ed 05/2009 : caiman.de

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brasilien: Rio mauert seine Favelas ein
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


kuba: Havanna - alles echt?!
ANDREAS DAUERER
[art. 2]
brasilien: Tochter, Mutter, Oma und Hure
Das bewegte Leben der Gabriela Leite
THOMAS MILZ
[art. 3]
venezuela: Die Pelikane von Los Roques (Bildergalerie)
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[art. 4]
pancho: Croquetas
Die fetteste Tapa der Welt
BERTHOLD VOLBERG
[kol. 1]
grenzfall: Freitodblocker Gazpacho
DIRK KLAIBER
[kol. 2]
erlesen: Argentinien kompakt
TORSTEN EßER
[kol. 3]
macht laune: Knobi für Doctora
DIRK KLAIBER
[kol. 4]





[art_1] Brasilien: Rio mauert seine Favelas ein
 
Michael Jackson hat hier einst einen Videoclip gedreht, doch das ist schon lange her. Normalerweise fristet die Favela Santa Marta ihr unaufgeregtes Dasein im Schatten der weltberühmten Christus-Erlöserstatue, die hoch über ihr auf dem Corcovado-Berg in Rio de Janeiro ihre Arme einladend über Arm und Reich ausbreitet. Seitdem jedoch blau gekleidete Bauarbeiter links und rechts der Tausenden sich den Berg hinaufziehenden Hütten eine drei Meter hohe und 634 Meter lange Betonmauer errichten, ist die Favela mit ihren 9.000 Bewohnern in den Fokus der brasilianischen und internationalen Berichterstattung zurück gekehrt.



Etwa 1.000 Favelas ziehen sich wie ein Flickenteppich über das Stadtgebiet Rio de Janeiros. Illegal errichtete Stadtviertel, in die sich die Staatsgewalt nur in Form von schwer bewaffneten Elitetruppen der Polizei hineinwagt. Um die Herrschaft in den Favelas tobt seit Jahrzehnten ein blutiger Kampf zwischen lokalen Drogenbanden und aus korrupten Polizisten gebildeten Milizen, die sich die besten Verkaufspunkte für Drogen sichern wollen. 

In Rios postkartengleicher Südzone rund um die weltberühmten Strände Copacabana, Ipanema und Leblon kleben die Favelas an den Berghängen oberhalb der sündhaft teuren Wohnviertel der Mittel- und Oberschicht. Zwar ist die Bevölkerungszahl der Stadt seit zwei Jahrzehnten stabil. Doch immer weiter fressen sich die Favelas in die dichte Vegetation des Atlantischen Urwalds hinein. Hier wohnen die Hausangestellten der wohlhabenden Familien, direkt oberhalb ihrer Arbeitsplätze. Zentrale Lage mit Traumblick zur Null-Miete. 

Santa Marta ist die erste von vorerst 12 Favelas der Südzone die mit Betonsperren umzogen werden sollen. Insgesamt 15 Kilometer, die den Steuerzahler gut 40 Millionen Reais (14 Millionen Euro) kosten werden. Man wolle die weitere Ausdehnung der Favelas in die noch intakten Waldgebiete verhindern, hat Rios Gouverneur Sergio Cabral jüngst als offiziellen Grund für die "Bauwerke" angeführt. "Das Ziel ist es, die städtische Ordnung wiederherzustellen und zu verhindern, dass der Wald weiter in Mitleidenschaft gezogen wird", so Cabral. 

Doch Zweifel machen sich breit. "Es gibt drei Argumente für die Errichtung der Mauern: ein ökologisches, ein stadtplanerisches und die Paranoia der Mittelschicht", meint Rubem Cesar Fernandes, Direktor der NGO Viva Rio, die sich gegen Gewalt in der Stadt und für die Integration der Favelas einsetzt. Für Fernandes ist das ökologische Argument durchaus stichhaltig. Doch er fürchtet die Symbolik, die von der Mauern ausgehen kann. "Es wird bereits darüber diskutiert, auch um Favelas im Norden von Rio Mauern zu ziehen – und dort gibt es keine Wälder, die es zu schützen gilt."

Für viele Cariocas, wie die Einwohner Rios heißen, bilden die Favelas einen Schandfleck im sonst so perfekten Stadtbild. Und die aus den Favelas hinaus in die Stadt übergreifende Gewalt raubt so manchem den Schlaf. Erst vor wenigen Tagen lieferten sich Drogenbanden mitten in Copacabana eine Schießerei mit der Polizei, bei der fünf Banditen ums Leben kamen. Eine hohe Mauer mit wenigen leicht zu kontrollierenden Ein- und Ausgängen scheint da für manche eine nahe liegende Lösung zu sein.

Internationale Aufmerksamkeit erlangte der Mauerbau, nachdem der Literaturnobelpreisträger Jose Saramago das Projekt scharf angegriffen hatte. "Wir hatten die Mauer in Berlin. Wir haben eine Mauer in Palästina. Und jetzt haben wir die Mauern in Rio", schrieb der Portugiese Ende März in seinem Internet-Blog. Schlagwörter wie "Isolierung", "Diskriminierung" und "Ghettobildung" machten daraufhin in der Presse die Runde.   

 
Doch ganz so dramatisch sehen es die direkt Betroffenen dabei nicht. "Es hat immer schon Begrenzungsmauern zu den Nachbargrundstücken gegeben", sagt Jose Mario Hilario, Präsident der Vereinigung der Bewohner der Santa Marta.

"Wäre unser Volk zivilisiert, dann würden sie erst gar nicht in die Wälder vordringen. Aber so wie es ist, muss man halt zu drastischeren Mitteln greifen."

Gespalten ist die Meinung hingegen in der Favela Rocinha, in der 260.000 Menschen unter prekären Umständen leben. Hier soll am Montag mit dem Bau der 2,5 Kilometer langen Mauer begonnen werden, die den auf den Bergkämmen vorhandenen Grüngürtel schützen soll. Einen Park für die Anwohner will die Regierung hier errichten. 

"Wir sprechen hier nicht von einer Mauer, die die Freiheit der Menschen beschränkt oder etwa die Favela von der restlichen Stadt trennen soll", meint William de Oliveira, Präsident der "Populärbewegung der Favelas" (Movimento Popular das Favelas) und Bewohner der Rocinha. Für ihn ist es unabdingbar, die an besonders steilen und von Erdrutschen bedrohten Stellen einzuschreiten. "Oft bauen die Leute in Gefahrengebieten und da ist eine Begrenzung nötig, damit dies gestoppt wird." 

Anders sieht es jedoch Antonio Ferreira de Melo, Präsident der Vereinigung der Bewohner der Rocinha, der sich für eine symbolische Begrenzung in Form einer Straße, eines Rad- oder Fußgängerweges ausspricht. "Die Symbolkraft (der Mauer) ist die einer geteilten Stadt, der Trennung, und das wird die Vorurteile gegen die Favelabewohner noch verstärken", so Melo.

Text + Fotos: Thomas Milz

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[art_2] Kuba: Havanna - alles echt?!

Ach Havanna! Die Stadt der Zigarren, des Rums, lauter Musik in Form des technoartigen Sons, der teilweise recht hübschen Kubanerinnen, der alten Ami-Schlitten, Fidels, der engen Gassen, in denen Kinder immer Pelota spielen und eines allgegenwärtigen Ches. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Fragt man Leute, die schon mal auf Kuba waren, dann verklärt sich schnell ihr Blick und sie erzählen mit verwegen-romantischer Miene, wie schön es in der Hauptstadt Kubas doch sei. Wie sehr das Leben dort pulsiere und wo sonst könne man karibisches Flair noch so hautnah spüren wie auf dieser kleinen sozialistischen Trutzburg?!

Das ist ein durchaus sympathisches Verhalten, wie ich finde. Oder besser: es ist sehr höflich, aber entspricht es auch der Realität?

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50 Jahre ist es jetzt her, dass Fidel, sein Bruder Raúl – der inzwischen die Regierungsgeschäfte führt – und der omnipräsente Argentino-Export Che Guevara die Revolution erfolgreich nach Havanna trugen und diese ausgiebig feierten. Seitdem ist viel passiert und irgendwie scheint die Zeit dennoch stehengeblieben zu sein. Würde man hier Gymnasiasten lehren, wie ein dialektischer Aufsatz auszusehen habe, man könnte es ihnen nicht anschaulicher präsentieren. Scheinbar wahllos werden einige der wundervollen alten Gebäude saniert – vorzugsweise im touristisch hoch frequentierten Viertel Habana Vieja – und man erhält eine vage Idee, wie diese Stadt einmal ausgesehen haben mag. Es ist keine Seltenheit, dass neben einem fünfstöckigen Herrschaftshaus, das seit Jahrzehnten nur eine Familie bewohnt, weil die darüber liegenden vier Stockwerke schon längst in sich zusammengebröselt sind, eine prächtige Häuserfassade renoviert wurde und man nur darauf wartet, dass die schicke Pferdekutsche samt Comtesse herausgefahren kommt (und im Umkehrschluss sehr enttäuscht ist, dass es doch nur ein verträumt wirkender Opa ist, der sich eine neue Zigarre kaufen will).

Spaziert man auf dem Prado vom Capitol in Richtung Malecón, gleicht das einem Spießrutenlauf. Je nach Tageszeit stößt man auf Bettler, Schlepper, ein paar semiprofessionelle Mädchen und eine Hand voll Polizisten, die hier Streife gehen. Der Bettler will ein paar Pesos fürs Essen, der Schlepper will ein paar Pesos fürs Leben und einen Drink, und die Prostituierten wollen ein paar Pesos fürs gemeinsame Zeitverbringen, einen Drink samt Mittag- und/oder Abendessen und vielleicht für eventuelle körperliche Dienste. Auch für eine kleine Shoppingtour – der Kunde zahlt – sind sie zu haben. Die Polizisten sind in dieser Szenerie nur Beiwerk. All das ist nicht verwerflich, aber wo bitteschön ist denn das „echte Kuba“ geblieben? Das, das die Reisenden so liebevoll beschwärmen oder jenes, das im Reiseführer so nett beschrieben wird?

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Nach drei Tagen in dieser verrückten Stadt macht sich in mir ein klein wenig Ernüchterung breit. Ich hätte es mir eigentlich denken können, dass das richtige Kuba zwar in Havanna zu finden ist, es aber nicht so ohne weiteres und offensichtlich zu Tage tritt. Und dennoch offenbart es sich Tag für Tag, in jeder x-beliebigen Straße und ja, auch auf dem Prado. Der eine braucht das Touristengeld, weil er außer den staatlich rationierten Lebensmitteln noch etwas Zusätzliches für seine Familie benötigt; der andere braucht es, weil er sich heute selbst keinen Cocktail leisten kann, aber auch gerne an Windeln für seine kleine Tochter kommen möchte und die nächste braucht von all dem vorherigen noch ein bisschen mehr, weil auch die Nachbarin noch unterstützt werden will. Was hier groß geschrieben wird, ist ein solidarisches Miteinander. Wohl mit die größte Errungenschaft, die die Revolution hervorbrachte, wenngleich das doch alles ganz anders geplant war. Vor allem die Komponente Mensch mit all ihren Facetten und Eigenheiten, die hat das System nicht wirklich in den Griff bekommen.

Wenn irgendwann die karibische Sonne hinter dem Hotel Nacional untergegangen ist, beginnen die Habaneros ihren geliebten Malecón zu bevölkern. Familien, Kinder, verliebte Pärchen. Rum ist immer mit dabei, vereinzelt auch Gitarren oder Gettoblaster, die stumpfe Reguetón-Rhythmen aus den Boxen dudeln. Man trifft sich, plaudert, lacht, singt, schreit und im Hintergrund die Wellen, die an die Uferpromenade peitschen. Standesgemäß beginnt am Malecón aber nur das Vorspiel, ehe man sich der Nacht voll Rum, Musik und Magie hingibt. Wer Glück hat, kommt mit den Einheimischen zumindest ins Gespräch. Und wer noch mehr Glück hat, der wird mit ihnen um die Häuser ziehen. 

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Irgendwo hinter einer verwinkelten Gasse, in einem von außen abrissreifen Haus, zeigt Havanna dann sein Gesicht. Ehrlich und aufrecht. Was zählt, ist der Augenblick, die Musik, die Mädchen und Rum; genau in dieser Reihenfolge. Buena Vista Social Club, das war einmal. Son und überharter Reguetón fahren einem heute in die Glieder – und das ist gut so. Rum ist zwar per se kein Teufelsgesöff, braucht aber eine gewisse Handhabe. Er will aus dem Körper hinausgetanzt werden. Dafür sorgen abwechselnd die Musik, die Mädchen und der Rum. Da ist es überaus hilfreich, dass man auf diese Art von Musik nicht auf Paartanz angewiesen ist. Nach dem zweiten Rum-Cola bewegen wir uns schon anständig, nach dem dritten tanzen wir unserer Meinung nach so gut wie die Kubaner und nach dem vierten ist es uns dann endgültig egal, ob wir es halbwegs hinbekommen oder nicht. Was aber nach einer solchen Nacht vor allem hängen bleibt, ist die Erkenntnis, dass in Kuba alles echt ist: Rum, Mädchen, Musik – und irgendwo dazwischen auch im Augenblick ein kleines bisschen Revolution.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

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[art_3] Brasilien: Tochter, Mutter, Oma und Hure
Das bewegte Leben der Gabriela Leite
 
"Alles erscheint waghalsig demjenigen, der sich nichts traut." (Fernando Pessoa)

Tagsüber Büroarbeit, abends die Uni, Philosophie. São Paulo Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre, einer Zeit des Aufbruchs, der freien Liebe mitten im Grau der Militärdiktatur. Für Gabriela ist das traditionelle Leben zwischen Arbeit und Studium nicht spannend genug. Sie will etwas Neues kennen lernen, das Leben und sich selber.

Sie entscheidet sich Prostituierte zu werden. Zuerst im "Boca do Luxo", dem schicken Prostituiertenviertel São Paulos, dann in Belo Horizonte und später in Rio de Janeiro.

Hier wird sie zur wichtigsten Aktivistin für die Rechte der Prostituierten, gründet die NGO Davida, die sich um das Wohlergehen der Prostituierten kümmert. Sie findet den Mann ihrer Träume und gründet mit ihm das Prostituierten-Modelabel DASPU, was ihr weltweites Aufsehen und Schlagzeilen garantiert.

Heute, mit 57 Jahren und nach 30 Jahren Arbeit als Prostituierte, blickt sie auf ihr bewegtes Leben zurück - in Form ihrer Autobiographie "Filha, mãe, avó e puta" (Tochter, Mutter, Oma und Hure). Inmitten ihrer landesweiten Tour durch TV-Programme, Zeitungen und Magazine haben wir Gabriela in São Paulo getroffen.

Interview mit Gabriela Leite
Tochter, Mutter, Oma und Hure - Warum diese Reihenfolge im Titel?
Gabriela: Weil ich Tochter bin, daneben noch Mutter und Oma - und dazu auch noch Hure. Die Leute können sich einfach nicht vorstellen, dass eine Prostituierte all das sein kann. Und deshalb wollte ich das unterstreichen. 

Und alle diese Lebensabschnitte sind gleichwertig?
Gabriela: Alle sind mir gleich wichtig. 

Hat sich die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Prostituierten verändert?
Gabriela: Es hat sich meiner Meinung nach verbessert. Aber es bleibt natürlich noch viel zu tun. Gestern war ich in Bahia in der Flughafenbücherei. Ich hab die Verkäuferin gefragt, ob sie das Buch von Gabriela Leite habe. Und sie antwortete: "Sie meinen dieses Buch mit dem schmutzigen Namen?" 

Filha, mãe, avó e puta
Gabriela Leite

ISBN 9788573029246
228 páginas
Formato: 16 x 23 cm
Data de Lançamento: 03/04/2009 
R$ 33,90 (preço sugerido)


Ich fragte sie, was denn wohl an dem Titel so schmutzig sei. "Weil das Buch über Huren handelt", antwortete sie. Da habe ich ihr gesagt, dass das mein Buch sei. Da hat sie sich umgedreht und dem Geschäftsführer zugerufen: "Wir müssen unbedingt das Buch von Gabriela Leite ins Programm aufnehmen." Da gibt es also noch einige Vorurteile. 

Morgen zum Beispiel bin ich im Programm von Amaury Jr.; auf der Webseite  ist das Interview mit mir angekündigt - aber den Titel meines Buches haben sie von "Hure" in "Prostituierte" geändert. (lacht) 

Die Leute haben Angst vor dem Namen Puta, Hure. Die Leute, die das Buch hier in der Buchhandlung gekauft haben, verstecken es noch etwas verschämt. Aber es verkauft sich bereits sehr gut. 

Was hat dich bewegt, Dein Leben in ein Buch zu packen?
Gabriela: Ein Freund hat mir mal gesagt, dass alle sozialen Aktivisten Brasiliens eigentlich ihre Geschichte erzählen müssten. Und ich denke, dass dies fundamental ist. Sie alle sollten ihre Geschichte erzählen.

Text + Fotos: Thomas Milz
Foto Thomas und Gabriela: Veloso

Von Thomas Milz ebenfalls erschienen:
DASPU contra Fashion Week 2008
Bunte und schrille Modetage in São Paulo


Wer ein wenig in Gabrielas Buch reinschnuppern will: PDF

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[art_4] Venezuela: Die Pelikane von Los Roques (Bildergalerie)
 
Zum ersten Mal in Lateinamerika, erschien mir alles absolut faszinierend: Die Höhe, Guatemala Stadt liegt auf 1500 Meter über dem Meeresspiegel, das Bohnenmus, die Orangenbäume ... Vulkane, Musik und Karibik. Dort sah ich dann meinen ersten Pelikan und war etwas enttäuscht. Pelikane waren in meiner Vorstellung schneeweiß mit schwarzen Flügeln. Diese Pelikane aber einheitlich braun oder braun mit weißlichem Kopf. Es dauerte einen Moment, dann machte es klick und ich erkannte, dass mich der damals allgegenwärtige Füllhalter-Hersteller betuppt hatte und erlangte somit meine Faszination zurück. 

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Und die hat Bestand! Vor wenigen Wochen war ich auf den karibischen, Caracas vorgelagerten, Inseln, Los Roques. Dort wimmelt es nur so von Pelikanen, den braunen Pelikanen! Braune Pelikane sind kleiner als ihre weltweit verstreuten Artgenossen. Sie erreichen gut einen Meter Körperlänge und werden bis zu 3,5 Kilogramm schwer. Als Modell für das Füller-Logo waren sie mit diesen Maßen und der Farbe wohl nicht so gut geeignet wie der Brillenpelikan, der dem Logo schon sehr nahe kommt. 

Braunpelikane sind gesellig und jagen in Gruppen. 10-30 Vögel fliegen dann vor dem Abendrot auf und ab und stürzen sich mal von knapp über der Wasseroberfläche bis aus Höhen von 10 Metern ins Meer. Ein gewaltiges Spektakel: 30 Vögel gleichzeitig im Sturzflug, ihre Flügelspannweiten von zwei Metern demonstrierend. Alle tauchen umgehend wieder auf und scheinen erfolgreich gefischt zu haben. Koordinationswunder könnte man denken, wenn nicht der eine oder andere Vogel den Anlegesteg oder eines der Fischerboote streifen würde.

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Text: Maria Josefa Hausmeister
Fotos: Dirk Klaiber



[druckversion ed 05/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[kol_1] Pancho: Croquetas
Die fetteste Tapa der Welt
 
Wenn es ein Gericht gibt, das zwingender Bestandteil jeder Tapas-Speisekarte sein muss, dann diese oft unterschätzten kleinen Teile. Eher unscheinbar, im besten Fall immerhin mit schöner, goldbrauner Färbung. Wobei viele Andalusier der Meinung sind, dass man die Güteklasse einer Tapas-Bar allein an der Qualität ihrer "Croquetas caseras" messen kann. Da fast jedes Lokal in Südspanien sie nach geheimem Hausrezept zubereitet und auf der Karte hat, werden kulinarisch interessierte Besucher zum Geschmacksvergleich eingeladen. Nur eine Tapas-Bar, die ebenso originelle wie köstliche Croquetas-Kreationen anbieten kann, verdient das Gütesiegel "excelente".

Dabei muss man zuerst einmal wissen, dass die direkte deutsche Übersetzung "Kroketten" völlig irreführend ist. Denn unsere Röllchen aus Paniermehl-verkleideter Kartoffelpüree-Pampe haben mit den raffinierten andalusischen Croquetas außer der Form rein gar nichts gemeinsam.

Doch Vorsicht: Zwar sind Croquetas köstliche Gourmet-Happen, aber ein Wettessen ist nicht gerade magenfreundlich, da sie eine geballte Ladung pures Fett enthalten. Nie werde ich vergessen, als ich bei einer Geburtstagsfeier verkündete, die Croquetas seien "abgezählt": es gebe nicht mehr als 10 pro Kopf. Die erste Reaktion war Entrüstung der Gäste, aber schließlich hat niemand die 10 geschafft, der Tapferste schaffte 8, alle anderen höchstens 6 – es ist halt eine Tapa, keine Schlachtplatte. 

Bei der Zubereitung sind die drei häufigsten Betriebsunfälle:
  • zu langes Frittieren (Croquetas werden zu trocken und zu hart oder gar braunschwarz)
  • zu große Faulheit beim Rühren (es bilden sich Klümpchen in der Bechamel-Masse, sehr unappetitlich)
  • zu große Trägheit beim Schnibbeln (die Masse bleibt zu grob und pappt nicht zusammen, Croquetas fallen beim Braten oder oft schon vorher auseinander)
Die Zubereitung ist sehr zeitaufwendig (vier Stunden sind als minimaler Zeitaufwand einzukalkulieren, es kann auch deutlich länger dauern) und durchaus kompliziert, was aber nicht für Entmutigung sorgen sollte. Denn wenn Croquetas richtig gut gelingen, können sie bei allen Beteiligten großen Enthusiasmus auslösen.

Damit der beträchtliche Aufwand sich lohnt, empfiehlt sich eine größere Menge Zutaten (für ca. 8 Personen, d.h. für etwas mehr als 60 Croquetas):

Für die Bechamel-Masse:
Ein halbes Kilo Mehl, ein Liter Milch, 1 ganzes Paket Butter (250 Gramm), eine extrem fein gehackte Zwiebel, 3 ebenfalls sehr fein gehackte Knoblauchzehen. 

Je nach Geschmacksrichtung (man beachte das "oder"), wichtig ist nur, dass alle Zutaten sehr klein gestückelt unter die Bechamel-Masse gequirlt werden:
ca. 400 Gramm entweder Serrano-Schinken oder Chorizo oder Bacalao (Kabeljau, in Spanien verwendet man getrockneten) oder Mojama de atún (getrockneter Thunfisch-Schinken) oder Gambas-Stückchen oder vegetarische Varianten: Roquefort oder Ziegenkäse oder Gorgonzola (auch kombiniert mit Walnuss-Stückchen) oder Camembert

Gewürz-Zutaten (hier ist alles kann, kein muss):
Muskatnuss, Salz, Pfeffer, Paprikagewürz, evtl. Curry, Chili, getrocknete Tomaten in winzige Stückchen geschnibbelt, Kräuter nach Gusto: Rosmarin, Thymian, Minze, Majoran, Basilikum, einen großzügigen Schuss (ein Gläschen) süßen Sherry (sehr empfehlenswert!) oder Marsala, 

Für die Hülle:
statt Paniermehl geriebene Brotkrümel und 4 – 5 gequirlte Eier
zum Braten/Frittieren: sehr reichlich Olivenöl (bis zu 1 Flasche) 

Zubereitung:
Zuerst alle Zutaten (Schinken oder Chorizo oder Mojama oder Fisch oder Käsesorte nach Wahl) klein schnibbeln, dabei vor allem Kräuter, Zwiebel und Knoblauch in winzige Stückchen hacken (allein diese Prozedur des geduldigen Zutaten-Zerhackens dauert bis zu einer halben Stunde). Dann die Butter in einem hohen, großen Topf zerlassen und darin Zwiebel und Knoblauch und Schinken (oder die jeweils alternative Zutat für die Hauptgeschmacksrichtung) bei schwacher (!)  Hitze sehr langsam dünsten. Wenn alles ein wenig golden schimmert (auf keinen Fall zu dunkel anbraten!), kommt die eigentliche Arbeit: nach Hinzufügen von Muskatnussgewürz abwechselnd sorgfältig durchgesiebtes Mehl und die Milch langsam und in kleinen Mengen dazugeben und mit dem Schaumschläger rühren, rühren, rühren – dabei nicht zu sehr meditieren, denn die Masse darf nicht zu steif und nicht zu flüssig werden. Nach und nach muss man alle Gewürze und den Sherry, getrocknete Tomaten usw. dazugeben. Schließlich wird die Masse zäh und klebrig, nicht selten klebt sie in einem großen Klumpen am Schläger. Zum Schluss noch ein geschlagenes Ei unterkneten, damit die Masse beim Abkühlen geschmeidig bleibt. Das alles dauert mindestens 1 Stunde, da man bei sehr schwacher Hitze zubereiten muss, denn es darf auf keinen Fall etwas anbrennen.

Danach muss die Masse mindestens 1 Stunde abkühlen, am besten relativ flach auf eine große Platte streichen.

Während dieser Zeit braucht man nicht untätig bleiben, sondern kann altes, hartes Weißbrot zu feinem Brotstaub raspeln und die Eier schaumig schlagen. Anschließend formt man aus der Kroketten-Masse länglich-ovale, etwa 2 cm dicke und doppelt so lange Klößchen. Man kann dazu einen Löffel nehmen, aber am besten geht’s einfach mit den Händen.

Wenn das geschafft ist, müssen alle 60 – 70 Croquetas in das verquirlte Ei getunkt und dann mit Brotstaub bestreut werden. Zum Schluss kommt Fett zu Fett: die mit reichlich Butter zubereiteten Croquetas stoßen auf Olivenöl. In eine große und tiefe Pfanne fast 1 Flasche Olivenöl gießen und Croquetas bei eher schwacher Hitze und leichtem Wenden goldgelb braten. Wer Angst vor zuviel Fett hat, kann sie auch – zumindest mit etwas Olivenöl beträufelt – im Backofen garen (allerdings mit erhöhter Gefahr, dass sie zu trocken und hart werden). 

Übrigens: Croquetas schmecken aufgewärmt fast noch besser als ganz frisch und wer zuerst nicht glaubte, dass die Zubereitung mindestens 4 Stunden dauert, der ist nachher so geschafft, dass er vergisst, auf die Uhr zu schauen ... am besten erholt man sich vom Zubereitungs-Marathon, indem man erstmal eine Croqueta probiert (oder 2 oder 3 oder...).

Text: Berthold Volberg
Fotos: Thomas Jäckel

Von Berthold Volberg ist über Sevilla mit einem umfangreichen Semana-Santa-Spezial folgende Monografie erschienen:

Volberg, Berthold
Sevilla – Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm


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[kol_2] Grenzfall: Freitodblocker Gazpacho
 
Bartólo, Mitglied der Macarena-Bruderschaft in Sevilla, hat einmal gesagt: Gazpacho hat schon manch einen vor dem Suizid bewahrt.

Was ist dran an der Aussage des katholischen Köln-Andalusiers? Nähern wir uns der kühlen aromatischen Suppe aus dem Süden Spaniens – ich würde ansetzen – über die Jahreszeiten. Schon der Blick auf den Namen verrät uns geschwind, im Gegensatz zu fast allen anderen Speisen sind im Gazpacho alle vier Jahreszeiten vetreten: GA-Z-PA-CHO.

Der Frühling bläst uns den Muff aus der Poofe, haucht der Matratze Leben ein und macht uns completamente GA-GA. Von den drei Haupt-Ingredienzien ist es die Gurke, die Gazpacho zum Lebenselixier der frühen Zeit avancieren lässt. Mit den ersten Sonnenstrahlen wird man sich der eigenen körperlichen Gebrechlichkeit bewusst. Böse trifft UV auf weiß Aufgedunsenes. Ungläubig und angewidert beäugt man das eigene Spiegel-Ich aus den Augenwinkeln heraus. – Fasst euch ein Herz! Zurück ins Leben mit Gurke!

Die Allrounderin Gurke entgiftet, entschlackt, reinigt Blut und Seele und senkt den Blutzucker. Boooh! Aber damit nicht genug, denn sie erfrischt das Gesicht. Die zwangsläufig nach einem harten Winter nicht ganz reinliche Haut, zudem gefordert von dem ersten Sonnenbad, wird dir die Gurkenmaske danken. Es muss nicht die ganze Gurke ins Gazpacho. Gönne dir die Musepause, mit Scheibchen belegt, dem Nichts zu frönen. Und dich dann erst dem Z zuzuwenden.

Endlich Zommer! Zuckersüße Nächte mit zärtlich zickigen Zoten und Zöglingen. Der Sommer ist die große Zeit der Tomate. Im Sommer schmeckt die Tomate noch nach Tomate, sind endlich auch die heimischen Sorten gereift. Nie sah die Menschheit vergleichbare dreizehn Vitamine und siebzehn Mineralstoffe in einer dermaßen formvollendeten, von verlangendem Duft umgarnten, Schönheit vereint. Und von welch unschätzbarem Wert erst ist ihr gesundheitförderliches Zusammenspiel von Karotenoiden, Polyphenolen und Vitaminen, die die Störenfriede des Herz-Kreislauf-Systems eliminieren und das Wachsen von Krebszellen verhindern. Die Tomate steht für die sommerliche Frische des Gazpachos, das an besonders heißen Tagen bis nahe an den Gefrierpunkt heruntergekühlt serviert werden darf.

Wenn die Nächte kühler und die Tage – Oh Himmel schreiende Ungerechtigkeit! – kürzer werden, verleiht ein Herbstgemüse dem Gazpacho seinen unbedingten Stellenwert zur Jahreszeit der steigenden Suizidrate. PA-prika! Eine alte Bekannte der Tomate, mit der sie gemeinsam in der frühen Neuzeit aus Südamerika nach Europa segelte. Die Paprika ist federführend in den beeindruckenden Zahlenwerten ihren Vitamin-C-Gehalt betreffend: 100 Gramm Paprika enthalten 140 Milligramm Vitamin-C! Auf natürliche Weise lässt sich so der durch ausbleibende Sonneinstrahlungszeit reduzierte Energiehaushalt ausgleichen. Und dann beinhaltet die Paprika – nehmt für Gazpacho aufgrund der gefälligeren Farbe der Gesamtkomposition die roten – reichlich Kalium, Magnesium, Eisen und Kalzium. Sie stärkt die Knochen, schmiert die Gelenke, erleichtert die Verdauung. Einen Guten!

Der Winter bringt Schneematsch, Grauröckchen, Dunkelheit, fiese Stimmung und – Oh große Not! – Gazpacho hat nur drei Hauptzutaten. Gurke, Tomate und Paprika bereits verbucht für Frühling, Sommer und Herbst. Da ist guter Rat teuer. Befragen wir den Meister, den Koch der Köche. Den einzigen Gourmetbezirzer in Europa mit vier Sternen. Pan-CHO hilf!

Ich helfe! Halten wir es mit der traditionellen chinesischen Medizin und erhöhen gegen die Kälte des Winters den Anteil der eigentlichen Nebeningredienzien, Knoblauch und Chili. Dies wärmt das Herz und steigert noch einmal den erkältungsblockenden Vitamin-C-Gehalt des Gazpachos, der bei Zimmertemperatur seinen vollen Geschmack entfaltet. Und bedenke, mehr Chili verursacht mehr Schmerzen. Nicht übertreiben, aber auch nicht zu zimperlich mit den Schoten. Der Schmerz signalisiert dem Hirn, tu was, es brennt! Und das Hirn produziert Endorphine, die nicht nur den Mund entlasten, sondern Glücksgefühle hervorrufen und so der Winterdepression entgegentreten.

Almodóvar, Filmemacher aus Sevilla, hat Gazpacho zum Giftträger erkoren und eine Handvoll polizistenimitierende Schauspieler vorübergehend in den ewigen Schlaf gleiten lassen. Bartólo, unser katholischer, wenig suizidgefährdeter Freund, liebt Almodóvar. In Anlehnung an das Giftgebräu Almodóvars hat Bartólo vor vielen Jahren das ganzjährig Wohl über Geist und Gesundheit bringende Gazpacho in Rezeptform im caiman veröffentlicht und so die gesamte Redaktion vor dem Freitod bewahrt.

Zum Rezept: Gazpacho von vor Jahren

Text + Fotos: Dirk Klaiber

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[kol_3] Erlesen: Argentinien kompakt

Ingo Malcher, Tango Argentino. Porträt eines Landes
Die Geschichte Argentiniens beginnt – wie die anderer lateinamerikanischer Länder auch – mit einem Irrtum: Silber hätte es im Fluss in Hülle und Fülle geben sollen, weswegen er 1526 von Sebastián Caboto den Namen Río de la Plata erhielt, wovon später "Argentinien" (Silber = lat. Argentum) abgeleitet wurde.

Das erfährt man im Buch von Ingo Malcher über Argentinien, wo er zehn Jahre als Korrespondent tätig war. In dieser Zeit hat er viele Reportagen über das Land geschrieben, und einige davon, z.B. über die dort untergetauchten Nazis oder über eine von Arbeitern übernommene Fabrik, hat er zwischen die Sachtexte gestellt, die alles Wichtige über das Land vermitteln sollen. Eine gute Idee, wird auf diese Weise doch die Materie aufgelockert und so können auch nicht rein wissenschaftlich interessierte Leser für ein Sachbuch gewonnen werden. Die Auswahl ist subjektiv, meiner Meinung nach ein wenig exotisch, aber nachvollziehbar, wenn man weiß, dass der Autor dem links-progressiven Lager hierzulande entstammt und keinen Hehl aus seinen Sympathien für linke Parteien, Wirtschaftstheorien, Revolutionäre und Reformer macht. Umso unerklärlicher der in die Irre führende und meiner Ansicht nach dumm gewählte Titel des Buches, der den Durchschnittsbetrachter an eines der vielen Bücher über Tango denken lässt. Dabei handelt nur ein Kapitel über diese, für Argentinien typische, Musik.

Ingo Malcher
Tango Argentino. Porträt eines Landes
Beck
München 2008
Seiten 208
12,95 Euro

Nach den ersten zehn Seiten, auf denen Malcher die Geschichte der Region bis zur Unabhängigkeit von Spanien schildert, wird das Buch richtig interessant. Denn schon während der Unabhängigkeitskämpfe bilden sich Phänomene heraus, die bis heute prägend für das alsbald "Argentinien" getaufte Land sein sollten. So musste der Befreier José San Martin sehr schnell seine Vision vom geeinten Land begraben, die Politik kleinkarierten Parteigängern überlassen und ins Exil gehen. Lektion 1: Bis heute sind Männer mit Visionen in Argentinien – wenn überhaupt – nur gefragt, solange sie keine Machtansprüche erheben!

Als Folge wurde der junge Staat von verschiedenen Provinzgrößen (caudillos) beherrscht. Lektion 2: Bis heute beherrscht "provinzielles" Denken die Machtelite, die nicht fähig und willens ist, ihr Land zu entwickeln, sondern nur in die eigenen Taschen wirtschaftet, koste es auch Menschenleben (mit einigen rühmlichen Ausnahmen wie Domingo Faustino Sarmiento). Dieses arbeitet der Autor in den folgenden Kapiteln immer wieder gut heraus. Sarmiento schrieb 1845: "Die Gesellschaft ist völlig verschwunden, was bleibt ist die feudale Familie […] und da es kein gesellschaftliches Band gibt, wird jede Art von Regierung unmöglich…" Das liest sich wie aus einem aktuellen politischen Kommentar.

Hinzu kam, dass es der großen Zahl von Einwanderern aus Europa nicht möglich war, das von den vertriebenen indígenas gestohlene Land zu erwerben, da die Elite es für sich beanspruchte. So konnte nie, wie zum Beispiel in den USA, eine auf Pioniergeist und einer starken Mittelschicht basierende Gesellschaft entstehen, die für eine funktionierende Volkswirtschaft und eine stabile Demokratie die beste Voraussetzung darstellt.

Der bis heute wichtigsten politischen Strömung im Land, dem Peronismus, widmet Malcher viele Seiten. Die sind aber auch nötig, um eine so heterogene, in sich widersprüchliche und erneut von caudillos geprägte Organisation zu verstehen. Das einzige, was sie gemeinsam hatten bzw. haben sind ein "strammer Nationalismus" (Malcher), der Wille zum Machterhalt und „meistens" der Hang zu Nepotismus und Korruption. Es folgen Kapitel zur Diktatur der Massenmörder ab 1976 und deren schwierige Aufarbeitung nach der Rückkehr zur Demokratie 1983.

Durch den daran anschließenden Abschnitt zur Wirtschaftsgeschichte des Landes zieht sich erneut wie ein roter Faden die Weigerung der Großgrundbesitzer(elite), ihr Land zu entwickeln, indem sie sich lieber von Großbritanniens Importen abhängig machten (die gesamte Ausstattung des argentinischen gauchos, Seil, Poncho, Messer, Sporen, stammte Ende des 18. Jahrhunderts von dort). Malcher versteht es, an den richtigen Stellen kurze Anekdoten oder Zusatzinformationen einzuflechten (wie z.B. über die gaucho-Ausrüstung oder über deutsche Brauereigründungen), die aus wissenschaftlicher Sicht wohl nicht nötig gewesen wären, die aber die oft trockenen Fakten plastischer und lebendiger werden lassen (etwas, das die deutsche Wissenschaftselite! wohl nie verstehen wird). In diesem Kapitel lobt Malcher – wir erinnern uns seiner Sympathien – die importsubstituierende Industrialisierung Argentiniens seit den 20er Jahren, vergisst dabei aber, genau wie deren größter Verfechter, der argentinische Ökonom Raul Prebisch, dass in einer, auch damals schon, globalisierten (Handels)Welt, solche Konzepte nicht von langer Dauer sein konnten. Eine stufenweise Anpassung aller Wirtschaftszweige an den Weltmarkt wäre wohl eine bessere Lösung gewesen als die Isolierung der heimischen Industrie durch Schutzzölle, staatliche Lenkung und der damit verbundene Aufbau riesiger Bürokratien. Denn die so durch die unvermeidliche Öffnung verursachte Wirtschaftskrise (inkl. Korruption etc.) nach der Militärdiktatur traf vor allem die erste demokratische Regierung.

Der Autor erwärmt sich auch für den (in der Theorie schönen) Gedanken eines Wirtschaftsbundes und glaubt, weil die Länder ähnliche Probleme haben, könnten sie diese auch gemeinsam lösen. Er lässt dabei leider außer Acht, dass das ja schon in den einzelnen Ländern nicht funktioniert (siehe Lektion 1 und 2). Wie soll man sich in von Korruption geprägten Ländern ernsthaft grenzüberschreitende Kapitalverkehrskontrollen oder eine gemeinsame Sozialpolitik vorstellen? In diesem Abschnitt fehlt mir außerdem ein Kapitel zur Umweltproblematik und -politik des Landes – Stichworte Sojaanbau oder Vernichtung des Pantanal –, das den Leser über die riesigen Umweltsünden dort informiert.

Der Abschnitt zur Kultur enthält Texte über den Tango, die Medien(konzentration), die Cafés von Buenos Aires, die als verlängertes Wohnzimmer fungieren und in denen wohl so manche Wendung im Lauf der Geschichte des Landes ihren Anfang nahm, sowie ein Kapitel über die Intellektuellen und die Literatur. Er beschreibt die quantitativ und qualitativ hohe Produktion von Büchern und Medien sowie die enorme Kreativität und betont, dass diese sich auch in Zeiten der Krise irgendwie hält, eine Erfahrung, die ich bestätigen kann. "Die argentinische Gesellschaft suchte und fand in ihren Intellektuellen und Künstlern die moralischen Reserven, um ihre Identität und ihr verlorenes Vertrauen wieder zurückzugewinnen", schrieb dazu Mempo Giardinelli.

Dabei klebt der Autor sehr stark an den (linken) universitären Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, deren Leistungen für die Entwicklung der Demokratie er lobt. Und dafür, dass die argentinische Literatur so bedeutend ist, erscheint die Auswahl der Schriftsteller-Journalisten Martin Caparrós und Rodolfo Walsh, Roberto Arlt sowie der international bekannten Autoren Victoria Ocampo, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar, etwas dürftig. Auswahl muss sein und jeder vermisst etwas anderes, aber ob unter solchen Beschränkungen einige Seiten über eine Randfigur wie Felix Weil (einen Förderer der Frankfurter Schule) für Leser, die ein Land und seine Eigenheiten kennen lernen wollen, wichtiger sind als mehr Informationen zur Literatur oder zum Film, zur Malerei oder Musik bzw. zur Folklore, die gänzlich fehlt, möchte ich bezweifeln. Immerhin der Fußball kommt zum Zug. Malcher berichtet von korrupten Funktionären und gewalttätigen Fans. Und davon, dass dieser Sport, übrigens von den Briten in Argentinien eingeführt, den "30 Millionen Trainern" im Land trotzdem mehr bedeutet als vieles andere. Beim Derby "River Plate" gegen "Boca Juniors" sind die Straßen im Land wie leer gefegt.

Fazit: Seinen Anspruch, den Leser Argentinien anzunähern, löst Malcher ein und das in gut verständlicher Art und Weise. Allerdings setzt er manchmal nicht nachvollziehbare, nur für eine Minderheit interessante, Schwerpunkte, die den ein oder anderen potenziellen Mainstream-Käufer wohl eher abgeschreckt haben und die Platz beanspruchen, der für ein "Landesporträt" sinnvoller Weise anderen Themen zur Verfügung hätte stehen sollen. Die anhängende Literaturliste enthält – neben der verwendeten Literatur - zu wenige deutschsprachige Quellen für die anvisierte Leserschaft (interessierte Laien) und inhaltlich zu wenig über kulturelle Themen.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

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[kol_4] Macht Laune: Knobi für Doctora
 
Gestern war es wieder mal soweit. Der kleine Max kreuzte des Weges. Der kleine Max, der spricht viel und schnell und rätselhaft.

Einen Latino habe ich getroffen, dessen Blick bringt Eier zum bersten.
Aha, aha, aha!, staune ich und bevor ich die gesamte Tragweite des sinntriefenden Einwurfs erfasse, ist der kleine Max schon beim nächsten Thema:
Doctora HNO, sag ich, dass du keinen Doktortitel trägst, kann ja eigentlich nur einen von folgenden Gründe haben: 1. Du hast einen Doktortitel, trägst ihn aber nicht. Du findest ihn furchtbar albern, weil Ärzte meist Geld an Statistikunternehmen zahlen, die eine Handvoll – sagen wir mal – Blutwerte durch die Formelsammlung jagen, Ergebnisse bereits interpretieren und die Promotion sogar ausformulieren. Titel werden demnach für gekaufte und nicht selbst erbrachte Leistung verliehen. 2. Du hast keinen Titel, weil eine Promotion Ärzte fachlich kein Stück weiter bringt. Von einem Beitrag zur Forschung mal ganz zu schweigen. Der Titel "Dr." hat demnach nichts mit der Qualität des Arztes zu tun. 3. Du hältst Ärzte ohne Titel für ehrlich und kompetent. – Und als die Doctora mir in die Nase leuchtet und mich mit einem "Weia" zur CT schickt, sage ich ihr, dass ich sie aufgrund ihres fehlenden Dr.-Titels ausgewählt hätte. Und natürlich ihr Name.
Wie heißt sie?
Petra Tiburón!
Petra Tiburón? Was ein Name für einen HNO-Arzt! – Und wie hat sie reagiert?
Sie hat gelacht und gemeint, Asthma und Schnarchen würde nach einer kleinen OP keine Rolle mehr spielen in meinem jugendlichen Leben. Nach der CT geh ich wieder zu ihr. Dann bring ich ihr ein Glas Knobi mit.
Knooobi? Wozu Knobi?

Der kleine Max schaut mich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, an und macht damit meine Naivität fast greifbar:
Weil du Petra Tiburón mit Chili respektive Habaneros nicht mehr kommen brauchst. Hast du denn Kussbeschuss nicht gelesen?
Er greift in die hintere rechte Jeanstasche zieht ein Büchlein hervor, reicht es mir und fährt fort:
Du musst den Knobi nach dem Schälen für 48 Stunden bei Raumtemperatur mit Olivenöl bedeckt stehen lassen, das macht ihn herrlich mürbe. Dann einfach eine Brise Salz beimischen und mit dem Zauberstab pürieren. – Hey, hat mich echt gefreut, dich getroffen zu haben. Wir müssen unbedingt mal wieder saunieren. Jetzt muss ich eilen, sagt der kleine Max dann.
Ich fühl mich kurz an die Brust gedrückt, aber mit entscheidenden Fragen zum Sinn des Lebens allein gelassen. Ich schlage das Buch auf und lese:

"Den Namen Tiburón, zu Deutsch Haifisch, habe ich von meinem Aufenthalt in Australien. Dort wurde ich beim Wellenreiten von einem Hai am Bein gepackt und durch die Luft geschleudert. Dann versetzte er mir eins mit der Flosse. Mich einfach so zu verzehren, so ganz ohne Spiel, in dem er mich hin und her schleudert und so ins Koma bugsiert, war ihm wohl zu plump. Als er das nächste Mal zupacken wollte, erinnerte ich mich an die Zeitungsmeldung, laut der ein 10-jähriger Junge einer Haiattacke dadurch entkommen war, dass er dem Hai in die Nase biss. Ich tat es ihm gleich und der Hai drehte ab. Am nächsten Morgen stand in der lokalen Presse: Petra Shark survived sharkattack. Daher Petra Tiburón. Tiburón ist das spanische Wort für Haifisch."
"Warum nicht Petra Shark?", entfuhr es Kommissar Shakiro.
"Erstens finde ich, klingt Petra Shark zu gestelzt und zweitens ist Spanisch die wesentlich schönere Sprache."


Text + Fotos: Dirk Klaiber

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