ed 10/2011 : caiman.de

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spanien: Segovia – rebellisch und romanisch
Ein Besuch in Spaniens kleinster Kulturhauptstadt (Teil 1)
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


brasilien: Wilder Westen Goiania
Kirchenmann flieht vor Todesschwadronen der Polizei
THOMAS MILZ
[art. 2]
spanien: Kunstwerk oder sakrales Kitschobjekt
Jesuskinder in Spanien und Lateinamerika
BERTHOLD VOLBERG
[art. 3]
brasilien: Ein Haus für Stefan Zweig
Über das Zweig-Museum in Petrópolis
THOMAS MILZ
[art. 4]
grenzfall: Eat more tacos – Redaktionssitzung
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 1]
macht laune: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 2)
CAMILA UZQUIANO
[kol. 2]
erlesen: Neuerscheinung: Fettnäpfchenführer Brasilien
Kultur und Gesellschaft zwischen Amazonas und Atlantik
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Heiße Klänge aus dem kalten Norden
Wandler zwischen den Musikwelten: Tómas R. Einarsson
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Segovia – rebellisch und romanisch
Ein Besuch in Spaniens kleinster Kulturhauptstadt (Teil 1)
 
In nur 30 Minuten von Madrid aus erreicht man mit dem neuen Schnellzug AVANT die 90 Kilometer nordöstlich auf genau 1000 Metern Höhe gelegene Provinzhauptstadt Segovia. Von den zehn spanischen Altstädten, deren Zentren von der UNESCO komplett zum Weltkulturerbe erklärt wurden, ist Segovia die kleinste. Ihre Lage ist spektakulär – wie auf einem Präsentiertablett breitet sich der monumentale Ortskern auf einem lang gezogenen Felsrücken vor dem Hintergrund der meist mit Schnee bedeckten Berggipfel der Sierra de Guadarrama aus.

Alcazar [zoom]
Kathedrale [zoom]

Der neue Bahnhof liegt außerhalb und wenn man sich von dort mit dem Bus dem Stadtzentrum nähert, glaubt man für einen Moment, im falschen Bahnhof ausgestiegen zu sein. Denn das erste, was man sieht, ist keiner der berühmten Postkartenblicke mit Aquädukt oder Alcázar, sondern ein abschreckendes Neubauviertel. Aber wenig später, an der Endhaltestelle des Shuttle-Busses, der auch schon mal die viel versprechende Aufschrift "Segovia – un sueño" ("Segovia – ein Traum") trug, steht man direkt vor dem bedeutendsten Monument der Römerzeit in Spanien: dem Aquädukt. Es erhebt sich ähnlich imposant wie der Pont du Gard bei Nimes, allerdings nicht in der Einsamkeit eines Flusstals. Dafür bilden die Bögen dieses bis zu 30 Meter hohen und 818 Meter langen Bauwerks heute das gigantische Eingangstor zum Gebirgsstädtchen Segovia – die majestätischste Pforte, um eine spanische Altstadt zu betreten.

Aquädukt [zoom]
Aquädukt [zoom]

Es ist noch gar nicht so lange her, dass diese Konstruktion aus dem 2. Jahrhundert nicht nur Dekorationsstück war, sondern eine ureigene Funktion erfüllte. Bis 1974 fungierte das Aquädukt als Wasserleitung. Heute liegt es wie eine Art Stadtmauer vor Segovia. Seine Arkaden werfen einen bizarren, riesigen Schatten auf die ersten Häuserzeilen und Gassen der Stadt, als wollten sie auch heute noch die Dominanz des Imperium Romanum verkünden. Denn es war ein hartes Stück Arbeit für die Römer, diese zentrale Gebirgsregion der Iberischen Halbinsel endgültig zu erobern. Schon die Keltiberer nutzten den strategischen Vorteil dieses Felsensattels, bis er um 80 v. Chr. erstürmt wurde. Die römischen Eroberer verfuhren hier so wie in Masada oder ähnlich stolzen Widerstandsnestern: alle rebellischen Ureinwohner, die sich auf diesen Felsen zurückgezogen hatten, wurden massakriert.

Heute werden die Segovianer jedoch den Nachfahren der grausamen römischen Konquistadoren dankbar sein, denn die von ihnen errichtete monumentale Wasserleitung zieht Millionen von Touristen an, die staunend ihre Torbögen durchschreiten. Segovia besteht jedoch nicht nur aus dem Aquädukt; es hat ähnlich wie Toledo auf engstem Raum eine Rekordzahl an architektonischen Sehenswürdigkeiten aus verschiedenen Epochen und Religionen und eine intakte Altstadt zu bieten, die von der UNESCO 1985 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Die Westgoten und die Araber, die den Ort Siqubiya nannten, haben wenig Spuren hinterlassen. Aber die Synagoge der im Mittelalter großen jüdischen Gemeinde gehörte zu den wichtigsten in Spanien. Heute ist sie eine Klosterkirche und wurde auf den Namen "Corpus Christi" umgetauft. Nach der tragischen Vertreibung der Juden wurde sie zur Kirche umfunktioniert und 1899 durch einen Brand zerstört.

Synagoge [zoom]
Synagoge [zoom]

Das heutige Bauwerk ist eine gelungene Rekonstruktion, die demonstriert, dass die Segovianer Synagoge große Ähnlichkeit mit ihrem Vorbild in Toledo hatte: der ältesten Synagoge Europas, die heute den Kirchennamen Santa Maria la Blanca trägt. Die Säulen zeigen die gleichen Kapitelle mit Pinienzapfen und Mudéjar-Blendarkaden wie in der schon 1190 erbauten Toledaner Synagoge. Durch die Fenster in Form von Hufeisenbögen, die sehr passend mit farbigem Glas in Violett, Blau und Grüntönen ausgestattet sind, fällt gefiltertes Licht und erfüllt den dreischiffigen Raum mit einem diffusen, mystischen Licht. Trotz der Rekonstruktion wirkt der Innenraum der Synagoge dadurch authentisch und die Stimmung in diesem schlichten Tempel mahnt zur Stille und wirkt sakraler als in den meisten Kirchen von Segovia. Doch mit der Thronbesteigung der machtbesessenen Königin Isabella war es vorbei mit der religiösen Toleranz. Das "Spanien der drei Kulturen" (christlich, muslimisch, jüdisch) fand sein endgültiges Ende und ab 1492 war Schluss mit Synagogen in Stadtlandschaften.

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Kommen wir also zur nächsten Station der Stadtbesichtigung – zur spätgotischen Kirche San Miguel, die schon deutliche Stilelemente der Renaissance präsentiert. Im Vorgängerbau an gleicher Stelle der aktuellen Kirche wurde Isabella die Katholische im Dezember 1474 zur Königin von Kastilien proklamiert. Von außen wirkt die Michaelskirche mit ihrem wuchtigen Turm und schmucklosen, abweisenden Mauern wie eine Festung und scheint damit die intolerante Haltung der Herrscherin zu reflektieren. Aber der Innenraum überrascht mit deutlich freundlicheren Attributen. Da glänzt golden ein barocker Hochaltar von 1672. Schöne Sternen- und Rautenmuster schmücken die Deckengewölbe, deren Abschluss-Steine als elegante Medaillons herab hängen.

Synagoge [zoom]
Kirche San Miguel [zoom]

Noch kunstvoller und filigraner präsentieren sich in Segovia nur die Sterngewölbe der Kathedrale, die zu den schönsten von ganz Spanien gehören.

Die beiden Hauptmonumente Segovias, Kathedrale und Alcázar, werden immer wieder mit zwei Metaphern definiert, wobei diese beim Alcázar zutreffend, die Kathedralen-Metapher jedoch unpassend wirkt. Denn es möge uns bitte mal jemand erklären, warum dieser wuchtige Tempel, der späteste aller gotischen Dome Spaniens, hartnäckig als die "Dame unter den spanischen Kathedralen" bezeichnet wird. Von außen wirkt dieser 1525 begonnene Kirchenbau wie eine massige Burg, die nicht nur durch den gewaltigen, 88 Meter hohen Turm eher männlich dominant als damenhaft wirkt. Die zierlichen Fialen, die den Chor von außen bekrönen, sollen dem Erscheinungsbild etwas von seiner Schwere nehmen, was aber nur bedingt gelingt. Die breit gelagerten Mauern, nur unterbrochen durch sehr kleine Fenster und der mächtige, beinahe schmucklose Turm verstärken den Eindruck einer Kirchenfestung.

Aquädukt [zoom]
Kathedrale [zoom]

Ähnlich wie San Miguel wirkt Segovias Kathedrale im Innenraum sehr viel schöner. Zwar wird der Gesamteindruck wie so oft in Spanien durch den Einbau des Chorgestühls gestört, aber besonders die harmonischen Proportionen des Chorumgangs mit den grandiosen Gewölben mildern die Strenge der breiten Säulen. Zudem präsentieren die Kapellen beeindruckende Kunstwerke wie einen Hochaltar mit dem Begräbnis Christi vom Renaissance-Bildhauer Juan de Juni (im rechten Seitenschiff), einen Barockaltar von Churriguera und einen ergreifenden toten Christus vom kastilischen Bildhauergenie Gregorio Fernández (linkes Seitenschiff).

Kathedrale [zoom]
Kathedrale [zoom]

Auf der linken Seiter vor dem Chorraum kann man durch ein Gitter ein überraschend altes Kirchenportal erkennen. Es stammt von der alten, romanisch-frühgotischen Kathedrale, die während der Comuneros-Rebellion 1520 zerstört wurde. Damals wehrte sich das rebellische Segovia gegen eine vom neuen König Karl (Kaiser Karl V.) erhobene Sondersteuer. Nach der Niederschlagung dieses Aufstands im April 1521 war auch der Alcázar gegenüber der Kathedrale teilweise zerstört und wurde restauriert.

Alcazar [zoom]
Alcazar [zoom]

Von dieser Märchenburg, die von einem hundert Meter hohen Felsen weit in die nördliche Steppe grüßt, sagt man, sie sei wie der Bug eines Schiffes. Die Metapher trifft zu. Vor allem wenn man sich Segovia von Nordosten her nähert, wirkt die Stadt auf dem Felsplateau wie ein Schiff, das aus den Bergen in die Steppe ragt – und der Alcázar wie der Bug dieses Schiffes. Nicht umsonst wurde der imposante Anblick der kastilischen Felsenburg auf den Titelbildern unzähliger Spanien-Bildbände verewigt.

Text + Fotos: Berthold Volberg



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Brasilien: Wilder Westen Goiania
Kirchenmann flieht vor Todesschwadronen der Polizei
 
Bereits seit Jahren gibt es Gerüchte über die Existenz von aus Polizisten gebildeten Todesschwadronen im Bundesstaat Goiás in Zentralbrasilien. Im Februar diesen Jahren nahm die Bundespolizei schließlich 19 Angehörige der der Landesregierung unterstehenden Policia Militar fest. Mindestens 20, vielleicht sogar 40 Kinder und Jugendliche sollen sie in den letzten Jahren kaltblütig ermordet haben. Selbstjustiz, um die "Gesellschaft zu reinigen". Dahinter steckt die brutale Logik, dass Kinder und Jugendliche hinter der zunehmenden Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Gesellschaft stecken und daher aus dem Wege geräumt werden dürfen.



Seit Jahren schon setzt sich der Jesuitenpater Geraldo Marcos Labarrere Nascimento für die Bestrafung der Täter und gegen Gewalt an Jugendlichen ein. Der 71-Jährige, der das Jugendzentrum Casa da Juventude (Haus der Jugend) in Goiania leitet, welches vom Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche, ADVENIAT, unterstützt wird, half der Bundespolizei sogar bei den Ermittlungen gegen die Todesschwadronen.

Nachdem Gerüchte laut wurden, dass auch Teile der Landesregierung in die Fälle verwickelt seien, rief der Gouverneur eine Kommission zur Untersuchung der schaurigen Taten ins Leben. Auch Padre Gerlado gehörte der Kommission an, deren Mitglieder seit den Festnahmen der Polizisten im Februar in Angst leben. Teilweise werden diese sogar öffentlich von Polizisten bedroht, ohne dass dies Konsequenzen hat. Auch Journalisten, die über die Fälle berichteten, gerieten ins polizeiliche Fadenkreuz.

Nachdem Padre Geraldo im Laufe dieses Jahres mehrere anonyme Morddrohungen erhalten hatte, erreichte ihn in der Nacht des 24. auf den 25. August eine besonders eindringliche Warnung. Ein Todeskommando sei bereits unterwegs zu ihm und wolle er sein Leben retten, so müsse er den Bundesstaat sofort verlassen. Dabei dürfe er nicht mit dem Flugzeug reisen, da die Todesschwadrone über Wege und Mittel verfügten, sich Informationen über sein Reiseziel zu beschaffen. Padre Geraldo verließ daraufhin umgehend Goiania, mit unbekanntem Ziel.

"Es ist auffällig, wie gut diese Todesschwadrone der Polizei hier im Bundesstaat Goiás organisiert sind", urteilt Eduardo de Carvalho Mota, Mitarbeiter von Violencia Goiás. "Und es fällt auf, wie sehr die Politik die Augen verschließt und dies einfach geschehen lässt. Das gilt auch für große Teile der Gesellschaft, die denkt, dass solche Polizeiaktionen genau der Aufgabe der Polizei entsprechen. Man ist der Meinung, dass nur ein toter Bandit ein guter Bandit ist", so Carvalho Mota.

Violencia Goiás geht davon aus, dass die Zahl der verschwundenen Jugendlichen wesentlich höher ist als bisher angenommen. Mindestens 200 Fälle seien bekannt, dazu komme noch eine kaum zu bestimmende Anzahl von Obdachlosen, die in den letzten Jahren spurlos verschwunden seien. Eventuell wurden auch sie Opfer der Todesschwadrone. Hinter den "Säuberungen" stecke eine brutale Logik, meint Carvalho Mota. "Jugendliche sind etwa dreimal so oft Opfer von Morden wie jede andere Bevölkerungsgruppe. Dahinter steckt eine Argumentationskette, die auch von den Medien aufgebaut wurde und besagt, dass Jugendliche gefährlich seien, und dass man sie entweder einsperren oder sogar auslöschen müsse."



Derweil sinkt die Hoffnung, dass die Gräueltaten tatsächlich gesühnt werden. Einer der 18 Polizisten, die vor kurzem noch einsaßen, wurde vor einigen Wochen aus der Haft entlassen. "Die Frist zur Prozesseröffnung war überschritten", berichtet die deutsche Missionarin Petra Silvia Pfaller, die seit Jahren für die Gefängnispastoral in Goiania arbeitet. Diese Entscheidung könnte auch auf die anderen 17 Polizisten ausgedehnt werden. Wilder Westen pur hier in Brasilien!

Text + Fotos : Thomas Milz

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_3] Spanien: Kunstwerk oder sakrales Kitschobjekt
Jesuskinder in Spanien und Lateinamerika
 
Es gab sie immer schon, seit den ersten weihnachtlichen Krippenszenen, die von Künstlern in römischen Katakomben oder frühchristlichen Mosaiken geschaffen wurden: kleine Jesuskinder zwischen Maria und Josef. In der Bildhauerei, die sich der christlichen Ikonographie widmete, standen sie lange im Schatten der großen Skulpturen. Auch während der Romanik und Gotik tauchten Jesuskinder fast nur als Krippenfiguren in Weihnachtsszenerien und kaum als Einzelskulpturen auf. Dies sollte sich in der Renaissance ändern, als man zunächst in Italien, dann in Flandern und Spanien begann, das Christkind als isolierte Figur in den Mittelpunkt der Verehrung zu stellen.

In alle Regionen des spanischen Weltreichs exportiert bzw. dort als dominierendes Vorbild kopiert, entstand in Sevilla am Übergang zwischen Spätrenaissance und Frühbarock ein besonderer Typus des isoliert stehenden Jesuskindes, das den gläubigen Betrachtern in der Pose eines erwachsenen Herrschers gegenüber steht. Die genialen Sevillaner Bildhauer Jerónimo Hernández (Renaissance) und Juan Martínez Montañés, Juan de Mesa sowie Pedro Roldán (Barock) schufen nicht nur berühmte und kunsthistorisch einflussreiche Christusskulpturen und Marienstatuen, die heute in den Kirchen und Museen von Sevilla bis Lima und von Madrid bis Manila zu finden sind, sondern auch Jesuskinder. Letztere wurden von der Kunstkritik lange kaum beachtet und es eilte ihnen der Ruf von religiösem "Kindchenschema-Kitsch" voraus – oft unter dem Eindruck späterer Massenproduktion, die mit Kunst wirklich nichts mehr zu tun hatte.

Frühbarockes Jesuskind
Quelle: Foto von Arenas aus dem Buch von
José Hernández Díaz: "Martínez Montañés",
publiziert in der Reihe "Arte Hispalense",
Band Nr. 10, Sevilla 1992, 3.Auflage

Aber Martínez Montañés, Juan de Mesa und Jerónimo Hernández gelang ein künstlerischer Spagat, der schwer zu erreichen war und von dem spätere Nachahmer weit entfernt blieben. Zum einen stellten sie realistisch das Kindliche dar, zum anderen verliehen sie dem Gotteskind ein majestätisches Charisma, eine Aura des Sakralen, die durchscheinen ließ, dass hier kein gewöhnliches Kind wegen seiner Niedlichkeit, sondern der künftige Erlöser dargestellt werden sollte. Der Prototyp dieses Jesuskinds in Herrscherpose ist die 1607 von Martínez Montañés aus Zedernholz geschnitzte Statue, die bis heute in der an die Sevillaner Kathedrale angebaute Sagrario-Kirche steht. Diese Figur des Göttlichen Kindes empfängt den Betrachter, als ob es ihn umarmen wolle und trotz der kindlichen Züge spiegelt sich in seinem Gesicht ein hoheitsvoller Ernst, der schon seine Berufung zur Rettung der Welt und die Passion des Erlösers andeuten soll. Nur das gelockte Haar mit der feschen Stirnlocke – ein Markenzeichen der Skulpturen von Martínez Montañés – mag ein Zugeständnis an das Kindchenschema sein.

Egal, ob sie nun dem persönlichen Geschmack des Betrachters entsprechen oder nicht: die Jesuskinder von Martínez Montañés oder Jerónimo Hernández sind bedeutende Kunstwerke mit theologischer Aussage – selbst wenn ihre Wirkung durch die spanische Obsession, allen nackten Statuen aufwändig bestickte, aber oft kitschige Kleider anzuziehen, beeinträchtigt wird.

Spätbarockes Jesuskind
im Museum der Schönen Künste in Sevilla

Schon in der Epoche jener Künstler entwickelte sich das "Niño Jesús" zum Verkaufsschlager. Es ist überliefert, dass bereits das Werk von Martínez Montañés so populär wurde, dass der Meister einen Bleiabguss anfertigte, um Kopien davon herstellen zu können. Im Spätbarock und Rokoko wurde das Jesuskind dann schnell vom Kunstobjekt zum Kaufobjekt für die Massen. Während die genannten Barockmeister der Sevillaner Bildhauerschule sich bei ihrer Darstellung des göttlichen Kindes noch von künstlerischen Ambitionen und theologischen Gedanken leiten ließen, verkam die Herstellung von Jesuskindern - auch aufgrund der enorm gestiegenen Nachfrage – im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur anspruchslosen Serienproduktion. Diese Schöpfungen wollten keine theologischen Aussagen mehr vermitteln und von einer Aura des Sakralen entfernten sie sich immer mehr. Sie sollten hauptsächlich die Kassen ihrer "Schöpfer" klingeln lassen und orientierten sich daher gnadenlos am Massengeschmack; und der verlangte Kindchenschema: niedlich musste es sein, das Jesuskindlein! Ein gutes Beispiel für diese bewusst inszenierte Niedlichkeit, die natürlich immer wieder die Grenzen zum Kitsch locker überspringen konnte, ist das mit neckischem Röckchen und Krönchen geschmückte und auf allen Vieren krabbelnde "Niño Jesús" im Museum der Kathedrale von Lima, das in der Epoche des Rokoko entstand (18. Jahrhundert). Dieses schnuckelige Krabbelbaby hat außer der Krone nichts Sakrales mehr in seiner Optik aufzuweisen.

Rokoko Jesuskind
im Museum der Kathedrale in Lima

War es vorher der Künstler, der Maßstäbe setzte und seine Vision vom kindlichen Gottessohn zu vermitteln suchte, so war es jetzt umgekehrt: die Käufer diktierten, wie Jesuskinder auszusehen hatten und dem Profit des massenhaften Absatzes beugte sich der individuelle Ausdruck des Bildhauers, bis die Objekte immer geklonter aussahen. Die Jesuskind-Produktion wurde zunehmend dekadenter und degradierte die kleinen Statuetten aus Serienanfertigung oft zu Kitschobjekten, die besonders in der Biedermeier-Ära des 19. und im Neobarock des 20. Jahrhunderts komplett kunstfrei daherkommen. Einige waren als andachtsfördernde Kommunionsgeschenke oder als Dekoration für die Zimmeraltäre alleinstehender alter Damen entworfen worden. Diese verhätschelten die Jesuspüppchen als Ersatz für fehlende Enkel. Ein paar der "abschreckendsten" Beispiele aus dem 20. Jahrhundert sollen hier präsentiert werden. Das Niño Jesús war nun nicht mehr nur in Kirchen als Objekt religiöser Verehrung zu finden, sondern hielt seinen Einzug als Spielzeug in Kinderzimmern und wurde integriert als dubioses Schmuckelement in Schaufenster-Dekorationen oder in neobarocker Popkunst.

Jesuskind
in einem Schaufenster in Sevilla

Hand in Hand mit der Dekadenz des künstlerischen Ausdrucks war auch ein Niedergang der Materialwahl zu beobachten. Hatten Martínez Montañés und seine Zeitgenossen noch in steinhartes Zedernholz gemeißelt, das die Jahrhunderte überdauern sollte, wurde später wertloseres und weniger haltbares Rohmaterial wie Gips, Ton, Wachs oder – Plastik verwendet. Und noch eines haben die Jesuskinder des 20. Jahrhunderts gemeinsam: sie wurden immer farbenprächtiger.

Besonders wenn man aus einem protestantischen Land des nüchternen Nordens kommt, hat Lateinamerika im Reich der Jesuskinder ein paar besonders bunte Überraschungen zu bieten. Wenn man z.B. in der kolumbianischen Hauptstadt Santa Fe de Bogotá die Kirche San Diego betritt, wird man schon direkt hinter der Eingangstür empfangen von einer farbenfrohen Vision, die beim Besucher eine eher unfromme Fassungslosigkeit auslöst. Da wird man begrüßt von einem Christkind im quietschrosa Gewand, das mit leicht debilem Gesichtsausdruck auf einer Wolke schwebt. Nicht so recht dazu passen will die Siegerpose mit hoch erhobenen Armen und die mit Goldschrift in den Sockel eingravierte Verkündung "Yo Reinaré" (Ich werde herrschen!). Man ist hin und her gerissen zwischen ungläubigem Staunen und mühsam unterdrücktem Lachreiz. Wer nun glaubt, hier schon den Gipfel des Kitsches erklommen zu haben, kann einige hundert Kilometer weiter südlich eines Besseren belehrt werden.

Jesuskind in Siegerpose
in der Kirche San Diego in Bogotá

Denn im unüberschaubaren Reich der Jesuskinder sind immer Steigerungen möglich, um das Publikum in ungeahnte Verzückung zu versetzen. In der ansonsten grandiosen barocken Klosterkirche La Merced in Cuzco wartet ein Niño Jesús, bei dessen Anblick selbst der Frömmste kaum noch ernst bleiben kann. Illuminiert von einem Kranz aus Neonlicht (!) liegt es da mit hellblauem Strampelhöschen und Schnuller, sein pausbackiges Gesicht schenkt dem Betrachter ein saftiges Baby-Lächeln. Auch die glitzernde Krone kann nicht darüber hinweg täuschen, dass dieser Wonneproppen in einer Puppenstube besser aufgehoben wäre als in einer Kirche.

Jesuskind mit Strampler
im Kloster La Merced / Cuzco

Doch weshalb sollte man über den Niedergang der Kunst am Beispiel des Jesuskinds lamentieren? Letztlich zeigt sich hier auch so exemplarisch wie in kaum einem anderem Bereich die demokratische Popularisierung der Kunst. Das Volk hat entschieden, wie es seine Jesuskinder haben will und der Verlust des künstlerischen Werts wird durch den enorm gesteigerten Unterhaltungswert ausgeglichen. Deshalb wollen wir auch keine Zweifel aufkommen lassen: egal, ob kleines Kunstwerk oder kitschig - wir lieben Jesuskinder!

Madonna mit Jesuskind
in der Kapelle der Stierkampfarena in Sevilla

Text + Fotos: Berthold Volberg

Literaturempfehlung:
Zur Lektüre über Jesuskinder, die noch Kunst waren:
José Hernández Díaz: "Martínez Montañés", publiziert in der Reihe "Arte Hispalense", Band Nr. 10, Sevilla 1992, 3.Auflage, publiziert von Excma. Diputación Provincial de Sevilla



Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_4] Brasilien: Ein Haus für Stefan Zweig
Über das Zweig-Museum in Petrópolis
 
Vor 70 Jahren kam Stefan Zweigs Brasilienbuch "Ein Land der Zukunft" auf den Markt. Mitten im Zweiten Weltkrieg hatte der vor dem vom Krieg zerrütteten Europa nach Brasilien geflohene Zweig seine Vision einer besseren Welt in den Tropen präsentiert. Im Februar nächsten Jahres jährt sich Zweigs Todestag zum 70. Mal. Das Haus, in dem er die letzten Monate seines Lebens verbrachte, wird gerade u.a. mit deutscher Hilfe zu einem Museum umgebaut. Noch vor Zweigs 70. Todestag soll es eröffnet werden.



Mario Azevedo, der Architekt hinter dem Projekt, ist stolz auf seine Leistung. In Monate langer Arbeit haben er und seine Helfer das Zweig-Haus zurück in seinen Urzustand aus dem Jahr 1942 versetzt, Zweigs Todesjahr. Azevedo steht auf der kleinen Veranda, über die man das Haus betritt und auf der Zweig seine "Schachnovelle" schrieb. Im Garten vor dem Haus sollen demnächst noch ein Auditorium und eine Bibliothek entstehen, erklärt der Architekt.

Hinter dem Projekt steht Alberto Dines, einer der besten Zweigkenner und Autor des Buches "Tod im Paradies", in dem er Zweigs Zeit in Brasilien minutiös aufarbeitet. Mit Hilfe von Freunden hatte Zweig das Haus in den Bergen von Petrópolis, gut eine Stunde von Rio de Janeiro entfernt, gekauft. Nicht Zweigs sollen die Besucher zukünftig gedenken, so Dines, sondern den Hunderten von Künstlern und Intellektuellen, die vor dem Krieg und dem Naziterror in Europa nach Brasilien flohen. Ein "Memorial für die Exilierten" schwebt ihm vor.





Interview mit Alberto Dines

Fast 70 Jahre sind bereits vergangen - kennt man Stefan Zweig hier noch?
In Petrópolis leben immer noch ein paar Menschen, die sich an ihn erinnern. Aber auch viele junge Menschen haben schon von Zweig gehört, interessierten sich für ihn und kennen seine Bücher.

Anfang des Jahres haben wir eine Ausstellung gemacht: "Stefan Zweig lebt". Wir wollen generell nicht so viel über seinen Tod reden, der zwar dramatisch und unvergesslich ist. Denn er lebt, sein Werk ist sehr lebendig.

Sein Werk "Brasilien – Land der Zukunft", das vor genau 70 Jahren erschienen ist, ruft immer noch viel Interesse hervor. Als Obama vor kurzem Brasilien besuchte, hat er zwei Reden gehalten. In beiden hat er vom "Land der Zukunft" gesprochen.



Wie wird das Haus nach dem Umbau aussehen?
Wir werden ein "Zentrum des Erinnerns" einrichten, das nicht nur an Stefan Zweig erinnert, sondern auch an alle Intellektuellen, Künstler und Wissenschaftler, die vor dem Terror des Naziregimes geflohen sind. Eine Art Memorial des Exils.

Und wir werden das Haus so einrichten, wie es war als er hier lebte. Er war zwar nicht arm, lebte jedoch in sehr bescheidenen Verhältnissen. Eine schwierige Zeit, ein kompliziertes Leben… Wir werden einen Kurzfilm produzieren, in dem den Besuchern gezeigt wird, wie sich Zweigs Alltag gestaltete.



Text + Fotos + Interview : Thomas Milz

Bisher im caiman zu Stefan Zweig erschienen:
Verloren im Paradies
Stefan Zweig in Brasilien – Interview mit Alberto Dines

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[kol_1] Grenzfall: Eat more tacos – Redaktionssitzung
 
Der Papst war da. Hat eine – so sagt man – bewegend unnahbare Rede gehalten im Bundestag. Ich hätte sie gerne verfolgt, aber nicht bei dieser monoton himmelhohen, hart gebrochenen Stimme, in der ein Stück des Allmächtigen selbst mitzuklingen scheint. Ich hab es eh nicht so mit der Kirche. Seit die kleine Baggy (Bhagwan-Disco in Köln) dicht ist – das war ca. 10 Jahre nach dem Anschlag auf das Papamobil – tanze ich mich nur noch ab und an in Ekstase, werde wie einst selbst zum Tanz und finde die heilige Tür nach Hause.



Es war daher nur recht einen wichtigeren Termin zurzeit der Bundestagsrede anzusetzen: caiman-Redaktionssitzung. Normal trifft sich die deutsche Redaktion 1-2 mal die Woche mittags zwischen 11 Uhr und 15.15 Uhr. Wir durchstöbern dabei die Kioske nach lateinamerikanischen, spanischen und portugiesischen Bieren. Beim letzten Treffen haben wir San Miguel aus Literflaschen geleert. Das war eine gute Sitzung. Dieses Mal jedoch sollten der caiman-Koch Pancho – kurzzeitig gab es die Überlegung El Bullì auf der Cap de Creus zu übernehmen – mit von der Partie sein. Da lag es natürlich nahe, ein exquisites Lokal anzusteuern: Das Maria Bonita auf der Danziger Straße in Berlin.



Was macht den Laden so besuchenswert?
Es ist wie mit den überkandidelten, teuren Kinderwägen. Gehst du mit deinem Bugaboo übern akademisierten Kollwitzplatz, dann fällst du nicht auf, wegen Bugaboos wie Sand am Meer. Wählst du Neukölln, dann hast du Alleinstellungsmerkmal. Das Maria Bonita mit dem Slogan eat more tacos könnte in ganz Mexiko an jeder x-beliebigen Ecke stehen und würde keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Hier aber sticht es heraus, weil authentisch. Weil offene Küche, einfach, ehrlich, gut. Sogar die Habanero-Soße ist selbstgemacht. Serviert wird wie in der Heimat auf abgenutzten emaillierten Blechtellern. Und Tacos sind hier Tacos. Kleine Maisfladen, drei Stück pro Teller mit frisch gehakten Zwiebeln, gewürfelten Tomaten und reichlich Koriander gereicht. Dazu Bier aus der Flasche oder Margarita aus dem Plastikbecher.



Doch kaum ist der Papst in der Stadt, ist der Laden dicht. In der Not – Panchos Hunger-Laune kommt der Papststimme gleich – betreten wir drei Häuser weiter das Thu Hanoi (vietnamesische Küche) und oh Wunder, erhalten eine ehrliche Cuba Libre zur ausgezeichneten Pho Hanoi (Nationalgericht Nudelsuppe mit Rind oder Hühnchen): 2 Teile Rum, 1 Teil Cola, Limette.

Am nächsten Morgen sind wir verabredet, um uns an der Marathonstrecke zu platzieren. Die lateinamerikanische Pünktlichkeit führt dazu, dass, als wir uns an Kilometer 10 positionieren, unser Favorit Heile Gebrselassie bei Kilometer 36 schon aus dem Rennen ausgestiegen ist. Glücklicherweise laufen über 40.000 Menschen an diesem warmen Herbstmorgen, so sind wir nicht umsonst gekommen sind. Und überraschenderweise hat Pancho an diesem Sinne benebelten Morgen schon in die Küche gewirkt und unzählige Tacos bereitet, die wir nun unter die Läuferinnen und Läufer bringen. Die meisten davon heißen Maria und Benedikt ... ein Hauch von Bergpredigt liegt in der Luft. Die Redaktionssitzung war erfolgreich.



Anmerkung für unsere kleinen Leser: Pancho gibt es zwar, ist aber nicht real. Wir haben weder Tacos an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Berlinmarathons verteilt, noch diese nach ihren Namen gefragt. Die Redaktionssitzung hat im Maria Bonita stattgefunden, denn nichts ist inspirierender als eat more tacos. Die Pho Hanoi im Thu Hanoi ist unschlagbar, aber die Cuba Libre hat noch viel Luft nach oben. Bei den caiman-Redaktionssitzungen wird selten gegessen. Beim Berlin Marathon gab es mindestens einen Läufer im Papstkostüm.

Text + Fotos: Maria Josefa Hausmeister

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_2] Macht Laune: Wortspiele und Lebensweisheiten (Teil 2)
 
Keine zwei Wochen nachdem ich das erste Mal mit ungemein Wissenswertem aus El Salvador konfrontiert wurde (siehe Teil 1), treffe ich die richtig nette Salvadoreña aus der Bar erneut am Tresen, flüstere "Oh, die Sprücheklopferin" und mache sie und meine deutsche Begleitung miteinander bekannt. Eigentlich stehen an diesem Abend populäre Witze aus dem kleinen mittelamerikanischen Land auf der Tagesordnung – katalogisiert nach Tierreich, Farben, Körperteilen oder auch, sehr beliebt, sexueller Ausrichtung – allerdings stellt sich alsbald heraus, dass die kulturellen Unterschiede in Bezug auf Humor unüberbrückbar scheinen; der eine mag es dann halt doch etwas subtiler als der andere. Und so kehren wir zurück auf "sicheren Boden": Wortspiele und Lebensweisheiten aus El Salvador. Ohne Worte!



Original: Indio comido al camino
Wortwörtlich: Gegessener Indio auf dem Weg
Sinngemäß: Satt und Tschüß! (Anm.: Aus diesem Grund gibt es bei den meisten Veranstaltungen das Essen auch erst recht spät; sonst wäre nach einer Stunde ja keiner mehr da)

Original: Baila como chucha cuta
Wortwörtlich: Tanzt wie eine drei (oder weniger) beinige Hündin
Sinngemäß: Tanzt gut und hat Rhythmus (kann Bewunderung, Neid oder Kritik sein) oder Kommt gut durchs Leben

Original: Al perro mas flaco se le pegan las pulgas
Wortwörtlich: Auf dem dünnsten Hund lassen sich die meisten Flöhe nieder
Sinngemäß: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen

Original: Más sabe el diablo por viejo que por diablo
Wortwörtlich: Der Teufel weiß mehr, weil er alt als dass er Teufel ist
Sinngemäß: Erfahrung ist alles

Original: Le están dando atól con el dedo
Wortwörtlich: Sie füttern ihm Atól (Dickflüssige Süßspeise aus Mais) mit dem Finger
Sinngemäß: Sie schmieren ihm Honig um den Bart



Original: Hasta al mono más inteligente se le cae el zapote
Wortwörtlich: Auch dem intelligentesten Affen fällt mal die Zapote (Salvis essen Zapote statt Kokosnüsse) aus der Hand
Sinngemäß: Auch der Klügste kann mal irren

Text + Fotos: Camila Uzquiano

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: macht laune]





[kol_3] Erlesen: Fettnäpfchenführer Brasilien
 
Das Rezensionsexemplar kommt fünf Minuten nach Redaktionsschluss. Was hätte man von einem Fettnäpfchen auch anderes erwarten können, dazu noch einem brasilianischen, dessen Zeitverständnis nicht unbedingt preußischer Natur ist.

Es wird also bei der Veröffentlichung der Ankündigung des Verlags (s.u.) bleiben, denke ich als ich das Buch auspacke und dann doch aufschlage. Kapitel 1 Linda kommt an und weiß nicht weiter lässt mich schnell urteilen, dass es sich um ein paar handfeste Tipps für individuell reisende Erstlingslateinamerikabesucher handelt. Themen wie öffentliche Telefonzellen und die Wahl des richtigen Taxis werden in den Abschnitten „Was ist diesmal schiefgelaufen?“ und „Was können Sie besser machen?“, die jedes Kapitel abschließen, beleuchtet und mit Tipps angereichert.




Nina Büttner, Emel Mangel und Henrieke Moll
Fettnäpfchenführer Brasilien – Lebenskunst zwischen Karneval und Copacabana

320 Seiten, gebunden, Originalausgabe
€11,95 [D] - €12,30 [A] - sFr. 17,90 [CH] (UVP)

ISBN 978-3-934918-92-4
Conbook Verlag

Von nun an lese ich quer, springe hin und her und eh ich mich versehe, hab ich mich auf dem Balkon in der herbstlichen Sonne Berlins des T-Shits entledigt und bin voll und ganz eingetaucht in die Fettnäpfen und kurios anmutenden Situationen, die die Protagonistin durchlebt.

Einige sind bekannt wie das Verhältnis der Lateinamerikaner zur Nutzung des Taschentuchs in der Öffentlichkeit, einige interessant wie das Gespräch mit dem Chef, bei dem Linda sowohl die Gesprächseinstiegsfloskel Wie läuft der Unterricht? zum Anlass nimmt, sich ausführlich über die kleinen Schwierigkeiten ihrer ersten Tage als Deutschlehrerin auszulassen, als auch den eigentlichen Gesprächsanlass, die Umgehung des bürokratischen Weges ihrer Arbeitserlaubnis durch monatliche Barauszahlung im Briefumschlag, missversteht und ausweichend reagiert. Andere hätte Linda nicht zuletzt als rheinische Frohnatur kennen können, denn eine Einladung auszuschlagen mit den Worten Ich bin lieber alleine! ist in Gesellschaften, die die Geselligkeit bevorzugen, nicht akzeptabel. Und dann gibt es noch reihenweise unverhoffte Fettnäpfchen wie, Unterwäsche gehört nicht in die häusliche Waschmaschine, sondern ist unter der Dusche zu reinigen...

Mittlerweile haben wir fünf Minuten vor Onlinegang, also vor Erscheinen der Ausgabe. Immer noch finde ich Kapitel, die beim Hin- und Herspringen ungelesen geblieben sind. Es ist aber auch wie verhext, denn zu jedem Fettnäpfen, in das  Linda tritt, schweifen meine Gedanken zu Fettnäpfchen, in die ich selbst getapst bin auf meinen Reisen nach Lateinamerika.

Es nutzt aber nichts, der Cut muss her und so bleibt zu sagen, dass der Fettnäpfchenführer Brasilien absolut lesenswert scheint sowohl für Individualreisende oder berufsbedingt Reisende, denen der erste Kontakt mit Brasilien noch bevor steht als auch für Brasilienerprobte, die Fettnäpfchen wiedererkennen oder jetzt erst als solche identifizieren werden.



Ankündigung des Verlags:

Neuerscheinung: Fettnäpfchenführer Brasilien
Kultur und Gesellschaft zwischen Amazonas und Atlantik

Weltberühmt ist der brasilianische Karneval und die Copacabana zieht jedes Jahr Scharen von Touristen an. Doch auch die Schattenseiten des Landes sind bekannt: Drogenkriege, Korruption und Armut. Diese unterschiedlichen Extreme zeigen, wie komplex sich das Leben in Brasilien präsentiert. Wie man sich als Neuankömmling in der Kultur zwischen Zuckerhut und Favela dennoch gut zurechtfindet, erklärt das neue Episodenwerk „Fettnäpfchenführer Brasilien“.

Die Studentin Linda ist die Heldin des Buches. Sie ist zwar ausreichend vorbereitet, um in Brasilien Deutschlektionen zu geben, ahnt jedoch noch nicht, dass ihr im Gegenzug die eine oder andere Lektion in brasilianischer Etikette bevorsteht. Trotz der überschäumenden Lebensfreude der Einheimischen lässt sich nämlich nicht leugnen, dass es auch im bevölkerungsreichsten Staat Südamerikas reihenweise gesellschaftlichen Fettnäpfchen auszuweichen gilt.

Sie nimmt am Karneval teil, besucht die Copacabana und stürzt sich in das Getümmel Rios. Ein Eintauchen in die fremde Kultur, das sich auch für eine weltoffene Reisende wie Linda nicht ganz reibungslos gestaltet. Auf einer Silvesterfeier muss sie feststellen, dass bei der Kleiderwahl vor allen Dingen die Farbe von entscheidender Bedeutung ist. Während einer Übernachtung in São Paulo wird ihr schnell klar, dass sie sich unter einem Motel etwas anderes vorgestellt hat. Und im Verkehr Rio de Janeiros trifft sie die schmerzliche Erkenntnis, dass Busfahren in Brasilien nichts für Feiglinge ist. Drei von zahlreichen Episoden, die für Linda oftmals unangenehm, für den Leser aber sehr lehrreich sind.

Die drei Autorinnen des neuesten Titels der „Fettnäpfchenführer“-Reihe haben die kulturellen Eigenheiten Brasiliens bereits während langer Aufenthalte verinnerlicht und sind von Land und Leuten dort begeistert. Eine von den Dreien hat sich mittlerweile sogar dauerhaft auf das Abenteuer Südamerika eingelassen. Der geballte Erfahrungsschatz des Trios spiegelt sich in den Erlebnissen Lindas wieder und in der Kunst des neuen Episodenwerks, dem Leser das ferne Land auf amüsante Weise nah zu bringen.

Der „Fettnäpfchenführer Brasilien“ ergänzt die beliebte Buchreihe über das Minenfeld kultureller Eigenheiten, ist im Conbook Verlag für Literatur und Länder erschienen und ab sofort im Buchhandel erhältlich.

Text + Fotos: Conbook Verlag
Text Rezension: Dirk Klaiber

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: erlesen]






[kol_4] Lauschrausch: Heiße Klänge aus dem kalten Norden
Wandler zwischen den Musikwelten: Tómas R. Einarsson
 
Zwei Ausnahmen macht dieser Lauschrausch: Die besprochenen Alben sind schon älter und sie stammen aus… Island! Wie passt das zu caiman? Es liegt einerseits an der Frankfurter Buchmesse, deren Gastland im Oktober 2011 Island ist, andererseits an Tómas R. Einarsson, der ein Wandler zwischen den Musikwelten ist und drei Alben mit kubanischer bzw. lateinamerikanisch beeinflusster Musik aufgenommen hat.

Six-Pack Latino
Björt mey og mambó
MM 017, 1999

Der isländische Bassist entdeckte nach einer Konzertreise Mitte der 90er Jahre nach Argentinien und Chile seine Liebe zu lateinamerikanischen Rhythmen. So findet sich schon 1998, auf seinem Album "Á gódum degi", ein erster selbstkomponierter Mambo sowie eine Hommage an Tom Jobim. Ein Jahr später, auf der CD des Projekts "Six Pack Latino", spielt und betextet er auf Isländisch Stücke von María Teresa Vera oder Guillermo Barreto. Im Jahr 2002 schließlich entsteht sein erstes komplettes Latin-Jazz-Album, "Kúbanska", das bei auf lateinamerikanische Musik spezialisierten Kritikern auf großes Lob stieß (bester Track: "Títómas"). So schrieb Michal Bailey in "All About Jazz": "It´s a funny thing, all of this Latin Jazz coming from such remote places. But when it´s played that well, who cares?” Die Musik seines rein isländischen Septetts klingt darauf wie eine Mischung aus kubanischen Rhythmen und unterkühltem nordischen Jazz. Pianist Eythór Gunnarsson, der mit Mezzoforte weltberühmt geworden ist, spielt hier nicht nur Klavier, sondern auch Percussion, die er bei einem Kubabesuch lieben lernte.

Tómas R. Einarsson
Kúbanska
Omi 009, 2002
Tómas R. Einarsson
Havana
Blánótt 002, 2004

Einarsson, der u.a. Spanisch studiert und Autoren wie Isabel Allende, Gabriel García Márquez oder Julio Cortázar ins Isländische übersetzt hat, reiste im Jahr 2000 ebenfalls nach Kuba. Drei Jahre später nahm er dort das Album "Havana" auf, mit dem er den wichtigsten Musikpreis Islands gewann. Auch hier finden sich nur Eigenkompositionen, die aber diesmal nur mit kubanischen Musikern eingespielt wurden, u.a. dem Tres-Spieler César Hechevarría oder dem Trompeter Daniel Ramos. Auch von diesem Album waren die ausländischen Kritiker begeistert. Auf seinem dritten Latin-Jazz-Album "Romm Tomm Tomm" mischte er im Jahr 2006 schließlich 14 isländische und kubanische Musiker. Aufgenommen in Reykjavik und in den berühmten EGREM-Studios in Havanna, zeichnet sich auch dieses Album durch groovende Sounds und musikalische Perfektion aus. Die Eigenkompositionen klingen funky und modern, nicht zuletzt, weil auch ein DJ hier und da scratchen darf.

Tómas R. Einarsson
Romm Tomm Tomm
Blánótt 004, 2006
Diverse
Putumayo Presents Latin Jazz
Putumayo, 2007

Während der Aufnahmesessions in Havanna trat die Gruppe in der Casa de la Amistad auf und erntete großen Beifall. Das Label Putumayo präsentiert auf seiner Compilation "Latin Jazz" mit "Rumdrum" einen Titel von Tómas R. Einarsson als einzigem Europäer.

Text: Torsten Eßer

[druckversion ed 10/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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