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[art_4] Spanien: Chronik einer "alternativen" Semana Santa (2009)
 
Samstag, 4. April 2009: in froher Erwartung
Wir, die Madrilenen, erwarten im Atocha-Bahnhof mit schwerem Gepäck und ungeduldiger Vorfreude den Zug, der uns unserer fünften Semana Santa in Sevilla entgegen fährt. Die letzte Woche vor dem großen Ereignis war immer geprägt von nervösen Vergleichen verschiedener Wetterprognosen, dem Schwelgen in Erinnerungen an vergangene Semanas Santas und den Verabredungen mit Freunden, um besonders spektakuläre Prozessionen zusammen zu genießen.

Sevilla empfängt uns mit strahlendem Sonnenschein und dem Frühling des Südens in voller Blüte.

In unserer Gruppe von eingeschworenen Semana Santa Fans (bestehend aus unseren Sevillaner Freundinnen Amparo, Teresa und Regina, der Pumarejo-Familie und dem Freundespaar aus Madrid) gibt es zwei schmerzliche Lücken: es fehlen unser deutscher "Chef" und seine Freundin Cayetana (alle Namen wie immer von der Redaktion geändert).

Dieses Jahr konnten sie leider nicht kommen, aber ihre Gedanken werden in jedem Moment die Prozessionen Sevillas begleiten. Und vor allem für sie präsentieren wir diese nicht ganz ernst gemeinte Chronik der Semana Santa 2009.

Um unsere während des besonders kalten Winters eingeschlafenen Sinne langsam in Fahrt zu bringen, treffen wir uns mit Amparo in einer Bar mit "Prozessions-Ambiente": im Fernseher laufen Videos der Karwoche 2008, aus den Lautsprechern schmettern eher fröhliche Trauermärsche und über den fetten und verboten leckeren Kroketten wabert penetranter Weihrauch-Duft - die Semana Santa Droge, die uns schon am Vorabend des Palmsonntags ein wenig high macht. Zum Abschluss müssen wir natürlich den obligatorischen "Antrittsbesuch" in der Kapelle der Matrosen bei IHR machen (da ich erstmals diese Chronik schreibe, sind die Rollen vertauscht: die Macarena ist diesmal DIE ANDERE, während SIE die Esperanza de Triana ist.) Da oben thront sie in all ihrem Glanz, mit traurigem Blick und angedeutetem Lächeln... Plötzlich erklingt in der dicht gefüllten Kirche eine Saeta, gesungen von einem siebenjährigen Mädchen und eine Welle von Applaus brandet durch die Kapelle der Matrosen.

Palmsonntag, 5. April 2009
Der Palmsonntag beginnt mit hundertfachem Glockengeläut und mit dem üblichen Ankleide-Ritual, mit dem man sich in Sevilla auf den wichtigsten Sonntag des Jahres vorbereitet. Endlich kann ich, ausstaffiert wie eine Madonna im Krönungsmantel, an der Hand meines Mannes auf die Straße treten. Es folgt der "Palmsonntag-Parcour": sehen (die perfekt dekorierte Pracht der Pasos in den Kirchen) und gesehen werden (die eigenen Dekorationsbemühungen von anderen bewundern lassen).

Schon begeben wir uns zu unseren Freunden, die am Pumarejo-Platz wohnen und uns wie jedes Jahr zum traditionellen Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf  eingeladen haben - zum traditionellen Anlass der Prozession der Bruderschaft Hiniesta, die an ihrem Haus vorbei ziehen wird.

Das Menü ist wahrlich kein Fastenessen, sondern eher ein kulinarisches Gelage, das sich zum Ruhme Gottes über den ganzen Nachmittag zieht: nach dem Eintopf folgen Kabeljau mit Orangenblütengelee überbacken, Spinat mit Mandeln, ganz zu schweigen von den Süßigkeiten, die den Kaffee begleiten (die berühmten Torrijas und jede Menge anderes honigsüßes Gebäck).

Das Ganze dauert von 14 bis 19 Uhr. Unterbrochen wird das Schlemmen nur durch zahlreiche Trinksprüche - die auch dem von allen vermissten "Chef" gewidmet sind - und natürlich durch die Prozession, die man beinahe vergessen hätte.

Das erste Bild, das sich mir für immer von Sevillas Semana Santa eingeprägt hat, ist die Reflexion des Sonnenlichts auf einem Baldachin aus Silber und dunkelblauem Samt, davor eine Weihrauchwolke, die sich lichtet, bis ich plötzlich das schöne Gesicht der Madonna erkennen kann. Ist diese Flut von Sinneseindrücken real oder hat sie sich in Sekundenbruchteilen in etwas Magisches verwandelt?

Doch wir haben keine Zeit, darüber nachzudenken, sondern schon ruft uns eine besondere Herausforderung: dem "Chef" zu beweisen, dass es trotz der Tatsache, dass die Liebe (El Amor) und die Bitterkeit (La Amargura) oft Hand in Hand gehen, es sehr wohl möglich ist, beide getrennt zu sehen - ich meine natürlich die Prozessionen von El Amor und La Amargura!

In der Tat ist der Auszug der Prozession von El Amor für mich das Bild des Tages.

Wir befinden uns gegenüber dem Portal auf der anderen Seite der Plaza del Salvador. Eine unglaubliche Stille breitet sich auf dem dicht mit Menschen gefüllten Platz aus, als das Portal sich endlich öffnet. Der goldene Glanz der Altarbühne, auf der sich das Kreuz mit der Christusskulptur von Juan de Mesa erhebt, schiebt sich langsam hinaus ins Dämmerlicht.

Die Menge scheint den Atem anzuhalten, während sich der Paso, begleitet von seinem riesigen Schatten, seinen Weg über den Platz bahnt. Als er um die Ecke biegt, muss ich meinen Tränen freien Lauf lassen: wunderbar! Zum Abschluss müssen wir natürlich noch die Sternen-Madonna von Triana auf der alten Brücke sehen. Dieses Jahr ist es nicht kalt und die Wartezeit angenehm. Wir betrachten wie hypnotisiert den Mond, der in wenigen Tagen ganz voll sein wird.

Heiliger Montag, 6. April 2009
Der Tag beginnt mit einer obligatorischen Verabredung: dem Besuch beim "Jesus der großen Macht" (Gran Poder).

Diese berühmteste Christusstatue Sevillas beeindruckt jeden durch ihre geheimnisvolle Ausdruckskraft. Es erwartet uns ein anstrengender Nachmittag, den wir wie so oft in Triana mit der Betrachtung der Prozession von San Gonzalo beginnen.

Wir postieren uns vor der Estrella-Kapelle, wo die Träger, die als die besten in Sevilla gelten, mit dem tonnenschweren Paso wahre Kunststücke vollführen - schade, dass Cayetana das nicht sehen kann. Der Chef hätte hier mit uns geschimpft, weil wir uns leichtsinnig in das größte Gedränge gestürzt haben, was er bestimmt verboten hätte - aber dies ist ja eine "alternative" Semana Santa.

Es scheint aber wirklich mehr Zuschauer zu geben als in den Vorjahren - ist der Grund das besonders gute Wetter, die neue Metro-Linie, mit der die Leute aus den umliegenden Dörfern kommen oder die Krise, die viele nicht ins Ausland reisen, sondern in Sevilla bleiben lässt?

Danach folgt das Foto des Tages - die Träger des Cristo de Las Aguas müssen den Paso auf Knien durch das niedrige Portal der Kapelle tragen. Nach soviel ergreifender Trauer müssen wir uns erstmal mit Teresa und Regina zusammen bei Kaffee und Torrijas stärken, bevor wir die restlichen vier Prozessionen in Angriff nehmen: Santa Marta, Vera Cruz, Las Penas und El Museo.

Beim letzten Paso des Tages, der Jungfrau von El Museo, bin ich enttäuscht von den Trägern: ausgerechnet diese besonders schöne Madonna wird so schwankend getragen, als ob die Träger völlig betrunken wären! Etwas sanfter schaukeln bitte!

Heiliger Dienstag, 7. April 2009
Heute hatten wir sogar Zeit für eine Siesta! Wir haben uns mit unseren Sevillaner Freunden verabredet, um bei Dämmerung die Prozession der Studenten anzusehen. Doch vorher müssen wir halb Sevilla durchqueren, mit vier anderen Prozessionen, die es zu umgehen gilt. "Glaubst Du, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind?", fragt mich mein Mann. "Ich denke schon, die meisten gehen doch auch in diese Richtung." Ich kommentiere lieber nicht, den Blick, den er mir für diese Antwort zuwirft. Ich hab ehrlich gesagt gar keine Ahnung mehr, wo im Labyrinth der Altstadt Sevillas wir uns gerade befinden, aber nach fast zwei Stunden sind wir irgendwie doch am Treffpunkt angekommen: der Plaza de la Contratación.

Unter dem zweiten Orangenbaum werden wir Zeugen eines bizarren Handy-Gesprächs. "Wo bist Du...?...Ich warte am zweiten Orangenbaum...besser Du kommst auch hierhin, denn da wo Du jetzt stehst, wirst Du nur den Hintern der Madonna sehen..." Wir unterdrücken mit Mühe das Kichern und freuen uns, dass wir hier genau richtig stehen.

Wir folgen dem eindrucksvollen Christus von Juan de Mesa bis zur Kapelle der Universität, wo wir den ergreifendsten Moment des Tages erleben. Nur vom Licht der Kerzen und unheimlichem Schweigen begleitet, umhüllt von einer Wolke aus Weihrauch und Orangenblütenduft, gleitet der Schatten des gekreuzigten Christus über den Hof der Universität.

Nach einer kräftigen kulinarischen Stärkung machen wir noch der Prozession der Candelaria unsere Aufwartung, bevor wir zum Abschluss noch die wunderschöne Jungfrau des süßen Namens von der Kathedrale zum Campana-Platz begleiten. Rechts und links des Prozessionsweges nehmen die Abfallhaufen bedrohliche Ausmaße an - es gibt einfach zu viele Zuschauer!

Heiliger Mittwoch, 8. April 2009
Heute kommen unsere Freunde aus Madrid an und wir treffen uns mit Teresa und Regina dort, wo wir uns kennengelernt haben: an der Straßenecke, wo die Calle Rioja und die Calle Velázquez zusammen treffen.

Wir erwarten hier die Prozession der Baratillo-Bruderschaft - nie werde ich vergessen, dass diese Prozession vor fünf Jahren die erste war, bei der ich in Tränen ausbrechen musste vor lauter Entzücken (wenn Cayetana jetzt da wäre, würde sie fragen: "ist das nun kitschig oder erhaben?").

Während der langen Wartezeit fragt mich plötzlich ein etwa elfjähriger Junge: "Und Du - bist Du Atheistin, Agnostikerin oder Christin?" Ohne meine Antwort abzuwarten (ich wäre wohl sprachlos geblieben), fügt er hinzu: "Ich schwanke noch zwischen Atheist und Agnostiker, weißt Du?" Ich bleibe sprachlos.

Egal an was ich glaube oder nicht, ich sammle die Madonnenbildchen, die manchmal von den Nazarenos der Prozession an Zuschauer verteilt werden. Zuerst hab ich kein Glück, aber dann bekomme ich sogar eine silbern glänzende Medaille - mehr als ich erwarten durfte!

Teresa schlägt vor, erstmals die neue Bruderschaft Carmen Doloroso anzusehen (die der Chef in den letzten beiden Jahren nie sehen wollte) und neugierig stimmen wir zu. Mir gefällt die Prozession sehr gut, die Pasos werden vorbildlich getragen (kein Wunder, die Träger sind von der Macarena "ausgeliehen"). Da es eine arme Bruderschaft ist, ist der Paso des Christus nicht vergoldet und der Mantel der Jungfrau unverziert - was mir sehr gut gefällt (dem Chef aber gar nicht, er ist mehr für "Barock total").

Nach Mitternacht beschließen wir wie immer (dazu gibt es keine Alternative) den Mittwoch mit der Betrachtung der Prozession des Cristo de Burgos auf dem Platz, der seinen Namen trägt und in dunklem Schweigen liegt - bei ausgeschalteter Straßenbeleuchtung und einem Konzert von Saeta-Gesängen.

Gründonnerstag, 9. April 2009
Eine Neuigkeit: dieses Jahr gibt es gar keinen Regen! Im Gegenteil, die Sonne scheint herrlich. Wir beginnen den Tag mit einem Besuch bei IHR - der Esperanza de Triana in der Kapelle der Matrosen. Sie ist wie immer wunderschön, nur mit dem Design und dem etwas übertriebenen Blumenschmuck sind wir nicht ganz zufrieden.

Der Gründonnerstag ist wie immer: der höchste Feiertag Sevillas mit unfassbaren Menschenmassen, die herausgeputzt mit ihrer besten Kleidung die Kirchen überschwemmen und sich danach um die Tresen der Tapas-Bars drängen, als hätten sie seit Wochen nichts gegessen und getrunken.

Wir schauen uns erstmals die Prozessionen der Bruderschaften der Negritos und Caballos an, die beide während der beiden letzten Jahre wegen des Regens nicht stattfinden konnten. Sehr spektakulär. Aber der Höhepunkt des Tages ist natürlich die Bruderschaft Pasión. Wir sehen ihren Auszug aus der Kirche El Salvador und schließlich noch den Einzug der Prozession von La Quinta Angustia - beide absolut großartig. So, jetzt aber schnell noch ein wenig ausruhen vor der wichtigsten Nacht des Jahres...

La Madrugá (Karfreitagnacht), 10. April 2009
Die Madrugá, Sevillas magische Nacht, ist einfach unbeschreiblich. Es sind die emotionalsten Momente, die man in Andalusiens Hauptstadt erleben kann: ein paar Minuten, die man nie wieder vergisst. Da ist das unheimlich sanfte Schweigen von El Silencio, wenn die schwarzen Schatten vorbei huschen, die Ergriffenheit, wenn der Paso des Jesus der großen Macht genau vor uns zum Halten gebracht wird, die Heiterkeit der römischen Zenturie der Macarena, die Ekstase bei der Berührung des Baldachins der Macarena, und schließlich SIE (die Esperanza de Triana) vor der Kapelle in der Calle Adriano im Licht der aufgehenden Sonne - wir fallen uns todmüde, aber überglücklich in die Arme, im Bewusstsein, etwas Einzigartiges zusammen erlebt zu haben...

Karfreitag, 10. April 2009 nachmittags
Wir begleiten SIE noch bis zur Brücke, wo sie von ihrem Stadtviertel Triana mit Glockengeläut und einer noch größeren Menschenmenge empfangen wird. Nach dem üblichen Karfreitags-Frühstück mit dickflüssigem Kakao und Churros (heißes Spritzgebäck) gehen wir todmüde zu Bett. Als wir gegen fünf Uhr nachmittags aufwachen, hat die Prozession des Cachorro schon längst begonnen. Wir haben eine ganze Flut von SMS erhalten und diverse Freunde haben ein halbes Dutzend verschiedener Treffpunkte vorgeschlagen. Also sehen wir uns die Prozessionen an und wie immer zum krönenden Abschluss La Mortaja.

La Mortaja ist eine der wichtigsten Prozessionen, die feierlichste und "barockeste" von allen. Plötzlich ertönt direkt neben mir eine Saeta - gesungen von einem Jugendlichen, der noch ein halbes Kind ist.

Eine grandiose, herzzerreißende Saeta, dargeboten von einer starken Stimme mit ganz viel Gefühl - dies sind Momente, die jede Semana Santa unvergesslich machen!

Karsamstag, 11. April 2009
Heute ist der letzte Tag - schon mischt sich eine gewisse Traurigkeit in die Stimmung. Wir verabschieden uns von den Freunden aus Madrid, die bereits zurück müssen.

Den Morgen des Karsamstags widmen wir der Macarena. Es ist ein Tag der Abschiede - von der Macarena, von der Pumarejo-Familie, mit der wir uns für nächstes Jahr zum traditionellen Palmsonntags-Gelage verabreden. Am Abend treffen wir uns mit Teresa auf der Plaza de Santa Isabel, um dort den Einzug der Servitas-Prozession zu sehen.

Im letzten Jahr gab es einen Wolkenbruch, so dass die feierliche Prozession eher eine chaotische Flucht vor den Wassermassen in die schützende Kirche war. Es regnet immer noch nicht – 2009 ist die erste Semana Santa seit mindestens 8 Jahren, in der alle Prozessionen stattfinden konnte und keine einzige wegen Regen ausfiel.

Als letzte sehen wir dieses Jahr die Prozession der Soledad de San Lorenzo. Ein ganzes Festival von Saetas wird auf dem Platz für die einsamste aller Madonnen Sevillas gesungen. Mit dem Gesicht zum Volk verabschiedet sich diese Jungfrau der Einsamkeit und mit ihr die ganze Semana Santa, die Pforten schließen sich.

Wir feiern noch Abschied mit den Sevillaner Freunden und verabreden uns für 2010 zur nächsten Semana Santa. Schon im AVE auf der Rückfahrt nach Madrid lassen wir diese heilige Woche Revue passieren und können stolz feststellen, dass wir 31 Prozessionen gesehen haben. Es gab diesmal keinen Regen, noch mehr Zuschauer als sonst und unvergessliche Momente, wobei wir den "Chef" und Cayetana sowie ihre gewohnten Kommentare sehr vermisst haben. Aber es fehlen ja nur noch 364 Tage bis zur nächsten Semana Santa - wir sehen uns 2010!

Text: Amparo Gómez-Rey
Fotos: Vicente Camarasa
Übersetzung: Berthold Volberg

In eigener Sache: Die Initiative ¡Túmbala! für den Erhalt des Stadtbildes von Sevilla (pdf)

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