Straße treten. Es folgt der "Palmsonntag-Parcour": sehen (die perfekt dekorierte Pracht der Pasos in den Kirchen) und gesehen werden (die eigenen Dekorationsbemühungen von anderen bewundern lassen).

Schon begeben wir uns zu unseren Freunden, die am Pumarejo-Platz wohnen und uns wie jedes Jahr zum traditionellen Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf  eingeladen haben - zum traditionellen Anlass der Prozession der Bruderschaft Hiniesta, die an ihrem Haus vorbei ziehen wird.

Das Menü ist wahrlich kein Fastenessen, sondern eher ein kulinarisches Gelage, das sich zum Ruhme Gottes über den ganzen Nachmittag zieht: nach dem Eintopf folgen Kabeljau mit Orangenblütengelee überbacken, Spinat mit Mandeln, ganz zu schweigen von den Süßigkeiten, die den Kaffee begleiten (die berühmten Torrijas und jede Menge anderes honigsüßes Gebäck).

Das Ganze dauert von 14 bis 19 Uhr. Unterbrochen wird das Schlemmen nur durch zahlreiche Trinksprüche - die auch dem von allen vermissten "Chef" gewidmet sind - und natürlich durch die Prozession, die man beinahe vergessen hätte.

Das erste Bild, das sich mir für immer von Sevillas Semana Santa eingeprägt hat, ist die Reflexion des Sonnenlichts auf einem Baldachin aus Silber und dunkelblauem Samt, davor eine Weihrauchwolke, die sich lichtet, bis ich plötzlich das schöne Gesicht der Madonna erkennen kann. Ist diese Flut von Sinneseindrücken real oder hat sie sich in Sekundenbruchteilen in etwas Magisches verwandelt?

Doch wir haben keine Zeit, darüber nachzudenken, sondern schon ruft uns eine besondere Herausforderung: dem "Chef" zu beweisen, dass es trotz der Tatsache, dass die Liebe (El Amor) und die Bitterkeit (La Amargura) oft Hand in Hand gehen, es sehr wohl möglich ist, beide getrennt zu sehen - ich meine natürlich die Prozessionen von El Amor und La Amargura!

In der Tat ist der Auszug der Prozession von El Amor für mich das Bild des Tages.

Wir befinden uns gegenüber dem Portal auf der anderen Seite der Plaza del Salvador. Eine unglaubliche Stille breitet sich auf dem dicht mit Menschen gefüllten Platz aus, als das Portal sich endlich öffnet. Der goldene Glanz der Altarbühne, auf der sich das Kreuz mit der Christusskulptur von Juan de Mesa erhebt, schiebt sich langsam hinaus ins Dämmerlicht.

Die Menge scheint den Atem anzuhalten, während sich der Paso, begleitet von seinem riesigen Schatten, seinen Weg über den Platz bahnt. Als er um die Ecke biegt, muss ich meinen Tränen freien Lauf lassen: wunderbar! Zum Abschluss müssen wir natürlich noch die Sternen-Madonna von Triana auf der alten Brücke sehen. Dieses Jahr ist es nicht kalt und die Wartezeit angenehm. Wir betrachten wie hypnotisiert den Mond, der in wenigen Tagen ganz voll sein wird.

Heiliger Montag, 6. April 2009
Der Tag beginnt mit einer obligatorischen Verabredung: dem Besuch beim "Jesus der großen Macht" (Gran Poder).

Diese berühmteste Christusstatue Sevillas beeindruckt jeden durch ihre geheimnisvolle Ausdruckskraft. Es erwartet uns ein anstrengender Nachmittag, den wir wie so oft in Triana mit der Betrachtung der Prozession von San Gonzalo beginnen.

Wir postieren uns vor der Estrella-Kapelle, wo die Träger, die als die besten in Sevilla gelten, mit dem tonnenschweren Paso wahre Kunststücke vollführen - schade, dass Cayetana das nicht sehen kann. Der Chef hätte hier mit uns geschimpft, weil wir uns leichtsinnig in das größte Gedränge gestürzt haben, was er bestimmt verboten hätte - aber dies ist ja eine "alternative" Semana Santa.

Es scheint aber wirklich mehr Zuschauer zu geben als in den Vorjahren - ist der Grund das besonders gute Wetter, die neue Metro-Linie, mit der die Leute aus den umliegenden Dörfern kommen oder die Krise, die viele nicht ins Ausland reisen, sondern in Sevilla bleiben lässt?

Danach folgt das Foto des Tages - die Träger des Cristo de Las Aguas müssen den Paso auf Knien durch das niedrige Portal der Kapelle tragen. Nach soviel ergreifender Trauer müssen wir uns erstmal mit Teresa und Regina zusammen bei Kaffee und Torrijas stärken, bevor wir die restlichen vier Prozessionen in Angriff nehmen: Santa Marta, Vera Cruz, Las Penas und El Museo.

Beim letzten Paso des Tages, der Jungfrau von El Museo, bin ich enttäuscht von den Trägern: ausgerechnet diese besonders schöne Madonna wird so schwankend getragen, als ob die Träger völlig betrunken wären! Etwas sanfter schaukeln bitte!

Heiliger Dienstag, 7. April 2009
Heute hatten wir sogar Zeit für eine Siesta! Wir haben uns mit unseren Sevillaner Freunden verabredet, um bei Dämmerung die Prozession der Studenten anzusehen. Doch vorher müssen wir halb Sevilla durchqueren, mit vier anderen Prozessionen, die es zu umgehen gilt. "Glaubst Du, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind?", fragt mich mein Mann. "Ich denke schon, die meisten gehen doch auch in diese Richtung." Ich kommentiere lieber nicht, den Blick, den er mir für diese Antwort zuwirft. Ich hab ehrlich gesagt gar keine Ahnung mehr, wo im Labyrinth der Altstadt Sevillas wir uns gerade befinden, aber nach fast zwei Stunden sind wir irgendwie doch am Treffpunkt angekommen: der Plaza de la Contratación.

Unter dem zweiten Orangenbaum werden wir Zeugen eines bizarren Handy-Gesprächs. "Wo bist Du...?...Ich warte am zweiten Orangenbaum...besser Du kommst auch hierhin, denn da wo Du jetzt stehst, wirst Du nur den Hintern der Madonna sehen..." Wir unterdrücken mit Mühe das Kichern und freuen uns, dass wir hier genau richtig stehen.

Wir folgen dem eindrucksvollen Christus von Juan de Mesa bis zur Kapelle der Universität, wo wir den ergreifendsten Moment des Tages erleben. Nur vom Licht der Kerzen und unheimlichem Schweigen begleitet, umhüllt von einer Wolke aus Weihrauch und Orangenblütenduft, gleitet der Schatten des gekreuzigten Christus über den Hof der Universität.

Nach einer kräftigen kulinarischen Stärkung machen wir noch der Prozession der Candelaria unsere Aufwartung, bevor wir zum Abschluss noch die wunderschöne Jungfrau des süßen Namens von der Kathedrale zum Campana-Platz begleiten. Rechts und links des Prozessionsweges nehmen die Abfallhaufen bedrohliche Ausmaße an - es gibt einfach zu viele Zuschauer!

Heiliger Mittwoch, 8. April 2009
Heute kommen unsere Freunde aus Madrid an und wir treffen uns mit Teresa und Regina dort, wo wir uns kennengelernt haben: an der Straßenecke, wo die Calle Rioja und die Calle Velázquez zusammen treffen.

Wir erwarten hier die Prozession der Baratillo-Bruderschaft - nie werde ich vergessen, dass diese Prozession vor fünf Jahren die erste war, bei der ich in Tränen ausbrechen musste vor lauter Entzücken (wenn Cayetana jetzt da wäre, würde sie fragen: "ist das nun kitschig oder erhaben?").

Während der langen Wartezeit fragt mich plötzlich ein etwa elfjähriger Junge: "Und Du - bist Du Atheistin, Agnostikerin oder Christin?" Ohne meine Antwort abzuwarten (ich wäre wohl sprachlos geblieben), fügt er hinzu: "Ich schwanke noch zwischen Atheist und Agnostiker, weißt Du?" Ich bleibe sprachlos.

Egal an was ich glaube oder nicht, ich sammle die Madonnenbildchen, die manchmal von den Nazarenos der Prozession an Zuschauer verteilt werden. Zuerst hab ich kein Glück, aber dann bekomme ich sogar eine silbern glänzende Medaille - mehr als ich erwarten durfte!

Teresa schlägt vor, erstmals die neue Bruderschaft Carmen Doloroso anzusehen (die der Chef in den letzten beiden Jahren nie sehen wollte) und neugierig stimmen wir zu. Mir gefällt die Prozession sehr gut, die Pasos werden vorbildlich getragen (kein Wunder, die Träger sind von der Macarena "ausgeliehen"). Da es eine arme Bruderschaft ist, ist der Paso des Christus nicht vergoldet und der Mantel der Jungfrau unverziert - was mir sehr gut gefällt (dem Chef aber gar nicht, er ist mehr für "Barock total").

Nach Mitternacht beschließen wir wie immer (dazu gibt es keine Alternative) den Mittwoch mit der Betrachtung der Prozession des Cristo de Burgos auf dem Platz, der seinen Namen trägt und in dunklem Schweigen liegt - bei ausgeschalteter Straßenbeleuchtung und einem Konzert von Saeta-Gesängen.

Gründonnerstag, 9. April 2009
Eine Neuigkeit: dieses Jahr gibt es gar keinen Regen! Im Gegenteil, die Sonne scheint herrlich. Wir beginnen den Tag mit einem Besuch bei IHR - der Esperanza de Triana in der Kapelle der Matrosen. Sie ist wie immer wunderschön, nur mit dem Design und dem etwas übertriebenen Blumenschmuck sind wir nicht ganz zufrieden.

Der Gründonnerstag ist wie immer: der höchste Feiertag Sevillas mit unfassbaren Menschenmassen, die herausgeputzt mit ihrer besten Kleidung die Kirchen überschwemmen und sich danach um die Tresen der Tapas-Bars drängen, als hätten sie seit Wochen nichts gegessen und getrunken.

Wir schauen uns erstmals die Prozessionen der Bruderschaften der Negritos und Caballos an, die beide während der beiden letzten Jahre wegen des Regens nicht stattfinden konnten. Sehr spektakulär. Aber der Höhepunkt des Tages ist natürlich die Bruderschaft Pasión. Wir sehen ihren Auszug aus der Kirche El Salvador und schließlich noch den Einzug der Prozession von La Quinta Angustia - beide absolut großartig. So, jetzt aber schnell noch ein wenig ausruhen vor der wichtigsten Nacht des Jahres...

La Madrugá (Karfreitagnacht), 10. April 2009
Die Madrugá, Sevillas magische Nacht, ist einfach unbeschreiblich. Es sind die emotionalsten Momente, die man in Andalusiens Hauptstadt erleben kann: ein paar Minuten, die man nie wieder vergisst. Da ist das unheimlich sanfte Schweigen von El Silencio, wenn die schwarzen Schatten vorbei huschen, die Ergriffenheit, wenn der Paso des Jesus der großen Macht genau vor uns zum Halten gebracht wird, die Heiterkeit der römischen Zenturie der Macarena, die Ekstase bei der Berührung des Baldachins der Macarena, und schließlich SIE (die Esperanza de Triana) vor der Kapelle in der Calle Adriano im Licht der aufgehenden Sonne - wir fallen uns todmüde, aber überglücklich in die Arme, im Bewusstsein, etwas Einzigartiges zusammen erlebt zu haben...

Karfreitag, 10. April 2009 nachmittags
Wir begleiten SIE noch bis zur Brücke, wo sie von ihrem Stadtviertel Triana mit Glockengeläut und einer noch größeren Menschenmenge empfangen wird. Nach dem üblichen Karfreitags-Frühstück mit dickflüssigem Kakao und Churros (heißes Spritzgebäck) gehen wir todmüde zu Bett. Als wir gegen fünf Uhr nachmittags aufwachen, hat die Prozession des Cachorro schon längst begonnen. Wir haben eine ganze Flut von SMS erhalten und diverse Freunde haben ein halbes Dutzend verschiedener Treffpunkte vorgeschlagen. Also sehen wir uns die Prozessionen an und wie immer zum krönenden Abschluss La Mortaja.

La Mortaja ist eine der wichtigsten Prozessionen, die feierlichste und "barockeste" von allen. Plötzlich ertönt direkt neben mir eine Saeta - gesungen von einem Jugendlichen, der noch ein halbes Kind ist.

Eine grandiose, herzzerreißende Saeta, dargeboten von einer starken Stimme mit ganz viel Gefühl - dies sind Momente, die jede Semana Santa unvergesslich machen!

Karsamstag, 11. April 2009
Heute ist der letzte Tag - schon mischt sich eine gewisse Traurigkeit in die Stimmung. Wir verabschieden uns von den Freunden aus Madrid, die bereits zurück müssen.

Den Morgen des Karsamstags widmen wir der Macarena. Es ist ein Tag der Abschiede - von der Macarena, von der Pumarejo-Familie, mit der wir uns für nächstes Jahr zum traditionellen Palmsonntags-Gelage verabreden. Am Abend treffen wir uns mit Teresa auf der Plaza de Santa Isabel, um dort den Einzug der Servitas-Prozession zu sehen.

Im letzten Jahr gab es einen Wolkenbruch, so dass die feierliche Prozession eher eine chaotische Flucht vor den Wassermassen in die schützende Kirche war. Es regnet immer noch nicht – 2009 ist die erste Semana Santa seit mindestens 8 Jahren, in der alle Prozessionen stattfinden konnte und keine einzige wegen Regen ausfiel.

Als letzte sehen wir dieses Jahr die Prozession der Soledad de San Lorenzo. Ein ganzes Festival von Saetas wird auf dem Platz für die einsamste aller Madonnen Sevillas gesungen. Mit dem Gesicht zum Volk verabschiedet sich diese Jungfrau der Einsamkeit und mit ihr die ganze Semana Santa, die Pforten schließen sich.

Wir feiern noch Abschied mit den Sevillaner Freunden und verabreden uns für 2010 zur nächsten Semana Santa. Schon im AVE auf der Rückfahrt nach Madrid lassen wir diese heilige Woche Revue passieren und können stolz feststellen, dass wir 31 Prozessionen gesehen haben. Es gab diesmal keinen Regen, noch mehr Zuschauer als sonst und unvergessliche Momente, wobei wir den "Chef" und Cayetana sowie ihre gewohnten Kommentare sehr vermisst haben. Aber es fehlen ja nur noch 364 Tage bis zur nächsten Semana Santa - wir sehen uns 2010!

Text: Amparo Gómez-Rey
Fotos: Vicente Camarasa
Übersetzung: Berthold Volberg

In eigener Sache: Die Initiative ¡Túmbala! für den Erhalt des Stadtbildes von Sevilla (pdf)

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[art_5] Venezuela: Langusten auf Los Roques
 
Auf der Plaza Bolívar befindet sich eine Bühne. Diese zieren die Zeichnung einer Languste und die Inschrift: Festival de la Langosta 2008.

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Auf der gegenüberliegenden Seite der Plaza hängen in freundlichen Farben gehaltene Schilder, entworfen von den Schülern der Escuela Básica, Los Roques. Auch diese zeigen Langusten, weisen aber auf die Bedrohung der Art hin und vermitteln den Langusten-Fischern gleichzeitig in einfachen Sätzen, wie dem Aussterben der Karibik-Languste von Los Roques entgegengewirkt werden kann:

Die Fangzeit beginnt
Geh und hole deine Taucherbrille
Vergiss auch die Seile und die Schwimmflossen nicht
Küstenwache, Fischereiaufsicht und Nationalparkaufseher
organisieren sich, um das Gewicht des Fisches zu kontrollieren
Haben Langusten weder vorgeschriebene Größe noch Gewicht
Lass die Langusten wieder frei
Mach dich auf die Suche nach geeigneten Langusten
Füge den gefangenen Tieren keinen Schaden zu

 
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In Los Roques werden 9 von 10 venezolanischen Langusten gefangen und die meisten an Ort und Stelle verspeist. Dies liegt einerseits am Werben mit Langusten um Touristen und andererseits an deren Finanzkraft, ist doch ein Urlaub auf Los Roques selbst für die ständig schwindende venezolanische Mittelklasse fast unbezahlbar.   

Langusten gibt es von November bis April. Auf den von Touristen meistfrequentierten Inseln bieten Restaurants die Langusten in allen Größen an: von 700 Gramm bis zu drei Kilo. Die Preise liegen zwischen 22 und 30 Euro pro Kilogramm. 

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Auf der Hauptinsel Gran Roque muss man, wenn man Languste essen möchte, einen Tag vorher in einem der einer Poasada angeschlossenen Restaurants reservieren. Auf den Inseln Fransiquí, Madrizquí oder Crasqui bekommt man die Schalentiere ab 12 Uhr täglich (wobei die venezolanische Täglichkeit keine Garantie des Täglichen meint) und ohne Vorbestellung. Koch oder Kuchenassistenz führen die Feinschmecker dann zu einem Gehege im seichten Wasser und zeigen ihre Auswahl. Internationale sowie nationale Jetset-Touristen staunen und freuen sich gemeinsam, rund um den Käfig gruppiert. Ist die Wahl gefallen, fischt das Küchenpersonal die gewünschte Languste heraus, hält sie in die gezückten Kameras oder übergibt die Languste an die Käufer, die sich gegenseitig lächelnd mit dem Objekt ihrer kulinarischen Begierde ablichten. 

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Die rund um die Inselgruppe Los Roques heimische Art ist die Karibik-Languste. Sie erreicht bis zu 45 Zentimeter Körperlänge. Tagsüber halten sich die Karibik-Langusten meist im seichten Wasser auf, verborgen in Riffen, im Seegras oder am felsigen Grund. Nachts wandern sie auf Beutezug und legen dabei eine Strecke von bis zu 30 Kilometern zurück, auch in tieferen Gewässern. Zur Orientierung besitzen sie eine Art Kartensinn basierend auf dem Magnetfeld der Erde, so dass sie, einmal gefischt und aufgrund der nicht Erfüllung der Grundmaße für den Verzehr an anderer Stelle wieder freigelassen, problemlos zu ihrem Heimatort zurückkehren können. Neben den beiden kleineren Fühlern besitzen Langusten zur Verteidigung zwei längere Antennen. Um aber etwa einem Haiangriff zu entkommen, erzeugen die Langusten eine ihnen im Tierreich eigene Art von Lauten, eine Art Knarzen. Diese erschreckt zunächst die Angreifer, so dass die Languste Zeit zur Flucht gewinnt. 

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Handelt es sich bei den Angreifern um die illustre Urlauberschaft von Los Roques, so passt eine bereits dem Käfig entnommene Languste den Moment der Fotoshootings ab, um sich durch das Zusammenrollen des Körpers unter Anspannung mit einem kräftigen, den Touristen erschreckenden Strecken zu befreien. Genarrte Köche sichern daher beim Fischen der Krebstiere aus den Gehegen die Langusten mit einer Schlinge.

Text + Fotos: Dirk Klaiber



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[kol_1] Erlesen: Kuriositäten auf dem Jakobsweg
Anekdoten von Juan Ramón Corpas Mauleón

Tausende von Pilgern wandern wieder im Norden Spaniens Richtung Santiago de Compostela. Allein, in Gruppen, aus Europa, aus Australien, mit Stock oder Esel und Pilgerpass. Wie jedes Jahr. Ungefähr jeder Dritte muss danach einen persönlichen Bericht darüber veröffentlicht haben, anders ist der Berg an Literatur über den Jakobsweg nicht mehr zu erklären. Keine Frage, der legendenumwobene und geschichtsträchtige Wanderpfad von Frankreich durch Nordspanien zum Grab des Apostel Jakob und ans "Ende der Welt", nach Finisterre, inspiriert seit Jahrhunderten Menschen aller Länder.

Juan Ramón Corpas Mauleón
Kuriositäten auf dem Jakobsweg
PanOptikum Verlag
2008
Seiten 174
9,90 €

Juan Ramón Corpas Mauleón zeigt einen wunderbar anderen Aspekt rund um einige Sehenswürdigkeiten entlang des Weges und zwar jenseits aller Reiseführer und persönlicher Befindlichkeitsberichte. Er ist ein ausgewiesener Kenner des Jakobsweges, der Geschichte und Kultur Navarras und veröffentlichte 1992 "Curiosidades del Camino de Santiago", ein schmales Büchlein, das Spaß am Lesen bereitet und auf Spanisch bereits zweimal neu aufgelegt wurde.

Sei es die Geschichte einer mysteriösen Inschrift in einem Kloster, einer Steinfigur oder kurioser Architektur, Mauleón schreibt kurzweilig und bringt die Kuriositäten auf den Punkt, ohne sich über manch abenteuerliche Auswüchse des katholischen Glaubens lustig zu machen. Da tauchen Blutsverwandtschaften zur Heiligen Maria auf, da singen Steine und verweigern Reliquien ihren Umzug.

Es ist ein Begleitbuch für den Weg, eine vergnügliche Lektüre, die das enthält, was an Geschichte Spaß macht. Mit diesem Wissen wird man bestimmt auf das genießerische Grinsen der Danielstatue in Santiago achten und sich im Nachhinein nicht ärgern müssen, dass man achtlos an den spiegelverkehrten Torbogen von Santa María de Eunate mit Hexe und Baumeister vorbei gegangen ist.

Die Anekdoten wurden aus vielen Jahrhunderten spanischer Geschichte ausgewählt, daher ist besonders das Register im Anschluss hilfreich, sei es um kurz nachzuschlagen, um welchen der vielen Könige Alfonso es sich gerade handelt oder welche Kuriositäten sich in León oder Valcarlos angesammelt haben.

Seit 2008 auch auf Deutsch im PanOptikum Verlag erschienen und empfohlen nicht nur für Wanderer auf Pilgerfahrt, sondern jedem mit Freude an spanischer Geschichte.

Text: Alexandra Geiser
Fotos: PanOptikum Verlag

[druckversion ed 06/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_2] Helden Brasiliens: Im Bus von Marabá nach Rio de Janeiro
 
Auf der Busfahrt von Marabá nach Rio de Janeiro  werden circa hundertzwanzig Liter Blut vergossen, um die fünfzig Menschen umgebracht und mindestens dreißig Autos zu Schrott gefahren. Kein Wunder, denn um zweiundfünfzig Stunden rumzukriegen, braucht es eine Menge Videos. Und scheinbar gilt die Regel, je wüster es zugeht, desto schneller vergeht die Zeit.

Zweiundvierzig Stunden dauere die Fahrt, informiert die freundliche Dame am Ticketschalter in Marabá. Tatsächlich werden daraus aber zweiundfünfzig. Doch was sind schon zehn Stunden, wenn man fünf Bundesstaaten durchquert und dabei eine Strecke von dreitausend Kilometer zurücklegt.

Busbahnhof in Marabá, einer 800 Kilometer südlich der Amazonas Mündung gelegenen Stadt im  Bundesstaat Pará, kurz vor drei Uhr nachmittags, der geplanten Abfahrtszeit. Um das Gepäckabteil des Busses hat sich ein hektisches Menschenknäuel gebildet. Berge von Reisetaschen, Tüten, Pappkartons sollen untergebracht, die Familie verabschiedet, plärrende Kinder getröstet werden. In all dem Durcheinander sitzen zwei Schwestern mit zusammen vier Kindern und einem Ehemann bzw. Schwager recht kleinlaut auf einer Bank rum und schauen dem Treiben eher sehnsüchtig zu. Es ist die Familie Santos, die den Bus nach Rio nehmen wollte, aber keine Tickets vorab gekauft hatte - ausverkauft, der Bus ist voll. Erst am nächsten Tag gibt es wieder freie Plätze, doch zum Glück fährt das Unternehmen "Transbrasiliana" die Strecke  täglich. Trotzdem müssen sie eine Nacht in Marabá verbringen, sie kommen aus dem  zweihundertsiebzig Kilometer entfernten Tucurui und wollen in Rio ihr Glück versuchen. Ein Cousin arbeitet bereits dort, bei dem können sie erst mal unterkommen und vielleicht kann er ja sogar bei der Arbeitssuche helfen. Doch jetzt müssen sie erst mal eine Unterkunft für die Nacht in Marabá finden, ein Hotel würde ein arges Loch in das schmale Reisebudget reißen, man erwägt, im Busbahnhof zu übernachten. Aber... gab es nicht die ehemalige Nachbarin, die vor drei Jahren nach Marabá gezogen ist? Ob man es versuchen soll?

Familie Santos

Wie die Familie Santos ihr erstes und bestimmt nicht letztes Problem gelöst hat, weiß ich nicht, denn der Busfahrer hupt bereits ungeduldig, er will pünktlich los, Möglichkeiten für Verspätungen gibt es unterwegs noch genug.

Also lösen sich auch die letzten Reisenden aus den Umarmungen und steigen ein, die meisten gut gerüstet mit Knabbereien, Keksen, süßer Limo, Schokolade, sowie Kissen und warmen Decken. Denn die Überlandbusse in Brasilien sind rollende Eisschränke, ihre Fenster lassen sich meistens nicht öffnen und der aufkommende Mief wird dann mit geballtem Einsatz der Klimaanlage bekämpft.

Doch auch wer nicht an seine persönliche Verpflegung gedacht hat, muss nicht hungern, schließlich hält der Bus ja regelmäßig an den Raststätten, die die Bundesstraßen säumen und die Namen tragen wie "Juwel der Bundesstraße" oder "Fernfahrers Heimat". Und an den Busbahnhöfen stehen immer eifrige Verkäufer bereit, die ihre Spezialitäten an den Mann bringen wollen.

Pedro Arruda

Der erste dieser Verkäufer steigt schon an der nächsten Ampel ein, der Busfahrer scheint das in Ordnung zu finden. Pedro Arruda verkauft geröstete Maiskolben, die so lecker riechen, dass er gleich die Hälfte davon los wird.

Er erzählt, dass er den ganzen Tag in Busbahnhofsnähe pendelt und von dem Maiskolbenverkauf seine vierköpfige Familie ernährt, seine Frau geht gelegentlich putzen.

Bevor der Bus die Außenbezirke verlässt, ist Pedro schon wieder ausgestiegen. Jetzt rumpelt der Bus die Bundesstraße Richtung Süden, das Ergebnis jahrzehntelanger Abholzung säumt den Weg. Einige verkohlte Baumstümpfe, karge Steppenlandschaft und immer wieder Viehherden. Brasilien ist schließlich einer der größten Rindfleischexporteure der Welt, auf einen Brasilianer kommt mindestens ein Rind und für ein Rindvieh wird wiederum mindestens ein Hektar Weideland benötigt.

Ab und zu kann man am Horizont  noch ein paar Reste vom Regenwald erkennen. Dazwischen ein paar kleine Siedlungen, die sich um die Kirche oder die Dorfkneipe  scharren. Ein wenig wird angebaut, Mais, Bohnen, Maniok. Oft wird im heimischen Köhler Holz zu Holzkohle verkokelt. Das bringt ein bisschen Zusatzeinkommen in die Familienkasse, denn die 11 Eisenhütten in Marabá, die die Stahlkocher der USA beliefern, werden mit Holzkohle beheizt und sind dankbare Abnehmer. Vor allem sorgt es für  Rauchschwaden über der kahlen Landschaft, wo Kinder im Staub spielen, Frauen gelangweilt dreinschauend vor ihren Häuschen hocken und Hunde in Müllhaufen wühlen.

Zum Glück bricht bald die Dunkelheit herein und die traurige Landschaft verwandelt sich in ein schwarzes Universum, dem ab und zu von erleuchteten Straßenkneipen Leben eingehaucht wird. So schnell sie auftauchen, verschwinden sie auch wieder in der Dunkelheit.

Glaucya Tonaco

In Eldorado de Carajas steigt Glaucya Tonaco zu. Die 40.000-Einwohner-Stadt gelangte im Jahr 1996 weltweit zu trauriger Berühmtheit, weil dort ein Massaker an landlosen Kleinbauern neunzehn Tote gefordert hatte.

Doch damals war Glaucya erst neun Jahre alt, und auch zurzeit beschäftigt sie nicht die Agrarreform, sondern ihr nächstes Semester. Sie hat zwölf Stunden Fahrt nach Gurupi vor sich, wo sie im dritten Semester Jura studiert. Warum so weit weg von zuhause, in einem Kleinstädtchen im Nachbarstaat Tocantins, irgendwo fernab der Großstädte? Warum nicht in Belem, der Hauptstadt Parás, dem pulsierenden Knotenpunkt an der Amazonasmündung, der seit dem Kautschukboom stetig wächst?  "Belem ist zu teuer. Gurupi hat sich auf Studenten spezialisiert, die Hälfte der Studiengebühren zahlt die Stadt. Außerdem kommen alle Studenten von außerhalb, wir fühlen uns dort wie in einer großen Familie." Die Älteste von drei Geschwistern möchte aber als fertige Rechtsanwältin in ihrer Heimatstadt Eldorado arbeiten: "Rechtsanwälte werden dort dringend gebraucht", meint die Zweiundzwanzigjährige. Und so weit entfernt von der Familie möchte sie auf Dauer auch nicht leben, davon zeugen auch ihre von Abschiedstränen noch etwas geschwollenen Augen.

Reifenwerkstatt

Langsam wird es Zeit für das Abendessen, die mitgebrachten Snacks ersetzen den Reisenden noch lange nicht die Mahlzeit. Brasilianer essen gerne warm und reichlich. "Vierzig Minuten!", ruft der Fahrer mit einer Stimme, die keinen Zweifel lässt,  dass wer sich verspätet, stehengelassen wird.

Hungrig stürmen die Fahrgäste aus dem Bus und besetzen die Holztische der Raststätte. Die Kellner, die bereits auf die hungrige Busladung gewartet haben, umschwirren die Gäste mit fettig tropfenden Fleischspießen, Beilagen nimmt man sich vom Buffet.

Die Zeit lässt sich aber auch für einen Besuch in einer der Reifenwerkstätten nutzen, die sich praktisch neben jedem Rasthof befinden. An den Bundesstraßen sind sie vierundzwanzig Stunden geöffnet und im Schein von trüben Glühbirnen dösen Männer, spielen Karten, trinken Cachaça. Einige Lastwagenfahrer, die noch nicht müde sind, leisten ihnen Gesellschaft.

Isaias und Vanuza

Die ersten gesättigten Fahrgäste versammeln sich wieder vor dem Bus, sie wollen jetzt nur noch in ihre weichen Sitze sinken und dösen. Unter den Wartenden stehen auch Isaias und Vanuza Farias Pinho, die aus dem Norden Parás kommen und auf dem Weg nach Brasilia sind.

Die Beiden sind die Gepäckchampions unter den Fahrgästen, sogar einen zusammengerollten Teppich haben sie neben ihren Kistenbergen dabei. Ob das alles in die Einzimmerwohnung passt, die sie in Brasilia schon angemietet haben? Isaias war in Altamira Angestellter der Stadt, aber das wurde ihm auf die Dauer zu langweilig, da hat er sich für ein Jurastipendium beworben. Dafür nimmt er den Umzug nach Brasilia gerne in Kauf und seine Verlobte Vanuza wird eine Krankenschwesterausbildung beginnen. "Ein bisschen Angst habe wir schon vor der neuen Umgebung, aber wir freuen uns auf unser neues Leben", sind sie sich einig.

Der Bus ist kaum losgefahren, da sind die meisten Sitze schon in Schlafstellung gebracht und außer dem gleichmäßigen Brummen des Motors ist nichts mehr zu hören. Zum Glück wird auch keine dröhnende DVD mehr eingelegt, dafür die Klimaanlage noch einmal aufgedreht und schon taucht der Bus ein in die sternenklare Nacht.

Tagelöhner beim Frühstück

Kaum ist man eingeschlafen, wird es schon wieder geschäftig im Bus, es werden Gepäckstücke aus den Fächern gezerrt, Kinder aus dem Schlaf gerüttelt  - Ankunft im Busbahnhof von Guará, der Umsteigestation.

Wer nach Rio will, muss hier aussteigen. Der "direkte Anschluss" erweist sich als eine Wartezeit von fünf Stunden. Aus den durchgehend geöffneten Bahnhofbars scheppert ohrenbetäubende Countrymusik, es gibt extrem süßen Kaffee und ab sechs Uhr morgens frische Brötchen. Die Tagelöhner allerdings, die gleich neben dem Busbahnhof eine Frühstückspause machen, gönnen sich zum Sonnenaufgang dampfenden Reis mit gebratenen Innereien und scharfer Pfeffersoße  - sie sind schon seit drei Uhr auf den Beinen und haben noch einen langen Arbeitstag vor sich.

Familie Ferreira

Endlich kommt der Anschlussbus nach Rio um die Ecke gekeucht und das Gedrängel um das Gepäckfach geht von vorne los. Auch die Familie Ferreira ist eifrig damit beschäftigt, ihre Koffer unterzubringen. Sie sind auf dem Rückweg von Sao Felix in Pará, wo sie für zwei Wochen ihre Familien besucht haben.

Aline, 32, Junior, 29, und die 6-jährige Lorraine leben seit acht Jahren in Rio. "Wir können die Reise nur alle zwei Jahre machen", erzählt Aline und zieht eine Filmkamera raus, "die Fahrt kostet für uns alle zusammen ungefähr zweitausend Reais ". Das sind rund siebenhundert Euro, die müssen sie mit ihren Jobs als Putzfrau und Pförtner in Copacabana erst mal verdienen. Aber sie klagen nicht, sie fühlen sich in Rio sehr wohl, bis heute gehen Aline und Junior jeden Tag nach der Arbeit an den Strand in Copacabana, praktischerweise arbeiten sie im gleichen Gebäude. Aber als Aline dann auf ihrer Minikamera die Bilder vom heimatlichen Kleinbauernhof vor Augen hat, kullern doch ein paar Tränen, ja, es ist ein anderes Leben dort, eine Riesenfamilie, jeder kennt jeden, den ganzen Tag im Freien. Junior kommt aus dem Nachbarort, er ist damals nach Rio vorgefahren und Aline ist nachgekommen, nachdem er eine kleine Wohnung im Elendsviertel Vila São João organisiert hatte. Dort wohnen sie heute noch, zwischen Arbeitsuchenden, Einwanderern, Banditen, Glücksrittern und anderem Riostrandgut.

DVD
Weiter geht´s durch die inzwischen grüne Landschaft des Bundesstaats Goias, vorbei an sanften Hügeln, saftigen Weiden und Viehherden. Aus dem Fenster schauen, Video angucken, essen, dösen, trinken lassen den Tag im Nu vergehen.

Die Bustoilette ist inzwischen so verdreckt, dass man sich zwingt, bis zum nächsten Stop durchzuhalten und als der Bus endlich wieder zum Abendessen anhält, sind zwei Drittel der Strecke bewältigt.

Dona Isabel

Auf der Weiterfahrt, als alle gerade wieder einnicken, ein Aufschrei. Es kommt von Isabel Ribeiro, die bemerkt hat, dass sie ihre Geldbörse mit Dokumenten und der gesamten Reisekasse im Restaurant hat liegenlassen.

Helle Verzweifelung steht ihr ins Gesicht geschrieben, die meisten Fahrgäste schütteln bedenklich den Kopf, das Geld kann sie wohl abschreiben. Dem Busfahrer bleibt keine andere Wahl als umzukehren, was auf der engen, stockdunklen Landstraße gar nicht so einfach ist. Doch als der Bus endlich wieder in den Parkplatz der Raststätte einbiegt, steht dort schon ein aufgeregt winkender junger Mann. Und in der Hand hält er die Geldbörse, er hat schon auf die Rückkehr des Busses gewartet. Dona Isabel druckt ihn an ihren mächtigen Busen und will ihn vor Freude gar nicht mehr loslassen, die Fahrgäste freuen sich mit ihr und keiner kommt auf die Idee wegen der Verspätung zu meckern. Sie wolle ihren Sohn, der gerade Vater geworden ist, besuchen, erzählt sie. Der lebt seit acht Jahren in Rio und so lange Dona Isabel gebraucht, die Reise von ihrem Gehalt als Näherin in Ananais, Tocantins, zusammensparen zu können.

Beim Kaffeestop am nächsten Morgen in Tres Marias, Minas Gerais, steigt Dona Isabel erst gar nicht aus dem Bus. Endlich wird Kaffee nicht schon überzuckert aus der Thermoskanne ausgeschenkt wie es auf den nördlichen Bundesstraßen üblich ist. Weiter gehts Richtung Osten, noch dominiert die Rinderzucht die Landschaft, doch es wird zunehmend städtischer. Minas Gerais, so groß wie Frankreich, ist ein wohlhabender Bundesstaat, zumindest der südliche Teil. Die Gegend ist reich an Eisen- und Halbedelsteinminen, daher auch der Name - die Allgemeinen Minen.

Rio de Janeiro, endlich am Ziel. Von den Brasilianern "die wunderbare Stadt" genannt, landesweit bekannt für seine einzigartige Lage und himmelschreiende Kriminalitätsrate, für seine Lebensfreude, den Karneval und seine Bandenkriege.

Alle, die hier aussteigen, erwarten sich etwas anderes von der Stadt, für viele ist es ein Neuanfang, andere kommen nach Hause, einige nur von weit her vorbei, um ihre Lieben zu sehen. Aufgeregt sind sie jedoch alle, als sich der Bus in den Abendverkehr einfädelt.

Autolichter verschwimmen hinter regennassen Scheiben, eine Ambulanz mit heulender Sirene schlängelt sich zwischen den Autos durch, so dass man kaum den Abschiedsgruß des Busfahrers  versteht, der sich gefreut hat, uns als Fahrgäste gehabt zu haben.

Text + Fotos: Anja Kessler

[druckversion ed 06/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_3] Lauschrausch: Die Liebe zum Flamenco

Was haben ein gitano aus Katalonien, ein Deutsch-Japaner aus Düsseldorf und ein 19-jähriger Kastilier aus der Mancha gemeinsam? In unserem Fall die Liebe zum Flamenco, die sie auf neuen Alben dokumentieren.

Duquende
Live in Cirque D´Hiver Paris
flamenco records / galileo mc
Juan Rafael Cortés Santiago, bekannt als "Duquende", liefert mit seinem Live-Album, aufgenommen im "Cirque D´Hiver" in Paris, unter den drei Neuerscheinungen sicher die eindruckvollste Aufnahme ab. Voller Leidenschaft präsentiert er, nur begleitet vom kristallklaren Spiel des Gitarristen Juan Gomez "Chicuelo" und den Rhythmen des Cajon, gespielt von Isaac Vigueras "El Rubio", traditionelle bulerías, soleás etc; eine Reduktion auf das Wesentliche, die zu den Wurzeln des Flamenco zurückführt, als der Gesang noch das wichtigste (und oft einzige) Element dieser traditionellen Musik war.

Duquende
Live in Cirque D´Hiver Paris
flamenco records / galileo mc

Die ausgewählten Stücke stammen von berühmten Sängern wie Juan Talega oder "Terremoto", seine afillá-Stimme (sehr rauh) fliegt geradezu durch die von Leid geprägten Textzeilen. Duquendes Gesang ähnelt dem seines Vorbildes Camarón de la Isla, der in den 70er Jahren durch die Dehnung der Silben und eine neue Instrumentierung dem Flamenco neues Leben einhauchte. Mit ihm stand Duquende als Neunjähriger auf der Bühne, damals noch als Gitarrist. Aber auch der Einfluss von Paco de Lucia ist spürbar, mit dem der Sänger mehrere Jahre zusammen arbeitete. Unbändige Lebenslust und tiefste Verzweiflung tränken die meisterhaften Interpretationen der alten cantes. Seit 1996 steht der in Sabadell geborene cantaor regelmäßig auf der Bühne des "Cirque D´Hiver" und das Publikum feiert ihn immer noch stürmisch, wie diese Aufnahme belegt.

Michio
Así nada más
Alameda / galileo mc
Für einen Deutsch-Japaner aus Düsseldorf liegt es nicht unbedingt nahe, Flamencogitarrist zu werden. Michio kümmerte das wenig und so werden seine Alben heutzutage selbst im Mutterland des Flamenco hoch gelobt. Drei sind es an der Zahl, das neuste Werk heißt "Así nada más" und versammelt – wie das erste – nur Eigenkompositionen. Das zeugt von Selbstbewusstsein, das aber gerechtfertigt ist, denn hier paart sich höchst anspruchsvolle Spieltechnik mit frischen Ideen. Die Palette reicht von einer Bulería wie "Ignition", bei der gekonnt ein E-Bass und eine Shakuhachi (japanische Längsflöte) zum Einsatz kommen, über die Fusion von Flamenco und Jazz ("Paco ni canpai") bis zu klassischen Ausflügen in den Soli von "Mientras Te Espero". Hervorheben möchte ich "Patito feo", ein sehr komplexes Stück, das seinen Reiz aus der Kombination von Gitarre, E-Bass und einer wehmütig gespielten Melodica gewinnt und sogar ein wenig "rockt", ähnlich einigen Titeln der Gruppe Ojos de Brujo aus Barcelona. Im Titel "Anhelo" fügt die Shakuhachi den Gitarrenläufen erneut ein fernöstliches Flair hinzu. Einzig die Popballade "Date vuelta", über eine Liebesbeziehung in der Krise, muss als kitschiger Einfall betrachtet werden.

Michio
Así nada más
Alameda / galileo mc

Bis auf diesen Ausrutscher überzeugt das Album jedoch durch einen Flamencostil, der mit bisherigen Hörgewohnheiten bricht und von Abwechslungsreichtum und Risikofreudigkeit geprägt ist. Sängerin Alicia Carrasco verleiht vier Titeln mit ihrer vollen, klagenden Stimme zusätzlich Flamenco-Charakter.

Israel
Naranjas sobre la nieve
Nuba Records/ Q-rious
Die Stimme von Israel Fernández hingegen klingt – vor allem im direkten Vergleich mit Duquende – noch ein wenig unfertig. Aber er ist ja auch erst 19 Jahre alt und widmet sich außerdem hauptsächlich einer Fusion aus Flamenco und Pop, bei der eher medienkompatibler Gesang als Leidenschaft gefragt ist. Diese Fusionen zählen zum weiten Feld des flamenco nuevo und Titel wie "No sé" oder die lupenreine Popballade "El amor" zeigen, wie geschmeidig sich die traditionelle Musik mit anderen Stilen verbinden lässt. "El beso" erinnert mit poppigen Hintergrundchören und E-Gitarre an die Musik von Ketama, während die tangos "Quién" und "El barquero" mit Geige, E-Bass und Piano Ausflüge in den Jazz enthalten.

Nichtsdestotrotz beherrscht Israel den Flamenco: vom polymetrischen Soleástil in "Los cristales de mi alma" bis zur schwierigen, aus den Bergbauregionen stammenden taranta-Gattung ("Reloj sin minutero") singt er sich gekonnt durch die traditionellen Spielarten des Flamenco.

Israel
Naranjas sobre la nieve
Nuba Records/ Q-rious

Bis der in Quintanar de la Orden geborene Sänger allerdings die Qualität seines Idols "Camarón" erreichen wird, werden noch einige Jahre ins Land ziehen.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

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