ed 11/2008 : caiman.de

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spanien: San Cristóbal de La Laguna
Europäische Stadt in Afrika als Modell für spanische Städte Amerikas
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Mut zur Lücke
Die 28. Biennale in São Paulo
THOMAS MILZ
[art. 2]
brasilien: Blauweißer Bierrausch auf der Südhalbkugel
Oktoberfest in Blumenau
THOMAS MILZ
[art. 3]
amor: Kuba. Sorgenkind des Lebens.
FELIX HINZ
[kol. 1]
erlesen: Standardwerk für Hobbyköche
TORSTEN EßER
[kol. 2]
helden brasiliens: Gesehen mit anderen Augen
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Tango im Quartett
TORSTEN EßER
[kol. 4]
pancho: Einfaches für geistlichen Beistand
DIRK KLAIBER
[kol. 5]





[art_1] Spanien: San Cristóbal de La Laguna
Europäische Stadt in Afrika als Modell für spanische Städte Amerikas

...die Stadt ist quadratisch, und ebenso lang wie breit. Es maß also (der Engel) die Stadt mit einem Stab aus Gold...
(Apokalypse 21,16)

Die erste spanische "Kolonialstadt"
Nach dem Fall von Konstantinopel 1452 glaubten viele Christen in Europa, dass das letzte Zeitalter mit der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse auf Erden begonnen hätte. Viele einflussreiche Kleriker, vor allem Angehörige der Bettelorden, Dominikaner und Franziskaner, widmeten sich verstärkt dem Studium der Apokalypse des Johannes, in dem nicht nur diese letzte Schlacht, sondern auch das "Himmlische Jerusalem", die Stadt Gottes beschrieben wird, in die alle Geretteten nach dem Jüngsten Gericht einziehen werden. Und es war ein katalanischer Franziskanermönch, Francesc Eiximenis aus Girona, der sich in seinem Werk "Regiment de la cosa publica" bei der Beschreibung einer Idealstadt direkt von der eingangs zitierten Vision in der Apokalypse inspirieren ließ. Dieses erstmals 1484 posthum publizierte Werk hatte großen Einfluss auf den Erzbischof von Toledo und späteren Regenten Kastiliens, Kardinal Cisneros – und durch ihn, den Beichtvater der Königin Isabella, auch auf die Katholischen Könige. Nach der Eroberung von Granada und der Entdeckung Amerikas 1492 ließen sich die spanischen Könige bei der Frage, wie denn die neu zu gründenden Städte in ihren Überseeterritorien auszusehen hätten, in hohem Maß von den Angaben des Eiximenis zur christlichen "Idealstadt" leiten. Doch die erste neue Stadt, auf die diese neuen "quadratischen Vorstellungen" angewendet wurden, lag zwischen Europa und Amerika: die 1496 vom Eroberer Alonso Fernández de Lugo gegründete Hauptstadt der Kanarischen Inseln San Cristóbal de La Laguna.



Iglesia de la Concepción [zoom]
Kirchen, Paläste und ein Museum mit wandelndem Gespenst
Beginnen kann man eine Besichtigung dieser endgültig um 1500 nach einem von den Katholischen Königen autorisierten Plan systematisch entworfenen Modellstadt zum Beispiel mit der ältesten Kirche von La Laguna.

Die Iglesia de la Concepción wurde nach der Eroberung an der Stelle einer provisorischen Kapelle ab 1511 als Hallenkirche im Renaissancestil errichtet.

Der interessante Glockenturm, der isoliert neben der Kirche steht, wurde erst im 18. Jahrhundert vollendet und dann zum Wahrzeichen der Stadt.

Er ist sieben Stockwerke hoch und ein originelles Detail stellt die offene Turmhaube dar. Innen sind besonders die kunstvoll ornamentierten Holzdecken und das Chorgestühl aus Zedernholz sehenswert.


Glockenturm, Iglesia de la Concepción [zoom]


Und es ist ein aufregendes Gefühl, sich vorzustellen, dass in diesem Tempel schon die spanischen Konquistadoren niederknieten zum Lob des Allmächtigen, vor dem sie für das gute Gelingen beim Bau der Hauptstadt der "glückseligen Inseln" beteten – und neben ihnen lernten die missionierten Guanchen ihre ersten Gebete in Latein – sofern sie nicht auf dem Sklavenmarkt von Sevilla verkauft worden waren.

Aus Sevilla kamen auch viele der neuen Siedler und die Kunsthandwerker, die in den Kirchen von La Laguna die wunderbaren, mit bunten Ornamenten und maurischen Sternenmustern versehenen Holzdecken im Mudéjarstil anbrachten. Dabei gehören die Deckentäfelungen der Iglesia de la Concepción zu den schönsten auf Teneriffa.

Übertroffen werden sie vielleicht vom Mudéjar-Dachstuhl in der Kirche Nuestra Señora de los Dolores, die sich neben der Ruine des Klosters San Agustín befindet, das 1972 ausgebrannt ist. Ein sechzehnstrahliger Stern schmückt dort den Querbalken der prächtigen Deckenkonstruktion, die sich über dem vergoldeten Hauptaltar wölbt.
Nuestra Señora de los Dolores [zoom]

In der Harmonie der Proportionen übertreffen diese beiden Kirchen vielleicht die der "Virgen de Los Remedios" geweihten Kathedrale von La Laguna, der man die lange Bauzeit und die gewagte Stilkombination ansieht. Zunächst entstand hier 1511 eine Kapelle, erst im 17. Jahrhundert wurde sie durch eine deutlich größere Barockkirche ersetzt, die wiederum Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts erweitert und durchgängig im klassizistischen Stil umgestaltet wurde. Offiziell zur Kathedrale erhoben wurde dieser Tempel erst 1819 und die heutige Fassade wurde 1825 vollendet. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Hauptschiff nochmals verändert. Dabei setzte man ein damals neues Material ein: Beton. Von außen präsentiert sich der Bau mit der schönen Kuppel erstaunlich einheitlich.

In der Kirche Santo Domingo dagegen ziehen die modernen, im 20. Jahrhundert von Mariano Cossío gemalten, Fresken durch ihre Größe und auffälligen Farben alle Aufmerksamkeit auf sich – und lenken doch sehr ab von den alten Kunstwerken der Barockepoche, deren Skulpturen sich rund um den Altarraum konzentrieren.

[zoom] Santo Domingo
Glockenturm, Santo Domingo [zoom]


Beim Gang durch die schönen Straßen des UNESCO-Weltkulturerbes La Laguna kommt man vorbei an zahlreichen Palästen aus dem 16. - 18. Jahrhundert, die sich mit Vorliebe in sonnengelb oder atlantikblau präsentieren. Einer dieser Paläste, die 1593 erbaute Casa Lercaro, hat ein ereignisreiches Innenleben. Damit ist nicht das Museum der Geschichte Teneriffas gemeint, sondern das Gespenst der Catalina Lercaro, die in den Räumen des Palasts herum geistert – so schwören jedenfalls die verängstigten Angestellten des Museums.

Die schöne, unglückliche Catalina wurde gegen Ende des 16. Jahrhunderts gegen ihren Willen gezwungen, einen reichen Mann zu heiraten, der so alt war wie ihr Vater. Noch in der Hochzeitsnacht stürzte sie sich in den tiefen Brunnen im Patio, wo sie zu Tode kam.


Palastfarben: Sonnengelb und Atlantikblau [zoom]


Die Kirche verweigerte wegen des Selbstmords ein normales Friedhofs-Begräbnis, und so wurde die Unglückliche im Innenhof begraben. Seitdem wandelt ihr Geist durch die Säle des Museums, was immerhin die Besucherzahlen etwas steigen lässt. Immer wieder berichten die Angestellten, dass sich die Türen von selbst öffnen oder schließen und Schritte zu hören sind in Räumen, wo sich niemand aufhält...

Ein Schachbrett als Stadtplan
Von außen sieht der Geisterpalast Lercaro aber eher unscheinbar aus. La Laguna hat kein wirklich herausragendes Einzelmonument, es ist das harmonische Gesamtbild, das bezaubert.

Die UNESCO hat deshalb vollkommen richtig entschieden, nicht ein Bauwerk, sondern gleich die gesamte koloniale Altstadt, die erst 1843 die Hauptstadtwürde der Kanaren an Santa Cruz abgeben musste, zum Weltkulturerbe zu erklären. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass La Laguna die erste der vielen spanischen Städte in Übersee war, die planmäßig im Schachbrettmuster angelegt worden war – noch vor Santo Domingo, Lima oder Bogotá.


UNESCO-Weltkulturerbe [zoom]

Obwohl hier nicht jede Straße exakt gerade ist, ist die Grundform der Altstadt in der Tat ein Quadrat aus Quadraten, das auf einer Karte wie ein Schachbrett aussieht. Diese Form geht natürlich nicht nur zurück auf die Worte der Apokalypse und die Vorstellungen des Franziskaners Eiximenis. Es gab viele Einflüsse, die hier zusammen kamen: die Beschreibungen des "Vaters der Architektur", des römischen Architekten Vitruv, der während der Renaissance wieder entdeckt wurde, die bildgewordene Idealstadt, wie sie auf einigen einflussreichen Renaissance-Gemälden mit geraden Linien und quadratischen Stadtvierteln dargestellt wird – z. B. auf einem Werk des berühmten Piero della Francesca. Und es gab ein ganz praktisches Vorbild für La Laguna: das von den Katholischen Königen während der Belagerung von Granada zunächst nur als Feldlager 1491 errichtete Santa Fe. Nach einem Brand in diesem riesigen Heerlager wurden dort vor den Toren Granadas statt der Zelte Häuser aus Lehmmauern gebaut, wobei das ganze Areal in Quadrate unterteilt wurde.

Plaza Iglesia de la Concepción [zoom]
Inmaculada [zoom]

Bei der Planung von La Laguna war aber nicht die erstaunlich konsequent ausgeführte Schachbrettform die eigentliche Sensation, sondern die Tatsache, dass diese neue Hauptstadt einer Insel keine Hafenstadt war. Erbaut in ca. 550 Metern Höhe und 14 Kilometer vom Meer entfernt, konnte man auf Stadtmauern und militärische Bollwerke verzichten.

Dies machte La Laguna – zusammen mit der zeitgleich von Kardinal Cisneros gegründeten Universitätsstadt Alcalá de Henares – zur ersten modernen Stadt überhaupt: zu einer "Friedensstadt" ohne mittelalterliche Mauern. Es waren natürlich nicht nur edle Motive, von denen die Eroberer zu solch revolutionärer Stadtplanung gebracht wurden, sondern auch verwaltungstechnische: die geraden, geordneten Formen ermöglichten eine bessere Kontrolle und Überwachung.


Plaza de la Catedral [zoom]


Außerdem sollten sie den Besiegten (ebenso auf den Kanaren wie wenig später in Amerika) die neue geistige Weltordnung vorführen. Denn am zentralen Platz, dem größten aller Quadrate (manchmal war es allerdings ein Rechteck), lag die Kathedrale und gegenüber meist der Palast des Gouverneurs bzw. Vizekönigs.

So ist es auf der Plaza Mayor von Mexiko, Lima und Bogotá. In La Laguna allerdings waren weltliche und kirchliche Macht auf zwei Plätze verteilt: die Plaza del Adelantado, wo bis 1525 der erste Gouverneur Alonso de Lugo residierte, und die Plaza de la Concepción, auf dem die erste Hauptkirche erbaut wurde, später abgelöst durch den Kathedralsplatz.


La Catedral [zoom]


Der Lebensbaum des Paradieses
Doch nicht nur funktionale Überlegungen spielten eine Rolle bei der Planung und dem Aufbau von La Laguna. Viele der neuen Siedler aus Spanien glaubten, hier das irdische Paradies gefunden zu haben. Dabei kamen wohl viele Mythen zusammen. Die wenigen, die philosophische Schriften gelesen hatten, waren vielleicht überzeugt, hier die Überreste des schon von Platon (Timaios 25) beschriebenen Atlantis wieder gefunden zu haben. Andere erinnerten sich an Prophezeiungen von Propheten des Alten Testaments (z.B. Esdras), die ein paradiesisches Land der Zuflucht im Westen jenseits des Meeres versprachen.

Straßen... [zoom]
...im Zentrum [zoom]

Auf dem berühmten, zwischen 1503 und 1515 entstandenen Gemälde von Hieronymus Bosch, dem "Garten der Lüste", der das (irdische) Paradies darstellt, ist auf dem linken Flügel des Triptychons zwischen vielen exotischen Phantasiewesen ganz deutlich ein kanarischer Drachenbaum zu erkennen. Sicher auch beeinflusst durch die Haltung der Ureinwohner, die dem Drachenbaum (und seinem "Blut") heilende und magische Kräfte zuschrieben, glaubten einige der spanischen Einwanderer, in diesem spektakulären Gewächs, das so ganz anders aussieht als alle Bäume, die man in Europa kannte (es ist ja eigentlich auch kein Baum, sondern botanisch gesehen ein gigantisches Liliengewächs), den heilenden Lebensbaum zu erkennen, der ebenfalls in der Apokalypse des Johannes bei der Beschreibung des Paradieses erwähnt wird.

Drago [zoom]
...der Drachenbaum [zoom]

Und tatsächlich befindet sich auf dem Platz vor der Kathedrale von La Laguna, ebenso wie auf der Plaza del Adelantado und anderen Plätzen der kanarischen Kulturhauptstadt ein Exemplar dieses exotischen "Lebensbaumes" – wie in der Apokalypse des Johannes für das Himmlische Jerusalem bezeugt:
"Inmitten des Platzes der Stadt war der Baum des Lebens ... und die Blätter des Baumes heilen die Menschen..." (Apokalypse 22,2)

Text + Fotos: Berthold Volberg



Literaturempfehlung:
María Isabel Navarro Segura
"Las fundaciones de ciudades y el pensamiento urbanístico hispano en le era del descubrimiento", in: Scripta Nova
REVISTA ELECTRÓNICA DE GEOGRAFÍA Y CIENCIAS SOCIALES
Universidad de Barcelona.
ISSN: 1138-9788, Depósito Legal: B. 21.741-98, Vol. X, núm. 218 (43), 1 de agosto de 2006
http://www.ub.es/geocrit/sn/sn-218-43.htm

Die Website der Stadtverwaltung von San Cristóbal de La Laguna:
http://www.aytolalaguna.com/ayto/

Museos de La Laguna:
http://www.aytolalaguna.com/ayto/index.php?id=45

La Laguna in wikipedia:
http://es.wikipedia.org/wiki/San_Crist%C3%B3bal_de_La_Laguna

Platon: "Timaios" 25
Die Heilige Schrift: Apokalypse 21 - 22

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Brasilien: Mut zur Lücke
Die 28. Biennale in São Paulo

An Zeit und Geld habe es gemangelt, meinten die beiden Kuratoren im Einklang. Und wer dieser Tage den 1953 von Oscar Niemeyer entworfenen Pavillon der Biennale im Ibirapuera-Park von São Paulo betritt, der erkennt, dass dem wohl so sein muss. Arg karg ist sie schon ausgefallen. Manch einer meint sogar, sie ist irgendwie komplett ausgefallen, diese 28. Biennale in Brasiliens Megacity.

Die Kuratoren jedoch halten wiederum ihre Idee für sehr ausgefallen - aus der Not eine Tugend machen. "Wir leben in einer Kultur des Überflusses zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts und vielleicht sollten wir uns einmal dem Fehlen von etwas widmen, und wie dieser Aspekt des Fehlens fundamental für das ist, was uns antreibt. Damit wir beginnen, neue Lösungen zu suchen und Alternativen zu erdenken", meint der Kurator Ivo Mesquita.

Pavillion von Oscar Niemeyer
Ana Paula Cohen

Nicht einmal ein Jahr vor dem Eröffnungstag, dem 25.Oktober, wurde er gemeinsam mit Ana Paula Cohen als Kurator ernannt. Vorangegangen waren Jahre künstlerischer Ratlosigkeit und finanzieller Undurchsichtigkeiten rund um die zweitälteste Biennale der Welt. Zwischendurch glaubte man, die Biennale stehe sogar vor dem endgültigen Aus.

"In den letzten 10 Jahren hat es immer wieder Konferenzen über den Sinn von Biennalen gegeben. Manche sagen: Wofür brauchen wir sie überhaupt?", sagt Ana Paula Cohen. "Ich verteidige die Biennale São Paulo immer mit dem Argument, dass sie eine lokale Bedeutung hat. Und sie ist wichtig, um zu erkennen, dass es einen spezifischen Blickwinkel auf das internationale System von hier aus gibt, von São Paulo aus. Und diesen anderen Blickwinkel auf die Gegenwartskunst von hier aus aufzuzeigen, ist wichtig für die Biennale."

Worin jetzt aber letztlich dieser spezifisch-lokale Blickwinkel auf das internationale Gegenwartskunstgeschehen besteht, bleibt dem suchenden Blick der zahlreich zur Eröffnung erschienen Besucher verschlossen. Da gibt es Videoinstallationen, auf denen die altbekannten Kunstkurzfilme flackern. Und Soundinstallationen, in denen Eisennägel über Eisendosen gezogen werden und der so gewonnene Klang über Lautsprecher durch das Erdgeschoss des Pavillons verschallt wird.

Doch es gibt auch etwas wirklich einzigartig Neues: der zweite Stock ist komplett leer. "Immerhin kann man so die Architekturkunst von Herrn Niemeyer bewundern", äußert sich ein Besucher. "Das ist überhaupt das Allerbeste an der ganzen Ausstellung", so ein anderer. Man habe nicht krampfhaft die 30.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche füllen wollen, sagt Ana Paula Cohen. Ein Ort des Luftholens in unseren Zeiten des Überflusses, siehe oben. Mut zur Lücke also.

"Die Biennale von São Paulo benötigt nach 57 Jahren eine Aktualisierung ihres Sinnes. Denn viel von dem, was sie am Anfang der 50er, zur ersten Biennale, als Ziel angekündigt hat, ist erreicht worden", meint Ivo Mesquita. "São Paulo hat sich in ein internationales Kunstzentrum verwandelt und die brasilianischen Künstler sind in lebendem Kontakt mit dem Rest der Welt und zirkulieren in diesen Kreisen. Aber jetzt fragt man sich: was ist denn der "lebende Kontakt" für die Kunst im 21. Jahrhundert?"

Der "lebende Kontakt", so das Motto der Biennale, besteht vielleicht in der Bibliothek im dritten Stock, in der 214 Ausstellungskataloge von Biennalen aus aller Welt zum Schmökern freigegeben sind. Ob einen dabei wohl die Begeisterung packt? Vielleicht aber auch nicht, denn so wirklich lebendig sind Bibliotheken ja dann doch irgendwie auch wieder nicht.

Ivo Mesquita + Ana Paula Cohen
Pavillion von Oscar Niemeyer

Laut der Kuratoren sehe man die diesjährige Biennale sowieso eher als Ort des Zusammenkommens. Über Sinn und Zweck der Institution Biennale an sich wolle man nachdenken und in täglichen Symposien diskutieren. Ob das so spannend wird für die erwarteten 1.000.000 Besucher? Immerhin kann man von den oberen Stockwerken aus durch zwei Plexiglasröhren runter in den Eingangsbereich zurückrutschen. Für manch einen mag dies schon Ansporn genug sein auf die Biennale zu kommen.

Der Pavillon von Niemeyer, den man derweil in seiner ganzen Leere wirklich genießen kann, könnte ein weiterer sein.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilen]





[art_3] Brasilien: Blauweißer Bierrausch auf der Südhalbkugel
Oktoberfest in Blumenau

Pärchen im Trachtenlook, die fröhlich das Tanzbein zu bayrischer Volksmusik schwingen; die Kapelle in Lederhosen und Tirolerhut. Dazu ein im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte in der neuen Heimat zerknautschter rudimentärer teuto-brasilianischer Sprachwirrwarr. Ja, wo sammer denn hier gelandet? (Und um die Stimmung gleich mal so richtig anzuheizen: festzelt.mp3)



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Rund um die Stadt ragt der Atlantische Regenwald, die Mata Atlántica, dicht, saftig und grün über die Berge und im Tal schlängeln sich die braunen Fluten des Itajaí-Flusses. Bayern ist gut 12.000 Kilometer weit weg, doch das stört nicht.

In Blumenau, im Bundesstaat Santa Catarina, der Hochburg des Deutschtums im Süden Brasiliens, schlägt der Lebensrhythmus germanisch-bayrisch. Schlachtplatte im Café Frohsinn, hoch in den Bergen über der Stadt gelegen. Himmelblau, Abendrot, mit Farben hat man’s in der Stadt. Die Fachwerkhausfassaden sind nicht echt, erfüllen aber ihren Zweck. Man soll sich wie im Alpenland fühlen. Sauber und aufgeräumt wie in der teutonischen Provinz ist’s auch.



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"Ich war zwar noch nie in Deutschland, stelle mir aber vor, dass die Deutschen genauso fröhlich und gastfreundlich sind wie wir hier", sagt die 21-jährige Oktoberfestkönigin Michelly Elli Cisz. Immerhin insgesamt 700.000 Gäste tummeln sich an den 18 Festtagen in der Vila Germanica, einem Messekomplex mit drei Hallen und einem zusätzlichen Bierzelt. Damit ist man hinter dem Münchner Original das Oktoberfest Nummer 2 auf der Welt.

"Die Stimmung hier ist sogar viel besser als in München - die Leute singen vom ersten Ton an mit und man muss sie nicht wie in München erst in Stimmung bringen", meint Georg Mirwald, Chef der Deggendorfer Stadt-Musikanten, die zum dritten Mal in Blumenau dabei sind.

Von nachmittags bis um fünf Uhr in der Früh spielen brasilianische und deutsche Musikbands auf (festzelt1.mp3). - In München ist ja schon um Mitternacht Schicht.

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Brasilianer haben anscheinend das größere Durchhaltevermögen. Dazu wird ausgelassen getanzt. In München hat man erst gar keine Tanzflächen in den Bierzelten aufkommen lassen, weshalb man dort auf Bänke und Tische steigen muss, sobald der Alkohol nach körperlicher Bewegung verlangt.

Bier gibt es in Blumenau auch, und sogar richtig gutes. Zwar ist ein brasilianischer Bierriese der offizielle Sponsor der Oktober-Sause, aber die lokalen Bierschmieden aus Blumenau und dem 40 Kilometer entfernten Pomerode stehlen ihm die Schau. "Zehn", "Das Bier", "Wunderbier", "Eisenbahn" und "Schornstein" heißen die kleinen Gerstensaftwerkstätten und sie liefern ihr Helles braufrisch an die Theken. Gut schmeckt’s vor allem auch deshalb, weil das Bier erst gar nicht pasteurisiert wurde. Wozu auch, lange halten muss es ja eh nicht.

Dazu verdrückt man riesige Würste, Sauerkraut und Schweinshaxen - auch wenn’s nicht ganz so gut schmeckt wie auf der Alm daheim.

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Zu allem Überfluss sind die Blumenauer unschlagbar kreativ was den Heimbring-Service am Ausgang der Vila Germanica angeht.

Man kann sich freiwillig einem Alkoholtest unterziehen um zu sehen, ob man noch fahrtüchtig ist. Wenn nicht, gibt es einen kostenlosen Fahrservice: Freiwillige steuern dein Auto mit dir auf dem Rücksitz Richtung heimische Garage, dahinter folgt ein Motorradfahrer, der den Fahrer nach geleistetem Gratis-Service wieder zurück zum Festplatz bringt. Noch Fragen?



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Und noch etwas hat man hier dem Original voraus: man feiert das Oktoberfest konsequent im Oktober und nicht schon im September. – In diesem Sinne ein Ausklang: festzelt2.mp3

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: braslien]





[kol_1] Amor: Kuba. Sorgenkind des Lebens.

Kuba ist eine Insel im Zustand des Wartens. Auf die Stunde Null. Irgendwann wird einer sterben, und dann wird möglicherweise alles anders. Vielleicht nicht besser, aber bis dahin kann man einfach nichts planen. Und die Zeiten sind übel. Also muss man sie totschlagen.

Und das ist streng genommen eine Kunst, die dem alten Europa ca. um 1914 abhanden kam, als – (es klingt beinahe paradox:) notgedrungen – die Zigarette erfunden wurde. O tempora o mores! Nicht so auf Kuba. Hier weiß man noch, was es heißt, die Zeit genussvoll in Rauch aufgehen zu lassen. Es ist ein Ritual, etwas originär Sakrales, der Welt Enthobenes. Denn es geht darum, dass das Rauchen, wird es ernst genommen, eigentlich nicht mehr zum Leben gehört, sondern Stillstand in horizontaler Lage bedeutet, wie es noch die Bewohner des Zauberbergs zu praktizieren verstanden. Damals sinnierte dort ein mittelmäßiger Held: "Selbst die Polarforscher statten sich reichlich mit Rauchvorrat aus für ihre Strapazen, und das hat mich immer sympathisch berührt, wenn ich es las. Denn es kann einem sehr schlecht gehen, – nehmen wir einmal an, es ginge mir miserabel; aber solange ich noch meine Zigarre hätte, hielt ich´s aus, das weiß ich, sie brächte mich drüber weg."

Arbeit macht unter diesen Umständen keinen rechten Sinn und ist dem ungetrübten Genuss von Maria Mancini oder Cohiba auch etwas im Wege. Warum nutzlos einer trüben Wirklichkeit ins Auge blicken, statt sich ab und an eine bräunliche Schöne ins Gesicht zu stecken? Verwegen-romantische Assoziationen von Montecristo, Guantanamera, Romeo y Julieta … doch auch Reloba oder Bauzá wohnt ein kleiner Zauber inne. (Sie machen, US-$ 1 das Stück, die Insel wahrscheinlich erst regierbar.) Ausbruch ins Paradies. Kopftorpedo. Lebenswichtig.

Mitten im Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen London bombardiert hatten, erhielt Winston Churchill von der dort ansässigen Firma Dunhill einen dringenden Telefonanruf: "Ihre Zigarren sind in Sicherheit, Sir."

Noch ist Kuba nicht verloren. Man raucht. Man wartet.

Text + Foto: Felix Hinz

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]





[kol_2] Erlesen: Standardwerk für Hobbyköche

Kennen Sie Nacarschnecke, Kaisergranat oder Sterngucker? Und wissen Sie, wie sie schmecken? Fischexperte Johannes Schmid lüftet dieses "Geheimnis" und noch viele weitere in seiner schon in vierter Auflage erschienenen "Bibel" für Fischfans.

Dort beschreibt er aber nicht nur detailliert alle im Mittelmeer vorkommenden und verzehrbaren Fische, Schalentiere und Wirbellose, zu denen er jeweils auch wunderbare Rezepte aus den verschiedenen Regionen Spaniens anbietet (z.B. lubina a la asturiana). Er liefert auch nützliche Tipps zum Einkauf der Tiere - Fisch am besten dienstags und freitags kaufen etc. - und den Zutaten und geht Detail versessen auf die Zubereitung ein wie es nur ein leidenschaftlicher Fischesser kann.

Johannes Schmid
Spanische Fischküche. Gerichte mit Geschichte aus Spanien und dem Mittelmeerraum
Verlag Winfried Jenior, Kassel 2007
Taschenbuch
296 Seiten, 14,00 Euro

Die ersten 20 Seiten widmet er übrigens den in Spanien vorkommenden Süßwasserfischen. Schmid vermittelt Hintergrundwissen über die spanische Fischküche, die er gerade wegen ihrer Einfachheit für die beste Europas hält (was ihn nicht daran hindert, zum Vergleich auch französische oder italienische Rezepte zu präsentieren). Denn nur mit diesem Wissen, vor allem über das Leben der Fische, so Schmid, erziele man bei der Zubereitung das optimale Ergebnis.

Abgerundet wird dieses in jeder guten Küche unentbehrliche Standardwerk mit Ausflügen in die Geschichte des Fischfangs, so dass man während des Kochens etwas über das internationale Seerecht und die spanische Fischereiwirtschaft erfahren kann.

Text + Foto: Torsten Eßer

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]





[kol_3] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen
Das Buch "O Brasil dos correspondentes"

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das soeben erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

Textauszug (übersetzt aus dem Portugiesischen) von Thomas Milz:
Tragödienabend in der Casa de Portugal - José Dirceu verabschiedet sich

Viel wurde bereits geschrieben über die Wesensverwandtschaft zwischen der Politik und dem Theater. Angefangen damit, dass beide weitestgehend von Steuergeldern leben. Und beide abhängig sind vom Erfolg beim Publikum. Wobei nur die Politik über die Möglichkeit verfügt, sich nach der Aufführung an jenem Teil des Publikums zu rächen, bei dem die Aufführung durchgefallen ist.

Die Politik muss zwangsläufig etwas Theater beigemischt bekommen; doch inwieweit das Publikum (und damit ja auch wir Journalisten, ob wir es wollen oder nicht) davon überzeugt werden kann, dass das Dargebotene nicht etwa nur reine Fiktion sei, sondern die pure Wahrheit, hängt natürlich erst einmal von den schauspielerischen Fähigkeiten des Bühnenpersonals ab. Vielleicht ist der Wunsch nach reiner Wahrheit ja auch nur eine der unerreichbaren Ideen aus der platonischen Höhlenwelt, die die Menschen im Laufe ihres Erdendaseins immer wieder heimsuchen. Die romantisch verklärten Leser werden sicherlich verstehen, was ich meine.

Gemeinsam mit weiteren 1,500 Zuschauern wurde ich am 17. Juni 2005 Zeuge des "Ato em defesa do PT e da democracia", Teil eines bis heute nicht wirklich in all seiner Größe und Bedeutung erfassten Opus namens "José Dirceu, Roberto Jefferson und der Mensalão"; wobei es schwierig fällt zu sagen, ob es sich um eine reine Tragödie oder eine Komödie handelt. Es hat wohl von beidem etwas.

Die Einleitung, die die schlauen griechischen Meister auch Protasis nannten, hatte ein gewisser Roberto Jefferson ganz alleine in Form zweier Interviews in der "Folha de S. Paulo" hingelegt, in denen er ein vermeintliches Korruptionsschema im Congresso Nacional offen legte. Brasilianische Journalistenkollegen sprechen gerne davon, dass dies ja nichts Neues sei sondern stets gängige Praxis. Nur dass dieses Mal die PT ins Kreuzfeuer gelangt war, die früher solch praktizierte Realpolitik als unmoralisch gebrandmarkt hatte. Beim politischen Gegner, versteht sich.

Ob wirklich neu oder nicht, der "Mensalão" war geboren. Wenige Tage später legte der mit unglaublichem komödiantischem Talent ausgestattete Roberto Jefferson dann vor dem Ethikrat der Câmara dos Deputados einen spektakulären zweiten Auftritt hin, in dem er José Dirceu als den Mentor des "Mensalão" öffentlich anklagte.

Politik fast schon als Real-Life-Doku-Soap, und manchmal als auch Realsatire - fasziniert saß man in diesen Monaten vor dem Fernseher und verfolgte auf Globo News die Auftritte von Anklägern, Angeklagten und Zeugen vor dem schier unaufhörlich tagenden CPI-Untersuchungsausschuss. Geduldig hörte man sich Heloisa Helenas als Fragen getarnte Monologe an, lauschte gebannt Roberto Jeffersons Gesangskünsten und fragte sich, woher er plötzlich ein blaues Auge habe.

Am Donnerstag, den 16. Juni 2005, trat Dirceu schließlich wohl unter dem Druck der Anschuldigungen Jeffersons von seinem Amt als Chefe da Casa Civil zurück. "Eu não me vergonho de nada que fiz no governo do presidente Lula. Tenho as mãos limpas, o coração sem amargura, e tenho a mente sempre colocada naquele pelo sempre lutei: pelo Brasil. - Ich schäme mich für nichts, was ich in der Regierung Lula gemacht habe. Meine Hände sind sauber, mein Herz frei von Bitterkeit und mein Geist auf das gerichtet, für das ich stets gekämpft habe: für Brasilien." Mit diesen dramatischen Worten nahm er standesgemäß Abschied und begab sich geschwind mit dem Tross des Campo Majoritário der PT nach São Paulo.

Dort sollte am Freitag eine vorbereitende Sitzung des Campo Majoritário zur samstäglichen Sitzung des Diretório Nacional abgehalten werden, in der die angeschlagene PT ihre weitere Strategie beraten wollte. An jenem Freitagmittag erreichte eine Email die Medien, in der der abendliche Solidaritätsakt mit dem gefallenen Helden José Dirceu in der Casa de Portugal im Stadtteil Liberdade in São Paulo für 19 Uhr angekündigt wurde.

Dem Besucher der Veranstaltung offenbarte sich erst einmal die innere Zerrissenheit der PT. Vor dem Eingang verteilten Vertreter des linken militanten Flügels Flugblätter, auf denen sie gegen die ihrer Ansicht nach neo-liberale Wirtschaftspolitik von Präsident Lula und Wirtschaftminister Antônio Palocci protestierten. In der Halle selber war die Stimmung voller Trotz angesichts eines als ungerecht empfundenen Schicksals.

Kampflos wollte man den Absturz des großen Helden Dirceu jedenfalls nicht hinnehmen. "José Dirceu é meu amigo. Mexer come le, mexer comigo! - José Dirceu ist mein Freund. Wer sich mit ihm anlegt, legt sich auch mit mir an!" skandierte die Menge vor Beginn der Veranstaltung ganz in der griechisch-antiken Tradition des einleitenden Chorgesangs, wie ihn schon Aristoteles für die Tragödie zwingend vorgeschrieben hatte.

Nur wenige Vertreter der internationalen Presse hatten den Weg in die Casa de Portugal gefunden. Mich selbst trieb lediglich die Neugier; denn in Deutschland hielt sich (im Gegensatz zur lateinamerikanischen und der luso-hispanischen Presse) das Interesse am Schicksal José Dirceus in bescheidenen Grenzen. "Hat Lula was gewusst?" war stets die Frage aus Deutschland zu den neusten Meldungen über den Mensalão-Skandal, und solange man dies nicht wirklich beantworten konnte, war Dirceus Rücktritt kein großes Thema.

Korruption in lateinamerikanischen Ländern löste in Deutschland schon lange keine News-Reflexe mehr aus. Wenn Lula jedoch selber hineingezogen werden würde, wäre dies anders.

Schließlich galt er in Europa als Instanz und Hoffnungsträger für eine lang erwartete moralische und soziale Umkehr in Brasilien. Und während man hier in Brasilien oft das unterschwellige Gefühl hat, dass die Brasilianer die scheinbar rein dekorative Funktion solch hehrer Ansprüche durchschauen und insgeheim auch als für den politischen Schlagabtausch notwendig akzeptieren, gibt man in Deutschland gerne mal einen Vertrauensvorschuss.

Zurück in der Casa de Portugal, wo bereits die Bühne bereitet war. Zwei lange Stuhlreihen, links davon das Rednerpult, dahinter eine tiefrote Rückwand mit dem Slogan der Veranstaltung in weißer Schrift.

Der Chorgesang wechselte derweil in den Wahlsong des Jahres 2002 - "É só você querer, amanha assim será, agora é Lula - Ihr müsst es nur wollen, dann wird es morgen Wirklichkeit werden, jetzt ist Lula dran.". Eine Zeitreise in die verheißungsvolle Zeit vor der Machtübernahme.

Vielleicht ist es ja ein Grunddilemma linker Politik, dass sie besser in der Opposition funktioniert als in der Regierungsverantwortung. Kaum an der Macht, sehnt man sich nach den guten alten Zeiten der Oppositionsbank zurück, wohin ein Teil der Partei in der Regel dann auch freiwillig zurückkehrt. Die deutsche Politik ist da ein Paradebeispiel.

Und diejenigen, die trotzdem an den Schalthebeln der Macht bleiben, rechtfertigen die Diskrepanz zwischen den eigenen ideologischen Ansprüchen und den realpolitischen Zwängen mit dem üblen Treiben der rechten Opposition. "Wir sind halt gezwungen, das korrupte Bürgertum mit seinen eigenen Mitteln zu besiegen", hört man oft. Man vollzieht ein Spagat zwischen Regierungsverantwortung und gleichzeitiger geistiger Opposition gegen das eigene Handeln. Man sei zwar jetzt an der Macht, aber nur um zu erkennen, wie ohnmächtig diese eigentlich angesichts eines tatsächlich das Land regierenden ominösen Systems ist.

Andere wiederum schweigen oder wissen von nichts. So fehlte Lula an diesem Abend. Auffällig zurück hielt sich der Präsident in jenen turbulenten Tagen, in denen er versuchte, sein positives Image von dem der ins Straucheln geratenen PT abzukoppeln. Letztlich seine einzige wirkliche Option, und erfolgreich obendrein, wie seine Wiederwahl Ende 2006 belegte. Auch wenn bei vielen seit jenen Tagen Mitte 2005 ein schaler Beigeschmack zurückgeblieben ist; vielleicht das Gefühl des Verlustes der paradiesischen Unschuld.

Parteichef José Genuino, der wenige Wochen später selbst über dubiose Dollars in einer Unterhose stolpern sollte, führte kämpferisch durch den Abend, wand sich durch seine aufpeitschende Rede um die rechte Verschwörung und die völlige Unschuld Dirceus und aller anderen in den Verdacht geschupster Parteimitglieder.

Phobos muss von der Bühne aus das Publikum ergreifen, forderte schon Aristoteles; der Schrecken, dass das Schicksal des tragischen Helden nur ein Vorbote für das eigene heraufziehende Geschick sei. Dem folgte Genuino, indem er vor dem großen Putsch der bürgerlichen Eliten warnte - erst Dirceu, dann Lula, und irgendwann sind alle linken Kräfte dran.

Unter tobendem Applaus betrat José Dirceu schließlich in eine dunkle Lederjacke gekleidet die Bühne, die Faust in den Himmel gereckt. Als er dann später ans Rednerpult trat, leuchtete sein weißes Hemd inmitten der abgedunkelten Halle.

In atemloser Stille lauschte die Menge seinem Diskurs, der in weiten Teilen seiner offiziellen Abschiedsrede vom Vorabend in Brasília glich. Er verlasse den Planalto, die Hochebene Brasílias, um in der Planície, der Tiefebene, der weiten Steppe weiterzukämpfen. Er wirkte wie der Ritter auf dem weißen Pferd, zu dessen Füßen sich alle mit großen Augen versammeln um gebannt seinen großen Abschiedsworten zu lauschen. Eleos! Fordert Aristoteles; das Mitleid des Zuschauers mit dem Schicksal des gefallenen Helden!

Das Ziel des mythischen Aktes der Tragödie, so Aristoteles, müsse die Katharsis sein, die Reinigung der Leidenschaften im Zuschauer. Der Held darf und muss ja schließlich sterben, aber es soll ein großer Tod sein, der Gegner ein übermächtiger, gegen den man sich verzweifelt stemmt, nur um ihm dann schließlich doch zu unterlegen. Überrollt von großen Schicksalsrad, das einen erst in die Höhe und dann in die unvermeidliche Tiefe mitriss.

Die Zuschauer wollen eigentlich kein Happy-End, zumindest nicht im Theater; denn es lehrt uns nichts über die Tragik des Lebens.

Und auch wir Journalisten suchen stets die große Tragik in und hinter den Geschichten, auch wenn wir gleichzeitig das Postulat der Objektivität hochhalten. Noch so ein hehres Ideal aus Platons Ideenwelt, an dem man oft verzweifeln möchte.

Der "Mensalão" steht derweil immer noch auf dem Spielplan. Aber er ist nicht mehr der große Zuschauermagnet vergangener Tage. Wäre er eine Fernsehserie, hätten die Programmdirektoren ihn wohl schon längst abgesetzt. Wie das Stück wohl enden wird? Und wird man die damals hoch und heilig versprochenen Lehren und Konsequenzen ziehen? Mich beschleicht das Gefühl, dass sich nicht viel ändern wird. Aber auch das war wohl nicht anders zu erwarten, hatte doch schon Goethe einst über die Tragödie geschrieben, dass nach der Vorstellung "der Zuschauer um nichts gebessert nach Hause geht".

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





[kol_4] Lauschrausch: Tango im Quartett

Melingo
Maldito Tango
Naïve / Indigo
Aus den vielen Tangoproduktionen, die in den vergangenen Monaten auf den deutschen Markt gekommen sind, stelle ich vier Alben vor, die mit dem Genre unterschiedlich umgehen. Daniel Melingo, ein charismatischer Sänger, der nach einem Konzert als Zugabe gerne auch mal seine Socken ins Publikum wirft, war vor seiner Tangokarriere Rockmusiker. Auf “Maldito Tango” bereichert er das “verfluchte” Genre mit Klarinettenklängen, singenden Sägen und frischen Texten, die die heutige Realität des Landes widerspiegeln. Tangos kommen vor, aber auch ländliche Musik aus dem Hinterland wie „Julepe En La Tierra", in dem er, begleitet von einer Gitarre, die gauchos besingt. Seine Stimme ähnelt der von Tom Waits, seine Depression manchmal jener von Nick Cave (z.B. in "Cha digo!"). Absolut empfehlenswert. Kaufen Sie die Spezialedition mit dem sehr originellen Aufklappcover!

Melingo
Maldito Tango
Naïve / Indigo

V.A.
Tango around the world
Putumayo / Exil
Wie sehr der Tango auch andere Musikkulturen begeistert und durchsetzt hat, lässt sich auf der gelungenen Kompilation “Tango around the world” hören. Die Reise beginnt mit einem tango-beeinflussten Titel von Ousmane Touré aus dem Senegal und endet im Mutterland Argentinien mit dem genialen und viel zu früh verstorbenen Mundharmonika-Spieler Hugo Díaz, der den Klassiker “Mi Buenos Aires querido” bläst. Dazwischen halten wir u.a. in Griechenland und Portugal, wo der Tango mit heimischer Folklore und Elektronik zu etwas Neuem verwoben wird, wir stoppen in Norwegen, wo “Electrocutango” den Spuren von “Gotan Project” folgen und schließlich auch in Finnland, wo das Genre seit den 1920er Jahren zur eigenen Folklore zählt. Eine wunderbare Reise für die Ohren und die Seele.

V.A.
Tango around the world
Putumayo / Exil

Bajofondo
Mar Dulce
Surco / Universal
Oskar-Preisträger Gustavo Santaolalla hat sich mit seinem Projekt “Bajofondo” auf seinem zweiten Album noch weiter vom Tango entfernt. Eröffnet wird “Mar Dulce” vom hitverdächtigen Dancefloortitel “Grand Guignol”, der treibende Elektrobeats mit Streichern kombiniert und mit Sicherheit in den nächsten Jahren auch bei unzähligen Gelegenheiten als Hintergrundmusik (TV-Dokus etc.) Verwendung finden wird. Der track ist in seiner Geschwindigkeit jedoch nicht charakteristisch für das Album, auf dem sich auch Balladen, Hiphop- (“El andén”) und Poptitel finden, u.a. interpretiert von berühmten Gastsängern wie Elvis Costello, Nelly Furtado oder Ex-Soda-Stereo-Frontmann Gustavo Cerati. Die Stücke haben alle einen tango-ähnlichen Charakter, und sei es nur wegen des Bandoneonklangs, “klassische” Tangos hingegen finden sich hier nicht.

Bajofondo
Mar Dulce
Surco / Universal

Tangocrash
Bailá querida
galileo mc
Davon verabschiedet hat sich auch die Berliner Formation “Tangocrash”. Ihr neues Album “Bailá querida” streift nur noch dann und wann die Atmosphäre des Tangos, wenn z.B. historische Aufnahmen mit elektronischen Klängen vermischt werden oder ein Bandoneon erklingt. Ansonsten handelt es sich um elektronisch-experimentelle Musik mit freien Improvisationen (z.B. in „La Cumpadesky“ oder „Los ejes de mi carreta“), teilweise an Freejazz erinnernd, die die volle Aufmerksamkeit des Hörers einfordert.

Tangocrash
Bailá querida
galileo mc

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





[kol_5] Pancho: Einfaches für geistlichen Beistand

Ich sitze in einem winzigen Dorf umgeben von mehreren Schweinehöfen in Katalonien. Über das Internet empfange ich den kölnischen Radiosender einslive. Es folgt ein Beitrag zu Sendung "Kirche in einslive". Der Pfarrer erzählt von seiner letzten innereuropäischen Flugreise - sagen wir mal von Köln nach Barcelona. Die Fluggäste waren augenscheinlich in erster Linie Businesspeople. Nach der Landung begannen einige wagemutige zu klatschen. Auch ein oder zwei Vertreter der Kostümchen- und Anzugfraktion fielen mit ein, begleitet von den abfälligen Blicken der übrigen eher weltmännischen Gäste. Da hat sich der Pfarrer gedacht, wie schön, dass sich die Menschen noch bedanken können - in unserem Fall für die gelungene Landung. Und dann hat er sich gedacht, dass dieser Dank nicht nur der Frau oder dem Mann am Steuer gilt, sondern ja auch ein wenig Gott.

Diesen Pfarrer hätte ich gerne zu mir eingeladen und ein wenig mit ihm diskutiert über die heutige Zeit.

Als guter Gastgeber hätte ich den Mann des Geistes zunächst mit einem entsprechend seiner Gesinnung einfachen Mahl versorgt: frisches Baguette in Scheiben geschnitten, mit Tomate eingerieben und einem intensiv im Geschmack daherkommenden Olivenöl unserer Region beträufelt, dann reichlich belegt mit spanischem Schinken, frisch von der Keule geschnitten, und dem spanischen Schafkäse Manchego. Dazu ein Glas Xibeca, ein leichtes, dem Kölsch ähnlichen Bier aus Barcelona.

Dann hätte ich dem Pfarrer berichtet von den Flügen zum Aeroport de Girona, von einigen Fluganbietern auch als Flughafen Barcelona Nord bezeichnet. In den Flugzeugen nach Girona befinden sich meist Touristen und weniger Geschäftsleute, weshalb er auf englisch auch Costa Brava Airport genannt wird. Das Klatschen der Gäste zur Landung ist fester Bestandteil der Flugreise und wird sogar noch begleitet von Ausrufen höchster Verzückung. - Ob die Fluggäste jedoch, die lauthals "Ficken" durch den Flieger rufen, wirklich mehr an Gott als an den Kapitän denken, hätte ich den Vertreter des Allmächtigen gerne gefragt.

Text + Foto: Dirk Klaiber

[druckversion ed 11/2008] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]




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