spanien: Aníbal González - der Gaudí von Sevilla
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
peru: Ccochapamapas Kaffeebauern
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
mexiko: Götterkult und Heiligenverehrung
Katholizismus in Lateinamerika ist einfach anders
RÜDIGER KAPPES / MARTIN HERRNDORF
[art. 3]
brasilien: Kahal Zur Israel - Amerikas erste Synagoge
THOMAS MILZ
[art. 4]
amor: Coco für Mayo in Morrocoy
DIRK KLAIBER
[kol. 1]
macht laune: Bilderreise durch die Dominikanischr Republik 2005
ANA CONDA
[kol. 2]
grenzfall: Tapas, Tinto, Tradition - Teil 1
Zwei Wochen mit dem PKW durch Andalusien
DAVID WOLF
[kol. 3]
lauschrausch: Jazziges aus Chile
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Aníbal González - der Gaudí von Sevilla

Die beiden Pistolenschüsse wurden aus kurzer Distanz abgefeuert. Es geschah am kalten Morgen des 9. Januars 1920. Das anvisierte Opfer überlebte das Attentat, es wurde - wie durch ein Wunder - nicht einmal getroffen. Vielleicht haben die Hände des Attentäters gezittert, denn seine Zielscheibe war ein Mensch, der eigentlich keine Feinde hatte und einer der beliebtesten Bürger der Stadt Sevilla: der Architekt Aníbal González y Álvarez Osorio. Das genaue Motiv des Anschlags konnte bis heute nicht geklärt werden. Vermutlich gab es keinen Grund für einen persönlichen Hass auf den Architekten. Aber es waren wirre Zeiten in Spanien, besonders in Sevilla, wo die sozialen Gegensätze und der aus ihnen resultierende Zündstoff so groß waren wie in kaum einer anderen spanischen Stadt. Schon damals lebten hier die reichsten und ärmsten Spanier dicht zusammen. In der ehemaligen Wirtschaftszentrale eines Weltreichs, von dem nach dem verlorenen Krieg gegen die USA 1898 nichts mehr übrig war, trafen zwei Welten aufeinander: glanzvolle andalusische Hochadelsdynastien, die seit dem Mittelalter über endlose Latifundien verfügten und abgeschottet hinter hohen Mauern in ihren Stadtpalästen residierten, und die schmutzig-staubigen Quartiere von Tagelöhnern, Gelegenheitsarbeitern und Zigeunern, die sich irgendwie durchschlagen mussten.

Trotz industrieller Revolution und sozialistischer und liberaler Bewegungen herrschte in der Hauptstadt Andalusiens, die den Start ins 20. Jahrhundert verschlafen hatte, weiterhin eine fast feudale Gesellschaftsordnung.


Doch unterschwellig schwelten die sozialen Konflikte und brachen immer häufiger und heftiger aus. Die Schatten von Lenin und Bakunin verdunkelten nicht nur Katalonien, sondern auch Andalusien. Spätestens seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts flackerte immer wieder Gewalt auf, die sich gegen die Großgrundbesitzer, das Großbürgertum und die Kirche richtete. Seit seiner Jugend war Aníbal González (geb. 1876) Zeuge solcher Gewaltausbrüche. Vor allem seit der russischen Oktoberrevolution von 1917 erhielt Sevilla den Beinamen "La Roja" (die Rote), denn Attentate gegen Adlige, Plünderungen von Klöstern oder gewalttätige Streiks waren an der Tagesordnung. Und der schöngeistige Architekt Gónzalez Osorio, eigentlich völlig unpolitisch, geriet zwischen die Fronten. Streikende Bauarbeiter und Maurer, die an seiner gigantischen Plaza de España bauen sollten, stellten ihn auf die gleiche Stufe mit den verhassten Aristokraten, für die er neue Stadtpaläste entwarf. Sie verwechselten den Architekten mit seinen Auftraggebern. Nur so lässt sich das Attentat vom 9.1.1920 erklären. Die Reaktionen auf diesen Anschlag waren heftig. Die konservativen spanischen Zeitungen verurteilen ihn als "antispanischen Akt" und behaupteten, der Attentäter (ein anarchistischer Hilfsarbeiter) "könne keinen Tropfen sevillanisches Blut in den Adern haben", dass er es wage, den andalusischsten aller Architekten anzugreifen. Aníbal González selbst war erschüttert über den unerwarteten Hass, der ihm von den vier Verschwörern entgegen schlug, die den gescheiterten Anschlag geplant hatten. Insgesamt aber distanzierten sich auch die meisten linksgerichteten Zeitungen entschieden von dem Attentat. Denn der oft "Dichter-Architekt" genannte Aníbal González, nach dessen Plänen im Stadtpark María Luisa die Prachtbauten für die Ibero-amerikanische Ausstellung 1929 in den Himmel wuchsen, war zu beliebt beim Volk, um ihn als "Volksfeind" anzuprangern.

Seit 1911, nachdem er die Ausschreibung für die Pavillons der EXPO 1929 gewonnen hatte, baute dieser Magier an seiner Vision eines neuen Sevilla, das doch allen Zauber des Goldenen Zeitalters der Stadt wieder auferstehen ließ.

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Aníbal González zitierte in seinen Werken, die schon Zeitgenossen als Gedichte aus Stein bezeichneten, die drei typischsten Baustile Spaniens: Mudéjarstil, Renaissance (in der spanischen Sonderform des estilo plateresco) und hispanischen Barock. Dabei betonte er die Sevillaner Besonderheiten, mit denen diese drei Stile während des Siglo de Oro ausgestaltet wurden. Dies zeigt sich nicht nur im Erscheinungsbild seiner Bauten, die in vielen Details an Sevillaner Paläste oder Kirchtürme des 16. und 17. Jahrhunderts erinnern, sondern auch in der Wahl des Baumaterials. Beim zentralen Gebäude der Ausstellung, dem riesigen spanischen Pavillon der Plaza de España, verwendet er rötliche Ziegelsteine - wie Leonardo de Figueroa, Sevillas großer Barockarchitekt - und viele Elemente aus Keramik (Azulejos, glasierte Dachziegel, Giebelschmuck) sowie kunstvoll geschmiedete Eisengitter.

Die Plaza de España (1911 - 1928), das Hauptbeispiel der Architektur von Aníbal González, ist in jeder Hinsicht großartig, nicht nur wegen ihrer kolossalen Dimensionen. Der weite, halbkreisförmige Platz misst 200 Meter im Durchmesser, der spanische Palast, der ihn umarmt, ist einen halben Kilometer lang. Das eigentliche Kunststück bei dieser Konstruktion aus Neorenaissance und Neobarock ist eine selten gelungene Kombination zwischen monumentalen Ausmaßen, praktischer Funktionalität und verspielt-zierlicher Dekoration. Man kann das ganze Gebäude unter schattigen Arkadengängen entlang wandeln, die von schlanken, grazilen Säulen getragen werden, originelle Keramikbrücken schwingen sich über den parallel zum Baukomplex künstlich angelegten Kanal, liebevoll gestaltete Azulejo-Bilder repräsentieren die (damals) 48 spanischen Provinzen.

Selten wurde ein Nationaldenkmal konstruiert, das ganz ohne kriegerisches Pathos auskommt und doch mit Stolz die kulturellen Leistungen einer Nation darstellt. Für jede Provinz Spaniens erscheint im weiten Halbkreis eine Landkarte aus Keramikfliesen und jeweils darüber ein zweites Kachelbild, das eine historische Szene zeigt, die sich in jener Provinz abgespielt hat.


Abgegrenzt sind die Darstellungen der verschiedenen Provinzen durch Sitzbänke, die ebenfalls mit Azulejos verziert sind. Daneben befindet sich ein Regal aus Keramik, in dem früher Bücher spanischer Klassiker ausgelegt waren. Eine schöne Idee des Architekten, die demonstriert, wie sehr bei der Anlage des Ausstellungsgeländes didaktische Prinzipien eine Rolle spielten. Allerdings wusste auch Aníbal González, dass schriftliche Erklärungen für eine andalusische Bevölkerung, die damals noch zu einem großen Teil aus Analphabeten bestand, weniger wichtig sind als bildliche Darstellungen. Deshalb zog er alle Register der Bebilderung. Bis ins kleinste Detail ist alles durchkomponiert, González schien getrieben vom "horror vacui", der in Andalusien nicht erst seit dem Barock, sondern schon in der arabischen Kunst dominierend war. Denn es gibt an diesem gigantischen Gebäudezirkel kaum eine Fläche ohne Bild oder Verzierung: Keramikintarsien, Säulen und Wappen schmücken die Ziegelfassade, die Holzdecken der Arkaden sind vergoldet und - wie schon in arabischen Bauten üblich - in jedem Abschnitt mit einem anderen Muster versehen. Sogar die Dachziegel sind bunt glasiert und zu geometrischen Figuren angeordnet. Alles fügt sich zu einem harmonischen Gesamtbild zusammen: der künstliche Kanal mit den kleinen Brücken, die nostalgisch designten Laternen, die hohe Brunnenfontäne genau im Zentrum des Areals und der einzigartige Palastkomplex, dessen Arkadengänge beidseitig auf die knapp 70 Meter hohen Ecktürme zulaufen.

Aníbal González hat hier einen der schönsten und spektakulärsten Plätze Europas entworfen. Und es ist ein Platz, der lebt, kein musealer Raum.

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Es ist das Verdienst des Architekten mit der Plaza de España inmitten des María-Luisa Parks einen öffentlichen Raum geschaffen zu haben, der wie eine Bühne für die Bevölkerung Sevillas funktioniert, die diesen Platz begeistert angenommen hat. Und dieser prachtvolle Theaterschauplatz wird auch von großstädtischen Selbstdarstellern gern besucht. Hier ist alles vertreten, von Señoritas, die in Flamenco-Kleidern posieren, gut gebauten Sonnenanbetern, die sich auf den Keramikbänken präsentieren, Hochzeitsgesellschaften, die für ein Foto hierher kommen, Touristen, die in Pferdekutschen den Platz umrunden bis zu den lärmende Kinder, die sich in Tretbooten Wasserschlachten auf dem Kanal liefern. Der Schöpfer dieses Szenarios hätte seine Freude an solchen Bildern, besonders wenn es sich in den Frühlingsmonaten in eine Freilichtbühne für Prozessionen der Semana Santa verwandelt oder sich die Tänzerinnen und Tänzer der Feria de Abril auf dem Weg in die Nacht in Stimmung bringen.

Man hat Aníbal González oft den "andalusischen Gaudí" genannt - und in der Tat war er für Sevilla genauso wichtig wie sein großer katalanischer Zeitgenosse für Barcelona. Andererseits werfen einige Kritiker González vor, im Gegensatz zu Gaudí eher konservative, historistische Architektur entworfen zu haben für eine Stadt, die ewig in ihrer goldenen Vergangenheit lebt und sich echten architektonischen Neuerungen verschließt. Es ist zweifellos richtig, dass die Entwürfe des Sevillaner Baumeisters weniger originell waren als die Werke Gaudís.

Aber Aníbal González hat etwas geschafft, was fast unmöglich schien. Seine zahlreichen Neubauten - neben den großen Pavillons für die Expo 1929 hat er Hunderte von Häusern für das Stadtzentrum Sevillas entworfen - fügen sich harmonisch ein in das komplizierte Architekturensemble der größten Altstadt Europas.

Dadurch, dass er barocke, platereske und mudejare Elemente typisch andalusischer Prägung in seinen Bauten zitiert, nimmt er Rücksicht auf Jahrhunderte lang gewachsene Strukturen.


Er hat entscheidend dazu beigetragen, den einzigartigen Zauber Sevillas bis in die heutige Zeit zu retten. In einer Epoche, in der die Moderne Architektur mit allen Traditionen brach und nur noch Glattes und Eckiges gelten ließ, setzt er (darin Gaudí wiederum ähnlich) der beginnenden Diktatur des Würfels seine geballte Romantik entgegen: prachtvolle Azulejo-Bilder, Voluten und verschnörkelter Giebelschmuck verkünden eine Poesie aus Stein. Mit Erfolg! Denn die zeitlose Schönheit seiner Architektur wurde Jahrzehnte lang imitiert und bis heute wird der Stil von Aníbal González gleichgesetzt mit typisch Sevillaner Architektur. Er hat nicht nur ein paar spektakuläre Prestigebauten vollendet, sondern er schuf eine ganze Stadt: er hat Sevilla neu entworfen, seine Werke haben der andalusischen Hauptstadt ein neues Selbstbild gegeben. Neben der Giralda und dem Goldturm ist die Plaza de España zum dritten architektonischen Symbol Sevillas geworden.

Auch die Gebäude der Plaza de América haben die Stadt nach Süden hin geöffnet und auch dieser Platz wurde von den Sevillanern in ein Freiluft-Wohnzimmer verwandelt. Hier stehen sich zwei sehr verschiedene Pavillons in einem spannenden Kontrast gegenüber.


Der Renaissance-Pavillon, errichtet im neoplateresken Stil (1912 - 1920), diente ursprünglich als Ausstellungsgebäude für die Schönen Künste und beherbergt heute das Archäologische Museum. Er besteht aus fünf rechteckigen Ausstellungshallen, die durch einen Galerie-Riegel miteinander verbunden sind. Dieser Palast wirkt trotz der schnörkeligen Gesimse wuchtiger und weniger verspielt als die übrigen Bauten von González.

Ihm gegenüber steht für mich das interessanteste und schönste Werk von Aníbal González: der Pabellón Mudéjar, erbaut zwischen 1912 und 1916. Der Neo-Mudéjarstil dieses Palasts zeigt auch orientalische und fernöstliche Merkmale, wie z.B. die fast an Pagoden erinnernden Obergeschosse der Ecktürme mit ihren geschwungenen Dachgiebeln. Die ovalen Anbauten rechts und links sind mit Arkaden versehen, deren extrem schlanke Säulen fast zerbrechlich wirken.

Insgesamt sieht dieses Gebäude mit seinen maurischen Zinnen, bunten Hufeisenbögen und zierlichen Türmen aus wie ein andalusisches Zauberschloss, eine Art subtropisches Neuschwanstein.

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Nach der Eröffnung der Expo 1929 schrieb ein begeisterter Journalist über den Architekten: "Er scheint nicht mit Steinen, sondern mit Rosen zu bauen." Der kleine, unscheinbare Mann, der soviel Schönes für seine Heimatstadt geschaffen hatte und doch so bescheiden war, dass er verbot, ihm ein Denkmal zu setzen, starb nur wenige Tage, nachdem er sein Werk vollendet gesehen hatte, in der Nacht des 31. Mai 1929. Nur drei Wochen zuvor war die Ibero-amerikanische Ausstellung eröffnet worden.

Der Glanz dieser Expo und das stolze Gefühl der Sevillaner, nach zwei Jahrhunderten des Vergessens endlich wieder im Rampenlicht der Weltbühne zu stehen, überstrahlten jedoch nur kurz die Rückständigkeit, die fundamentalen Probleme und schwelenden sozialen Konflikte in Sevilla. Nur ein paar Jahre später brachen die Konflikte, die zum Attentat auf Aníbal González geführt hatten, heftiger aus als je zuvor.

Zwischen 1932 und 1936 kam es immer wieder zu Streiks und Straßenschlachten, Hunderte von Attentaten wurden verübt, von denen mehr als die Hälfte leider erfolgreicher waren als der Anschlag auf den Architekten, und Dutzende von Kirchen und Klöstern Sevillas wurden von Anarchisten geplündert und in Brand gesteckt.


Danach folgte die Lähmung und Friedhofsruhe der Franco-Diktatur. Es sollte bis zur nächsten "Expo", der Weltausstellung 1992, dauern, bis Sevilla endlich - und diesmal offenbar nachhaltig - den Sprung zurück in die Reihe der großen Kulturmetropolen der Welt schaffte, gepaart mit einem dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung und einer vorsichtigen Modernisierung, in der ausreichend Platz ist für den Glanz vergangener Epochen - so wie in der Architektur des Aníbal González.

Text + Fotos: Berthold Volberg





[art_2] Peru: Ccochapamapas Kaffeebauern

Es ist Erntezeit, und das heißt Einsatz für die ganze Familie. Es ist heiß und schwül, die Wolken hängen dicht über den Bergen. Juancito biegt den Zweig herab, an dem die reifen, roten Kaffeefrüchte hängen, und er und vier seiner Kinde fangen an zu pflücken. Mosquitos umsurren sie und reizen sie bis aufs Blut. Maria reckt sich, reißt die Beeren ab und wirft sie in den Sack, den sie auf den Rücken gebunden hat. Wie auch ihre Geschwister ist die Neunjährige erst mittags dazu gestoßen, am Vormittag waren sie in der Schule. Gemeinsam mit ihrer Schwester Mariela schleppt sie den vollen Sack zu der Kaffeemühle, in der die Bohnen von dem Fruchtfleisch getrennt werden.

Dort stehen ihre älteren Geschwister Judith und Oscar, die sich bei der kräftezehrenden Arbeit, das Schwungrad zu drehen, abwechseln.

Auf einer Höhe von 1800 Meter wächst der beste Kaffee, so wie in dem Dörfchen Ccochapampa. 120 Familien leben hier vom Kaffee, fast alle haben sich vor sieben Jahren in einer Kooperative zusammen geschlossen, die den Kaffee an den fairen Handel verkauft. In Zahlen ausgedrückt heißt das: Pro Sack verdienen die Kaffeebauern zwischen 10 und 15 US-Dollar mehr als früher. Was dieser Gewinn wirklich für das Dorf und seine Bewohner bedeutet, erzählt der Präsident der Kooperative, Lino Carpio Loisa: "Das meiste Geld fließt in die Ausbildung unserer Kinder. Wir haben jetzt eine eigene Schule, so dass die Kinder nicht mehr jeden Morgen zweieinhalb Stunden ins Tal nach Santa Maria laufen müssen. Und wir haben jetzt ein Telefon im Dorf, so dass wir im Notfall einen Arzt rufen können". Der Präsident ist zufrieden damit, wie sich das Dorf in den letzten Jahren entwickelt hat. Für die Zukunft hat er noch einiges vor. Ccochapampa soll ein Abwassersystem bekommen und eine Gesundheitsstation mit einem eigenen Arzt und einer Krankenschwester. Stolz führt Don Lino die Besucher weiter hoch in die Berge. Steil ragen die vom Urwald verhüllten Berge empor.

Tief unten fließt der mächtige Urubamba. Grüne Papageien fliegen krächzend auf. "Hier ist ein alter Inkatrail, der nach Machupicchu führt", erklärt er. Die Luft ist feucht und heiß, jeder Schritt auf dem unwegsamen Gelände fällt schwer.

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Don Fidel allerdings scheint das nicht zu bemerken. Im Eilschritt läuft der 62-jährige den steilen Pfad hinauf, beladen mit einem 25 Kilo schweren Kaffeesack. Jeden Morgen geht er eine Stunde lang hinab zu seiner Chacra und arbeitet in der Pflanzung, abends geht es zurück. Don Fidel ist fit und hart im Nehmen. Ganz alleine würde er die Arbeit allerdings nicht schaffen. Die Mitglieder der Kooperative helfen sich gegenseitig. Es ist das alte Prinzip der Ayllu, des gegenseitigen Helfens, das schon während der Herrschaft der Inka praktiziert wurde. Jeden Tag trifft sich die Gemeinschaft in einer anderen Pflanzung um dort gemeinsam zu ernten. Der, dem das Feld gehört, sorgt für die Verpflegung. Die Frauen der Familie stehen dann morgens um vier auf um für alle zu kochen.

Es wird Abend und Juancito und seine Kinder machen sich auf den Weg zurück zu ihrem Haus. Oscar trägt das Feuerholz auf dem Rücken den Berg hinauf. Obwohl es in Ccochpampa inzwischen Strom gibt, kochen alle noch mit Holz. Strom oder Gas wären zu teuer.

Juancitos Frau ist zu Besuch bei ihren Eltern, deshalb übernimmt die 16-jährige Judith alle Pflichten der Mutter. Sie füttert die Hühner und entfacht das Feuer in der Küchenhütte. Oscar bringt einen Eimer Wasser von dem einzigen Wasseranschluss des kleinen Hofes, während die jüngeren Schwestern Yucca und Kartoffeln schälen. Judith würde zu Ehren der Besucher gerne eines der Meerschweinchen schlachten, die im hinteren Teil der Küche umherwuseln. Dass die bei uns Haustiere und keine Nahrungsmittel sind, kann sie nur schwer nachvollziehen. "Die schmecken doch so gut", meint sie und brät dann doch ein Huhn.

Nach dem Essen sitzen alle noch ein wenig vor der Hütte zusammen, während über den Bergen der Vollmond aufgeht. Den ersten Schluck seines Bieres schüttet Juancito auf den Boden - für die Erdmutter, die Pachamama, auf das die Ernte gut werde. Wenn alles gut geht, dann kann Oscar im Herbst, wenn er mit der Schule fertig wird, Mechaniker und Judith Krankenschwester werden.

Die beiden ältesten Söhne der Familie studieren in Lima. "Dass mal eines meiner Kinder Anwalt werden würde, daran hätte ich niemals zu denken gewagt". Juancito lächelt und dabei werden die großen Zahnlücken des 48-jährigen sichtbar.

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Der nächste Tag ist ein Sonntag. Ein Ruhetag. Die Familie steht spät auf - um sechs. Dann wird die Wäsche per Hand gewaschen und geflickt, ein Brennholzvorrat für die Woche angelegt und nachmittags den Kindern beim Fußball spielen zugesehen. Ob sich Juancito und seine Familie denn in drei Monaten nach der Ernte für ein paar Tage erholen können? Der Familienvater winkt ab. Nach der Ernte müssen zwei der Hütten aus Adobeziegeln erneuert und außerdem die Kaffeepflanzen gestutzt werden.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
276 Farbseiten
36 Karten, 120 Fotos und Abbildungen
ISBN 3-89662-339-7
Verlag: Reise Know-How






[art_3] Mexiko: Götterkult und Heiligenverehrung
Katholizismus in Lateinamerika ist einfach anders

Mit der Konquista kam auch das Christentum nach Lateinamerika. Dort traf es auf indigene Götterkulte, die sich trotz allem "Missionierungseifer" der katholischen Glaubensverfechter nie ganz auslöschen ließen. Durch die unauflösliche Vermischung christlicher und indigener Kosmovisionen enstand so ein Katholizsimus, der Europäer schnell ins Staunen versetzen kann...

Die Sonne scheint ein bißchen härter und die Abgase bohren sich tiefer ins Hirn. Der allgegenwärtige Straßenlärm lärmt ein wenig penetranter, und die gesetzlose Atmosphäre ist mit Händen zu greifen. Tagsüber wühlen Mexikaner in Haufen von Hehlerware und Raubkopien. Auch die Polizei wagt sich höchstens am Tag herein. Denn Tepito ist Mexikos Räuberhöhle. Schmuggel, Prostitution, Drogenhandel und Bandenkriege bestimmen das Leben dieses Viertels von Mexiko Stadt. Wer hier lebt, ist auf einen besonderen Schutz angewiesen.

Diesen Schutz gewährt die Santa Muerte, die Schutzheilige der Unterwelt. Aus den Umhangfalten ihrer langen Mönchskutte starrt ein hohles Knochengesicht, greifen Skeletthände nach der Sichel in ihrer Rechten und einer Weltkugel in ihrer Linken. Man findet sie eintätowiert in Männerarmen, als Standfigur aus Wachs oder Holz oder als Anhänger an einer Kette um den Hals. Oder in ihrem Schrein, mitten in Tepito, wo sich ihre Anhänger versammeln und um Beistand bitten.

Menschen, die man schwerlich in einer Kirche treffen würde, schwören auf die Santa Muerte, sind alle schon einmal von ihr aus einer mißlichen Lage befreit worden. Dafür werden ihr Dankgebete erbracht, Kerzen geweiht und überbordende Hausaltäre bereitet – mittlerweile auch über Tepitos Grenzen hinaus. Ist die Santa Muerte ein christliches Phänomen? Gar eine katholische Heilige? Letzteres mit Sicherheit nicht, denn die katholische Kirche lehnt den Kult ab, bekämpft ihn offen. Doch sie ist ein weiteres Produkt der phantasievollen Umgestaltung des Katholizismus in Lateinamerika. Und so läßt sich eine einfache Frage nicht so einfach beantworten: Was ist eigentlich Katholizismus in Lateinamerika? Und wie und warum unterscheidet er sich vom relativ einheitlichen Katholizismus in Europa?

Katholizismen in Mexiko: Regionale Vielfalt bestimmt das Bild
In Mexiko wäre es daher angebrachter, von Katholizismen zu sprechen – nur der Plural wird der Vielfalt gerecht. Da gibt es einerseits die sehr traditionelle, konservative, spanisch geprägte Amtskirche. In Chiapas und anderen indigen geprägten Regionen hingegen haben sich Vermischungen aus vorkolumbianischen Kulten und dem Katholizismus bis heute gehalten. Es gibt die Virgen de Guadalupe, die als Symbol für die nationale Identität 70 Jahre Herrschaft der religionsfeindlichen PRI (Partido Revolucionario Institutional) überlebt hat. Und nicht nur bei der Santa Muerte, auch beim Dia de Muertos am 1. November spielt der Tod eine besondere Rolle. Mexikaner aller Schichten bauen Altäre für ihre Ahnen auf und feiern Parties auf dem Friedhof. In Puebla gibt es einen wiederauferstandenen Priester. In der verbreiteten Volksfrömmigkeit vermengen sich mystische und magische Traditionen mit katholischen Vorstellungen auf eine Art, die für Europäer kaum vorstellbar und dem aufgeklärten Glauben europäischer Prägung fremd ist. Wer zu den Ursachen dieses heterogenen Gemischs vorstoßen will, muss in die Geschichte zurückgehen. In unterschiedlichen sozialen Situationen, angefangen bei der Eroberung Mexikos durch die spanischen Konquistadoren, haben sich Interpretationen und Denkweisen entwickelt und über die Jahrhunderte erhalten. Sie bestimmen bis heute die religiösen Vorstellungen, finden sich als Sedimente in den populären Phänomenen. In diesen sind sie vielfach vermischt und überformt. Erst im Zusammenspiel ergeben sie das komplexe Spiegelbild vergangener und heutiger sozialer Spannungen, an denen sich die Geschichte Mexikos ablesen lässt.

Ältestes Sediment: Kolonialisierung
Die Eroberung und Evangelisierung des heutigen Lateinamerikas seit 1492 stellt den ursprünglichen Zusammenstoß zweier völlig unterschiedlicher Denkwelten dar, der christlichen und der indigenen Kosmovision. Nach der militärischen Eroberung des Festlandes setzte die Missionierung – die spirituelle Conquista – durch die europäischen Bettelorden ein, vor allem durch die Franziskaner. Art und Umfang der Missionierung unterschieden sich dabei in den einzelnen Regionen. Einigkeit herrschte aber darin, nach dem Tabula rasa-Prinzip Vielgötterei, Menschenopfer und alle heidnischen Praktiken mit Stumpf und Stiel auszurotten, um dann das Christentum und damit auch die europäische Zivilisation unter der autochthonen Bevölkerung verbreiten zu können. Die alten Tempel wurden niedergerissen, Götterstatuen zerstört und fast sämtliche indigene Aufzeichnungen, die vorspanischen Codices, als "vom Dämon inspirierte" Werke verbrannt.

Auf den Ruinen so manchen Tempels entstanden die Kirchen und Konvente der Missionare, in denen die Indios in den ersten Jahren zuhauf getauft und in den Grundzügen des christlichen Glaubens unterwiesen wurden.

Auch die Kathedrale von Mexiko-Stadt erhebt sich im ehemaligen Tempelbezirk der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán. Wie erfolgreich war diese Form der Missionierung wirklich?

Historiker und Anthropologen verweisen mehr und mehr auf das Fortbestehen bestimmter Kulte und die Kontinuität vorspanischer Glaubensvorstellungen innerhalb indianischer Gemeinden. Noch spannender ist aber die Vermischung vorkolumbianischer Glaubensvorstellungen und Symbole mit denen des Christentums in einem bis heute die indigene Religiosität prägenden Synkretismus. Die Aufnahme und Re-Interpretation des christlichen Glaubens in die alte Kosmovision war eine "Überlebensstrategie" der Indios, die es ihnen ermöglichte, ihre Kultur, Traditionen und Denkweisen zu bewahren und den cultural clash abzudämpfen. Dabei bot sich vor allem der von den Spaniern importierte Heiligenkult als ein adäquater Ersatz für den von allerlei wirkungsvollen Patronen bevölkerten Götterhimmel. Von Anfang an akzeptierten die Indios die christlichen Heiligen als die Götter der Konquistadoren, die sich als mächtiger als die ihren erwiesen hatten und fortan die Lenkung der kosmischen Kräfte übernahmen. Ausgerechnet Santiago, der schon als Matamoros (Maurentöter) auf seinem weißen Ross die Reconquista der iberischen Halbinsel angeführt und den Spaniern in Amerika gegen die Indios zur Seite gestanden hatte, wurde zum Schutzpatron vieler indigener Gemeinden, die ihm – und auch seinem Pferd! – übernatürliche Kräfte und Einfluss auf das Wetter zuschreiben. Andererseits wurde der Vermischungsprozess von einem Teil des Klerus gefördert, der Anknüpfungspunkte in der alten Kosmovision für die christliche Botschaft suchte. Auch deren Übersetzung in die indigenen Sprachen dürfte zu Missverständnissen geführt haben, wobei mitunter direkte Bezüge hergestellt wurden: "Hölle" etwa übersetzte man mit mictlán, dass die Totenwelt der mesoamerikanischen Kosmovision bezeichnete. Der Synkretismus, der mit dem Zusammenstoß der Kulturen entstand, ist keineswegs ein fertiges Produkt, sondern sollte als ein fortdauernder Prozess des Aushandelns zwischen den verschiedenen Akteuren aufgefasst werden, der neben Unterdrückung, Konflikten und Spannungen auch eine Verständigung ermöglichte – bis heute.

Guadalupe – Sprung in die Moderne
Es ist heiß an diesem zwölften Dezember im Norden von Mexiko Stadt und die mexikanische Höhenluft scheint noch etwas dünner als sonst. Hunderttausende Gläubige und Pilger aus ganz Mexiko drängen sich dicht an dicht vor der Basílica de Guadalupe, einem der größten Wallfahrtsorte der Welt. Etwa zehn Millionen Besucher kommen jedes Jahr hierher, um einen Blick auf das Bildnis von Nuestra Señora de Guadalupe zu werfen. Der Legende nach erschien an diesem Ort die Jungfrau Maria vor beinahe 500 Jahren dem konvertierten Indio Juan Diego und bat ihn, ihr eine Kapelle zu errichten. Auch heute, an ihrem Festtag, wollen die Mexikaner ihr Bitten vortragen, für erfahrene Hilfe in allen Lebenslagen danken oder einfach nur an diesem denkwürdigen Ereignis teilhaben. Der große Platz vor der modernen Basilika ist trotz des Gedränges von Feierlichkeit erfüllt. Einige Pilger legen die letzten hundert Meter auf Knien rutschend zurück, indigene concheros führen zu Ehren der Jungfrau prähispanische Tänze auf, die sich in der christlichen Festkultur bewahren konnten. In der Basilika, die von außen einem überdimensionalen Zelt ähnelt, herrscht ungeachtet des großen Ansturms eine andächtige Stille, die mit gemurmelten Ave Marias und Fürbitten unterlegt ist. Ein leise surrendes, vierspuriges Rollband führt vor das Bildnis der virgen morena, das Ziel des Pilgerstromes. So soll es jedem Pilger möglich sein, einen Blick aus kürzester Distanz auf das Heiligtum zu erhaschen und seine persönliche Botschaft an die Jungfrau zu richten. Auf dem Weg dorthin drängen sich die Pilger an Kirchenbänken vorbei, ein altes indigenes Mütterchen und eine junge, auffallend hellhäutige Frau der mexikanischen Oberschicht sitzen ins Gebet vertieft nebeneinander – ein Bild, das sich sonst in Mexiko an keinem anderen Tag bietet.

Die Jungfrau von Guadalupe verkörpert wie kaum eine andere Figur die nationale Integrität und Identität Mexikos, unter ihrem blauen Mantel vereinen sich alle soziale Schichten und ethnischen Gruppierungen des Landes.

Ihr Festtag ist neben dem Unabhängigkeitstag der höchste Feiertag der Mexikaner. Kein Ort im ganzen Land, an dem man ihr Bildnis nicht findet: an Bushaltestellen, Taco-Ständen und natürlich in jeder Kirche des Landes, häufig mit der Nationalflagge drapiert und gekrönt: Sie ist die "Königin von Mexiko".

Und wenn auch der Katholizismus in diesem Land an Boden verliert, so bekennt sich doch fast ein jeder Mexikaner als Guadalupano.

Politische Emanzipation und nationale Identität
In der Jungfrau von Guadalupe vereinen sich synkretistische Elemente, gesellschaftliche Spannungen und eine amerikanische Interpretation des Marienkultes zu einem religiösen Symbol, das die Besonderheit des mexikanischen Katholizismus deutlich macht. Die Verehrung der Guadalupe war zunächst von der prähispanischen Vergangenheit des Heiligtums geprägt, an dessen Stelle vor der Ankunft der Spanier die Göttin Tonantzín verehrt wurde, die als die "Mutter der Götter" galt. Es verwundert also kaum, dass sich der von den Spaniern eingeführte Marienkult an diesem Ort großer Beliebtheit unter der indigenen Bevölkerung erfreute. Anstatt einen Bruch mit der heidnischen Götterwelt zu provozieren, haben die Missionare auch hier – unfreiwillig oder nicht – Kontinuitäten gefördert. Zum Durchbruch gelangte der lokale Kult allerdings erst viele Jahre später, als die in Amerika geborenen Spanier, die Kreolen, die Guadalupe für sich entdeckten. In der 1648 zum ersten Mal verbreiteten Legende von der Erscheinung Marias, die sich demnach im Jahre 1531 dem Indio Juan Diego in dessen Sprache – dem Nahuatl – offenbarte, spiegelt sich nicht nur das indigene Element des Kultes wider, sondern kommt auch der Patriotismus der kreolischen Elite zum Ausdruck: Die Erscheinung der Mutter Gottes auf mexikanischem Boden beweise die göttliche Erwähltheit und somit die geistige Ebenbürtigkeit der "Neuen" mit der "Alten Welt"!

Für die von den Spaniern des Mutterlandes belächelten und politisch benachteiligten Kreolen war es dieser religiöse Mythos, der das mexikanische Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachte und die Jungfrau von Guadalupe im 18. Jahrhundert zum politischen Symbol und zur Patronin der Kolonie werden ließ. Aus der Patronin des Vizekönigreiches sollte schließlich ein Wahrzeichen des unabhängigen Mexikos werden, als Padre Miguel Hidalgo im Jahr 1810 unter dem Banner der Jungfrau von Guadalupe den Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier einläutete.

In den folgenden zwei Jahrhunderten widerstand die "nationale Gottheit", wie sie von einem liberalen Politiker verächtlich genannt wurde, allen laizistischen Bestrebungen der liberalen und später der revolutionären Regierungen. Die Jungfrau mit dem mestizischen Antlitz verkörperte im kollektiven Bewusstsein der Mexikaner eben immer mehr als nur einen religiösen Kult, nämlich die besondere Erwähltheit ihrer Nation und die Integration aller Bevölkerungssegmente unter die mexicanidad. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz schrieb einmal: "Nach über zwei Jahrhunderten von Experimenten und Niederlagen glauben die Mexikaner nur noch an die Jungfrau von Guadalupe und die staatliche Lotterie."

Katholizismus und aktuelle Spannungen
Experimente und soziale Spannungen, Siege und Niederlage gibt es in Lateinamerika bis heute zuhauf. Und immer noch dienen sie als Kristallisationspunkte für neue Überformungen des Katholizismus und produzieren neue "Heilige", ob von der katholischen Amtskirche anerkannt oder nicht. Diese existieren Seite an Seite mit den althergebrachten Kulten, oft ohne größere Konflikte. Eine Sonderform hiervon findet sich in der Theologie der Befreiung, weniger in Mexiko als in anderen Ländern Lateinamerikas. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und einer neuen Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen bildet sich eine Form des Christentums heraus, deren Exponenten soziale Ungerechtigkeit anprangern und sich aktiv für Veränderungen einsetzen – bis zur Duldung oder Unterstützung des bewaffneten Widerstandes. Sie hat eine neue Ikonographie hervorgebracht. Der während einer Messe erschossene Erzbischof von San Salvador, Óscar Arnulfo Romero, ist hier das prägnanteste Beispiel. Auch das Konfliktmuster Zentrum und Peripherie wird wieder aufgenommen – mit den USA als neuem Gegenpol. Der "linke" Katholizismus lässt sich hier als Reaktion auf die reaktionäre, antikommunistische Politik der USA sowie ihre Unterstützung durch das katholische Kirchenestablishment sehen.

Unterschichtsheilige – Volksgläubigkeit
Mögen die mexikanischen Katholizismen für Europäer wie ein Kabinett der Absurditäten erscheinen – für Mexikaner sind sie gelebte Realität. Marienbildchen oder Bilder von Jesus Martyrium hängen in jedem Autobus. An keiner größeren Busstation fehlt ein Heiligenaltar. Religiöse Zeremonien regeln das Leben in den Dörfern und sind fest mit lokalen Machtstrukturen verwoben. Die Guadalupe ist allgegenwärtig. Die Heiligsprechung ihres indigenen "Entdeckers" in 2002 war ein nationales Ereignis, das Papst Johannes Paul II. zum Liebling der Mexikaner gemacht hat.

Und jedes Jahr am Dia de Muertos bevölkern Skelette aus Pappmache die Straßen, neuerdings zunehmend mit Halloween-Kostümen vermischt. An diesem Tag wandern die Seelen der verstorbenen Ahnen und besuchen ihre Nachfahren, heute wie vor einem halben Jahrtausend bei den Azteken und in anderen indigenen Kulturen.

Junge und alte Mexikaner bauen ofrendas, Altäre, für ihre Ahnen. Sie stehen im November nicht nur zu Hause, sondern auch in Restaurants, Kneipen, in den luxuriösen Einkaufszentren der mexikanischen Oberschicht und selbst in der mexikanischen Botschaft in Berlin. Zur gleichen Zeit wandern die Gläubigen von Tepito immer noch zu ihrer Santa Muerte, erbitten Schutz und Segen für ihre dunklen Geschäfte im Schutz der Nacht: Die in Tepito immer noch ein bißchen dunkler und kälter ist, voll von Widrigkeiten und Gefahren. In der die Amtskirche nichts zu sagen hat. Und wo doch der Schutz einer wohl gesonnen Heiligen besonders wichtig ist.

Text: Rüdiger Kappes und Martin Herrndorf
Fotos: amazon.de

Dieser Artikel ist erschienen in der Matices 46/2005. Diese erhaltet ihr bei:
Projektgruppe Matices e.V., Melchiorstraße 3, 50670 Köln, Tel.: 0221-9727595






[art_4] Brasilien: Kahal Zur Israel - Amerikas erste Synagoge

Recife, Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco im Nordosten Brasiliens. Rua do Bom Jesus, Hausnummer 197 und 203. Ein von außen vollkommen unscheinbares Haus beherbergt die Überreste der ersten Synagoge auf amerikanischem Boden. Es legt Zeugnis ab über eine kurze, von wirtschaftlicher, kultureller Blüte und religiöser Freiheit gekennzeichnete Episode der brasilianischen Geschichte.

Die 1621 gegründete holländische Westindische Kompanie startete ab 1624 zahlreiche Versuche, sich im Nordosten Brasiliens festzusetzen.

Aber erst mit der Entsendung des Prinzen Johann Moritz von Nassau-Siegen 1637 gelang die Konsolidierung des eroberten Gebietes, das von der Amazonasmündung bis nach Bahia reichte.


Mit Moritz von Nassau kamen außerdem protestantische Prediger, Künstler und Wissenschaftler in die Kolonie und ihre Hauptstadt Recife, damals Mauritsstat genannt.

Von Nassau baute Olinda und Recife zu zivilisierten Städten aus, vergab günstige Kredite zur Ankurbelung der lokalen, vom Zuckerrohranbau bestimmten Wirtschaft und verordnete Religionsfreiheit, von der lediglich die Jesuiten ausgeschlossen waren. Während seiner Herrschaft migrierten etwa 600 jüdische Familien aus Holland nach Recife. Unter ihnen der Rabby Isaac Aboab da Fonseca, ein Abgesandter der jüdischen Gemeinde in Amsterdam. In dieser Zeit wurde Kahal Zur Israel, die erste Synagoge Amerikas, gegründet.

Neben der Synagoge wurden noch zwei Religionsschulen errichtet, die Talmud Torah und Etz Haym. Ein jüdischer Friedhof wurde außerhalb der Stadt angelegt, dort, wo sich heute das Viertel Bairro dos Coelhos befindet.

Doch Moritz Kolonialkonzept verschlang solche Unsummen, dass die auf kurzfristige Gewinne hoffende Westindische Kompanie schließlich ihr Interesse an der fernen Kolonie verlor. Entnervt erklärte Moritz 1644 seinen Rücktritt und kehrte in seine Heimat zurück. Die holländische Herrschaft über den Nordosten Brasiliens zerbrach zusehends, und 1654 kapitulierte Recife vor den portugiesischen Truppen.

Mit der holländischen Kapitulation 1654 und der Wiederherstellung der Herrschaft des katholischen Portugals über die Region, wurde der jüdischen Gemeinde ein Ultimatum von drei Monaten gegeben, um sich aus Brasilien auszuschiffen. Viele Juden zog es nordwärts, wo sie sich auf einem Flecken mit dem Namen Neu-Amsterdam niederließen und Nordamerikas erste jüdische Gemeinde gründeten.

Der Flecken trägt heute den Namen New York. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts wurden die Überreste der Synagoge in Recife nahezu vollständig zerstört, um einer Bank zu weichen. In den letzten Jahren jedoch hat man 750 Tonnen Erde abgetragen und die Fundamente der Synagoge wieder freigelegt.


Heute ist hier das Jüdische Kulturzentrum Pernambucos zu Hause. Die jüdische Gemeinde der Stadt umfasst 1,500 Personen. Etwa so viele wie vor 350 Jahren.

Text + Fotos: Thomas Milz






[kol_1] Amor: Coco für Mayo in Morrocoy

"Coco für Mayo ... Coco für Mayo, Mayo bitte melden, hier ist Coco für Mayo."

Für ein paar Tage bleibe ich bei Miguel. Er hat ein traumhaftes Haus am Hang mit Aussicht auf die Inseln des venezolanischen Nationalparks Morrocoy (Park der Schildkröten). Nur wenige Mauern behindern den Blick des von Künstlerhand erschaffenen zweistöckigen Gebäudes. In der Regenzeit verirren sich daher des Öfteren Schlangen giftiger Gattungen in den Wohnbereich, doch momentan herrscht Trockenheit und so finden sich ausschließlich Taranteln ein.



"Coco für Mayo, Coco für Mayo."

Es knattert als ich das Walkie-Talkie ergreife und den seitlich angebrachten Kippschalter zum Sprechen nach unten drücke, so wie Miguel es mir gezeigt hat: "Hier ist Max bei Miguel. Hallo Miguel."

Kaum ausgesprochen wird mir der Sinn der Decknamen bewusst. Denn neben dem Künstler Miguel, bei dem ich mich momentan befinde, wenn er auch die nächsten Tage in Caracas unterwegs ist, gibt es den Bootsführer Miguel, dessen Boot Coco heißt und anscheinend der Kollege am anderen Ende der Funkwelle ist. Immerhin tragen 100 Prozent aller Venezolaner, die ich bislang kennen gelernt habe, den Vornamen Miguel. Möglicherweise finden sich auf der Funkfrequenz noch weitere 200 Miguels und die Verständigung kann nur über geheimnisvolle Decknamen funktionieren.

"Max bei Mayo, Max bei Mayo. Verstehe dich Coco."
"Hier ist Coco. Oye... Oye, die(s)er... die(s)er... die(s)er Mmmax! Max! Ist alles klar bei dir?"

Coco bzw. Miguelboot spricht so langsam, als drohe er zwischendurch einzuschlafen. Dazu kommt, dass er den Konsonanten s verschluckt. Er sagt also nicht dieser, sondern dieer - éte statt éste, éte... éte Max! Meinen Namen aber knallt er geradezu heraus, als wäre ihm soeben die Erleuchtung aller Erleuchtungen gekommen. Dem noch in die Phase des Überlegens hinein spielenden dehnenden sich wiederholenden M(mm) folgt blitzschnell das ax. Max!

"Aquí tranquilo (meint: Hier. Alles ruhig. Hab eine gute Zeit. Freue mich des Lebens. Hektik weit entfernt). Versuche gerade mit ein paar Flaschen Polarcita und etwas Rum die Vogelspinne vergessen zu machen, die mir gestern während des Stromausfalls im Bett Gesellschaft geleistet hat."
"Aha!"

Und wieder bin ich erstaunt: weniger über den Sinn seiner Antwort als über die Detonation: A-há! Dieses Aha klingt wie Ach so! (eine Augenbraue nach oben gezogen) Ach so ist das! Als ob er eben eine Erkenntnis gewonnen hätte. Vielleicht die Erkenntnis, dass ich mit Bier eine nicht in allen Belangen angenehme Begegnung aus meinem Gedächtnis zu streichen versuche.

"Hör mal. Ich komm hoch zu dir. Ich hole dich ab."
"Okay."

Knattern. Funkstille. Bei der verbalen Geschwindigkeit, die Miguelboot an den Tag legt, werde ich mich getrost in der Hängematte der nächsten Reihe der 2,22 dl fassenden Polarcitas widmen können.

Es wird dauern bis er von seinem Boot, das im Hafen von Morrocoy liegt und nicht in den beiden unter Rucksacktouristen bekannten Orten Tucacas oder Chichiriviche, an Land gehen und dann die acht Kilometer in seinem trägen Auto zu mir zurück gelegt haben wird.


Nach vier Stunden y pico ist er da. Ich nehme auf dem Beifahrersitz platz und er fährt gemächlich an. Als wir den Fuß des Hügels erreicht haben, dort wo die wenig befestigte Straße auf die Hauptstraße trifft, hab ich immer noch das Gefühl, dass er anfährt. Als sich die Geschwindigkeit jedoch bis nach Tucacas nicht ändert, verwerfe ich den Gedanken, dass wir irgendwann an diesem Tag die 15 Stundenkilometer-Schallmauer durchbrechen werden.

Miguelboot ist schlank fast drahtig, groß gewachsen - vielleicht 1,90 Meter, hellhäutig aber braun gebrannt. Das blonde von der Sonne gegerbte Haar ist mehr als schulterlang und zum Zopf gebunden, der Bart misst zwei handbreit und entbehrt, wie auch das Haar, keiner Völle. Obwohl seine grau-blauen Augen eine leichte Tendenz haben zu stechen, überwiegt vom Gesamteindruck her der müde Typ. So kommt es, dass wir die fünf Kilometer bis ins Fischerdorf Tucacas recht schweigsam verbringen und die Aktivierung der Verbindung Sprachrohr und Hirn gedrosselt ausfällt:

"Hör mal." Er schaut aus dem Fenster, dreht den Kopf, guckt wieder nach vorne, ohne die Geschwindigkeit von drei Kilometern pro Stunde zu drosseln. "Hör mal. Éte... éte... Mmmax!" Er dreht sich in meine Richtung und seine Miene verrät Stolz, Würde und gemächliche Entschlossenheit:
"Wir gehen essen."

Während der Suppe erzählt er dann, dass wir auf einen Freund warten. Miguel. Miguel repariert Autos. Er hat weder Telefon noch Walkie-Talkie, aber er kommt immer mal vorbei. Wir warten einfach. Nach dem Fleisch lehnt sich Miguelboot zurück und schläft sofort ein. Ich wechsle wieder zu Polarcita und schaue auf die Straße. Zwei Stunden später, Miguelboot ist wieder wach, sitzt vor einem Kaffee und schaut ebenfalls auf die Straße, hält Automiguel vor der Veranda des Restaurants. Die beiden tauschen sich kurz aus. Ich zahle und wir fahren Automiguel hinterher. Es dauert nicht lange, da hat er uns abgehängt.

Der Weg führt etwa 15 Kilometer ins Landesinnere. Die Luft steht und die Hitze zermürbt. Fahrtwind Fehlanzeige. Eine Mischung aus afrikanischen und europäischen Rindern tummelt sich hinter Stacheldraht.

Die eingezäunten Felder sind riesig, mit dem bloßen Auge kaum zu erfassen. Irgendwann taucht rechterhand Miguels Schrottpark auf. Bäume, Gräser und Schlingpflanzen haben sich der Integration der vereinzelt umherstehenden, ausgeschlachteten Autowracks in die Landschaft angenommen. Miguel selber haust in einem Anhänger, der neben öligen Schrauben und Werkzeug eine Hängematte beherbergt.

"Éte Max. Hör mal. Miguel will uns gleich sein Grundstück zeigen und die neue Konstruktion."

Noch während er mir die erstaunliche Mitteilung macht, an der ich ein noch erstaunlicheres "A-há!" erprobe, begibt er sich auf den Beifahrersitz und schläft umgehend ein. Eine Stunde später aber schon habe ich die Konstruktion vor Augen. Eine glatte, ovale Betonplatte, 4 x 5 Meter groß. Darüber eine auf vier Holzbalken gestützte Holzkonstruktion mit einem Dach aus Palmenblättern. Wände sind bis auf eine Mauer ringsherum in Kniehöhe, die als Sitzgelegenheit dient, nicht vorhanden. Die Mauer ist jeweils an den Längsseiten unterbrochen und markiert zwei Eingänge.

"Eine Konstruktion wie im alten Venezuela. Der Wind kann von allen Seiten herein. Angenehm frisch, was?"

Miguel ist stolz auf sein Eigentum und so sitzen wir bei schleppendem aber nicht unangenehmem Gespräch eine gute Stunde und genießen die Kühle. Dann folgt der Rückweg, auf dem ich Miguelboot frage, was er so treibt im Leben.

"Was machst du?"
"Ich lebe auf dem Boot."
"Fischst du?"
"Was? - Nein."
"Fährst du mit Touristen auf die Inseln?"
"Was? - Nein."
"A-há!"



Zehn Kilometer weiter und eine Stunde später - ich würde nicht sagen, dass Miguel in der Zwischenzeit hoch konzentriert an einer Antwort gebastelt hat, als dass sich vielmehr meine Frage in seinem Hirn hinter einigen anderen intern zu klärenden Gedanken anstellen musste und nun wieder an der Reihe ist, angegangen zu werden:

"Hör mal. Ich war in Caracas und hatte zehn Jahre lang meine eigene Diskothek. Viel Party und immer diese laute, laute Musik. Vor zwei Jahren habe ich es nicht mehr ausgehalten, den Laden verkauft und das Geld in mein Boot investiert. Seither lebe ich in Frieden. Tranquilo."

Wieder in Künstler Miguels Haus freue ich mich, dass es keinen Stromausfall gab und das Bier gekühlt ist. Ich lege mich in die Hängematte und mit dem Blick über die Inseln des Nationalparks schlafe ich ein und wache erst bei Sonnenaufgang wieder auf. Zwei Stunden später hat sich die kleine Tarantel, die seit dem ersten Lichtstrahl unter dem Tisch sitzt, noch immer nicht bewegt. Dann knattert das Walkie-Talkie:

"Coco für Mayo... Coco für Mayo, Mayo bitte melden, hier ist Coco für Mayo."
"Max bei Mayo, Max bei Mayo. Was gibt es, Coco?"
"Hier ist Coco. Oye... die(s)er... die(s)er Mmmax! Max! Ich hol dich ab. Wir gehen aufs Boot."
"A-há! Bis später."

Text + Fotos: Dirk Klaiber






[kol_3] Macht Laune: Bilderreise ...

... durch die Dominikanische Republik im Frühjahr 2005


Fotos: Silvio Rymsa






[kol_3] Grenzfall: Tapas, Tinto, Tradition - Teil 1
Zwei Wochen mit dem PKW durch Andalusien

"Wo bitte geht’s zur Pension Las Palomas?" Stolz versuche ich meine spanischen Anfängerkenntnisse in die Praxis umzusetzen und werde abrupt eines Besseren belehrt. Der alte Mann aus Jerez grinst durch seine Zahnlücke und fragt zurück: "La Paloma?" In der Ahnung, er habe mich nicht verstanden, frage ich noch einmal. Wieder bekomme ich die gleiche Antwort. Zum Glück ist Verena dabei, sonst hätten wir das Fragespiel vermutlich noch zwei Stunden fortgeführt. Sie erklärt mir, dass der Andalusier seit jeher das "s" gerne weg lässt.

Ein Dialekt also, der mich nicht weiter an meinen kargen Spanischkenntnissen zweifeln lässt. In den nächsten zwei Wochen sollte ich mich daran gewöhnen: mucha gracia anstatt muchas gracias oder adió anstatt adiós.


Jerez de la Frontera
Ausgangspunkt unserer Reise durch den spanischen Süden ist Jerez de la Frontera, berühmt für seine Sherryproduktion. Wenn wir richtig gezählt haben, beherbergt die Stadt sechs große Bodegas, so die offizielle Bezeichnung. Auf eine Führung mit Verkostung müssen wir aber leider verzichten, denn es ist Sonntag. Am nächsten Tag wollen wir bereits weiterreisen und belassen es bei einem kleinen Bummel durch die Altstadt. Nachmittags, in einer typisch andalusischen Bar, in der es natürlich auch die berühmten Tapas gibt, lassen wir gemütlich den ersten Tag ausklingen. An den lauten Fernseher im Hintergrund gewöhnen wir uns schnell und stellen voller Stolz fest, dass hier hauptsächlich Einheimische die Siesta-Zeit überbrücken. Nicht nur das Ambiente, sondern auch der Preis stimmen hier. 12 Euro zahlen wir für mehrere Tapas und einige Gläser vino tinto de la casa.

Osuna
Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Osuna in der Provinz Sevilla. Wir haben uns das kleine Landstädtchen aufgrund seiner Nähe zur Provinzhauptstadt ausgesucht, die wir auf jeden Fall besuchen möchten. Unterwegs rasten wir und genießen ein typisch spanisches Frühstück: einen café con leche (Kaffee mit viel Milch im Glas) und eine tostada (geröstete Weißbrotscheibe mit Olivenöl und Tomaten). Das ist morgens um 11 Uhr bei bereits über 30 Grad völlig ausreichend. Überhaupt wird in Andalusien eher schlicht gekocht, ein Resultat der sommerlichen Hitze und auch durchaus nachvollziehbar. Wir durchqueren eine weite, endlose Felderlandschaft. Der sandige Boden reflektiert die gleißende Sonne, die auf diesem Fleckchen Erde viel heller und intensiver zu strahlen scheint. Obwohl ich eine Sonnenbrille trage, brennen mir abends wegen der Überdosis UV-Licht die Augen. Wir kommen in Osuna zur größten Mittagshitze an. Eine Region, die zu den heißesten Spaniens zählt. Den Konversationsschreck des ersten Tages habe ich überwunden und buche uns eine Pension für zwei Nächte. Zum Glück besitzt das Zimmer eine Klimaanlage.

Sevilla
Nach Sevilla mit dem PKW? Nein, danke. Es gibt einige Faktoren, die dagegen sprechen: Zum einen der immense Stadtverkehr.

Die 700.000 Einwohner zählende Metropole platzt tagsüber aus allen Nähten und wenn man sich sowieso erst einmal an die spanische Verkehrsführung gewöhnen muss, soweit diese überhaupt existiert, ist die Stadt am Rio Guadalquivir nicht gerade der ideale Übungsplatz.

Darüber hinaus ist es fast unmöglich, in der Innenstadt einen Parkplatz zu bekommen und Parkhäuser sind nicht gerade billig. Zudem gilt die Provinzhauptstadt als Hochburg für Autoaufbrüche, so dass unser Mietwagen am nächsten Tag Pause hat und wir uns im vollklimatisierten Linienbus auf den Weg machen. Diese Art des Reisens in größere Städte Andalusiens ist übrigens sehr zu empfehlen. Kein Stress am Steuer und teuer ist es allemal nicht. Pro Person kostet die Strecke Osuna-Sevilla hin und zurück gerade einmal 12 Euro. "Wer Sevilla nicht gesehen hat, der hat noch kein Wunder gesehen", so lautet ein selbstbewusster Spruch seiner Einwohner. Wir finden unser privates Wunder im romantischen Bilderbuchviertel Santa Cruz. Kleine, verwunschene Gässchen, ein nicht enden wollendes Labyrinth voller Romantik und Charme. Hier, in der Wiege des Flamenco, finden sich auch zahlreiche Geschäfte, deren Angebot die Herzen der Liebhaber des traditionellen Tanzes höher schlagen lässt: Flamencokleider, Fächer, Ohrringe, Haarschmuck, alles in hervorragender Qualität. Und immer wieder ist man umgeben von der reizenden islamischen Architektur der Gebäude. Fast 700 Jahre Maurenherrschaft haben eben ihre Spuren hinterlassen. Verlaufen kann man sich in der Altstadt Sevillas trotzdem nur schwer. Die Giralda, der hohe Glockenturm der berühmten Kathedrale Santa Maria, gibt im Gassengewirr eine hilfreiche Orientierung.

Wir stillen unseren Hunger in einer kleinen und ausschließlich von Sevillanern besuchten Tapas-Bar, bei der die Bauarbeiter von nebenan ihr Mittagsbier abholen. Wenn unser Reiseführer von sevillanischer Lebensart spricht, wissen wir spätestens jetzt, was damit gemeint ist.


Zurück in Osuna lassen wir unseren Sightseeingtag in einer cervecería in aller Ruhe ausklingen. Doch mit der Ruhe ist das hier so eine Sache. Die Plaza Mayor, der Hauptplatz des Städtchens, erwacht gegen 21 Uhr erst richtig zum Leben und wird zur Bühne eines sich immer wiederholenden Schauspiels: junge Spanier umkreisen den Platz auf ihren knatternden Mopeds und vollbringen artistische Kunststücke. Wir finden heraus, dass dies so etwas wie ein Balzakt ist, um Eindruck bei den chicas, ihren Angebeteten, zu schinden. Bei einem erfrischenden tinto de verano – Rotwein, gemixt mit süsser Zitronenlimonade auf Eis und im Sommer ideal - lässt sich dieses Szenario genüsslich verfolgen.

Text: David Wolf
Fotos: Mona Stenzel





[kol_4] Lauschrausch: Jazziges aus Chile

Schon 1924, mit der Band von Pablo Garrido, beginnt die Geschichte des Jazz in Chile. Und trotzdem blieb chilenischer Jazz eine periphere Erscheinung, innerhalb wie außerhalb der Landesgrenzen. Die Jazz-Szene ist klein, fast nur auf den Großraum Santiago und zwei, drei weitere Städte konzentriert, Musikindustrie und Publikum nehmen kaum Notiz von den heimischen Jazzern. Und die internationale Jazzgemeinde kennt höchstens die Sängerin Claudia Acuña. Mit den folgenden vier CDs hat das US-Label "Petroglyph" einen ersten lobenswerten Schritt getan dies zu ändern, auch wenn – das sei hier vorweggenommen – im Lande originellerer Jazz existiert, die Band "La Marraqueta" zum Beispiel. Sollten die Musiker des Labels wie angekündigt im Jahr 2006 in Europa Konzerte geben, sind sie auf jeden Fall einen Besuch wert.

Bis heute wird die Szene in Chile sehr stark von der Fusion-Welle der 70er Jahre geprägt, vor allem aus politischen Gründen: "Meine Jazzgeschichte und die vieler anderer beginnt in den 70er Jahren. Zu dieser Zeit waren ausländische Platten superbillig und so konnte ich alle Weather Report-Platten kaufen", erklärt Tomás Miranda, Jazzmoderator bei Radio Futuro. Diktator Pinochet förderte die Einfuhr angloamerikanischer (Instrumental-) Musik, um den Einfluss der heimischen Folklore zurückzudrängen. Gute Beispiele sind die Alben des Gitarristen Antonio Restucci und des Bassisten Marcelo Adeo, der vor seiner Solokarriere schon mit den zwei Formationen "Al Sur" und "Trifusión" die Fusion-Szene bereicherte.





Marcelo Adeo
Polosur Celeste
Petroglyph Records 00312

"File under: ethno jazz", steht auf dem Waschzettel zu Marcelo Adeos CD "Polosur Celeste". Das ist völliger Quatsch, es sei denn das zweimalige Auftauchen einer quena (Andenflöte) oder das Herkunftsland "Chile" reichen für US-Amerikaner schon aus, um Musik als "ethno" einzuordnen. Adeo, der auch Keyboard und Gitarre spielt, präsentiert Fusion der "smoothen" Art, mit Anlehnung an Jan Garbarek oder Dave Grusin. Das passt gut zu den realen und imaginären Landschaften, die er beim Komponieren vor Augen hatte. Windgeräusche erinnern an Patagonien, die Titel seiner Kompositionen verweisen auf den Südpol, die Magellanstraße, den Himmel oder das Meer. Sehr ruhige Klänge, ideal zur Untermalung von Filmen über die Osterinseln.





Francesca Ancarola
Sons of the same sun
Petroglyph Records 00112

Francesca Ancarola ist nicht den Klängen der Fusion-Welle erlegen. Die klassisch ausgebildete Sängerin betätigte sich zuvor auf vielen musikalischen Feldern: so gewann sie 1993 auf dem renommierten Festival für elektroakustische Musik in Bourges, Frankreich, einen Preis mit ihrer Komposition "A" und sang in einer Rockband. Sie spielt Gitarre, Cello und Klavier und schreibt ihre Stücke selbst: "Ich komme aus einer musikalischen Familie, zuhause hörte ich Rockmusik, Piazzolla, Bach und vieles andere. Darum kann man mich auch nicht in eine Schublade einordnen", erzählte sie mir 2003 in Santiago de Chile. Ihre wunderbare Stimme braucht einen Vergleich mit den momentan angesagten europäischen Sängerinnen (Viktoria Tolstoy etc.) nicht zu scheuen (Anspieltipp: "Moonlight").

Der Titel ihres Albums "Sons of the same sun" soll auf die Verbundenheit der Menschen (in Nord- und Südamerika?) hindeuten, das künstlerische Konzept des dauernden Sprachwechsels zwischen Spanisch und Englisch bei der Hälfte der Titel geht meiner Meinung nach nicht auf: als Effekt kann das gut funktionieren, aber dauerhaft wirkt dieser Kunstgriff lästig, vor allem in Zeilen wie "My brother canta". Da sie außerdem keinem "spanglishen" Sprachgebiet entstammt (z.B. Kalifornien) fehlt mir auch der tiefere Sinn hinter dieser Idee. Die einsprachige spanische Version von "Scarebadthings" hatte durchaus Ohrwurmcharakter, hier verliert sie nur durch die Zweisprachigkeit, ebenso wie die wunderschöne Ballade "Hotel room".





Emilio García
Ultrablues
Petroglyph Records 00412

Einige ihrer Begleitmusiker treffen wir auf den folgenden zwei Alben wieder: Das Album von Emilio García ist der Ausreißer unter den "Petroglyph"-CDs. Hier gibt es wenige ruhige Töne und kaum Fusion-Einfluss, sondern treibenden Bluesrock mit E- und akustischer Gitarre. In Chile wurde "Ultrablues" 2003 mit dem "Altazor Award" ausgezeichnet, eine seltene Anerkennung für diese Musik. Meine Favoriten: das jazzigste Stück auf der CD ,"Songo", und "Fanqui", das wirklich funky daherkommt. Die Qualitäten des auch in den USA als Begleitmusiker begehrten Gitarristen treten natürlich besonders in den beiden Solotiteln "Ablusiones" und "Reblues" hervor. Als "Zugabe" gibt es noch ein flamenco-angehauchtes Stück als Hommage an Paco de Lucia ("Playa del Carmen").





Antonio Restucci
Crisol
Petroglyph Records 00212

Nach seinen Einflüssen befragt, fällt der Name de Lucia auch beim Gitarristen Antonio Restucci. Auf seinem Album "Crisol" (Schmelztiegel) fließen denn auch häufig Klänge spanischer Musik und Jazz geschmeidig zusammen ("Estrellas de arena"; "Gypsy sunrise"). Nicht zuletzt, weil er momentan in Barcelona lebt und oft mit der Rumba-Flamenco-Mestizo-Gruppe "Ojos de Brujo" auftritt. Ein Großteil der Titel ist auch dort produziert worden und viele spanische Musiker kamen ins Studio, u.a. der Jazzsaxophonist Jorge Pardo, der in "Jambull" meisterhaft Flöte spielt, und Bassist Carles Benavent, beide ehemalige Wegbegleiter von Paco de Lucia. Restucci öffnet seinen Schmelztiegel aber auch Klängen aus anderen Weltregionen: Tablas und sein meisterhaftes Mandolinenspiel wecken im Titelstück "Crisol" Erinnerungen an den Orient und Indien. Die meisten Titel sind ruhig und fließend und erinnern an die Musik von Renaud García-Fons. Nur in "Evocación" mutiert die Mandoline zum rasenden Jazzinstrument. "File under: ethno jazz" hat hier seine Berechtigung.

Text: Torsten Eßer
Fotos: Petroglyph Records






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