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[art_3] Mexiko: Götterkult und Heiligenverehrung
Katholizismus in Lateinamerika ist einfach anders

Mit der Konquista kam auch das Christentum nach Lateinamerika. Dort traf es auf indigene Götterkulte, die sich trotz allem "Missionierungseifer" der katholischen Glaubensverfechter nie ganz auslöschen ließen. Durch die unauflösliche Vermischung christlicher und indigener Kosmovisionen enstand so ein Katholizsimus, der Europäer schnell ins Staunen versetzen kann...

Die Sonne scheint ein bißchen härter und die Abgase bohren sich tiefer ins Hirn. Der allgegenwärtige Straßenlärm lärmt ein wenig penetranter, und die gesetzlose Atmosphäre ist mit Händen zu greifen. Tagsüber wühlen Mexikaner in Haufen von Hehlerware und Raubkopien. Auch die Polizei wagt sich höchstens am Tag herein. Denn Tepito ist Mexikos Räuberhöhle. Schmuggel, Prostitution, Drogenhandel und Bandenkriege bestimmen das Leben dieses Viertels von Mexiko Stadt. Wer hier lebt, ist auf einen besonderen Schutz angewiesen.

Diesen Schutz gewährt die Santa Muerte, die Schutzheilige der Unterwelt. Aus den Umhangfalten ihrer langen Mönchskutte starrt ein hohles Knochengesicht, greifen Skeletthände nach der Sichel in ihrer Rechten und einer Weltkugel in ihrer Linken. Man findet sie eintätowiert in Männerarmen, als Standfigur aus Wachs oder Holz oder als Anhänger an einer Kette um den Hals. Oder in ihrem Schrein, mitten in Tepito, wo sich ihre Anhänger versammeln und um Beistand bitten.

Menschen, die man schwerlich in einer Kirche treffen würde, schwören auf die Santa Muerte, sind alle schon einmal von ihr aus einer mißlichen Lage befreit worden. Dafür werden ihr Dankgebete erbracht, Kerzen geweiht und überbordende Hausaltäre bereitet – mittlerweile auch über Tepitos Grenzen hinaus. Ist die Santa Muerte ein christliches Phänomen? Gar eine katholische Heilige? Letzteres mit Sicherheit nicht, denn die katholische Kirche lehnt den Kult ab, bekämpft ihn offen. Doch sie ist ein weiteres Produkt der phantasievollen Umgestaltung des Katholizismus in Lateinamerika. Und so läßt sich eine einfache Frage nicht so einfach beantworten: Was ist eigentlich Katholizismus in Lateinamerika? Und wie und warum unterscheidet er sich vom relativ einheitlichen Katholizismus in Europa?

Katholizismen in Mexiko: Regionale Vielfalt bestimmt das Bild
In Mexiko wäre es daher angebrachter, von Katholizismen zu sprechen – nur der Plural wird der Vielfalt gerecht. Da gibt es einerseits die sehr traditionelle, konservative, spanisch geprägte Amtskirche. In Chiapas und anderen indigen geprägten Regionen hingegen haben sich Vermischungen aus vorkolumbianischen Kulten und dem Katholizismus bis heute gehalten. Es gibt die Virgen de Guadalupe, die als Symbol für die nationale Identität 70 Jahre Herrschaft der religionsfeindlichen PRI (Partido Revolucionario Institutional) überlebt hat. Und nicht nur bei der Santa Muerte, auch beim Dia de Muertos am 1. November spielt der Tod eine besondere Rolle. Mexikaner aller Schichten bauen Altäre für ihre Ahnen auf und feiern Parties auf dem Friedhof. In Puebla gibt es einen wiederauferstandenen Priester. In der verbreiteten Volksfrömmigkeit vermengen sich mystische und magische Traditionen mit katholischen Vorstellungen auf eine Art, die für Europäer kaum vorstellbar und dem aufgeklärten Glauben europäischer Prägung fremd ist. Wer zu den Ursachen dieses heterogenen Gemischs vorstoßen will, muss in die Geschichte zurückgehen. In unterschiedlichen sozialen Situationen, angefangen bei der Eroberung Mexikos durch die spanischen Konquistadoren, haben sich Interpretationen und Denkweisen entwickelt und über die Jahrhunderte erhalten. Sie bestimmen bis heute die religiösen Vorstellungen, finden sich als Sedimente in den populären Phänomenen. In diesen sind sie vielfach vermischt und überformt. Erst im Zusammenspiel ergeben sie das komplexe Spiegelbild vergangener und heutiger sozialer Spannungen, an denen sich die Geschichte Mexikos ablesen lässt.

Ältestes Sediment: Kolonialisierung
Die Eroberung und Evangelisierung des heutigen Lateinamerikas seit 1492 stellt den ursprünglichen Zusammenstoß zweier völlig unterschiedlicher Denkwelten dar, der christlichen und der indigenen Kosmovision. Nach der militärischen Eroberung des Festlandes setzte die Missionierung – die spirituelle Conquista – durch die europäischen Bettelorden ein, vor allem durch die Franziskaner. Art und Umfang der Missionierung unterschieden sich dabei in den einzelnen Regionen. Einigkeit herrschte aber darin, nach dem Tabula rasa-Prinzip Vielgötterei, Menschenopfer und alle heidnischen Praktiken mit Stumpf und Stiel auszurotten, um dann das Christentum und damit auch die europäische Zivilisation unter der autochthonen Bevölkerung verbreiten zu können. Die alten Tempel wurden niedergerissen, Götterstatuen zerstört und fast sämtliche indigene Aufzeichnungen, die vorspanischen Codices, als "vom Dämon inspirierte" Werke verbrannt.

Auf den Ruinen so manchen Tempels entstanden die Kirchen und Konvente der Missionare, in denen die Indios in den ersten Jahren zuhauf getauft und in den Grundzügen des christlichen Glaubens unterwiesen wurden.

Auch die Kathedrale von Mexiko-Stadt erhebt sich im ehemaligen Tempelbezirk der Aztekenhauptstadt Tenochtitlán. Wie erfolgreich war diese Form der Missionierung wirklich?

Historiker und Anthropologen verweisen mehr und mehr auf das Fortbestehen bestimmter Kulte und die Kontinuität vorspanischer Glaubensvorstellungen innerhalb indianischer Gemeinden. Noch spannender ist aber die Vermischung vorkolumbianischer Glaubensvorstellungen und Symbole mit denen des Christentums in einem bis heute die indigene Religiosität prägenden Synkretismus. Die Aufnahme und Re-Interpretation des christlichen Glaubens in die alte Kosmovision war eine "Überlebensstrategie" der Indios, die es ihnen ermöglichte, ihre Kultur, Traditionen und Denkweisen zu bewahren und den cultural clash abzudämpfen. Dabei bot sich vor allem der von den Spaniern importierte Heiligenkult als ein adäquater Ersatz für den von allerlei wirkungsvollen Patronen bevölkerten Götterhimmel. Von Anfang an akzeptierten die Indios die christlichen Heiligen als die Götter der Konquistadoren, die sich als mächtiger als die ihren erwiesen hatten und fortan die Lenkung der kosmischen Kräfte übernahmen. Ausgerechnet Santiago, der schon als Matamoros (Maurentöter) auf seinem weißen Ross die Reconquista der iberischen Halbinsel angeführt und den Spaniern in Amerika gegen die Indios zur Seite gestanden hatte, wurde zum Schutzpatron vieler indigener Gemeinden, die ihm – und auch seinem Pferd! – übernatürliche Kräfte und Einfluss auf das Wetter zuschreiben. Andererseits wurde der Vermischungsprozess von einem Teil des Klerus gefördert, der Anknüpfungspunkte in der alten Kosmovision für die christliche Botschaft suchte. Auch deren Übersetzung in die indigenen Sprachen dürfte zu Missverständnissen geführt haben, wobei mitunter direkte Bezüge hergestellt wurden: "Hölle" etwa übersetzte man mit mictlán, dass die Totenwelt der mesoamerikanischen Kosmovision bezeichnete. Der Synkretismus, der mit dem Zusammenstoß der Kulturen entstand, ist keineswegs ein fertiges Produkt, sondern sollte als ein fortdauernder Prozess des Aushandelns zwischen den verschiedenen Akteuren aufgefasst werden, der neben Unterdrückung, Konflikten und Spannungen auch eine Verständigung ermöglichte – bis heute.

Guadalupe – Sprung in die Moderne
Es ist heiß an diesem zwölften Dezember im Norden von Mexiko Stadt und die mexikanische Höhenluft scheint noch etwas dünner als sonst. Hunderttausende Gläubige und Pilger aus ganz Mexiko drängen sich dicht an dicht vor der Basílica de Guadalupe, einem der größten Wallfahrtsorte der Welt. Etwa zehn Millionen Besucher kommen jedes Jahr hierher, um einen Blick auf das Bildnis von Nuestra Señora de Guadalupe zu werfen. Der Legende nach erschien an diesem Ort die Jungfrau Maria vor beinahe 500 Jahren dem konvertierten Indio Juan Diego und bat ihn, ihr eine Kapelle zu errichten. Auch heute, an ihrem Festtag, wollen die Mexikaner ihr Bitten vortragen, für erfahrene Hilfe in allen Lebenslagen danken oder einfach nur an diesem denkwürdigen Ereignis teilhaben. Der große Platz vor der modernen Basilika ist trotz des Gedränges von Feierlichkeit erfüllt. Einige Pilger legen die letzten hundert Meter auf Knien rutschend zurück, indigene concheros führen zu Ehren der Jungfrau prähispanische Tänze auf, die sich in der christlichen Festkultur bewahren konnten. In der Basilika, die von außen einem überdimensionalen Zelt ähnelt, herrscht ungeachtet des großen Ansturms eine andächtige Stille, die mit gemurmelten Ave Marias und Fürbitten unterlegt ist. Ein leise surrendes, vierspuriges Rollband führt vor das Bildnis der virgen morena, das Ziel des Pilgerstromes. So soll es jedem Pilger möglich sein, einen Blick aus kürzester Distanz auf das Heiligtum zu erhaschen und seine persönliche Botschaft an die Jungfrau zu richten. Auf dem Weg dorthin drängen sich die Pilger an Kirchenbänken vorbei, ein altes indigenes Mütterchen und eine junge, auffallend hellhäutige Frau der mexikanischen Oberschicht sitzen ins Gebet vertieft nebeneinander – ein Bild, das sich sonst in Mexiko an keinem anderen Tag bietet.

Die Jungfrau von Guadalupe verkörpert wie kaum eine andere Figur die nationale Integrität und Identität Mexikos, unter ihrem blauen Mantel vereinen sich alle soziale Schichten und ethnischen Gruppierungen des Landes.

Ihr Festtag ist neben dem Unabhängigkeitstag der höchste Feiertag der Mexikaner. Kein Ort im ganzen Land, an dem man ihr Bildnis nicht findet: an Bushaltestellen, Taco-Ständen und natürlich in jeder Kirche des Landes, häufig mit der Nationalflagge drapiert und gekrönt: Sie ist die "Königin von Mexiko".

Und wenn auch der Katholizismus in diesem Land an Boden verliert, so bekennt sich doch fast ein jeder Mexikaner als Guadalupano.

Politische Emanzipation und nationale Identität
In der Jungfrau von Guadalupe vereinen sich synkretistische Elemente, gesellschaftliche Spannungen und eine amerikanische Interpretation des Marienkultes zu einem religiösen Symbol, das die Besonderheit des mexikanischen Katholizismus deutlich macht. Die Verehrung der Guadalupe war zunächst von der prähispanischen Vergangenheit des Heiligtums geprägt, an dessen Stelle vor der Ankunft der Spanier die Göttin Tonantzín verehrt wurde, die als die "Mutter der Götter" galt. Es verwundert also kaum, dass sich der von den Spaniern eingeführte Marienkult an diesem Ort großer Beliebtheit unter der indigenen Bevölkerung erfreute. Anstatt einen Bruch mit der heidnischen Götterwelt zu provozieren, haben die Missionare auch hier – unfreiwillig oder nicht – Kontinuitäten gefördert. Zum Durchbruch gelangte der lokale Kult allerdings erst viele Jahre später, als die in Amerika geborenen Spanier, die Kreolen, die Guadalupe für sich entdeckten. In der 1648 zum ersten Mal verbreiteten Legende von der Erscheinung Marias, die sich demnach im Jahre 1531 dem Indio Juan Diego in dessen Sprache – dem Nahuatl – offenbarte, spiegelt sich nicht nur das indigene Element des Kultes wider, sondern kommt auch der Patriotismus der kreolischen Elite zum Ausdruck: Die Erscheinung der Mutter Gottes auf mexikanischem Boden beweise die göttliche Erwähltheit und somit die geistige Ebenbürtigkeit der "Neuen" mit der "Alten Welt"!

Für die von den Spaniern des Mutterlandes belächelten und politisch benachteiligten Kreolen war es dieser religiöse Mythos, der das mexikanische Selbstbewusstsein zum Ausdruck brachte und die Jungfrau von Guadalupe im 18. Jahrhundert zum politischen Symbol und zur Patronin der Kolonie werden ließ. Aus der Patronin des Vizekönigreiches sollte schließlich ein Wahrzeichen des unabhängigen Mexikos werden, als Padre Miguel Hidalgo im Jahr 1810 unter dem Banner der Jungfrau von Guadalupe den Unabhängigkeitskampf gegen die Spanier einläutete.

In den folgenden zwei Jahrhunderten widerstand die "nationale Gottheit", wie sie von einem liberalen Politiker verächtlich genannt wurde, allen laizistischen Bestrebungen der liberalen und später der revolutionären Regierungen. Die Jungfrau mit dem mestizischen Antlitz verkörperte im kollektiven Bewusstsein der Mexikaner eben immer mehr als nur einen religiösen Kult, nämlich die besondere Erwähltheit ihrer Nation und die Integration aller Bevölkerungssegmente unter die mexicanidad. Der Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz schrieb einmal: "Nach über zwei Jahrhunderten von Experimenten und Niederlagen glauben die Mexikaner nur noch an die Jungfrau von Guadalupe und die staatliche Lotterie."

Katholizismus und aktuelle Spannungen
Experimente und soziale Spannungen, Siege und Niederlage gibt es in Lateinamerika bis heute zuhauf. Und immer noch dienen sie als Kristallisationspunkte für neue Überformungen des Katholizismus und produzieren neue "Heilige", ob von der katholischen Amtskirche anerkannt oder nicht. Diese existieren Seite an Seite mit den althergebrachten Kulten, oft ohne größere Konflikte. Eine Sonderform hiervon findet sich in der Theologie der Befreiung, weniger in Mexiko als in anderen Ländern Lateinamerikas. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und einer neuen Aufmerksamkeit für soziale Ungleichheiten und Machtstrukturen bildet sich eine Form des Christentums heraus, deren Exponenten soziale Ungerechtigkeit anprangern und sich aktiv für Veränderungen einsetzen – bis zur Duldung oder Unterstützung des bewaffneten Widerstandes. Sie hat eine neue Ikonographie hervorgebracht. Der während einer Messe erschossene Erzbischof von San Salvador, Óscar Arnulfo Romero, ist hier das prägnanteste Beispiel. Auch das Konfliktmuster Zentrum und Peripherie wird wieder aufgenommen – mit den USA als neuem Gegenpol. Der "linke" Katholizismus lässt sich hier als Reaktion auf die reaktionäre, antikommunistische Politik der USA sowie ihre Unterstützung durch das katholische Kirchenestablishment sehen.

Unterschichtsheilige – Volksgläubigkeit
Mögen die mexikanischen Katholizismen für Europäer wie ein Kabinett der Absurditäten erscheinen – für Mexikaner sind sie gelebte Realität. Marienbildchen oder Bilder von Jesus Martyrium hängen in jedem Autobus. An keiner größeren Busstation fehlt ein Heiligenaltar. Religiöse Zeremonien regeln das Leben in den Dörfern und sind fest mit lokalen Machtstrukturen verwoben. Die Guadalupe ist allgegenwärtig. Die Heiligsprechung ihres indigenen "Entdeckers" in 2002 war ein nationales Ereignis, das Papst Johannes Paul II. zum Liebling der Mexikaner gemacht hat.

Und jedes Jahr am Dia de Muertos bevölkern Skelette aus Pappmache die Straßen, neuerdings zunehmend mit Halloween-Kostümen vermischt. An diesem Tag wandern die Seelen der verstorbenen Ahnen und besuchen ihre Nachfahren, heute wie vor einem halben Jahrtausend bei den Azteken und in anderen indigenen Kulturen.

Junge und alte Mexikaner bauen ofrendas, Altäre, für ihre Ahnen. Sie stehen im November nicht nur zu Hause, sondern auch in Restaurants, Kneipen, in den luxuriösen Einkaufszentren der mexikanischen Oberschicht und selbst in der mexikanischen Botschaft in Berlin. Zur gleichen Zeit wandern die Gläubigen von Tepito immer noch zu ihrer Santa Muerte, erbitten Schutz und Segen für ihre dunklen Geschäfte im Schutz der Nacht: Die in Tepito immer noch ein bißchen dunkler und kälter ist, voll von Widrigkeiten und Gefahren. In der die Amtskirche nichts zu sagen hat. Und wo doch der Schutz einer wohl gesonnen Heiligen besonders wichtig ist.

Text: Rüdiger Kappes und Martin Herrndorf
Fotos: amazon.de

Dieser Artikel ist erschienen in der Matices 46/2005. Diese erhaltet ihr bei:
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