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spanien: Auf dem Jakobsweg mit Don Carmelo und Cayetana
Achtundzwanzigste Etappe: Finsterer Hexenwald und dunkler Tempelritter
BERTHOLD VOLBERG
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brasilien: Fußball, der Leben retten kann
KATHARINA NICKOLEIT
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FRANK ULMER / DIRK KLAIBER
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peru: Die Gebrüder Pizarro und der Palast La Conquista
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Rio de Janeiro feiert 450. Geburtstag
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Excomungado Douro 2011 aus Portugal
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lauschrausch: Spaziergang durch… Lissabon
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Sevilla - das Barockspektakel der Madrugá
 
I. Die Macarena erscheint auf der Bühne

Karfreitag in Sevilla, es ist Punkt Mitternacht. Eine riesige Menschenmenge wartet vor der Macarena-Basilika nahe der arabischen Stadtmauer darauf, dass sich deren Portal öffnet. Endlich erscheint das silbern glitzernde Leitkreuz, das der größten Prozession der Semana Santa voran getragen wird. Nichts geschieht in Sevilla, der Stadt des ewigen "Mañana", so pünktlich wie der Auftakt zu den Prozessionen der Karwoche. Die "Madrugá" - Sevillas geheimnisvolle Nacht - kann beginnen.

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Es sind die Stunden, die alle hier seit einem ganzen Jahr herbei gesehnt haben. In Zweierreihen bahnen sich die "Nazarenos" einen Weg durch das Publikum. Sie sind unheimlich anzusehen mit über Kreuz getragenen brennenden Kerzen und ihren spitzen Kapuzen, die ihre Gesichter bis auf die Augenschlitze verhüllen und immer wieder fälschlicherweise mit dem Ku-Klux-Klan assoziiert werden. Diese Kapuzenmasken haben aber ihren Ursprung in der Kleidung freiwilliger Helfer während der ersten großen Pest, die Sevilla um 1348 heimsuchte: man glaubte, eine solche Gesichtsmaske würde vor Ansteckung schützen. Danach erhielten diese "Capirotes" genannten Masken bei den Prozessionen der Semana Santa eine andere Funktion: sie sollten die Anonymität der Nazarenos und Büßer wahren. Mancher von ihnen wird das heute bedauern, denn schließlich ist es eine große Ehre, der Macarena, der berühmtesten religiösen Bruderschaft Spaniens anzugehören, die 1595 von Gärtnern gegründet wurde und sich (trotz vieler prominenter Mitglieder wie der spanischen Königsfamilie) ihren volkstümlichen Charakter bewahrt hat.

Seit 400 Jahren wiederholt sich am Karfreitag ab Mitternacht das feierliche Ritual - die gleichen Stationen, der gleiche barocke Prunk wie im 17. Jahrhundert. So warten auch diesmal Tausende ungeduldig auf den ersten "Paso" - so nennt man die großen, reich verzierten, meist vergoldeten Altarbühnen, auf denen Madonnen, Christusstatuen oder Figurengruppen einer Kreuzwegstation Christi getragen werden. In jeder Prozession werden meist zwei Pasos jeweils in der Mitte und am Ende mitgeführt.


In der barocken Ästhetik der Sevillaner Semana Santa sind alle Farben und Formen aufeinander abgestimmt, jedes noch so kleine Detail hat seine symbolische Bedeutung innerhalb dieses imponierenden Gesamtkunstwerks. Die Christus-Pasos (Pasos de Cristo) präsentieren sich meist in vergoldetem Edelholz (=Majestät) und roten Nelken oder Rosen (=Blut, Liebe, Opfer). Die violetten Lilien (Iris) der Kreuzwegszenen (Pasos de Misterio) signalisieren Geheimnis und Meditation. Die Pasos der Jungfrau (Virgen) sind aus Silber, mit einem kunstvoll gestickten Baldachin ausgestattet und mit weißen Nelken oder Königslilien geschmückt, die Jungfräulichkeit, aber auch Freude und Wiedergeburt symbolisieren.
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Bei der Macarena-Prozession muss man aufgrund der hohen Zahl der ca. 3000 Nazarenos viel Geduld aufbringen, bis man die Pasos zu sehen bekommt. Da Geduld weiß Gott keine Stärke der Sevillaner ist, gehen die Nazarenos jetzt in Viererreihen, damit die Prozession schneller voran kommt. Nun ist es soweit. Der neobarocke Paso des "Jesús de la Sentencia", der gefesselt vor Pilatus während der Urteilsverkündung dargestellt ist, wird aus der Kirche herausgetragen, begleitet vom dumpfen Rhythmus eines Trauermarschs und der plötzlich schweigenden Menge. Die Christusstatue hat maurische Gesichtszüge und trägt ein violettes Gewand mit orientalischen Goldmustern. Obwohl die Größe und goldschimmernde Pracht dieses Paso beeindruckend sind, warten eigentlich doch alle nur auf SIE: die berühmteste Madonna Spaniens.

Endlich erscheint sie ihrem wartenden Volk als Lichtgestalt, mit Tränen und dennoch einem geheimnisvollen Lächeln auf ihrem Antlitz. Über ihr Gesicht sind ganze Doktorarbeiten der Kunstgeschichte geschrieben worden. Beleuchtet von einer Kerzenpyramide, löst ihre Erscheinung wie immer Jubel und Begeisterung aus. Schon vor Stunden endete der Kampf um die besten Plätze rund um das barocke Stadttor, durch das sie nun - wie durch einen Triumphbogen - getragen wird. Natürlich kann man sie jeden Tag in der Kirche betrachten, aber es wäre nie dasselbe, denn jetzt ist sie lebendig, bewegt sich durch ihr Volk. Sie ist nicht nur christliche Jungfrau, sie ist die Göttin Sevillas und verschmelzend mit Venus wird sie zu einer mediterranen Urmutter und zugleich himmlischen Schönheitskönigin. Sie trägt eine millionenschwere Goldkrone und den Namen einer arabischen Prinzessin: Macarena.

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Ein Meer von Menschen wogt um die Göttin, jeder will ihren silbernen Paso berühren, möglichst gar eine weiße Nelke aus ihrem Blumenschmuck als heilige Trophäe entwenden. Verdammt ist jeder, dem es nicht gelingt, sie aus nächster Nähe zu sehen - er wird es sich ein ganzes Jahr lang nicht verzeihen. Hinter ihrem Paso folgt ihr ein wilder "Chor" bald heiserer Verehrerinnen, die ihr unablässig mit "Macareeeeeeena - Guapa!"-Rufen huldigen und ihre Schönheit mehr "beschreien" als besingen, bis der Paso schunkelnd im Takt eines Triumphmarsches um die Ecke biegt und ihr riesiger Mantel goldglänzend in der Nacht entschwindet.

II.  Schweigende Schatten im Vollmondlicht
3 Uhr früh an der Ecke der Gassen Argote de Molina / Placentines: Die ersten Nazarenos der Bruderschaft El Silencio schreiten aus der Kathedrale kommend heraus ins Vollmondlicht. Schweigend und ganz in Schwarz gekleidet - welch ein Unterschied zur Frühlingsfest-Stimmung bei der Macarena-Prozession!

El Silencio ist die älteste Bruderschaft Sevillas und wird deshalb "Madre y Maestra" (Mutter und Meisterin) genannt. Gegründet 1340 ist ihre erste Semana Santa Prozession vom Karfreitag, 14. April 1356, überliefert. Diese fiel allerdings damals noch recht bescheiden aus und führte auch nicht zur Kathedrale, sondern zur Wallfahrtskapelle von San Lázaro vor den Stadtmauern. Die Semana Santa in der heutigen barocken Form entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts als Glaubensdemonstration der Gegenreformation nach dem Prinzip des delectando docere und wurde von Sevilla ins übrige Spanien und nach Hispanoamerika "exportiert". Doch nirgendwo erreichte sie derart pompöse barocke Prachtentfaltung und gigantische Ausmaße wie in der andalusischen Metropole: insgesamt 60 Prozessionen in sieben Tagen und Nächten mit 120 Pasos garantieren eine Konzentration von Edelmetall und Kunsthandwerk, die einmalig ist auf der Welt - und einen einwöchigen "Weihrauch-Rausch", der süchtig macht.

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Nun scheint das Warten auf den Christus von El Silencio ein Ende zu haben. Blitzlichtgewitter und das Stimmengewirr der aufgeregten Menge stören empfindlich das Schweigen und kündigen den ersten Paso an. Ein geheimnisvolles Leuchten zwischen den Orangenbäumen. Jetzt sieht man ihn. Wie eine goldene Barke gleitet sie lautlos durch die wogende Menschenmenge - die schönste Altarbühne der Madrugá ist aus großzügig mit Blattgold belegtem Edelholz und mit reichlich ultrabarocken Englein verziert. Francisco de Ocampo schnitzte den "Cristo del Silencio" 1609. Er bewegt sich wie von unsichtbarer Hand geführt die steile Gasse empor. Dies scheint unglaublich, wenn man weiß, dass ein solcher Paso zwei bis drei Tonnen wiegt. Seine unsichtbaren Träger, "Costaleros" genannt, sind die Helden der Semana Santa. Es handelt sich dabei um 40 - 50 starke, gleich große, oft beleibte Männer, die hinter bis zum Boden reichenden Samtvorhängen vor den Augen des Publikums verborgen im Gleichschritt den Paso tragen. Dabei sind sie "blind" und vollziehen Tempo- und Richtungswechsel nur nach den Kommandos des "Capataz", des Dirigenten, der sie führt. So wird die Illusion erzeugt, der Paso bewege sich von selbst. Natürlich müssen die Costaleros ihre schwere Last etwa alle hundert Meter absetzen, so dass jede Bruderschaft aus mehreren Mannschaften besteht, die sich im Laufe einer bis zu 14 Stunden dauernden Prozession abwechseln können.



In den Wintermonaten kann man nach Anbruch der Dämmerung in Sevilla merkwürdige Szenen beobachten. Überall tauchen plötzlich große hölzerne Bühnen auf, die sich schaukelnd durch die Gassen bewegen, getragen von ein paar Dutzend Männern. Ihre Fracht ist unspektakulär: sie sind mit Sandsäcken beladen. Diese sollen das Gewicht eines Paso simulieren, denn es handelt sich um Costaleros beim Training. Bis zur Semana Santa müssen Gleichschritt, rhythmische Wechsel und blinde Übereinstimmung gemäß den Kommandos des Capataz einstudiert werden, denn schließlich sind dann nicht plumpe Sandsäcke zu tragen, sondern Erlöser und Himmelsköniginnen und die wollen elegant fortbewegt und manchmal auch sanft zum Tanzen gebracht werden.



III.  Saetas für den Christus der Zigeuner
4 Uhr früh vor dem Dueñas-Palast. In den letzten Nachtstunden ist der Orangenblütenduft am intensivsten, als ob er mit den Weihrauchwolken wetteifern wolle. Der erste Frühlings-Vollmond scheint heller als die alten Laternen, die im orientalisch wirkenden Labyrinth der größten Altstadt Europas ihr gelbliches Licht verströmen. In Momenten wie diesem kann man nachvollziehen, warum viele Dichter Sevilla als schönste Stadt der Welt feiern.

Nahe der Kirche Santa Catalina schallt rhythmisches Klatschen durch die heilige Nacht. Eine große Gruppe von Zigeunern, oft von weit her aus ganz Europa angereist, feiert erstaunlich fröhlich für einen Karfreitag mit ekstatischem Flamencotanz die Erscheinung ihres Christus, den sie zärtlich "Manuel" nennen. Die Reihen der Nazarenos ihrer Bruderschaft Los Gitanos biegen ein in die Gasse Doña María Coronel. Dramatisch schmetternde Trompeten kündigen den Paso des populären "Cristo de los Gitanos" an. Die Nazarenos tragen keine schwarze Trauertracht, sondern weiße Tunikas und violette oder grüne Kapuzenmasken. Jetzt bewegen ihre vermummten Gestalten sich plötzlich schneller, fast hektisch flackern ihre Kerzen. Da brandet auch schon eine Woge von Applaus durch die Zuschauer und erstaunlich schnell biegt der frisch vergoldete Paso um die Straßenecke.

In diesem Moment zerreißt ein heiserer Schrei die Luft. Er kommt vom Balkon direkt über dem Schatten der Christusstatue. Die Intonation eines arabisch klingenden Klagegesangs.

"Saeta" nennen die Andalusier sehr treffend dieses spontan gesungene Stoßgebet: "Pfeil". Denn wie ein Pfeil werden die Töne herausgeschleudert, finden ihren Weg durch die Nacht und bohren sich ins Herz der Zuhörer. Die Texte sind - wie bei den meisten schwermütigen Flamencogesängen des Cante Jondo - nur bruchstückhaft zu verstehen, da viele Worte sehr lang gezogen und "a la andaluza" ausgesprochen werden. Es handelt sich um kurze Loblieder auf den Christus oder die Jungfrau des besungenen Paso oder auf den Künstler, der sie schuf. Vor allem aber sind es  herausgeschleuderte Arien des Schmerzes über den Tod Christi und Mitgefühls angesichts der Trauer seiner Mutter.
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In manchen Saetas werden Christus gar Vorwürfe entgegen geschleudert, weil er seiner Mutter - und allen Sevillanerinnen - durch seinen Opfertod so große Schmerzen zugefügt hat. Für einen Nicht-Andalusier klingt der Saeta-Gesang fremdartig und orientalisch: er erinnert eher an Gebetsrufe eines Muezzin als an christlichen Sakralgesang und ist ein Beispiel für die Integration heidnischer Elemente in die Sevillaner Semana Santa.

Der Sänger der Saeta scheint sich selbst in eine Form der Ekstase zu singen, er krümmt sich wie vor Schmerzen, als ob ein Schwert seine Brust getroffen hätte. Er stößt aus seiner Tiefe Laute empor in den violetten Nachthimmel, die schon nicht mehr menschlich klingen in ihrer Verzweiflung. Man hat fast Angst, dass er auseinander gerissen werden könnte, so windet sich sein Körper, als er die wild gestikulierenden Hände dem verehrten Christus entgegen streckt. Die elementare Wucht dieses archaischen Klagelieds kann niemanden ungerührt lassen. Das Publikum ist hingerissen und manch einem entfährt ein spontanes Olé!

Nach seiner Darbietung bekreuzigt sich der Sänger und wendet sich mit tränenerfüllten Augen ab. Die Bruderschaft der Gitanos ist bekannt dafür, dass ihr Weg von besonders guten Sängern begleitet wird, denn dieser Flamenco-Gesang ist eine Domäne der Zigeuner und in ihren Kreisen ist es sehr verbreitet, dass jemand eine spontane Saeta zur Erfüllung eines Gelübdes - z.B. aus Dankbarkeit über die Heilung von einer Krankheit - darbringt. Solche Saetas haben einen sehr intimen Charakter und mit etwas Glück kann man sie in dieser ursprünglichen Form plötzlich irgendwo am Prozessionsweg erleben.

Mittlerweile hat der Capataz das Kommando zum Emporheben des Paso gegeben. Der dunkle Schatten des Christus der Zigeuner, entfernt sich im Rhythmus eines Trauermarsches, der gar nicht besonders traurig klingt. Beruhigend versichert mir eine Zigeunerin, die gerade vorbeigeht: "Sei nicht besorgt. Die Geschichte geht gut aus, in ein paar Stunden wird er wieder auferstehen!"
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IV. Der göttliche Rebell
5 Uhr früh: Noch einmal endloses Warten, diesmal an der Ecke der Straßen Doña Guiomar / Zaragoza. Die Kälte der Nacht kriecht langsam in die Glieder. Man beneidet jetzt diejenigen, die sich Klappstühle und Proviant mitgebracht haben.

Doch nun es heißt es ausharren und hoffen - auf IHN. Er ist der "Jesús del Gran Poder" ("Jesus der großen Macht") von der Bruderschaft Gran Poder. Von ihm sagen die Sevillaner, er sei das wahre Abbild Christi. Die Christusstatue mit dem rätselhaften Antlitz wurde 1620 von Juan de Mesa geschaffen.

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In einer nicht enden wollenden Doppelreihe, feierlich und schweigend, schreiten die pechschwarz vermummten Nazarenos bei dieser Prozession mit ca. 3000 Teilnehmern voran. Disziplin und asketischer Ernst zeichnen diese alte, 1431 gegründete, Bruderschaft aus. Dies überträgt sich interessanter Weise auf die Zuschauer, die hier verhalten und in sich gekehrt erscheinen, viel stiller als das Publikum bei der Prozession der Zigeuner. Dann endlich - der Paso "schwebt" um die Ecke. Da geht ein seltsames Zischen, das zu absoluter Stille ermahnt, durch die Menge. Man wagt kaum zu atmen, die Kehle scheint zugeschnürt. Viele bekreuzigen sich, einige fallen auf die Knie, verharren bewegungslos - wie in Trance starren sie auf das Antlitz des mit einem violetten Gewand bekleideten Christus.

Er wirkt finster, schmerzerfüllt und doch entschlossen. Juan de Mesa ist hier eine ausdrucksstarke, hyperrealistische Leidensdarstellung gelungen: einzelne Stacheln der Dornenkrone bohren sich in die Stirn, Blut rinnt über das Gesicht, die Lippen sind brüchig und ausgetrocknet. Die Körperhaltung des Gran Poder ist eine Mischung aus Rebellion und Majestät. Er trägt das Kreuz nicht demütig, stolz zerrt er es vorwärts.
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Das Klopfen und die Rufe des Capataz reißen alle aus der minutenlangen Andacht. In "Zeitlupe" hebt sich der üppig vergoldete Paso von 1668 empor. Diese älteste Altarbühne der Semana Santa quillt über vor zierlichen Engelsfiguren, die den furchteinflößenden Gesichtsausdruck des Christus der großen Macht zu besänftigen scheinen. Und stumm schreitet sein violetter Schatten dem sinkenden Vollmond entgegen.

Hunderte von barfüßigen Büßern folgen ihm, um für eine Nacht selbst das Kreuz zu tragen und damit ein Versprechen aus Dankbarkeit einzulösen oder eine Bitte vorzutragen.



Aber auch Atheisten in Sevilla sprechen voller Respekt von "El Gran Poder". Gern erzählt man sich ein Ereignis aus dem Jahre 1964. Ein Werkstattbesitzer aus einem Vorort Sevillas, der seinen Glauben verloren hatte, führte ein Streitgespräch mit einem religiösen Freund, der ein Würdenträger der Bruderschaft des Gran Poder war. Dieser forderte ihn auf, endlich nochmal in die Kirche zu kommen, um den Christus zu sehen. Hochmütig entgegnete ihm der Atheist: "Wenn der Jesus del Gran Poder mich sehen will, so soll er zu mir in mein Haus kommen!"

In jenem Jahr hatte der Erzbischof von Sevilla einige außerordentliche Prozessionen in moderne Stadtviertel angeregt, wo damals keine Prozession stattfand. So begab sich die Bruderschaft des Gran Poder mit ihrem kostbaren Paso nach Nervión im Norden Sevillas, doch unterwegs setzte plötzlich heftiger Regen ein, so dass man dringend einen Unterschlupf suchen musste, um das wertvolle Kunstwerk nicht zu gefährden - aber wo? Für einen Hauseingang war der tonnenschwere, fast sechs Meter lange Paso viel zu groß, doch man fand eine Garage, wo man die heilige Fracht unterstellen konnte. Und diese gehörte dem Atheisten. Als er von der Arbeit nach Hause kam und das Garagentor öffnete, blickte er geradewegs in das finstere, majestätische Antlitz des Herrn. Da erfasste ihn heiliger Schrecken und es hätte nicht viel zu einem Herzinfarkt gefehlt. Denn das Vorfinden einer goldstrahlenden Altarbühne in einer Garage ist kein alltäglicher Anblick - nicht einmal in Sevilla. In diesem Moment fand der Mann zu seinem Glauben zurück und unternahm wieder "Gegenbesuche" beim Gran Poder.



V.  Die Königin von Triana
7 Uhr früh vor der Kappelle in der Calle Adriano. Die Sonne geht langsam auf und mit ihren ersten Strahlen nähert sich die Esperanza de Triana. Ein Blütenregen von Rosenblättern rieselt herab auf den Baldachin der Jungfrau. Rückkehr des Tageslichts - Rückkehr von Freude und Leben.

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Das Erscheinen dieser hell gekleideten Jungfrau der Hoffnung kündigt das Ende der langen Nacht des Karfreitags an und wird mit Erleichterung begrüßt. Ist diese Koinzidenz mit dem Sonnenaufgang Zufall oder Inszenierung? Dies bleibt das Geheimnis des Jahrhunderte alten "Regieplans" der Madrugá. Es verfehlt jedenfalls nicht seine Wirkung. Auf die Trauer und Bedrückung, die noch beim Anblick des kreuztragenden Jesus der großen Macht vorherrschte, folgen nun die Freude über den neuen Morgen und - wenn auch "verfrüht" - über die Auferstehung Christi.

Diese vermischt sich hier aber mit der Begeisterung eines heidnischen Frühlingsfestes, denn auch die Erneuerung des Lebenszyklus der Natur scheint durch den mit weißen Blüten überreich dekorierten Paso der Esperanza de Triana zelebriert zu werden.

Sie ist übrigens die Rivalin der Macarena in der Gunst der Sevillaner. Dabei ähneln sie sich aus der Ferne durchaus: beide haben dunkle Gesichter, eingerahmt von weißen Schleiern und - da beide den Beinamen "Esperanza" tragen - sind sie bekleidet mit grünen, goldbestickten Mänteln.
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Beide Madonnen sind sehr schön, aber die Esperanza Macarena ist zwei Jahrhunderte älter als die Esperanza de Triana.



Die volkstümliche Rivalität der beiden Jungfrauen - offiziell wird sie verneint - treibt manchmal seltsame Blüten. So gelten sie jeweils als Schutzpatroninnen der beiden Fußballvereine von Sevilla: während die Esperanza de Triana die Mannschaft von Real Betis zum Sieg führt, hält die Macarena ihre schützenden Hände über die Kicker des FC Sevilla.



Begeisterter Applaus holt mich zurück in die Gegenwart. Die Menge feiert die Costaleros der Esperanza de Triana, deren Paso jetzt fast wild geschaukelt wird, die Silberstäbe ihres Baldachins schwanken bedenklich und man muss Angst haben, dass ihr die Goldkrone vom Haupt fällt.

Doch alles geht gut und viele im Publikum haben Tränen in den Augen, als die Königin von Triana ihren Triumphzug durch die brodelnde Menge fortsetzt - als Symbolgestalt der Rückkehr von Leben, Licht und Freude nach Winter und Nacht. Kurz bevor ihr Paso hinter dem Torbogen des Postigo verschwindet, fallen die ersten Sonnenstrahlen fächerförmig in die enge Gasse und bringen das Goldgrün ihres Mantels zum Leuchten.
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VI. Die Bruderschaft der Mulatten
8 Uhr früh: Nachdem die Prozessionen von El Silencio und El Gran Poder noch vor Sonnenaufgang endeten, befindet sich nun auch die letzte der drei schwarz gewandeten Schweige-Bruderschaften der Nacht kurz vor ihrem Ziel: El Calvario. Ich erwarte sie auf dem Platz vor ihrer Kirche Santa María Magdalena, in die sie jetzt zurückkehrt.

Gegründet wurde die Vereinigung vom Kalvarienberg 1571 als Bruderschaft der Mulatten. Schon die Araber hatten viele schwarze Sklaven nach Sevilla gebracht und seit dem 15. Jahrhundert sorgten portugiesische Sklavenhändler dafür, dass der schwarze Bevölkerungsanteil in der spanischen Wirtschaftsmetropole damals so hoch war wie in keiner anderen Stadt Europas: gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren es ca. 15% und zusammen mit den Mulatten dürften die farbigen Einwohner mindestens ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Sevillas gestellt haben.

Mit Unterstützung des damaligen Erzbischofs gründeten die Schwarzen schon sehr früh eine eigene Bruderschaft: die "Cofradía de los Negritos" ist die drittälteste der Stadt und entstand schon 1393. Später gründeten auch die Mulatten ihre eigene Bruderschaft (1571). Heute ist allerdings der Prozentsatz von Mulatten in dieser Vereinigung sehr gering, obwohl viele Mitglieder irgendwann Mulatten unter ihren Vorfahren hatten. 
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Inzwischen sind die ersten Nazarenos von El Calvario - schweigende schwarze Schatten - an mir vorbei gehuscht und in der Kirche verschwunden. Da es die kleinste Cofradía der Madrugá ist, dauert es nicht lange, bis im dunstigen Morgenlicht die gespenstische Silhouette des gekreuzigten Christus auftaucht. Er wird getragen auf einem schlichten Paso aus Holz ganz ohne Vergoldung. Langsam nähert er sich, ohne musikalische Begleitung, in unheimlicher Stille. Man hört keinen Laut außer dem Schlurfen der Espartogras-Schuhe der Costaleros auf dem Pflaster. Niemand regt sich in der Menge, die für Sekunden erstarrt zu sein scheint, als der Paso genau vor uns anhält.

Dort oben hängt ein Schatten, die Arme vor dem morgendlichen Himmel ausgebreitet. Langsam erkennt man im Weihrauchnebel die Christusstatue: ein majestätisches Meisterwerk, das Francisco de Ocampo 1611 geschaffen hat. Jede Sehne, jede Ader dieser toten Erlösergestalt scheint noch das letzte Aufbäumen des Körpers im Todeskampf zu verraten. Jetzt ist sein Kopf regungslos auf die Brust gesunken, wir schauen in das zerfurchte Antlitz des Todes, das Lebenslicht in den halb offenen Augenschlitzen ist erloschen. Es ist vollbracht. Dieser Anblick brennt sich ins Gedächtnis, noch einmal spürt man diesen Kloß in der Kehle in dem Moment, als der tote Erlöser mit den leeren Augen emporgehoben und fort getragen wird.


VII.  Barockes Gesamtkunstwerk und kollektive Ekstase
Kurz vor 13.00 Uhr in der Calle Parras. Das Mittagslicht fließt gleißend durch die Straßen, von fern hört man Trommelwirbel - die Macarena! Jetzt ist sie schon 13 Stunden unterwegs. Die Menschen stehen dicht an dicht, einige müssen sich auf Fensterbänken abstützen, können sich nach über zwölfstündigem Gehen und Stehen kaum noch aufrecht halten.

Viele im Publikum mögen sich fragen, was man als Nazareno während der langen Prozession empfindet. Der alles beherrschende Gedanke ist, dass man sich plötzlich ganz bewusst als Teil eines gigantischen Gesamtkunstwerks fühlt. Man wandelt auf einem städtischen Pilgerpfad, den seit 1340 schon Millionen gegangen sind, getrieben von geheimen Bitten und brennenden Wünschen, die vielleicht erfüllt wurden. Und doch bleibt erstaunlich wenig Zeit für Meditation auf diesem Weg, muss man doch mit höchster Konzentration auf oft banale Dinge achten. Besonders bei der ersten Teilnahme überwiegt zunächst die Nervosität - aus Angst, etwas falsch zu machen im streng geregelten Ablauf der Prozession. Um sich harmonisch einzufügen ins Gesamtbild, muss man stets würdige Haltung bewahren, auf Tempowechsel reagieren, den richtigen Abstand zum Vordermann (oder -frau?) einhalten, dabei aufpassen, dass man mit der schweren Kerze, die man trägt, kein Gewand oder Banner in Brand steckt (was bei Übermüdung nach 12 oder 13 Stunden schneller passieren kann als man denkt). Und während man mit einer Hand die brennende Kerze trägt, ist die andere Hand ständig damit beschäftigt, die Position der Gesichtsmaske zu korrigieren. Denn die Augenschlitze sind sehr klein und wenn sie nur um Millimeter verrutschen, sieht man nichts mehr. Gleichzeitig ist noch der wehende Umhang festzuhalten und die Zuschauer, deren Hände sich der Prozession überall entgegen strecken, wollen mit Madonnenbildchen beglückt werden. Aber natürlich gilt es trotz aller Anstrengungen, zum ästhetischen Erscheinungsbild der Prozession beizutragen, diese unvergesslichen Momente, die plötzlich daher kommen, wenn man sie am wenigsten erwartet. Wie heute morgen bei Sonnenaufgang in einer der schönsten Gassen des langen Prozessionsweges, Ángela de la Cruz, als das Licht aus dem zuvor bewölkten Himmel herab die Häuser gegenüber dem Kloster und die auf dem Boden kauernden Zuschauer erstrahlen ließ...

Es ist kein Zufall, sondern gehört zu den ungeschriebenen Regieanweisungen der Madrugá, dass mit Sonnenaufgang die drei schwarzen Schweige-Bruderschaften in ihren Heimatkirchen verschwunden sind - als ob das wiederkehrende Tageslicht und die lebhaften Trommelwirbel und Trompeten der volkstümlichen Bruderschaften diese Schatten der trauernden Nacht vertrieben hätten.

Die Freude explodiert, als die Macarena zurück kehrt vom langen Triumphmarsch durch ihr Volk. Die ganze Straße gerät in einen Taumel, Trompetenklänge vermischen sich mit Saetas, deren heisere Töne zusammen mit Rosenblättern auf die Macarena nieder regnen, der Baldachin vibriert, der Paso scheint zu versinken im wogenden Menschenmeer.

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Es ist ein eigenartiges Gefühl, sich von dieser dichtgedrängten Menge mitreißen zu lassen, die wie in einem Strom hinter dem goldgrün schimmernden Mantel der Jungfrau fließt. Eine Mischung aus Ohnmacht und Hingabe, Vergehen und Aufgehen, die Menge verschmilzt zu einem vielköpfigen Leib, vereint in diesem Wunsch, der für Augenblicke alle Gedanken auslöscht: eins zu werden mit diesem mystischen Menschenkörper, um Ihr nahe zu sein, dieser so menschlichen Himmelskönigin. Es sind Momente von rauschhafter Entrückung, der in einer kollektiven mystischen Ekstase mündet. Gegensätzliche Gefühle fließen ineinander, schneller als man denken kann. Denn die Karwochen-Feierlichkeiten haben hier drei sich überlagernde, fast widersprüchliche Bedeutungen. Vordergründig geht es um das Andenken der Passion und Erlösung Christi, dahinter verbirgt sich das große (Frühlings-)Fest der Rückkehr des Lebens. Und nicht zuletzt feiert die Stadt sich selbst in dieser Woche, deren Höhepunkt die Madrugá ist.

"Toda Sevilla un Cielo" heißt es im Text einer populären Saeta: "Ganz Sevilla ist ein Himmel". Richtiger müsste man sagen, für die Sevillaner ist es der Himmel. Dies ist wohl der Schlüssel zum Verständnis der Semana Santa. Sevilla macht sich zum himmlischen Jerusalem, das von fast 80.000 Nazarenos in 60 Prozessionen in die Ebene des Guadalquivir geholt wird.

Sevilla ist Barockbühne und die Sevillaner sind zutiefst barocke Seelen mit leidenschaftlichen Widersprüchen zwischen asketischem Ritual und verschwenderischem Prunk. Daher präsentieren sich auch die Prozessionen so gegensätzlich: schwarz und schweigend oder laut und leuchtend. Es ist kein Zufall, dass hier, in dieser Metropole des Barocks - und nicht in Rom oder Versailles - das größte barocke Gesamtkunstwerk zu bestaunen ist, das sich über die Jahrhunderte bis heute behaupten konnte. Die Semana Santa ist heute sogar populärer als je zuvor, vor allem bei der Jugend, weil es eine Tradition ist, die wirklich gelebt wird. Ein Grund für die Popularität der Prozessionen mag sein, dass sie von Laienbruderschaften und nicht von der Amtskirche organisiert werden. Und wie alle Andalusier verstehen sie meisterhaft die Kunst der Inszenierung. Das Ritual des Rituals. Wenn jetzt der Capataz den Trägern der Macarena zum letzten Mal das Kommando gibt: "Al Cielo con Ella!" ("In den Himmel mit Ihr!"), so ist auch dieser Spruch doppeldeutig. Der Himmel, in den die Macarena getragen wird, ist nicht nur die Kirche, deren Pforten sich nun schließen, es ist ganz Sevilla.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg + Vicente Camarasa

Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

Links
www.hermandades-de-sevilla.org
www.artesacro.org
www.hermandaddeelsilencio.org
www.granpoder.org
www.hermandaddelamacarena.es
www.hermandaddelcalvario.org
www.esperanza-de-triana.org
www.hermandaddelosgitanos.com
www.galeon.com/juliodominguez
www.lapasion.org
www.costalero.com

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug V)
Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten
 
An der chilenisch-bolivianischen Grenze hörte die Straße auf und entließ uns in eine karge Hochlandregion, die sich bis zum Horizont vor uns ausbreitete, ohne dass auch nur das geringste Zeichen einer menschlichen Besiedlung zu sehen gewesen wäre. Ein gedrungener Zollbeamter mit kaffeebraunem Vollmondgesicht drückte den Einreisestempel seines Landes in meinen Reisepass. Anschließend stiegen wir in drei bereitstehende Jeeps. Eine Straße würde ich erst wieder in vier Tagen zu Gesicht bekommen.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Wenig später zerkratzte unser Gefährt die makellose Oberfläche des Altiplano. So nennen die Bolivianer das karge Hochland, das knapp zwei Drittel der Landesfläche einnimmt. Das restliche Drittel besteht aus dichtem Regenwald. Schneebedeckte Bergspitzen lugten über die Horizontlinie, als wollten sie nachsehen, wer ihnen da einen Besuch abstatten kam. Vier bis fünf Stunden lang fuhren wir auf sie zu, ohne dass sich die Landschaft um uns herum veränderte. Sie blieb rau und karg, umrahmt von Fünftausendern, und zeitweilig hatte ich das Gefühl, als habe jemand ein Bild an die Innenscheiben unseres Jeeps gemalt. Kein Dorf kam in Sicht. Kein Auto kreuzte unseren Weg. Ab und zu stoben Lamas und Alpakas, aufgeschreckt vom Motorgeräusch, vor uns auseinander. Vom Beifahrersitz aus konnte ich beobachten, wie unser wortkarger, bolivianischer Fahrer José hochkonzentriert auf den kargen Boden vor uns blickte. Alle paar Minuten musste er Unebenheiten umfahren und sich für den besten Weg entscheiden.

Altiplano-Sajama

In der Reihe hinter mir saßen zwei schweigsame Bolivianerinnen, die Dolores und Soledad hießen. Immer schon hatte mich die Vorliebe für ausgefallene Vornamen im Spanischen verblüfft. Die Namen meiner beiden Mitreisenden bedeuteten übersetzt "Schmerzen" und "Einsamkeit". Derartige Bezeichnungen waren in Südamerika ebenso gängig wie im Deutschen zum Beispiel Annette und Monika. Man stelle sich vor, jemand würde uns mit den Worten begrüßen: "Guten Tag, mein Name ist Einsamkeit Müller und das hier ist meine Freundin Schmerzen Meier". Würde man diese beiden wirklich kennenlernen wollen?

Hinter Einsamkeit und Schmerzen räkelten sich Linda, eine fünfundzwanzigjährige Argentinierin, und ihr Freund Jorge, ein dreißigjähriger Chilene, der nicht müde wurde, zu betonen, dass seine Freundin ihren Namen zurecht trug. Er bedeutet in Südamerika soviel wie "Hübsche". Den Abschluss bildeten zwei Italiener, die im Kofferraum des Jeeps Platz genommen hatten. Einmal mehr war ich Teil einer illustren Gruppe geworden.

Seit unserer Ankunft in Bolivien waren wir leicht bergauf gefahren. Kurz vor Sonnenuntergang trafen wir auf eine Art Holzhütte, die mutterseelenallein in der kargen Landschaft stand. Hier erlebte ich zum ersten Mal, wie europäische Ansprüche auf ein bolivianisches Angebot trafen.

Altiplano Geysir

"Aah, nach der langen Fahrt freue ich mich schon auf die Dusche!", rief einer der Italiener aus, als wir unser Domizil betraten. Der Herbergsbesitzer scharrte daraufhin verlegen mit den Füßen und fuhr sich nervös mit der rechten Hand durchs Haar. Die Aufgabe, die ihm bevorstand, war, uns möglichst schonend mit den hiesigen Gegebenheiten vertraut zu machen. "Nun ja, unglücklicher Weise verfügen wir hier oben über kein allzu warmes Wasser. Genauer gesagt, verfügen wir über gar kein warmes Wasser. Um ganz ehrlich zu sein, gibt es bei uns schlichtweg kein Wasser, also weder warmes noch kaltes. Wisst Ihr, wir sind hier auf knapp fünftausend Metern Höhe, da wäre es äußerst aufwändig, etwas Derartiges bereitzustellen." Unser Herbergsvater lächelte entschuldigend.

"Soll das heißen, dass es in dieser Hütte nicht einmal ein Waschbecken gibt?", hakte der Italiener nach, der seinen Traum von einer Dusche nicht ohne Weiteres loslassen konnte. "Aber, señor, warum sollten wir denn ein Waschbecken bauen, wenn es doch kein Wasser gibt?" Noch immer lächelte unser Gastgeber. Die Logik war eindeutig auf seiner Seite. "Schon gut, in Ordnung". Der Italiener zuckte mit den Achseln. "Wo geht’s zu den Toiletten?"

Herbergsbesitzer und Anhang

"Einfach zur Eingangstür wieder hinaus, señor. Keine Sorge, im Umkreis von vierzig Kilometern gibt es keine Nachbarn, die Sie beobachten könnten." Der Hüttenbesitzer deutete mit weit ausladender Handbewegung auf die Umgebung. "Wisst Ihr, wir sind hier auf knapp fünftausend Metern, da ist man nicht sonderlich zimperlich." Sein Lächeln wurde breiter. Lustige Leute hatte ihm unser Fahrer da vorbeigebracht, Städter aus Europa. Toiletten, na so was! Diese ausländischen Touristen kamen auf Ideen...

"Schon gut", befand der Italiener. Die Resignation war ihm anzuhören. "Dann spielen wir eben ein wenig Karten. Wo ist denn der Lichtschalter? Es wird langsam dunkel." "Nun ja ...", druckste unser Gastgeber herum, "immer zwei von Ihnen bekommen nachher eine Kerze. Strom kann ich Ihnen leider keinen anbieten. Wisst Ihr, señores, wir sind hier auf knapp fünftausend ..."

"Ja, das haben wir inzwischen kapiert!", schloss der Italiener das Gespräch etwas unwirsch ab, nachdem seine Vorstellung eines gelungenen Abends nach und nach vor seinem inneren Auge zerbröckelt war. "Hoffentlich gewinne ich wenigstens nachher beim Kartenspiel gegen unseren deutschen Mitreisenden." Er gewann haushoch und war für den Rest des Abends besänftigt.

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_3] Brasilien: Brasiliens schönste Küste (Teil 1) (Teil 2/Teil 3)
Zwischen Paraty und Ubatuba
 
Der Küstenabschnitt zwischen dem historischen Städtchen Paraty, im Süden des Bundesstaates Rio de Janeiro gelegen, und Ubatuba, einem Konglomerat aus etwa 100 Stränden an der Nordküste São Paulos, ist für mich ganz klar der schönste ganz Brasiliens. Zwar trifft man stets Ignoranten, die verneinen, dass São Paulo überhaupt über tolle Strände und atemberaubende Landschaften verfüge, doch die sind wohl noch nie die beeindruckende Küstenstraße entlang gefahren. Was soll’s, ihr Pech halt. Zu der traumhaften Nordküste São Paulos kommen wir allerdings erst später. Zunächst kehren wir erst einmal in Paraty ein.

Wobei ich zugeben muss, dass ich Paraty gegenüber oft ungerecht war. "Regenloch" hatte ich es geschimpft, nachdem ich bei meinem fünften Besuch dort zum fünften Mal vollkommen durchnässt worden war. Selbst das schönste Wetter verabschiedete sich regelmäßig, sobald die Bucht mit dem historischen Stadtkern in Sicht kam. Auch dieses Mal scheint die Sonne als ich mich von einer ganz neuen Seite aus Paraty nähere. Bis Aparecida bin ich über die Dutra-Autobahn gefahren, schließlich wollte die Herzdame mal den beeindruckend großen katholischen Tempelbau zu Ehren der Nossa Senhora anschauen.

Nun ja, laut Karte gibt es eine Landstraße, die das Küstengebirge der "Serra do Mar" hinunter nach Paraty durchschneidet. 93 Kilometer sollen es laut Straßenschild via die Stadt Cunha sein und wir sind guter Dinge. Doch auf halber Strecke erwischt es uns, die Straße ist durch Erdrutsche versperrt, wir müssen umkehren: über Lagoinha zurück zur Straße, die Taubate mit Ubatuba verbindet. Zwei Sunden verloren, Sonne im Gebirge und nicht am Strand...



So kommen wir erst bei Einbruch der Dunkelheit in Paraty an. Die historischen Silhouetten im fahlen Licht der Straßenlaternen stimmen uns ein auf den Weg in die Vergangenheit. Zwischen 1533 und 1560 wurde Paraty besiedelt. Während des Goldrauschs in Minas Gerais mauserte sich der kleine Weiler zum wichtigsten Goldhafen Brasiliens, Endpunkt (oder Anfangspunkt, wie man will) der "Estrada Real", dem Weg in die Gold- und Edelsteinberge bis nach Diamantina hinauf. 



Jetzt wimmelt es hier von Touristen aus aller Herren Länder. Paratys Charme hat sich herumgesprochen. Die Stadtoberen geben sich aber auch alle Mühe, die nicht mal 35.000 Einwohner beherbergende Stadt bekannt zu machen. Dazu gehört das "Festival da Pinga", das die in der Gegend hergestellten erstklassigen Zuckerrohrschnäpse dem begierigen Publikum präsentiert. Und natürlich das Flip-Festival, Lateinamerikas wohl bedeutenster Literaturtreff. Dieses Jahr wird es Anfang August stattfinden, unter Beteiligung renommierter Schriftsteller aus dem In- und Ausland.



Ich sagte, dass ich Paraty gegenüber oft ungerecht war? Die Sonne verwöhnt uns als wir am Morgen hinauf zu Forte Defensor Perpetuo gehen. Kein Regen weit und breit. Durch einen von Bambus gesäumten Weg geht es einige hundert Meter durch den Urwald der Mata Atlântica, bevor wir das vor über 300 Jahren errichtete Fort betreten. Oder besser gesagt, was davon noch übrig ist. Heute findet man hier, neben einigen verrosteten Kanonen, ein kleines Museum, das so manche Geschichte aus der Region erzählt. Nichts weltbewegendes, aber der Blick von hier oben ist wunderschön.



Eigentlich hatte ich Regen versprochen, und so sollte es eine Kultur-Reise werden. Doch jetzt schwitzen wir und brauchen Abkühlung. Wir entscheiden uns für Strand und zwar für einen, von dem man nicht genau weiß, in welchem Bundesland er denn nun tatsächlich liegt. Doch davon mehr beim nächsten Mal. (Teil 2)

Text + Fotos: Thomas Milz



Übernachtungstipp:
Hotel Pousada do Forte, www.hoteldoforteparaty.com.br

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Venezuela: Bootstrip auf dem Caño Guaritico (Bildergalerie)
 
Auf einem Ast, den Blick aufs Wasser gerichtet, verharrt ein Fischbussard in Lauerstellung. Unserer Bootsführer hat, ohne dass wir etwas mitbekommen hätten, einen Piranha aus dem Wasser gezogen und mit einem Stöckchen aufgespießt, so dass er nicht untergehen kann. Den Piranha schleudert er nun in hohem Bogen durch die Luft. Die Aufmerksamkeit des Bussards ist ihm gewiss. Und kaum dass der Raubfisch im Wasser gelandet ist und auf der glatten Oberfläche Position bezogen hat, startet der Fischbussard, greift zu und entführt den Piranha in die Baumwipfel.

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Der Caño Guaritico fließt durch das Herz der Los Llanos, der flachen Steppe südlich von Barinas. Der Seitenarm des Apure, des zweitgrößten Flusses Venezuelas, schlängelt sich  zunächst durch das 70.000 Hektar große Gebiet des Hato El Frío, eine der schönsten Touristen-Ranch, die gleichzeitig Forschungsstätte u.a. diverser spanischer Universitäten ist.

Leider hat sich zurzeit das Militär im Hato El Frío breitgemacht und der Tourismus ruht. Eine echte Alternative zum Hato El Frío für einen Besuch der Los Llanos und seiner Tierwelt aber ist das Hato El Cedral (Link zu http://www.casa-vieja-merida.com/tour/los_llanos/los-llanos-venezuela.shtml).

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Wir befahren den Fluss in einem motorisierten Einbaum. Die Ufer sind bewaldet, mit den so genannten Galeriewäldern. Diese entstehen dort, wo sich das Wasser auch in der Trockenzeit hält, also vorwiegend entlang der Flüsse. Ansonsten ist das Land der Los Llanos flach und mit Gras bewachsen. Durch das geringe Waldvorkommen tummelt sich ein großer Teil der Tierwelt vom Boot aus gut sichtbar im Geäst. Meist warten Wasservögel wie Kormorane und Silberreiher bis das Boot auf gleicher Höhe ist, starten dann bisweilen recht schwerfällig und gleiten den Fluss entlang. Auf dem in der trockenen Jahreszeit freigelegten Lehmboden liegen vereinzelt Brillenkaimane, auf Baumstämmen, die ins Wasser gekippt sind, sonnen sich Schienen-Schildkröten. Immer wieder steuert der Bootsführer nahe an das Ufer heran und zeigt uns im Dickicht Leguane, Tejus, Schlangen, Eisvögel, Hoatzine, Greifvögel, Keisergeier, rosa Löffler, purpurfarbene Ibize und Fischotter.

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Wir befinden uns nicht in einem der großen luxuriösen Hatos, sondern im Gebiet der Modulos, die den Caño Guaritico weiter abwärts liegen. Hier gibt es eine Reihe kleiner bis zu 500 Hektar großer Fincas. Seit Mitte der 90er Jahre haben es einige Viehtreiber dem Pionier "Bariga", dem ersten Llanero, der seine Matratze an Touristen verlieh, gleich getan und umgerüstet bzw. angebaut. Unterkünfte sind meist Lehmhütten mit Moskitoscreen, die mittig einen Pfahl aufweisen, von dem ab sternförmig Hängematten gespannt sind.

Der Name Modulos meint ein Modularsystem, das zumindest in diesem Teil der Los Llanos in den 70er Jahren unter Carlos Andres Perez entstanden ist. Terraplens, Dreckstraßen mit der Funktion von Dämmen, durchziehen die Steppe im Idealfall gemäß dem Schachbrettmuster. Diese quadratischen Module sind auf allen vier Seiten von Terraplens eingefasst. Durch Öffnen und Schließen von Schleusen kann der Wasserstand in einem Modul kontrolliert werden. Auf diese Weise haben die Llaneros teilweise bis tief in die Trockenzeit hinein noch grüne Weiden für ihr Vieh.

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Der Bootsführer hat den Einbaum ans Ufer gesteuert und verteilt Handangeln, die er mit Hühnerhaut bestückt. Und dann dauert es nur Sekunden bis der erste Piranha angebissen hat. Wer sich von der Faszination des Actionfischens losreißen kann, folgt dem Guide in den Wald hinein und steht plötzlich und unverhofft vor einem Tresen, den man nicht besser hätte tarnen können und stößt an mit eiskaltem Polar-Bier. Über der Waldschänke hat sich ein Potoo – in den Los Llanos auch Pereza (Trägheit) genannt – eingenistet. Der Potoo ist ein eulenähnlicher Riesentagschläfer, dessen Tarnung so perfekt ist – zumindest glaubt er das –, dass man sich ihm bis auf wenige Zentimeter nähern kann, bevor er wegfliegt. Auf dem Rückweg zu unserem Jeep begleiten den Einbaum rosa Fluss-Delfine.

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Die beiden kleinen Jungs, die an den Autos zurück geblieben sind, präsentieren uns zur Begrüßung eine Babyanakonda, die sie unweit unsere Anlegestelle aus dem seichten Wasser gefischt haben. Und über unseren Köpfen thront der Fischbussard und lässt uns keine Sekunde aus den Augen.

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Text + Fotos: Dirk Klaiber

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida



[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: Venezuela]





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[kol_2] Helden Brasilien: Der generalüberholte Christus
Rios Wahrzeichen wird renoviert
 
Auch bei ihm ist irgendwann der Lack mal ab. Rio de Janeiros weltberühmter Christus hoch oben auf dem 710 Meter hohen Corcovadoberg wird derzeit wieder auf Vordermann gebracht. Der Zahn der Zeit hat kräftig an ihm genagt, pralle Sonne und heftiger Regen haben tiefe Risse in dem Steinmonument entstehen lassen. Jetzt umgeben Gerüste die 1145 Tonnen schwere Art-Deco-Skulptur, die 1931 nach fünfjähriger Bauzeit eingeweiht wurde.


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Auf fast 3 Millionen Euros schätzt das für den "Cristo" zuständige Erzbistum Rio de Janeiro die Kosten der Renovierung, die bis Anfang Juni abgeschlossen sein soll. Offen für die täglich bis zu 15.000 Besucher bleibt das Monument aber trotzdem. Die Kirche erwägt derzeit sogar die Öffnungszeiten für die Cristo-Begehung in die Abendstunden hinein auszuweiten - derart groß ist der Andrang auf die 38 Meter hohe Statue. Pro Jahr summiert sich das übrigens auf gut 2 Millionen Besucher.

Bereits im letzten Jahr hatte das brasilianische Tourismusministerium 600.000 Euro für eine erste notdürftige Reparatur ausgegeben, bei der die Risse in der Statue verputzt und ein wasserabweisender Anstrich aufgetragen wurde. Doch immer wieder in die Statue einsickerndes Regenwasser machte nun die umfassende Renovierung unumgänglich.

Ursprünglich wollte das Bistum die Gelder hierfür durch eine Spendenaktion unter den Gläubigen der Kirchen der Stadt einholen - eine gute Tradition, wurde der Bau der Statue vor gut 80 Jahren doch bereits auf diese Weise finanziert. Da bei der Aktion innerhalb der ersten zwei Monate jedoch nicht einmal 100.000 Reais hereinkamen, suchte sich die Kirche einen potenten Geldgeber in der Wirtschaft.


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Mit dem Bergbauriesen VALE wurde dabei nicht nur ein Spender für die Renovierung des Cristo gefunden. VALE übernimmt zudem alle Instandhaltungskosten rund um das Monument für die nächsten fünf Jahre.

Eigentlich hätte man sich das Geld auch in Hollywood besorgen können. Genauer gesagt beim deutschen Regisseur Roland Emmerich. Der hatte in seinem Katastrophenfilm "2012" die Cristo-Statue von einem Tsunami hinwegfegen lassen. Weltweit erregten die Bilder der zerstörten Statue dabei für Aufsehen und ließen die Kinokassen laut klingeln. Dabei gefiel dies der Kirche in Rio überhaupt nicht. "Nicht positiv genug" sei die Botschaft von Emmerichs Film, weshalb man die Verwendung der Cristo-Bilder in dem Streifen eigentlich untersagt hatte. Doch Hollywood widersetzte sich dieser Entscheidung und verwendete den Cristo trotzdem. Jetzt verlangt das Erzbistum eine Entschädigung und eine Entschuldigung.


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Was die Kirche mit den eventuell fließenden Hollywoodgeldern machen will, wurde allerdings noch nicht verkündet. Ein Vorschlag wäre, den irrsinnig hohen Eintrittspreis zur Cristo-Statue ein wenig senken!

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_3] Lauschrausch: Café Cubano und Gilles Peterson

Diverse
Café Cubano
Putumayo/ Exil 91400-2
Der erste Titel auf dieser sehr guten Kompilation mit aktueller kubanischer Musik dürfte Anhängern der kubanischen Revolution nicht gefallen. Mit "El Chacal" ist nämlich Che gemeint. Der im US-Exil geborene José Conde hat sich die berühmte Hommage an den Che, "Hasta siempre comandante", von Carlos Puebla genommen, die Musik modernisiert und mit einem kritischen Text versehen, der hart mit den Gewalttaten des Revolutionshelden ins Gericht geht. Hochpolitische Musik, die gleichzeitig tanzbar ist.

Diverse
Café Cubano
Putumayo/ Exil 91400-2

Dann  folgt  ein Klassiker der kubanischen Musik. "Lágrimas negras" von Miguel Matamoros, hier in der beschwingten Version von Ignacio Carrillo. Interessanter als solche "Hits" sind aber die Eigenkompositionen der außerhalb der Insel weniger bekannten Musiker. Der von der Regierung immer wieder schikanierte und mit Zensur belegte Liedermacher Pedro Luis Ferrer zum Beispiel, dessen letztes Album in Kuba auch wieder nicht erscheinen durfte. Hier präsentiert er zusammen mit seiner Tochter eine ländlich klingende Ballade. Ein weiteres schönes Beispiel dieser música campesina ist die guajira "Pincel campesino" von German Obregón. Es folgen weitere zeitgenössische Interpretationen von bekannten Genres wie dem Bolero.

Einzig Kelvis Ochoa, der heute in Spanien lebt, präsentiert mit "Fue una de mambo" ein Stück, das kubanische Melodik mit leichter Elektronik und Reggaerhythmen vereint. Zugleich Schluss- und Höhepunkt einer gelungenen Zusammenstellung.


Diverse
Gilles Peterson presents Havana Cultura
Brownswood Records
"Pa’ gozar", also "zum Genießen" heißt der erste Track auf der Doppel-CD "Havana Cultura - New Cuba Sound", und gibt damit das Motto vor. Tatsächlich hat der britische DJ Gilles Peterson, der im Auftrag des Unternehmens "Havana Club" für dieses Projekt verantwortlich zeichnete, es geschafft, nicht nur viele junge Musikertalente zu Sessions zusammen zu trommeln, sondern auch einen faszinierenden Sound zu erzeugen.

Diverse
Gilles Peterson presents Havana Cultura
Brownswood Records

Mit Hilfe des Jazzpianisten Roberto Fonseca, der als Co-Produzent fungierte, fand Peterson Künstler wie den Rapper Kumar, den Sänger Francis del Rio oder die Sängerin Mayra Caridad Valdés, die gemeinsam mit dem Hiphop-Duo "Obsesión" und anderen sowie der Jazzband von Fonseca auf CD 1 eine elektrisierende Jamsession hinlegen, die sich über 12 Titel erstreckt. Traditionelle Musik vereint sich mit elektronischen Klängen, Jazzläufen und Rapgesang und bietet viel Raum für kubanische Percussion.

Die zweite CD präsentiert zusätzlich zu den o.g. Künstlern weitere junge Musiker wie das Reggaetón-Trio "Gente de Zona", die Liedermacherin Yusa, den Sänger Descember Bueno oder die Gruppe "Cubanito 20.02". Einige Titel vereinen scheinbar unvereinbare Künstler wie den Pianisten Tony Rodríguez und den DJ Wichy. Alle Stücke sind innovativ, spannend - vor allem die Fusionen - und häufig auch tanzbar.

Wer über die neuen Entwicklungen in Kubas Szene informiert sein und gute Musik hören möchte, der kommt an "Havana Cultura - New Cuba Sound" nicht vorbei.

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 04/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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