ed 04/2011 : caiman.de

kultur- und reisemagazin für lateinamerika, spanien, portugal : [aktuelle ausgabe] / [startseite] / [archiv]


spanien: Nazarenos – die Nebendarsteller der Semana Santa
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
druckversion:

[gesamte ausgabe]


guatemala: Die Maya-Renaissance
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
venezuela: Durch den Páramo
CHRISTOPH BEYER
[art. 3]
argentinien: Buenos Aires – Der Pianist und seine letzten Note
ANDREAS DAUERER
[art. 4]
helden brasiliens: Ronaldinho geht, Ronaldinho kommt
THOMAS MILZ
[kol. 1]
grenzfall: Großes Kino Karneval
THOMAS MILZ
[kol. 2]
macht laune: La Nada
VERENA DOERFLER
[kol. 3]
lauschrausch: Chupacabras und Capote
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Nazarenos - die Nebendarsteller der Semana Santa
 
Nie werde ich vergessen, wie einer meiner besten Freunde in Sevilla Anfang der 90er Jahre auf die Prozession der Macarena-Madonna wartend erklärte, er hätte keine Geduld, über tausend Nazarenos (mit langen Gewändern und Kapuzenmasken verkleidete Büßer) an sich vorbei ziehen zu lassen. Deshalb sei es besser, der Madonna entgegen zu gehen - ein wenig respektlos zwischen den dicht gedrängten Reihen der Zuschauer und Nazarenos hindurch.

San Esteban [zoom]
La Paz [zoom]

Die meisten Zuschauer warten in der Tat nur auf die prunkvollen Altarbühnen ("Pasos") und schenken den zu Hunderten vorbei schreitenden Nazarenos kaum Aufmerksamkeit, sondern unterhalten sich lieber angeregt, bis der nächste Paso am Ende der Gasse erscheint. Soviel Missachtung haben die unheimlich verkleideten Büßer jedoch nicht verdient. Denn was wäre eine Semana Santa Prozession ohne Nazarenos?  Sie sind zwar nur die "Nebendarsteller" und geben den Rahmen für die dramatischen Szenen um Christus und Maria, aber sie tragen entscheidend zur Atmosphäre dieses lebendigen Gesamtkunstwerks bei.

Im Dunkel der Nacht wirken die völlig schwarz gekleideten Nazarenos von Schweigebruderschaften wie El Silencio, El Gran Poder, Vera Cruz oder El Amor besonders unheimlich, während die vom Licht der aufgehenden Sonne angestrahlten "weißen" Nazarenos der Bruderschaft La Resurrección am frühen Morgen des Ostersonntags als Herolde der Auferstehung die Bühne betreten.

El Amor [zoom]
La Resurrección [zoom]

Besonders während des Höhepunkts der Sevillaner Semana Santa, der "Madrugá" (Karfreitagnacht) trägt der Kontrast zwischen den drei nächtlichen Schweigeprozessionen (El Silencio, Gran Poder, El Calvario), deren Nazarenos sich in strengem Schwarz präsentieren, und den weiß-grün bzw. weiß-violett kostümierten Nazarenos der drei volkstümlichen Bruderschaften (Macarena, Esperanza de Triana, Los Gitanos) dazu bei, den widersprüchlichen Charakter dieser Nacht hervor zu heben.

Estudiantes [zoom]
La Exaltacion [zoom]

Neben dieser dramaturgischen Funktion der schwarzweißen Farbensymbolik gibt es auch Nazarenos, die durch besonders prächtige Farben ihrer Gewänder auffallen: die purpurfarbenen Tunikas der Bruderschaften La O und Las Cigarreras, die in feierlichem Violett auftretenden Nazarenos von El Valle oder La Quinta Angustia, die glänzend scharlachroten Kapuzen von La Lanzada oder die bordeauxroten von El Cerro, die leuchtend blauen von San Esteban oder El Baratillo, das dunkelblaue Samt von La Carretería.

El Baratillo [zoom]
El Cerro [zoom]

Und es ist keineswegs so, dass alle 61 Semana Santa Prozessionen in Sevilla sich in ihrem Erscheinungsbild gleichen würden. Es gibt Bruderschaften, die besonders auf synchrone Bewegungen und harmonische Ordnung ihrer Nazarenos achten. Es ist ein ästhetischer Genuss, die disziplinierten Doppelreihen der Prozessionen von El Silencio, Pasión, Vera Cruz, El Amor oder La Amargura zu beobachten. Sie schreiten in exakt gleichem Rhythmus vorwärts, bewahren stets eine würdevolle Haltung und tragen die großen Altarkerzen oft "über Kreuz", so dass sie eine Art Tunnel aus Licht formen.

La Amargura [zoom]
La Lanzada [zoom]

Und auch innerhalb einer Prozession gibt es oft einzelne Nazarenos, die heraus ragen. Manche tragen Insignien (Standarten, Banner) an Stelle von Kerzen, andere können von Eingeweihten erkannt werden, weil sie verabredete "Erkennungszeichen" mit sich führen (z.B. Rosenkränze, profane Armbänder bzw. Armbanduhren oder markante Ringe) - obwohl dies gemäß der Regeln der meisten Bruderschaften ausdrücklich verboten ist. Zu traurigem Ruhm sind in diesem Zusammenhang zwei Nazarenos der Bruderschaft Cerro del Águila gelangt, die vor ein paar Jahren Spiegelreflex-Sonnenbrillen über ihrer bordeauxroten Kapuzenmaske trugen.

Da verzeiht man den zahlreichen als Nazareno-Zwerge verkleideten Kindern sehr viel eher disziplinarische Mängel oder Fehler in der Haltungsnote. Und natürlich sieht man viele Kinder, die während der stundenlangen Prozessionen die Maske hoch geklappt haben, weil es ihnen einfach zu dunkel wurde. Viele dieser Kapuzenzwerge werden noch von den Eltern getragen und haben Schnuller im Mund oder knabbern an Schokoriegeln.

El Baratillo [zoom]
La Exaltacion [zoom]

Bei den strengen schwarz verkleideten Bruderschaften gehen in der Regel nur Erwachsene mit und falls es sich um eine Schweige-Prozession handelt, kann man die interessante Zeichensprache beobachten, in der sich die Nazarenos verständigen. Jeder Abschnitt der Prozession hat einen "Diputado", der in seinem Bereich die Aufsicht führt und oft sieht man, wie er (oder sie) mit majestätischer Geste die Reihen ordnet. Oder man wird Zeuge von ganzen Dialogen in Zeichensprache, die von einem Nazareno-Paar geführt werden. Sind es Vater und Sohn oder Mutter und Tochter, die sich gegenseitig die Maske wieder zurecht rücken? Man weiß es nicht, aber manchmal kann man anhand der Bewegungen erahnen, ob ein Mann oder eine Frau sich unter der Maskierung verbirgt. Eines ist sicher: seit diesem Jahr (2011) dürfen in jeder der 61 Prozessionen in Sevilla auch Frauen mitgehen, denn nach einem erzbischöflichen Befehl mussten auch die letzten drei Bruderschaften, die bisher nur Männern die Teilnahme erlaubten (El Silencio, La Quinta Angustia, Santo Entierro), ihre konservativen Pforten für Frauen öffnen.

La Hiniesta [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Eine sevillanische Freundin, die schon immer besonders rebellisch war, erzählte mir eine filmreife Geschichte. Vor einigen Jahren, als in ihrer Bruderschaft die Teilnahme von Frauen an der Prozession noch streng verboten war, nahm sie heimlich an Stelle ihres Bruders teil, indem sie sich mit seiner Tunika und Gesichtsmaske verkleidete - als einzige Frau unter über tausend Männern. Angeblich wurde dieser Schwindel nicht bemerkt. Und selten war eine "illegale" Handlung so Gott gefällig. Jedenfalls erzählt sie heute noch stolz von der spannenden Erfahrung, wie ein "trojanisches Pferd" die Reihen der Männer zu unterwandern. Dagegen wird sie ganz still, wenn man sie nach dem religiösen Gefühlserlebnis während der Prozession fragt.

San Esteban [zoom]
Dulce Nombre [zoom]

Auch wenn es schwierig scheint, sich angesichts der touristischen Vermarktung und inmitten der Menschenmassen des Publikums in Sevilla auf Meditation zu konzentrieren, so erleichtert andererseits die Anonymität hinter der Kapuzenmaske vielleicht doch das Ausblenden der Umgebung und das Erlebnis tiefer Gefühle oder sogar einer religiösen Vision. Die Motivationen, als Nazareno in einer Prozession der Semana Santa teilzunehmen, sind sehr unterschiedlich. Einige folgen damit einer oft Jahrhunderte alten Familientradition, manchmal ohne allzu viel darüber nachzudenken. Andere erfüllen bewusst ein Gelübde und bitten oder danken für die Erfüllung eines Wunsches (z.B. Genesung eines kranken Freundes oder Familienangehörigen) oder sie suchen wie Pilger nach einer tiefen mystischen Erfahrung. Und ganz selten kann die Teilnahme an einer solchen Karwochen-Prozession in Sevilla sogar zu einem Pilgerweg zurück zum innersten Selbst werden und dort Türen öffnen, die manch einer schon für immer verschlossen glaubte.

Dulce Nombre [zoom]
La Amargura [zoom]

Doch eines haben alle Nazarenos in der andalusischen Hauptstadt unabhängig von ihrer Motivation gemeinsam: sie sind jedes Jahr bewusst oder unbewusst ein Teil des größten barocken Gesamtkunstwerks - der Semana Santa von Sevilla.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Vorlberg / Vicente Camarasa

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Guatemala: Die Maya-Renaissance
 
"Das Herz der Maya" heißt die große Ausstellung, die bis Ende 2011 im Museum für Völkerkunde in Hamburg zu sehen ist. Die Maya, das große Volk Mittelamerikas, hatten ein eigenes Schriftsystem, einen exakten Kalender und bauten in ihrer Blütezeit 600 bis 900 Jahre nach Christus bis zu 70 Meter hohe Pyramiden. Das Reich der Maya ging unter, doch heute entdecken die Nachfahren der Maya ihr kulturelles Erbe wieder. Dabei mit hilft auch ein Professor aus Bonn. Katharina Nickoleit hat in Guatemala die Renaissance der Maya-Kultur erlebt.

Andrés Cholotio, Maya Gebet Tzutujil: "Schöpfer, wir danken Dir für den heutigen Tag. Wir danken Dir dafür, dass Du uns vergibst. Wir danken Dir dafür, dass Du uns segnest. Wir danken Dir dafür, dass Du uns zuhörst und uns das gibst, was wir zum Leben brauchen. An diesem schönen Tag bitten wir Dich, unsere Arbeit zu segnen."

Jede von Andrés Cholotios Unterrichtsstunden beginnt mit einem alten Mayagebet. Wie alt dieses Gebet ist, lässt sich nicht genau sagen. Es wurde von Generation zu Generation weiter gegeben und dürfte so oder so ähnlich seit rund 2000 Jahren gesprochen werden. Dem 46-Jährigen ist seine indigene Herkunft deutlich anzusehen: Dunkle Haut, schwarze Haare, hohe Wangenknochen: "Ich gehöre der Sprachgruppe der Tzutujil an. Man findet sie in der Provinz Sololá, das liegt am Rande des Atitlán-Sees. Diese Sprachgruppe besteht aus lediglich 89.000 Personen. Trotzdem gibt es noch Menschen, die Tzutujil beherrschen", so Andrés, der der Direktor des "Proyecto Lingüístico Francisco Mallorquín" ist, das seinen Sitz in Antigua Guatemala, der alten kolonialen Hauptstadt des Landes hat. Das "Proyecto" finanziert sich durch Spanischunterricht für Ausländer. Regelmäßig veranstaltet es überall in Guatemala Kurse, in denen die Nachfahren der Maya die Sprachen ihrer Vorfahren neu erlernen.

"Als das Institut vor 42 Jahren gegründet wurde, ging es vor allem darum, die Mayasprachen zu erforschen. Es wurde zum Beispiel nachgewiesen, dass die alten Sprachen eine Grammatik haben. Aber in den letzten Jahren bemühen wir uns zunehmend auch darum, die alten Sprachen wiederzubeleben und setzen uns dafür ein, dass sie gleichberechtigt neben dem Spanisch stehen", erklärt er.

Hyroglyphenschrift und Mayakalender
In Guatemala zählt etwa die Hälfte der Bevölkerung zu den Maya. Insgesamt werden in dem mittelamerikanischen Land heute noch 23 verschiedene indigene Sprachen gesprochen. Doch das Spanische dominiert. Via Radio und Fernsehen dringt es auch in die entlegensten Ecken des Landes vor und droht die Mayasprachen vollends zu verdrängen. In manchen Dörfern sind es nur noch die Alten, die die alten Sprachen wirklich beherrschen. Gleichzeitig wächst das Interesse daran, Sprachen wie Mam, Tektiteko oder Achi zu erlernen. Und neben Sprachkursen werden auch Workshops zum Erlernen der Hyroglyphenschrift oder zum Verständnis des Mayakalenders angeboten.

Ajbu Paulo Garcia Ischmata ist einer von denen, die einen Kurs für Fortgeschrittene besuchen, in dem die Lektüre alter Dokumente gelehrt wird: "Das Lesen der alten Schriften gibt uns neue Impulse. Wir beginnen uns zu fragen, wer wir eigentlich sind. Mit der Eroberung der Spanier haben wir viel von unserer Kultur verloren. Alte Dokumente, die Inschriften in Steinen und auf Holz waren über Jahrhunderte nicht zugänglich. Dank des geschätzten Professors Nicolai Grube können wir jetzt lesen, welche Geschichten und welches Wissen uns unsere Vorfahren hinterlassen haben."

Professor Nicolai Grube lehrt eigentlich am Institut für Altamerikanistik der Universität Bonn. Der Ethnologe ist Spezialist für die Schrift der Maya und hat diverse Lehrbücher über indigene Sprachen verfasst. Er reist regelmäßig nach Guatemala, um sein Wissen dort in Workshops weiter zu geben. Für Nicolai Grube ist die Revitalisierung der Mayakultur eine Folge des Bürgerkrieges, der bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts andauerte: "Die Aggression richtete sich vor allem gegen die Maya, es war eine Art Ethnozid. Und infolge dessen haben sich die Maya seit den 80er Jahren auch sehr stark organisiert und es haben sich Mayagruppen heraus kristallisiert, die sich gesagt haben, wir müssen unsere eigene Kultur stärker sichtbar machen. In diesem Zusammenhang ist daraufhin eine sehr starke kulturelle Bewegung entstanden."

Die Nachfahren der Maya stellen zwar rund die Hälfte der Einwohner Guatemalas, doch ihr Anteil am Reichtum des Landes ist verschwindend gering. Viele sind Kleinbauern oder Wanderarbeiter, die von der Hand in den Mund leben. Ein großer Teil lebt in den Slums der Städte und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. In der heutigen guatemaltekischen Gesellschaft steht die Urbevölkerung auf der untersten Stufe. Sie gilt den Eliten des Landes als ungebildet und kulturlos.

Mit der Rückbesinnung auf die Hochkultur der Maya vor rund 2.000 Jahren stärken deren Nachfahren ihr Selbstbewusstsein. Die Maya entwickelten ein hochkomplexes Schriftsystem, verfolgten Planetenbewegungen und kannten die Null - eine mathematische Leistung, die sie beispielsweise den Römern voraus hatten. Sie regierten in Mittelamerika ein großes Reich und bauten Städte mit bis zu 70 Meter hohen Pyramiden.

Und so sagt auch Professor Nicolai Grube: "Die Rückbesinnung auf das alte Erbe schafft Rückgrat. Die Maya können nun stolz auftreten und sagen, wir sind genau wie Ihr Erben einer Jahrtausende alten Kultur und zwar einer lokalen Kultur. Wir waren hier zuerst. Das schafft natürlich auch einen politischen Bereich, in dem sie sich besser artikulieren können und so mehr Kraft und Selbstbewusstsein gegenüber der Ladino-Gesellschaft, also den Nicht-Maya, haben."

Fliegen zum Jahreswechsel
Dass die Mayakultur nach wie vor lebendig ist, das hört man nicht nur, man sieht es auch im Alltag. Viele Frauen tragen heute wieder die alte Tracht: Weiße Blusen, die am Ausschnitt bunt bestickt sind, dazu handgewebte Wickelröcke. Und in abseitsgelegenen Dörfern werden heute noch die alten Kalenderrituale durchgeführt. Wie etwa das "Fliegen" zum Jahreswechsel. Dieses Ritual ist uralt. Es wurde bereits auf Wandmalereien aus dem dritten Jahrhundert vor Christus festgehalten.

"Da gibt es Bäume, die werden aufgerichtet und die als Symbol für die Weltenachse angesehen. Dann steigen vier oder fünf Personen auf die Bäume und binden ihren Körper an der Spitze des jeweiligen Baumes fest. Dann lassen sie los und fliegen quasi um den Baum herum", berichtet Nicolai Grube.

Die Maya kannten zwei Kalender: Zum einen das Sonnenjahr mit 365 Tagen, zum anderen den Ritualkalender mit 260 Tagen. In diesem Kalender ist jeder Tag einem bestimmten Gott zugeordnet. Für Ajbu Paulo Garcia Ischmata stehen beide Kalender gleichberechtigt nebeneinander: "Ich befolge den Mayakalender. Heute ist zum Beispiel der Tag Tichasch, der Tag des Kalenders, an dem wir die Energie erhalten, die wir brauchen um Kranke zu heilen. Jeder Tag erfordert eine bestimmte Opfergabe. Eine Blume, ein Glas Wasser, eine Kerze. Und manchmal auch eine größere Zeremonie."

Der Ritualkalender ist der Schlüssel zur Weltanschauung der Maya. Und mit seiner Hilfe erinnern sich die heutigen Maya daran, wie ihre Vorfahren die Welt gesehen haben.

"Die westliche Kultur sieht die Welt auf eine andere Weise als wir. Für sie zählt der Einzelne. Die Mayakultur hingegen ist kosmozentrisch. Für uns ist alles, was im Kosmos existiert, gleich wichtig; die einzelne Person dagegen nicht so. Sie ist lediglich ein Teil vom großen Ganzen. Auch die einzelne Pflanze ist nicht so wichtig, denn auch sie ist ein Teil vom großen Ganzen", so Andres Cholotio.

Die Vermittlung dieser Weltanschauung erfährt bei Andrés Cholotio die gleiche Priorität wie das Wissen um Sprachen und Schrift. Der Direktor des Kulturinstitutes "Proyecto Lingüístico Francisco Mallorquín" glaubt, dass die Rückbesinnung auf die alten Werte der Maya deren  Nachfahren im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung helfen kann: "Wir versuchen unseren Schülern beizubringen, dass unsere Kultur von Grund auf sozial ist. Keiner steht oben und keiner steht unten. Keiner ist dick und keiner ist dünn. Alle müssen die gleichen Chancen haben. Mit diesem Wissen können wir uns besser gegen die westliche Kultur wehren, in der sich einzelne auf Kosten anderer bereichern."

Mithilfe der Mayakultur gegen die Ungerechtigkeit kämpfen, das ist der Traum von Andrés Cholotio und anderen guatemaltekischen Intellektuellen. Und vielleicht, so meint er, könnte die indianische Anschauung der Welt und des Kosmos sogar globale Probleme wie den Klimawandel lösen: "Wir sehen im Moment die ganzen Naturkatastrophen. Sie sind das Resultat der westlichen Kultur. Für sie ist es kein Problem, Bäume zu fällen oder Berge zu sprengen. Aber für uns schon. Ich glaube, wenn die westliche Welt die Mayakultur verstanden hätte, dann gäbe es heute nicht all diese Katastrophen.

Vielleicht finden sich ja in den alten Mayaschriften tatsächlich Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit - wenn man sie lesen und verstehen kann.

Text: Katharina Nickoleit

Weitere Informationen über die Autorin findet ihr unter:
www.katharina-nickoleit.de

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: guatemala]





[art_3] Venezuela: Durch den Páramo
 
Fahrt auf der Transandina Richtung Norden, die Straße windet sich in Serpentinen den Berg hinauf. Der Bus passiert kleine Dörfer, am Straßenrand sind Kunsthandwerkläden, Posadas (pensionsähnliche Beherbergungsbetriebe), Verkaufsstände und kleine Lokale zu sehen. Erstaunlich, wie stark sich diese Region auf den Tourismus eingestellt hat. Die Venezolaner reisen viel und die Anden sind ein beliebtes Reiseziel der Großstädter aus den westlichen und zentralen Küstenregionen. Jetzt, Anfang Dezember, geht es langsam aber sicher in die Hochsaison über, die Vorweihnachtszeit ist in Venezuela Hauptreisezeit. Hölzerne Werbetafeln preisen das typisch Andine an: Comida típica (regionstypisches Essen), Artensania andina (andines Kunsthandwerk).



Bäuerliches Leben als Verkaufsschlager: das kommt an bei den Landsleuten aus den anderen, viel heißeren Regionen. Die wenigsten Autofahrer scheint es allerdings zu interessieren, was sich rechts und links der Fahrbahn abspielt; zügiges Vorankommen lautet vielmehr die Devise. Das belegen eindrucksvoll die immer wieder zu beobachtenden waghalsigen Überholmanöver, bei denen der jeweilige Fahrer sein Leben aufs Spiel setzt (und das der Insassen), um ein wenig schneller voran zu kommen. Von der Hupe wird fleißig Gebrauch gemacht, man kündigt sich an, damit der evtl. entgegenkommende PKW oder auch voll bepackte Laster seinen gewählten Mittelstreifenkurs korrigiert und man danach mit wenigen Zentimetern Abstand aneinander vorbeirauschen kann. Die Musik im Bus dröhnt, Schmachtfetzen mit Salsarhythmen, dann Reaggaton der aufdringlichen Art.



Draußen verändert sich mit dem Anstieg die Landschaft: es wird karger, das üppige Grün der 2.000 Höhenmeter Region weicht zunehmend der kargen Vegetation des Páramo.

Die Vegetationsform des Páramo ist typisch für die südamerikanischen Anden. Er kommt oberhalb der Baumgrenze zwischen 3200 und 4800 Metern über dem Meeresspiegel vor. Den Páramo kennzeichnet vor allem ein Bewuchs aus Farnen, Kräutern und Gräsern sowie insbesondere die auffälligen sogenannten Schopfbäume und Schopfrosetten. Das Klima ist von großen Gegensätzen geprägt, die sich unter anderem in starken Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht auszeichnen.



Die Gegend wird intensiv landwirtschaftlich bewirtschaftet; wie ein Mosaik fügen sich die Felder an den umliegenden Berghängen aneinander. Der Bus passiert einen Kontrollposten der Guardia Nacional; eine der dort aufgestellten, typischen Bodenschwellen wird in langsamer Fahrt überquert. Ein kurzer, prüfender Blick des Uniformierten und es geht weiter.

Wir fahren unter einem über die Straße gespannten Transparent durch: "El Páramo es por Chávez" (der Páramo ist für Chávez). Eine Region sieht und zeigt rot; rote Fähnchen an den Häusern, aus den Autofenstern, am Straßenrand. Mir fällt unweit des Ortseingangs ein Schriftzug an einer Wand auf: San Rafael, Rojo, Rojito. Zu diesen vielfältigen Sympathiebekundungen gesellen sich noch die zahlreichen Schilder der Regierung selbst: klares, schlichtes Design, mit Hinweisen auf laufende Bauprojekte und einer genauen Auflistung der Verantwortlichkeiten inklusive der jeweils beauftragten Unternehmen.



Die Regierung zeigt Präsenz und es wirkt so, als hätte sich hier in den letzten Jahren doch einiges verändert. Neue Wohnsiedlungen sind entstanden, Investitionen in den Straßenbau sind sichtbar, Gesundheitszentren, Schulen und Sportstätten wurden modernisiert oder komplett neu errichtet. Der Bus erreicht schließlich den höchsten Punkt der Route; ab hier geht die Transandina fast nur noch bergab, um dann in die Tiefebene der Llanos zu münden. Diese Strecke wird in Reiseführern als eine der schönsten in ganz Venezuela bezeichnet.Ich lasse mich jedoch absetzen, die Höhe beträgt 3.600 Meter und die Luft ist dünn. Mal sehen, wie es mit dem Laufen klappt. Ich durchquere das Tor zum Nationalpark Sierra Nevada. Vor mir breitet sich die größte Lagune in den venezolanischen Anden aus, die Laguna Mucubají. - Insgesamt gibt es fast 200 Gletscherseen in der Region.



Ein Steg führt ein Stück weit hinaus. Fotokulisse, ein leichter Wind kräuselt das klare Wasser, Ruhe umgibt mich. Ich genieße einige stille Momente lang das Panorama und mache mich dann auf den Weg zur nahe gelegenen Laguna Negra, mitten durch die Páramovegetation. Es sieht so aus, als hätte hier ein Heer von Landschaftsgärtnern geschuftet, um eine Art künstliche Welt zu kreieren. Kakteengewächse wechseln sich ab mit farbenprächtigen Blumenstauden, alles wirkt sauber abgegrenzt, wie eine Parklandschaft, dazwischen kleine Nadelwäldchen. Nach einer Dreiviertelstunde Fußweg öffnet sich zur Linken der Blick auf ein kleines Tal; eine Steppenlandschaft, in der ein kleiner Fluss seine gewundene Bahn zieht. An den umliegenden Berghängen vollzieht sich ein faszinierendes Spiel aus Licht und Schatten, das die Hänge für kurze Zeit grell aufleuchten und plötzlich wieder in Dunkelheit zurückfallen lässt.



Als ich die Lagune erreiche, treiben Nebelfetzen über dem dunklen Wasser; leichter Regen setzt ein, am östlichen Ende rauscht ein Wasserfall. Der Regen nimmt schnell zu, bereits nach wenigen Sekunden kann ich das gegenüberliegende Ufer nicht mehr erkennen. Ich laufe einen Pfad am Ufer entlang und erreiche die Stelle, wo das Wasser die Lagune wieder verlässt, um sich in mehreren Stufen hinab ins Tal zu ergießen. Die Umgebung erweckt in mir Assoziationen an irische oder schottische Hügellandschaften. Ein Surren in der Luft unterbricht meine Gedankenkette; für wenige Sekunden erscheint ein Kolibri, zum Greifen nahe; er steht förmlich in der Luft und verschwindet dann mit einer unglaublichen Geschwindigkeit im Nebel. Mich wundert es, dieses Synonym der südamerikanischen Tropen noch in dieser Höhe anzutreffen.



Langsam aber sicher zieht es sich weiter zu und der gesamte Rückweg führt durch einen feinen, feuchten Schleier; die Umgebung ist kaum noch zu erkennen. Eine halbe Stunde später sitze ich bereits wieder im Bus, Rückfahrt Richtung Mérida, die Musik dröhnt und scheppert aus den Boxen wie gewohnt.

Text: Christoph Beyer
Fotos: Casa Vieja Mérida + Dirk Klaiber

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[art_4] Argentinien: Buenos Aires - Der Pianist und seine letzten Note
 
Es muss eine halbe Ewigkeit her sein, dass seine Hände über die weißen und schwarzen Tasten geflogen sind. Ende der 1940er Jahre war er das erste Mal im Gran Café Tortoni. Jenem Café, das die goldenen Zeiten von Buenos Aires aus der Jahrhundertwende bis spät in die 80er Jahre zu konservieren schien. Tango, nichts als Tango, wurde im Keller gespielt. Die Besucher lauschten, sie tanzten, sie feierten. Und auf dem weich gepolsterten Stuhl vor dem Klavier saß Edualdo, den sie alle nur Lalo riefen.


Wie oft muss er wohl an der Avenida de Mayo 825 durch die berühmte Flügeltür geschritten sein! Mal mit Lampenfieber, das nur mit einem kräftigen Rotwein und einer guten Zigarette zu bändigen war, mal mit einer seiner Angebeteten im Schlepptau, mal mit Liebeskummer. Im Café Tortoni war reichlich Platz für große Gefühle. Die Granden des argentinischen Tango haben hier gespielt. Natürlich Gardel, Goyeneche, Troilo und wie sie alle heißen. Und immer mal wieder saß Lalo am Klavier, um zusammen mit den beiden Bandoneonen, dem Kontrabass und den zwei Geigen emsig zu konkurrieren, den Tango durch die stickige Luft zu jagen.

Diese Zeiten sind jedoch schon etwas länger vorbei. Zwar wird im Keller des Café Tortoni heute noch Musik gemacht, wenngleich das Café darüber zumindest tagsüber den Namen Touristen-Falle nicht ganz zu unrecht trägt. Abends und nachts mischen sich jedoch die Porteños selbst unter das Volk und es entsteht diese typische argentinische Mixtur aus Einheimischen, Fremden, Zugereisten, Touristen. Seit über 150 Jahren werden dort regelmäßig die Musiker und das Publikum ausgetauscht. Was bleibt, ist der Mythos des Cafés, die Erinnerung - und der Tango.


Am 90. Geburtstag von Edualdo war auch ich geladen. Über zwei Ecken. Lalo nämlich war nicht nur ein hervorragender Pianist, sondern auch ein wunderbarer Mensch und mehrfacher Groß- und Urgroßvater. Und irgendwie auch Opa - oder genauer gesagt, Stiefopa, eines Freundes. Gefeiert wurde in einem kleinen Häuschen im Stadtteil Boedo, das einer Freundin der Familie gehört. Zwar war der Anfang etwas holprig, weil ich nicht einmal wusste, wer jetzt eigentlich der Gastgeber war und man mich erst nach einiger Überzeugungsarbeit hinein ließ, aber die älteren Herrschaften, die sich alle mächtig in Schale geschmissen hatten, tauten schnell auf. Ein bisschen Smalltalk auf dem Weg zum künftigen Jubilar - man wollte ja in den Geburtstag hineinfeiern. Dass der gute Mann 90 werden würde, spürte man lediglich am liebevollen Umgang mit ihm, ansonsten wurde gefeiert.

Doch Lalo sah noch nicht einmal aus wie 80. Rüstig, funkelnde Augen, fester Händedruck. "Du bist also ein Freund von Federico?! Aus Deutschland? Dann schnapp Dir doch ein Glas Wein, stoße mit uns an und genieße den Abend." So, oder so ähnlich lauteten seine Worte. Von einer greisen geriatrischen Veranstaltung konnte hier beim besten Willen nicht die Rede sein. Natürlich war auch die ganze Familie da, Tanten, Onkel, Stieftanten, Stiefonkel, Söhne, Töchter und auch deren Söhne und Töchter. Kleine Häppchen zur Einstimmung, dann Asado. Und natürlich so viel Wein, wie man eben trinken kann. An Nachschub sollte es nicht mangeln. Es war wie Tango ohne die dazugehörige Musik. Melancholie, Freude und jede Menge Energie.


Um kurz nach elf rückten dann die Überraschungsmariachis an. Sieben Mexikaner mit überdimensionierten Sombreros standen plötzlich im Garten, um dem Geburtstagskind ein Ständchen zu bringen. Unweigerlich fühlte man sich in die hinterste Ecke eines surrealen Cortázar-Textes geschleudert. Zwar erklärte man mir, dass es nicht unüblich sei, zu Festtagen auch mal die Mariachis antanzen zu lassen, aber war das wirklich richtig argentinisch? Der Stimmung tat es natürlich keinen Abbruch. Nachdem sich der gute Lalo von seiner Rührung erholt hatte, schnappte er sich auch schon die erste Dame und tanzte dann nacheinander mit allen anwesenden Frauen eine kurze Runde, ehe er sich wieder hinsetzte und erschöpft, aber glücklich, weiter an seinem stets gefüllten Weinglas nuckelte.

Um 12 gab es dann endlich das obligatorische Que lo cumplas feliz und sogar ein "Zum Geburtstag viel Glück", was mich kurzzeitig in den Mittelpunkt des Abends rücken sollte. Der eigentliche Star aber war dieser soeben 90 Jahre alt gewordene Mann. Er sprühte nur so vor Energie, um die ihn so manch 40-jähriger beneiden dürfte. Ich bin mir sicher, dass das Fest auch um halb zwei, als ich es verließ, sich noch lange nicht dem Ende zuneigte...


90 Jahre, Pianist, Vater, Großvater, Urgroßvater, Onkel, Mensch. Er hat zahlreiche Diktaturen durchlebt und so manchen wirtschaftlichen Schlag gegen sein Land schlucken müssen. Der Tango aber floss ihm fortwährend durch die Adern. Er saugte das Leben auf und vergangene Woche das Leben ihn selbst. Nach 91 Jahren wollte das Herz nicht mehr seinen gewohnten Dienst verrichten und der letzte Akkord verstummte. Nicht nur der Tango wird Lalo vermissen. Ich und viele andere tun es auch.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]






[kol_1] Helden Brasiliens: Ronaldinho geht, Ronaldinho kommt
 
Es tut sich was in Brasilien. 6 Uhr morgens, Guarulhos, São Paulos internationaler Flughafen: da will man einfach nur Freunde abholen, die gerade aus Deutschland eingeflogen sind. Und plötzlich ist man von einer riesigen Menschenmenge umgeben. "O fabuloso voltou…", ruft diese, die auf Luís "Fabuloso" Fabiano wartet, der gerade aus Sevilla einfliegt. Einen Tag später stehe ich vor dem Morumbí-Stadion eine Stunde im Stau - der "Fabuloso" soll den Fans vom FC Sao Paulo vorgestellt werden.



Die kennen ihn natürlich noch gut, ist er doch hier groß geworden, hatte seinen internationalen Durchbruch durch sensationelle Tore für das "Tricolor"-Team. Jetzt, mit 30 Jahren und am Knie verletzt, kommt er zurück. "Geld ist nicht alles im Leben", hatte er seinen Wechsel begründet, die Liebe zu seinem Stammklub sei wichtiger gewesen. Luis Fabiano ist nur einer von vielen brasilianischen Fußballstars, die mittlerweile ihre internationale Laufbahn abgeschlossen haben und nun noch auf die "alten Tage" in Brasilien weiter spielen wollen.

Erst vor wenigen Wochen hat Ronaldo "Ronaldinho Fenomeno" seine Fußballstiefel an den Nagel gehängt. Er war Ende 2008 vom AC Mailand zu Corinthians São Paulo gewechselt. Wieder einmal schwer am Knie verletzt, hatte man ihn in Europa bereits abgeschrieben. Doch er kam noch einmal zurück. Im ersten Halbjahr 2009 verzauberte er das brasilianische Publikum durch Traumtore und bescherte Corinthians endlich wieder Titel.



Auch sein alter Kumpel aus Real Madrid Zeiten, Roberto Carlos, kam im Methusalem-Alter noch mal nach Brasilien und lief gemeinsam mit Ronaldo bei Corinthians auf. Zuletzt wurde sogar über einen Wechsel des dauerverletzten Kaká von Real Madrid zurück nach Brasilien gemunkelt, eventuell zu seinen Jugendklub São Paulo. Dank der starken Aufwertung des Brasilianischen Real können es sich die Klubs aus Rio und São Paulo plötzlich leisten, Weltstars zu verpflichten - oder aber Sorgenkinder.

Der "Imperador" Adriano ist so einer. Nach zuerst sensationellen und dann unterirdischen Leistungen bei Inter Mailand war Adriano zu Flamengo Rio de Janeiro gekommen, schoss den Klub 2009 zum Meister, bevor er sich in zahlreiche Skandale außerhalb des Spielfeldes verstrickte und zum AC Rom flüchtete. Nach weniger als einem halben Dutzend Spielen und Null Toren ist er jetzt als Ronaldo-Ersatz zu Corinthians gekommen. Begeistert sind nicht alle - scheint Adriano doch hoffnungslos in private Probleme verstrickt zu sein, die seine sportlichen Leistungen beeinträchtigen.

Aber niemand hat wohl für soviel Wirbel gesorgt wie Ronaldinho Gaúcho. Nach zuletzt schwachen Leistungen beim AC Mailand heuerte er für ein saftiges Salär bei Flamengo an. Seitdem ist die Fußballszene von Rio wie verwandelt. Zwar spielt er jetzt statt in der Champions League die Rio-Landesmeisterschaft, statt gegen Barcelona läuft er gegen Resende und Volta Redonda auf.



Was er aber wirklich drauf hat, wird sich erst in der brasilianischen Meisterschaft zeigen, die im Mai beginnt. Man darf gespannt sein. Im  diesjährigen Carnaval sorgte er schon für Furore. Gleich bei drei Sambaschulen tanzte er mit, ohne dabei ein einziges Wort von sich zu geben. Reden war noch nie seine Stärke. Ob er die Antworten jetzt auf dem Platz gibt, werden wir sehen.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_2] Grenzfall: Großes Kino Carnaval 2011
 
Darth Vader hauchte mir ins Ohr: "Ich kann kaum atmen unter dieser Maske." Inmitten seiner Sturmtrupps und unter stetigem Nieselregen wartete der böse Ex-Jedi auf seinen Einzug ins Sambodromo. Großes Kino Carnaval. Hollywood ist in der "Cidade Maravilhosa" angekommen.

[zoom]
[zoom]

Dieses Jahr drehte sich im Carnaval von Rio de Janeiro ungewöhnlich viel ums Kino. Avatar-Frauchen und -Männchen soweit das Auge reichte, ein Indiana-Jones-Prunkwagen, gefolgt von einer tropischen Insel auf Rädern... "Ich bin ein Gorilla", brüllte der Mann im Affenkostüm zu mir herunter. "Ich bin King Kong..." Richtig brüllen wie sein Vorbild konnte er aber nicht. Die Affenweibchen um ihn herum mussten lachen.

[zoom]
[zoom]

Voller Panik rannte ein Platzanweiser zwischen den Filmstars um sein Leben. Ihm folgte ein Trupp schwarz gekleideter Geister, die ihm an den Kragen wollten. "Der Tod ist hinter mir her, und ich weiß nicht wieso", konnte er mir gerade noch zurufen. Dann umringte ihn die Schar der Sichelmänner" Lachend schauten die Weißen Haie aus Spielbergs Filmklassiker dem grausamen Spiel zu.

[zoom]
[zoom]

Wieso plötzlich alle auf Kino machten, konnte mir niemand erklären. Selbst das brasilianische Kino war in Form der "Tropa de Elite" vertreten, den schwarz gekleideten Spezialeinheiten der Polizei Rio de Janeiros. Allerdings schossen diese nicht wirklich, sondern trommelten bloß wie die Verrückten. Angst konnte man trotzdem bekommen.

[zoom]
[zoom]

Darth Vader hatte inzwischen seinen großen Auftritt hinter sich gebracht. Der Helm war ab und genüsslich verdrückte er erst einmal einen Cheeseburger. Carnaval kostet Energie. King Kongs Gebrüll hörte man nirgendwo mehr, dafür aber die Trommeln der Tropa. Irgendwo mittendrin schwangen TV-Stars und Sternchen die Hüften im Gleichtakt. Gemeinsam mit den dieses Jahr äußerst bedeckt aufgetretenen Samba-Königinnen. War es das ungewöhnlich kühle Wetter im normalerweise überheißen Sambodromo?

[zoom]
[zoom]

Der Platzanweiser hatte überraschender Weise überlebt – im letzten Moment hatte der Tod seinen Kopf verloren. Den Carnaval gewonnen hat er aber nicht. Diese Ehre wurde einem alternden brasilianischen Gesangsbarden zuteil, der fröhlich ins Publikum winkend durch die Arena fuhr. Hollywood ist eben nicht allmächtig.

[zoom]

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]






[kol_3] Macht Laune: La Nada
 
Ich habe keinen blassen Schimmer. Nicht von Lateinamerika, nicht wirklich von Spanien, nicht von Portugal. Zero, nada, niente... Ist ja aber vielleicht auch die Königs-Disziplin unter den Schreibaufgaben - über Dinge zu schreiben, von denen man keine Ahnung hat. Soll ja auch andere Menschen geben, die das tun... Auf jeden Fall gibt es diesen Deal: Maria Josefa Hausmeister entwirft mir eine Website. Und ich schreibe einen Text. Ein Hoch auf die Tausch-Wirtschaft! Oder: »Viva!« - wie es meine Schweizer Nachbarin, Hausbesetzerin der ersten Stunden, und, ich glaube, Che-Verehrerin, beim Gläschen Wein stets auszudrücken pflegt.

Mehr tun als meine spärlichen Erinnerungen zusammenzukratzen, kann ich also eigentlich nicht. Die gibt es immerhin. Spanische doch immerhin ein paar wenige. Spanien als Fünfjährige zum Beispiel: Mallorca. Kein Ballermann, das dankenswerterweise nicht. Eine Finca im Nirgendwo. Das Fazit meiner damals beschränkten Kulturkenntnis: Eigentlich ganz kindgerecht.

Dann folgt ein langes Nichts...

20 Jahre später finde ich mich abermals in Spanien wieder. Auf einer Hochzeit, in einem winzigen Ort, unweit von Barcelona gelegen. Barcelona ist: el flechazo (Liebe auf den ersten Blick. Das kommt jetzt von Leo - eine Fußnote müsste eigentlich her). Auf der Hochzeit lerne ich den Bräutigam fünf Minuten nach seiner Trauung kennen. Die Braut kenne ich von einem Bier in Berlin. Ich mag sie beide sehr. Nicht nur, aber auch, weil dem »Ja« ein beeindruckendes dreitägiges Feiern folgt. Mit allem, was dazu gehört: Paella, Tapas, Tanzen bis ins Morgengrauen. Und Bier - das eben auch.

Das faszinierte mich: Cerveza »Xibeca« in Einliterplastikflaschen. Vor nicht allzu langer Zeit lernte ich, dass die basisdemokratische, nachhaltig organisierte, naturnahe Schweiz ihr Bier immer noch aus Hülsen trinkt. Zumindest im Privatgebrauch. Mit 16 Jahren kam mir in Deutschland mittels einer Bierflasche ein Teil meines Schneidezahns abhanden - was die Gefahr von Bierglasbehältnissen markiert. Und jetzt also das: Bier aus EinliterPLASTIKflaschen. In Spanien.

Das reizte zu Mutmaßungen: Weiß der anhand seines Ausweises amtlich beglaubigte spanische Mensch besser zu feiern? Trinkt man in Spanien nie allein? Wird spanisches Bier nicht schal? In Spanien beim Hochzeiten zumindest kam ich zu dem Ergebnis: Dass die Welt ein Rätsel ist und Trinkrituale unerforschtes kulturelles Neuland sind. Oder so ähnlich jedenfalls...

Weiterhin könnte ich hier jetzt von meiner ersten Begegnung mit gut gemixten Cuba Libres rapportieren. (Schmerzhaft, das. Vor allem für den Kopf...) Oder über die Rum-Verköstigung in einer Zürcher Bar schwadronieren... (Schmackhaft, das. Und hier  der Vollständigkeit halber die Ergebnisse (ohne Gewähr!): 1. Runde »Diplomatico«, 12 Jahre, Venezuela (3 Punkte), »Ron de Zacapa«, 23 Jahre, Guatemala (2 Punkte), »Flor de Caña«, 12 Jahre (1 Punkt) / 2. Runde »Ron Bermúdez Aniversario« (3 Punkte, und dabei erstaunlich günstig), »Diplomatico« 12 Jahre, Venezuela (2 Punkte), »Reunion«, Fragezeichen (1 Punkt) / 3. Runde »Caroni«, Trinidad (3 Punkte), »Ron Bermúdez Aniversario« (ebenfalls 3 Punkte), »Mont Gay«, Barbados (1 Punkt).

Aber erstens will ich nicht unnötig zum Bild der trinkfesten deutschen Spanienbesucherin beitragen - das tun andere schon, und zwar besser als gut. Und zweitens bin ich seit neuestem ehrenwerte Kulturjournalistin. Und also: Immerhin darf ich behaupten, in meinem Leben schon einmal die Alhambra von innen gesehen zu haben. Das mochte ich - auf eine ganz andere Art. Diese Massen gut gekleideter Menschen, die dort, sich Frischluft mit neu erstandenen Fächern zuwedelnd, durch das alte Gemäuer trabten. Es vermittelte doch: echte Kulturnähe, Nähe zur Geschichte und all dem, was da mal war...

Nein, im Ernst, sehen wir mal von den Tourist/innen-Strömen »biblischen Ausmaßes« ab, von den Zeitfenstern, die einem erlauben, sich im Inneren des Heiligtums zu bewegen, von den Snack- und Colaständen inmitten echten historischen Kulturguts... Ich bin froh, mich bei 38 Grad im Schatten an einer zehn Meter langen Schlange angestellt zu haben. Ehrlich!

Ganz abgesehen davon, dass man dort auch heiraten kann. Nur: Da bleibe ich doch lieber beim guten alten Bier. Gern auch aus Einliterplastikflaschen. Und gerne auch im Süden Spaniens. Ob ich jetzt wohl meine Website bekomme? Wo ich hier doch mit halsbrecherischem Wagemut mein gesamtes Inneres so treuselig und gänzlich (!) unverfälscht nach außen gekehrt habe... Selbstredend!

Es grüßt in diesem Fall: eine Ahnungslose. VD

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]






[kol_4] Lauschrausch: Chupacabras und Capote
 
Chupacabras
Leyendas urbanas
galileo mc
Was passiert, wenn vier deutsche Musiker in Köln auf vier dort lebende hispanohablantes - aus Chile, Mexiko, Peru und Spanien - treffen, die ebenfalls Musiker sind? Klar, sie gründen eine Band und mischen ihre unterschiedlichen Erfahrungen und Vorlieben. Heraus kommen Chupacabras, benannt nach dem südamerikanischen Fabelwesen, das den Ziegen nachts das Blut aussaugt.

Auch ihr zweites Album ist wieder ein vielseitiges Gemisch der Stile und Sprachen, das durch seine Kombination von urbanen Beats und lateinamerikanischer Folklore im weitesten Sinne als Latin-Hiphop durchgehen könnte. Das unterstreichen vor allem die beiden ersten Titel im Stile der mexikanischen Crossover-Band Molotov, die von wilder Liebe handeln (Cuidate Mami) bzw. von großspurigen Gangsterrappern (Malo). Schon in Malo zeigt sich aber der eigene Stil der Chupacabras; wenn nämlich plötzlich mittendrin ein deutscher Text gesungen wird, der Rhythmus wechselt und es wie in La Bamba weitergeht.

Chupacabras
Leyendas urbanas
galileo mc

Im Polkarhythmus wird über ein exzessives Fest gesungen (Skandalo), die cumbia dient als Basis für ein Stück über Menschen im Strudel der Nacht. Und auch ruhige Stücke fehlen nicht: in der Hiphop-Ballade Carrera geht es um den Zeitmangel, teilweise auf Deutsch gerappt vom Hamburger Mavys; und die schöne Ballade Escafandra taucht gleich zweimal auf: u.a. als Bonustrack in Deutsch gesungen von Daniel Hermes von der Kölner Band Schlagsaite.

Zum Schluss gibt es als originelle Idee ein gesungenes Dankeschön an alle Beteiligten, denn auch einige Gastmusiker, wie der Pianist Pablo Paredes oder der Percussionist Roland Peil, tragen dazu bei, dass dieses Album eine runde Sache geworden ist.


Max Capote
Chicle
Ojo Música / galileo mc
Aus Uruguay kommt der Sänger Max Capote, der mit Chicle ein sehr abwechslungsreiches Album - inkl. Ausklappcover - abliefert. Von der Ballade (Maria Carolina) über den partytauglichen Salsa-Titel Azuquita pa'l cafe bis zu schnellen Rock 'n' Roll-Stücken wie No te voy a convencer beherrscht Capote alles. Dabei klingt seine raue Stimme mal wie Charly García, Joaquim Sabina oder wie die Beatles, deren Stück Across the universe beim Titel Como pueda Pate gestanden hat.

Max Capote
Chicle
Ojo Música / galileo mc

Meisterhaft seine Interpretation des mexikanischen Boleros Perfidia, ein Klassiker, bekannt u.a. aus dem Streifen Casablanca. "...attraktive Rockmusik mit einem Sinn dafür, sie mit Aromen der Latin-Lounge-Musik zu schmücken", schrieb die spanische Zeitung El Heraldo. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 04/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





.