ed 05/2010 : caiman.de

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spanien: Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel
Nicht ganz ernst gemeinten Chronik der Semana Santa (2010)
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


argentinien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VI)
Besuch im „Café Aussichtspunkt“
THOMAS BAUER
[art. 2]
brasilien: Brasiliens schönste Küste
Zwischen Paraty und Ubatuba (Teil 2)
THOMAS MILZ
[art. 3]
venezuela: Anakonda würgt Kaiman (Fotogalerie)
FRANK SIPPACH
[art. 4]
grenzfall: 12 Stunden Madrid
Inzwischen kann ich Eyjafjallajökull fehlerfrei aussprechen
ANDREAS DAUERER
[kol. 1]
erlesen: 200 Jahre Befreiung – Eine Kultur in Stücken
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
TORSTEN EßER
[kol. 2]
helden brasiliens: Elektronische Weihwasserspender, katholische Kreuzfahrt, Autodeals... 7. Expocatolica in São Paulo
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Oh... Panama!
TORSTEN EßER

[kol. 4]




[art_1] Spanien: Rosenblüten-Regen aus blauem Himmel (Teil 1) (Teil 2)
Fünfte Ausgabe unserer nicht ganz ernst gemeinten Chronik der  Semana Santa 2010
 
Epilog: Neben unzähligen Semana Santa Fotos wollte ich wie fast jedes Jahr ein süßes Souvenir aus Sevilla mit nach Deutschland nehmen: Vier Gläser Marmelade aus dem Kloster Santa Paula (Zitrone, Bitterorange, Orangenblütengelee und Kastaniencreme). Und obwohl die dämliche Schalterdame von Iberia beim Check-in in Madrid mir auf Nachfrage versicherte, dass es damit im Handgepäck keine Probleme geben würde, weil es ja keine Flüssigkeit sei, musste ich all diese Köstlichkeiten auf dem Altar der Flugsicherheit opfern. Als ob die Konfitüren von Santa Paula Sprengstoff enthalten würden! Man sollte dieses fehlende Gottvertrauen der Iberia vielleicht der Mutter Oberin des schönsten Klosters von Sevilla kundtun.

Sehr verärgert über diesen Verlust brüllte ich dem Security-Checker zu: "Na dann mal Guten Appetit! Damit hast Du Dir einen guten Pausensnack besorgt!" Doch jetzt erinnern wir uns lieber an die schönen Momente dieser weihrauchbenebelten Woche...

Sevilla, Palmsonntag, 28. März 2010
"Wie übertrieben!", ruft meine Freundin Carmen bei der Begrüßung unserer Gäste aus Madrid in ihrer Wohnung an der Plaza de Pumarejo - und sie meint damit nicht das elegante Palmsonntags-Outfit  der Neuankömmlinge (wirklich sehr elegant), sondern die phänomenale Zahl von Bruderschafts-Abzeichen, die sie am Vormittag während ihrer Kirchenbesuche gesammelt haben und die nun an den Kragen ihrer Anzüge und Blusen prangen.

Es sind 20 und alle, die sich in Sevilla auskennen, wissen, dass eine solche Zahl nur mit Fußmärschen quer durchs Gassenlabyrinth zu 20 verschiedenen Kirchen und mit großer Disziplin zu erreichen ist: Sie müssen wohl schon um 6 Uhr morgens aufgestanden sein. Wie jedes Jahr gibt es den köstlichen Kabeljau-Kichererbsen-Eintopf bevor der Paso (Altarbühne) des Christus der Bruderschaft Hiniesta den Platz erreicht, und nachdem auch die Madonna vorbei gezogen ist, werden riesige Mengen der honigsüßen Torrijas serviert.

Bruderschaft [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Unsere Gruppe von Kurzzeit-Mystikern besteht schon seit Jahren aus meiner Freundin Carmencita und ihrem Mann Manolo, Theresa und Regina, meiner Freundin Angélica (der die Semana Santa nicht besonders gefällt, deshalb fährt sie am Mittwoch in die Berge). Sie alle sind aus Sevilla; die junge Cayetana aus Cádiz, die vor kurzem erst 18 geworden ist, zwei Pilgern aus Madrid, Manuel und Christina, und mir (diesmal hat die Redaktion keine Namensänderungen vorgenommen...). Am Donnerstag soll noch eine Besucherin dazu kommen: Luna aus Alcalá la Real, dem Geburtsort des genialen Martínez Montanés.

Ein bunt gemischtes Publikum erwartet auf der Plaza de Pumarejo den Christus der Bruderschaft Hiniesta, vor dem eine ergreifend schöne Magdalena in einem Berg von roten Rosen kniet. Das grelle Licht des späten Nachmittags  überflutet den Schauplatz und lässt vergessen, dass Andalusien 2010 den regenreichsten Winter seiner Geschichte hinter sich gebracht hat. "Es scheint, als ob wir dieses Jahr endlich eine Semana Santa ohne Regen haben werden - außer vielleicht am morgigen Tag", bemerkt Manolo nach dem Studium der Wettervorhersagen.

Doch nun wollen wir seine Torrijas probieren. Als wir in die Gasse Torreblanca einbiegen, kommt uns ein Jeep entgegen, der natürlich nicht weiter kann, weil eine riesige Menschenmenge der Madonna folgt - und die hat es überhaupt nicht eilig. Der Jeep bewegt sich mit Schrittgeschwindigkeit. Und was macht die desorientierte junge Fahrerin? Sie denkt nicht daran, den Motor abzustellen, während die Abgase den Weihrauch verdrängen. Ich sehe sie an und mache vor meinem Kopf eine Scheibenwischer-Bewegung, woraufhin sie mich anbrüllt und irgendwas labert "vom Problem, in der engen Altstadt Sevillas zu leben". Da packt mich heiliger Zorn und ich schleudere ihr als Antwort entgegen: "Na, für solch enge Gassen ist ein Jeep ja genau das richtige Auto! Und wenn man im Zentrum Sevillas lebt - ein "Problem" das die meisten sehr gern hätten - kennt man den Prozessions-Fahrplan und richtet sich danach statt der Madonna mit Papas Jeep hier fast auf den Mantel zu fahren!" Die höhere Tochter bahnt sich jedoch unbeirrt mit aufheulendem Motor in Zeitlupe ihren Weg durch die Zuschauermenge und stört mit lautem Gehupe die Musik des Trauermarsches.

Cayetana, ohnehin mit einem für spanische Verhältnisse überdurchschnittlich ausgeprägten ökologischen Gewissen ausgestattet, wird so wütend, dass sie vorschlägt, eins der Klappstühlchen zu holen, um "dieser Prinzessin, die nur ihren Jeep vorführen will, mal etwas das Auto zu vermöbeln, damit sie was für die Zukunft lernt..." Im letzten Moment können wir sie zurück halten und besänftigen sie mit den Worten, dass ja Semana Santa sei, wir uns alle wie Brüder und Schwestern verhalten müssten und deshalb jetzt zusammen Kaffee, Torrijas und Sherry zu uns nehmen sollten.

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Amargura [zoom]

Am Abend führt Angélica uns wieder auf eine luxuriöse Dachterrasse, die Freunden gehört und schon gut besucht ist: alle Auserwählten wollen hier in der Calle Conde de Torrejón die prachtvolle Prozession der Amargura von oben ansehen. In der Tat ist diese Luftansicht der endlosen Doppelreihe weißer Nazarenos und des golden glitzernden Paso, auf dem Christus vor Herodes steht, sehr beeindruckend. Mit einem Blick kann man die Hälfte der Prozession erfassen, wie sie sich durch die enge Häuserschlucht schlängelt. Christina schaut nachdenklich hinab und meint, es würde ihr aber irgendwie das Gefühl fehlen, den Paso berühren zu können. Deshalb einigen wir uns, den Paso der Madonna der Bitterkeit (Amargura) doch lieber unten in der Straße zu sehen. Berühren können wir ihn nicht, zu groß ist das Gedränge, wir kommen zu spät, um bis zur ersten Reihe durchzukommen. Aber wenigstens sehen wir das Gesicht der Amargura ganz nah, allerdings verschwommen durch die Weihrauchwolke.

Es ist bereits Nacht geworden als wir unsere Klappstühlchen in der Calle Orfila aufstellen. Theresa und Regina bemerken: "Wisst ihr nicht, dass wir etwas illegales tun? Wir besetzen öffentlichen Raum mit unseren Stühlen..." Angélica, deutet mit spöttischem Lächeln auf einen "Kinderwagen-Parkplatz"  hinter uns: "Und was machen die da - sieht aus wie ein Aufruf zum nächsten Kinder-Kreuzzug!"  Wir müssen unser Lachen unterdrücken, denn nun nähert sich eine Schweige-Bruderschaft. Unheimlich anzusehen, ziehen die Nazarenos der Bruderschaft El Amor ganz in Schwarz vorbei. Manche senden für Sekunden einen so durchdringenden Blick durch die Augenschlitze, dass man Angst bekommen kann, wie Cayetana meint.

El Amor [zoom]
La Hiniesta [zoom]

Da wir jedes Jahr eine Prozession an einem neuen Platz sehen wollen, wo wir noch nie vorher waren, entscheiden wir uns, La Hiniesta ein zweites Mal um Mitternacht auf der Plaza de San Marcos zu erwarten. Und das ist eine gute Idee: schon das Bühnenbild mit dem angestrahlten Moscheeturm von San Marcos mit Vollmond daneben ist kaum zu übertreffen, und es gibt einen Moment, in dem man durch den Heiligenschein der Magdalena das Gesicht der Christusstatue sieht - mit einem starken Zoom könnte man damit das Foto des Jahres landen. Die Nacht verabschiedet sich mit mystischem Zauber.

Heiliger Montag, 29. März 2010
Aufgewacht. Ein allzu bekanntes Geräusch trommelt leise, dann immer lauter gegen die Fenster. Es regnet. Es regnet in Strömen. Schon bald ist klar: San Gonzalo und Santa Marta, zwei unserer Lieblingsprozessionen mit den Meisterwerken von Ortega Bru, werden nicht gehen. Ich fahre mit Angélica an den Strand. Keine gute Idee - da regnet es auch und der Wind ist kälter als in Sevilla. Wir kehren am selben Tag zurück. Morgen wird die Sonne scheinen...

Heiliger Dienstag, 30. März 2010
Ich stehe an einer Ecke der Calle Santiago neben einer Truppe von Trägern (costaleros) der Bruderschaft San Benito, die auf ihren Einsatz warten. Während der Wartezeit gibt einer der Costaleros seinen Kollegen eine "Blitzlektion" in Englisch, beginnend mit dem Kommando "Follow Me" . Wir wissen nicht ob es jemals eine internationale Mannschaft von Costaleros geben wird, die in Englisch kommandiert würde, aber - wie unser Pionier von San Benito zu seinen Kameraden meint - "es sei nie schlecht, auf alles vorbereitet zu sein". Deshalb übersetzt er auch das für die Pasos von Madonnen in Sevilla so beliebte Kommando "In den Himmel mit Ihr!" ins Englische: "Get her into heaven!" (Olé - aber nein, olé kann man in keine andere Sprache der Welt übersetzen.)

San Benito [zoom]
Santa Cruz [zoom]

Um die Prozessionen von El Cerro und Santa Cruz zu sehen, haben wir uns mit Theresa und Regina an der Statue der Inmaculada auf der Plaza de Triunfo verabredet. Sie sind wirklich Engel, denn nachdem die Madonna der Prozession von El Cerro vorbei gezogen und hinter den Mauern des Alcázar verschwunden ist, holt Theresa theatralisch eine Tupperdose aus ihrer Tasche und der Inhalt ist vielversprechend. Sie bietet uns selbstgemachte Pestiños (Zimtgebäck) an und Regina konkurriert mit einem Tablett, das überquillt von Mini-Torrijas, alles sehr köstlich. "Also vielleicht sollten wir doch heiraten", sage ich augenzwinkernd zu Theresa. Sie ist sehr zufrieden, dass es allen zu Füßen der Inmaculada-Statue schmeckt, und bemerkt lächelnd: "Also ich glaube, dass von allen Sieben Todsünden die Völlerei sicher die harmloseste ist."

Wie zu erwarten war, widerspricht Cayetana sofort und schlägt vor, doch lieber die Wollust als die verzeihlichste anzusehen. "Na ja", erklärt Manuel mit seinem  salomonischen Urteil: "Jeder stuft natürlich die von ihm am häufigsten begangene als die am wenigsten schlimme ein. Aber einigen wir uns darauf, dass die drei "körperlichen" unter den Todsünden (Völlerei, Wollust, Trägheit) dereinst weniger hart bestraft werden als die vier "geistigen" (Hochmut, Zorn, Geiz, Habgier), weil sie spontan im Affekt und mit weniger Bosheit begangen werden." Seine Frau Christina ergänzt diese kurze Predigt mit den Worten: "In jedem Fall müssen wir nach dieser Schlemmerei wieder etwas Buße tun - knien wir also nieder vor dem Christus des Guten Todes."
El Cerro [zoom]

Es ist der Christus der Studenten-Bruderschaft. Wir treten also durch das Tor der Universität, erinnern uns dabei an Episoden aus unsern längst vergangenen Studententagen, die wir hier in diesem Riesenbau aus dem 18. Jahrhunderts verbracht haben. Es herrscht ein für die große Zuschauermenge erstaunliches Schweigen, als der gekreuzigte Christus, ein Meisterwerk von Juan de Mesa, heran getragen wird. Nur der Vollmond (und natürlich viele Blitzlichter) erleuchten seinen Schatten. Der emotionalste Moment des Heiligen Dienstags. Nach einer Meditation, bei der man spürt, dass es mit Einbruch der Nacht ungemütlich kalt geworden ist,  müssen wir uns in einer Bar in der Calle San Fernando aufwärmen. Tortilla und Rotwein für alle. Cayetana starrt völlig verzückt zur Theke auf einen hübschen Kellner mit sehr dunkler Haut. Sie bietet sich freiwillig an, alles zusammen zu bezahlen, damit sie mit ihm die Rechnung durchgehen kann und natürlich wird sie sich dabei alle Zeit der Welt lassen und ihm tief in die schwarzen Augen blicken. Wir wissen nicht, wie erfolgreich sie war, aber sie verabschiedet sich mit einem seligen Lächeln. Beim Abschied gibt es einen kurzen Kampf um die letzte Torrija - sie ist natürlich für mich, denn es gibt Dinge, die zu klein sind zum Teilen...

Heiliger Mittwoch, 31. März 2010
Ich warte am sonnigen Nachmittag zwischen den römischen Säulen der Alameda de Hércules.

Die Nazarenos der neu gegründeten Bruderschaft Carmen Doloroso, die erst seit 2007 an der Semana Santa teilnimmt, ziehen vorbei. Sie stellen ihren Paso, der zu den größten in Sevilla gehört, kurz zwischen den Säulen ab. Christus zwischen den römischen Säulen des Imperiums, das ihn zum Tod verurteilte. Ein beeindruckendes Bild.
Carmen Doloroso [zoom]

Danach treffen wir uns alle auf der romantischen Plaza de San Lorenzo, einem idealen Ort, um die Prozession der Bruderschaft El Buen Fin anzuschauen. Die Nazarenos in erdbraunen Tunikas durchschreiten zügig den Licht durchfluteten Platz und schon folgt der Christus. Cayetana fotografiert wie verrückt, richtet dabei aber merkwürdiger Weise den Zoom nicht auf die Christusstatue.

Nachdem die Prozession vorüber ist, schlägt Christina vor, doch kurz der Kapelle der berühmtesten Christusfigur Sevillas einen Besuch abzustatten, die hier am Platz liegt. Drinnen sehen wir plötzlich direkt neben dem ehrwürdigen Antlitz des Jesus der Großen Macht - einen knallbunten Luftballon, den eine Zeichentrickfigur ziert! Wir sind so entsetzt, dass wir ganz vergessen, diesen Anblick zu fotografieren. Christina spricht aus, was  (fast) alle denken: "Wie kann man einem Kind erlauben, mit diesem riesigen Luftballon in die Kirche zu kommen, als ob das hier ein Zirkus wäre?"

El Buen Fin [zoom]
El Buen Fin [zoom]

Zurück draußen auf dem Platz, meint Cayetana, dass sie den Ballon nicht so schlimm gefunden habe, denn Jesus wolle, dass die Kinder ihn besuchen, zur Not auch mit Luftballons in der Hand. Und dann macht sie einen abenteuerlichen Vorschlag: "Es wäre doch gut, wenn man Luftballons mit Christus- und Madonnenbildern kaufen könnte... die würden auch nicht stören, wenn Kinder mit ihnen in die Kirche kommen." Manuel hat gar kein Verständnis für diese absurde Idee und fragt die 18-Jährige, ob sie sich ernsthaft den Jesus der Großen Macht auf einem Luftballon vorstellen könnte. "Na gut, vielleicht doch nicht", murmelt sie.

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El Barratillo [zoom]

Auf dem Weg zur Kathedrale wirkt Cayetana ganz verträumt. Sie bleibt zurück und schaut wie hypnotisiert auf die Digitalkamera. Als wir den Platz vor dem Museum überqueren, wird sie fast überfahren, weil sie auf nichts achtet und immer noch ein Foto auf der Kamera anstarrt. Jetzt sind wir neugierig geworden und schauen ihr über die Schulter, um zu sehen, welches Foto ihre Aufmerksamkeit so in Anspruch nimmt: es ist einer der Leuchterträger der Bruderschaft Buen Fin mit einem Gesicht wie ein Filmstar und großen, fast schwarzen Augen. Cayetana wird ein bißchen rot, aber dann erklärt sie feierlich: "Der ist noch schöner als der Christus der Esperanza de Triana..." (ein größeres Kompliment könnte sie kaum machen, denn sie selbst gehört zu den feurigsten Verehrerinnen dieses Christus aus Triana). Manuel ermahnt sie noch, sich "nicht jeden Tag neu zu verlieben", während Regina verständnisvoll etwas von "Frühling" murmelt.

Cristo de la Esperanza de Triana [zoom]
Esperanza de Triana [zoom]

Inzwischen sind wir an der Calle Reyes Católicos angekommen und ein Durchkommen scheint unmöglich, denn die Prozession von El Baratillo ist gerade in die Straße eingebogen und wird umringt von spektakulären Menschenmassen. Ich verstehe nicht, wieso alle diese Prozession in einer so hässlichen Straße sehen wollen...Theresa schreitet tapfer voran, findet irgendwie einen Weg. Wir steigen über ganze Mauern von Klappstühlchen und Kinderwagen, um endlich zur Kathedrale zu kommen. Dort wollen wir die Bruderschaft von San Bernardo sehen.

Im letzten Moment entscheide ich, dass ich mich doch lieber direkt an die Mauern des Alcázar in die enge Gasse Alcazaba stellen will und Manuel entschließt sich mutig mitzukommen. "Da könnt ihr aber allein hingehen", verkündet Theresa - sie mag keine allzu engen Gassen. So bleiben die Mädels im Schatten der Inmaculada-Statue bei der Kathedrale, während Manuel und ich unsere Entscheidung nicht bereuen. Die Atmosphäre direkt an den Alcázarmauern ist stimmungsvoll und die Musikkapelle der Prozession von San Bernardo gibt alles, spielt sich in eine Ekstase von scheinbar improvisierten Klangkaskaden - sensationell!
El Barratillo [zoom]

Noch berauscht vom musikalischen Höhepunkt stellen wir uns danach auf die Plaza del Triunfo, um die Bruderschaft El Baratillo mit ihrer wunderschönen Piedad in der ersten Reihe zu sehen. Manuel, unser bester Fotograf, schafft es sogar, den Baldachin der Jungfrau der Nächstenliebe zusammen mit der  Giralda auf ein unvergessliches Bild zu bannen. Nach soviel spiritueller Nahrung meldet deutlich der Körper seine Ansprüche an: Tapas und Toilette (ganz dringend!) in der Bar La Giganta.

San Bernardo [zoom]
San Bernardo [zoom]

Dort wärmen wir uns auf für die letzte Tagesetappe: die wie immer eindrucksvolle Rückkehr der Prozession des Cristo de Burgos über den gleichnamigen, in völliger Finsternis liegenden, Platz. Ein Festival von Saetas begleiten den Christus und die unter rotem Baldachin schreitende Madonna heim in ihre Kirche.
San Bernardo [zoom]

Ende Teil 1. Fortsetzung in der Juni-Ausgabe:
Gründonnerstag, 1. April 2010
Im Juni geht es weiter mit der Medaille der Jungfrau der Engel und der Sünde, ohne die es keine Semana Santa gäbe... (Teil 2)

Text: Berthold Volberg
Fotos: Vicente Camarasa + Berthold Volberg


Volberg, Berthold
Sevilla - Stadt der Wunder
Porträt der andalusischen Kunstmetropole mit großem Bild- und Textteil zur Semana Santa

(Nora) ISBN: 978-3-86557-186-1
Paperback
328 S. - 16 x 25 cm


Fotogalerie:
El Cachorro [zoom]
Cristo de Burgos [zoom]

El Cachorro [zoom]
El Sol [zoom]

El Sol [zoom]
El Cachorro [zoom]

Gran Poder [zoom]
Gran Poder [zoom]

Exaltación [zoom]
Exaltación [zoom]

Las Cigarreras [zoom]
Los Negritos [zoom]

Los Servitas [zoom]
Los Servitas [zoom]

Cristo de la Macarena [zoom]
Macarena [zoom]

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Macarena [zoom]

Quinta Angustia [zoom]
Paso de la Macarena [zoom]

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Links
www.hermandades-de-sevilla.org
www.artesacro.org
www.hermandaddeelsilencio.org
www.granpoder.org
www.hermandaddelamacarena.es
www.hermandaddelcalvario.org
www.esperanza-de-triana.org
www.hermandaddelosgitanos.com
www.galeon.com/juliodominguez
www.lapasion.org
www.costalero.com

[druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_2] Bolivien: Die Gesichter Südamerikas (Buchauszug VI)
Besuch im "Café Aussichtspunkt"
 
Selbst die Hauptstadt des Landes legt sich früh schlafen. Fast scheint es, als drücke sie die Last der Geschichte zu Boden, als kaue sie die Erinnerungen an vergangene Missgeschicke wieder. Nur aus dem Café Mirador, dem "Café Aussichtspunkt", ist das Lachen von Gästen zu hören. Sucres auf einem Hügel gelegener gringo-Treff ist ganz auf die Bedürfnisse reisender, Rucksack tragender Jugendlicher aus gutem Hause eingestellt. Im Garten des Cafés stehen Tischchen mit je einem Sonnenschutz aus Bambus, von denen aus man einen Blick auf die Stadt werfen kann. Rund um die Uhr ertönt gefällige Musik aus zwei Lautsprechern. Shakira übergibt Ricky Martin das Wort, der es Carlos Santana weiterreicht. Alle Lieder vereint, dass sie zwar einerseits irgendwie "südamerikanisch" wirken - Shakira hinterlegt ihre Popsongs gerne mit angedeuteten Panflöten, Santana streut Salsarhythmen in seine Gitarrensoli, aus Ricky Martins Gesang kann man den Hüftschwung förmlich heraushören - dass all diese Lieder aber gleichzeitig so sehr auf die gängigen Melodien und Akkordfolgen setzen und in der Folge zu Allgemeingut mutierten, dass sie in Wahrheit ganz und gar ortlos geworden sind. Sie sind die erfolgreichen Produkte einer Globalisierung, die bedienen, was sich westliche Jugendliche unter "Südamerika" vorstellen. Gleichzeitig sind sie darauf bedacht, den Bogen nicht zu überspannen, um ihre Zielgruppe nicht zu erschrecken. Diese verhält sich in etwa wie ein Großstädter, der beim Anblick von Feldern und Hecken ausruft, wie schön die Natur doch sei - während er in einer echten, ungezähmten Natur verloren wäre.

Sucre von oben

Das Café Mirador hat oberhalb des Stadtkerns ein akkurat gepflegtes, künstliches Paradies geschaffen, einen Zufluchtsort, weit entfernt von Sucres bettelnden Kindern. Blickt man von seinem Garten hinunter auf die zu Füßen liegende Stadt, könnte man der Ansicht sein, dass sich Sucre abends friedlich vor sich hin schlummere, und dass das größte Problem seiner Einwohner darin bestünde, von dort unten keinen privilegierten Ausblick auf die Sonne genießen zu können, die in diesem Moment orangerot über die Berggipfel streicht. Die Betreiber des "Cafés Aussichtspunkt" hatten messerscharf erkannt, wonach wir Touristen trotz aller Floskeln von "authentischen Erlebnissen" und dem ach so "intensiven Kontakt mit den Einheimischen" in Wahrheit verlangen. Wir suchen einen sicheren Raum, aus dem heraus wir unsere Umgebung beobachten können, ohne allzu sehr von ihren Unannehmlichkeiten betroffen zu sein. Darum wird in La Paz derzeit ein Luxushotel gebaut, in dem sich kein Einheimischer eine Übernachtung leisten können wird. Erst wenn wir keine Kontrolle mehr über unsere Umgebung haben, wenn niemand mehr da ist, der uns dank unseres Geldes irgendwohin fährt, uns Frühstück macht oder unser Gepäck trägt, erst wenn uns keine Möglichkeit mehr gegeben wird, uns in ein sicheres Schneckenhaus zurückzuziehen, wenn wir also wirklich leben müssen wie die Einheimischen, mit all den damit verbundenen Problemen und Sorgen, bekommen wir es mit der Angst zu tun.

Doch dazu wird es im Café Mirador nie kommen. Hier oben lässt es sich aushalten. Einerseits ist man zwar mitten in Bolivien. Andererseits hätte der Garten des Cafés genauso gut in Italien oder Neuseeland stehen können. Mit heiligem Erschauern nehmen zwei weißhäutige Touristinnen zur Kenntnis, was ihnen ein Rastazopfträger aus Kanada serviert. Sie hören sich "Fakten aus Bolivien" an, als sei dies das Drehbuch für einen beliebten Horrorfilm. "Auf dem Land stirbt eines von drei Kindern noch bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht. Zwei Drittel der Bolivianer leben unter der Armutsgrenze, ein Drittel leidet unter mangelnder Ernährung. Zusammen mit Ländern wie dem Sudan oder dem Kongo gehört Bolivien zu den zehn ärmsten Staaten der Welt."

Garten Café Mirador

Der Rastamann gibt sich alle Mühe, seine beiden Zuhörerinnen zu beeindrucken. Sie danken es ihm mit großen Augen und gelegentlichen "Oh my god!"-Zwischenrufen, während sie an ihren Cocktails nippen. "Kein Wunder, dass die Kinder frühzeitig die Schulen verlassen: Sie müssen rasch zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Darum schlagen sie sich als Schuhputzer, Lastenträger, Straßenverkäufer durch, ohne zu wissen, dass sie sich genau damit alle Aufstiegschancen verbauen."

Manche wurden auch Musiker, wenn man darunter versteht, dass jemand versucht, Geld zu verdienen, indem er Töne aus Instrumenten hervorlockt. In diesem Sinne kann man auch die drei etwa zwölfjährigen Jungen, die sich gerade im Garten des Cafés aufbauen, Musiker nennen. Leider kann keiner der drei auf seinem Instrument spielen: Der Trommler schlägt unregelmäßig auf sein Gerät, die Geige quietscht wie eine Schar junger Ferkel, der Gitarre fehlen drei von sechs Saiten. Der "Gesang" ist schiefer als der Turm von Pisa. Für Investitionen in Rhythmusgefühl oder Fingerfertigkeit haben die "Musiker" keine Zeit. Stattdessen spielen sie Musik, wie Tausende bolivianische Kinder sie praktizieren: Wer etwas auftreiben kann, das einem Musikinstrument ähnelt, stellt sich auf die Straße und versucht, ein paar Münzen zu verdienen. Der Kontrast zu argentinischen Trommelgruppen oder Solokünstlern, die mit Präzision und Lebenslust großartige Musik darbieten, kann kaum größer sein.

Die Gesichter Südamerikas
Eine Abenteuerreise durch Argentinien, Chile, Bolivien, Peru und Kolumbien

Thomas Bauer (Autor)

Verlag: Wiesenburg 2009)
ISBN-10: 3940756458
ISBN-13: 978-3940756459, 22,90 €

Erhältlich beim Autor über
www.literaturnest.de oder amazon.de


Irritiert hält der Rastamann in seiner Aufzählung des Schreckens inne. Die beiden Touristinnen verdrehen die Augen. Eine der beiden versucht, das Ärgernis mit der rechten Hand fortzuwedeln. Zugegebenermaßen ist das, was sich da ihren Ohren bietet, erbärmlich. Erschwerend kommt hinzu, dass Shakiras Meckerstimme aus den Lautsprechern parallel zur Darbietung der drei Musiker noch immer einen unwahrscheinlich simplen Text zum Besten gibt. Nach fünf Minuten wird es der Touristin zu bunt. Sie winkt den Kellner zu sich, flüstert ihm etwas zu und deutet auf die "Band". Der Kellner lässt die drei aus dem Garten werfen. Zufrieden lehnen sich die beiden Touristinnen zurück in ihre gepolsterten Stühle. Das Ärgernis ist beseitigt. Der Rastamann ergreift seine Chance und fährt fort, von Boliviens Furchtbarkeiten zu erzählen.

Orte wie das Café Mirador gibt es viele. Es sind Oasen inmitten des Chaos, die Gegenwelten erschaffen und uns für die Illusion bezahlen lassen, dass die Welt insgesamt doch irgendwie in Ordnung ist. Gegen klingende Münze bieten sie ein paar Stunden Vergessen.

Noch im Hotelzimmer, das kaum weniger ein Refugium ist, an dessen Außenmauern die Wirklichkeit abprallt, denke ich darüber nach, wie Menschen, die ausschließlich Orte wie diesen aufsuchen, ihren Aufenthalt in Bolivien erleben mögen. Ist dies in seinem Kern nicht reisen, um die Überlegenheit des eigenen, vertrauten Systems bestätigt zu sehen? Und: Ist das besser oder schlechter, als gar nicht zu reisen?

Text + Fotos: Thomas Bauer
Website: literaturnest.de



Teil I: Bruna Montserrat erklärt mir ihr Buenos Aires
Teil II: Vom Fluss verschluckt
Teil III: "Gipfelsturm" auf sechstausend Meter Höhe
Teil IV: Am skurrilsten Wallfahrtsort der Welt
Teil V: Bolivianische Dimensionen und fehlende Toiletten

[druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: bolivien]





[art_3] Brasilien: Brasiliens schönste Küste (Teil 2) (Teil 1/Teil 3)
Zwischen Paraty und Ubatuba
 
Der Küstenabschnitt zwischen dem historischen Städtchen Paraty, im Süden des Bundesstaates Rio de Janeiro gelegen, und Ubatuba, einem Konglomerat aus etwa 100 Stränden an der Nordküste São Paulos, ist für mich ganz klar der schönste ganz Brasiliens. Zwar trifft man stets Ignoranten, die verneinen, dass São Paulo überhaupt über tolle Strände und atemberaubende Landschaften verfüge, doch die sind wohl noch nie die beeindruckende Küstenstraße entlang gefahren. Was soll’s, ihr Pech halt. In Teil 1 waren wir in Paraty eingekehrt. Jetzt bewegen wir uns gut 20 Kilometer weiter südlich, immer der Küstenstraße folgend.



Kurz bevor es vom Bundesstaat Rio de Janeiro in den São Paulos geht, führt eine kleine Bergstraße links hinauf nach Trindade. Zuerst geht es gut zwei Kilometer die steilen Hänge aufwärts, wobei der Motor des kraftlosen Leihwagens an seine Grenzen stößt. Danach brettern wir die dem Meer zugewandte Hügelseite wieder hinab, noch einmal gut zwei Kilometer. Wir erreichen den ersten Strand, an dem man einen kleinen Fluss, eher ein Rinnsal, durchfahren muss, um hinauf auf die asphaltierte Straße und hinein ins Hippiedörfchen Trindade zu gelangen.



Auf einer ehemaligen Pferdewiese am anderen Ende des Dörfchens parkt man und ist fast schon am Strand. Dass das mal eine Pferdewiese war, weiß ich deshalb, weil ich genau auf dieser ehemaligen Pferdewiese, oder besser, als diese noch eine Pferdewiese war, eine schmerzhafte Zusammenkunft mit einem Pferd hatte. Oder, besser gesagt, mein Kopf mit dem Kopf des Pferdes. Ich gebe zu, dass man des Nachts nicht einfach ein unbekanntes Pferd streicheln sollte, besonders wenn man mehr als fünf Caipirinhas von der Hammersorte intus hat. Aber so geht's halt manchmal...

Vom Parkplatz aus gelangt man zur Praia do Meio, an der man es sich erst einmal bequem machen und Caipirinhas plus Sea Food verköstigen kann. Wem es hier zu bevölkert erscheint, der begibt sich einfach ein paar hundert Meter weiter über einen Trampelpfad durch den Urwald, um an den Kilometer langen Praia do Cachadaço zu gelangen. Vorsicht für nicht so erfahrene Schwimmer - an manchen Stellen gibt es starke Unterströmungen. Dafür ist man an dem Strand aber nahezu alleine; keine Strandbars bedeuten wenige brasilianische Touristen.

Wer jetzt noch Puste hat und ein ganz besonderes Spektakel erleben möchte, den führt es über einen gut einen Kilometer langen Pfad durch den Urwald zu der "Piscina do Cachadaço", einem natürlichen Schwimmbad inmitten des Meeres, geschützt vor den Wellen durch riesige Steine vulkanischen Ursprungs. Inmitten von bunten Fischen kann man toll schnorcheln. Hier den Tag ausklingen zu lassen, ist das perfekte Ende eines romantischen Ausflugs.

Ein Blick auf die Karte zeigt, dass die Grenze zwischen den Bundesstaaten Rio de Janeiro und São Paulo genau durch diesen magischen Ort führt. Damit, so sage ich hier einfach einmal, beginnt die wunderschöne Nordküste São Paulos, weitgehend unbekannt unter Touristen und Strandfetischisten.



Demnächst zeigen wir ein wenig mehr davon, dann, wenn es aufgeht Richtung Ubatuba. (Teil 3)

Text + Fotos: Thomas Milz

Links:
www.paraty.com.br/trindade/
www.paratytrindade.com.br
www.trindade.tur.br

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druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]





[art_4] Venezuela: Anakonda würgt Kaiman (Bildergalerie)
 
Sie jagen beide in den Wasserlöchern der venezolanischen Steppe, den Los Llanos. Der eine ist spezialisiert auf Piranhas und Baby-Anakondas, die andere auf Kaimane. Schon wegen ihres stromlinienförmigen Körpers passen Kaimane ideal in das Beuteschema der längsten Schlange der Welt. Und so sieht es aus, wenn der eine Gigant der anderen Gigantin zum falschen Zeitpunkt in die Quere kommt...


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Fotos: Frank Sippach

Tipp:
Detaillierte Informationen zu Reisen in Venezuela:
Posada Casa Vieja Mérida



[druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: venezuela]





[kol_1] Grenzfall: 12 Stunden Madrid
Inzwischen kann ich Eyjafjallajökull fehlerfrei aussprechen
 
Fünf von zehn Tagen der Reise durch Zentralamerika war Eyjafjallajökull kein Begriff für mich. Ich wusste ja noch nicht mal, dass Island neben einem marodierenden Bankwesen auch noch einen potenziell aschespeienden Vulkan besitzt. Gleich zwei Mal binnen eines Jahres also kommt dieses kleine Land auf die Titelseiten der Presse. Was zuvor im Fernsehen bei CNN oder BBC noch fernen Dokumentationscharakter hatte, ist am Madrider Airport Ruben Barajas allzu schnell in harte Realität umgeschlagen. Weil der Luftraum über Europa weitgehend geschlossen bleibt, geht ganz einfach gar nichts mehr. Inzwischen kann ich Eyjafjallajökull fehlerfrei aussprechen. Nun ja, zumindest beinahe.



Direkt nach dem zehnstündigen Flug aus dem pulsierenden Panama City reiht man sich direkt nach der Ankunft in Madrid, Ruben Barajas brav in die Schlange ein, um am Schalter über das weitere Vorgehen informiert zu werden. 15 Minuten, eine halbe Stunde, schließlich ist die Stunde voll und man noch immer nicht an der Reihe. In der Zwischenzeit schafft es die spanische Iberia nicht, das Personal so aufzustocken, dass eine vernünftige Betreuung der Passagiere möglich ist. Kein Gruppieren von Passagieren, die offensichtlich die gleichen Flugziele haben. Nur einige wenige Fluggäste nehmen das dann selbst in die Hand. Vorne am Schalter angekommen, wird man lediglich auf die weiteren Schalter im Check-In-Bereich verwiesen. "Es ist einfach unglaublich", schimpft eine sichtlich erschöpfte Engländerin, die nach London Heathrow muss. "Man erhält nicht eine brauchbare Info. Alles muss man sich erfragen, niemand kümmert sich um irgendetwas. Das ist schon sehr ernüchternd", so die 31-jährige weiter.

Anderen Fluggästen geht es ähnlich. Gabriela und Sergio aus Uruguay wollen nach Deutschland und stecken jetzt in einer der unzähligen Schlangen fest. Den Start ihrer Europareise haben sich die beiden etwas anders vorgestellt. "Wir sollten jetzt schon in München sein, stattdessen verfrachten sie uns in den Bus nach Frankfurt", lautet ihr Kommentar. Weitere Busse fahren nach Paris und Brüssel. Ein junger Argentinier will nach Berlin und steht ebenso brav in der Schlange. Er lacht. "Was bleibt denn anderes übrig? Ich hab schon gefragt, ob es irgendeine Kompensation gibt, aber da stellt sich die Airline stur. Von Frankfurt aus muss ich selbst schauen, wie ich nach Berlin komme. Bleibe ich in Madrid, muss ich die Kosten für Hotel und Essen selber bezahlen. Dann doch lieber weiter.",



Ich will nicht mit dem Bus nach Deutschland fahren, egal wohin. 30 Stunden in einem gewöhnlichen Bus ist nicht das, wovon ich geträumt habe. In Bolivien wäre das was anderes, aber mit Überschreiten gewisser Staatsgebiete steigt die eigene Bequemlichkeit nicht selten überproportional. Ich lasse mich erschöpft noch auf irgendeine Liste für einen Flug gen München am nächsten Nachmittag setzen und tue das, was ich schon längst hätte tun sollen: Ich steige in die Metro und fahre in die Innenstadt.

Draußen wird es bereits dunkel und ich muss daran denken, dass ich noch nie in Madrid gewesen bin. Lateinamerika kenne ich nun wirklich gut, Spanien mit Ausnahme von Barcelona - wobei das die Katalanen ja auch wieder anders sehen - ist ein unbeschriebenes Blatt. Bewaffnet mit meinem Krimskrams, einigen Hotellisten und einem rudimentären Stadtplan fahre ich gen Sonne. "Sol" wird mir als Zentrum genannt und nach einem halben Tag des Rumstehens am Flughafen täte ein bisschen Sonne wirklich gut. Auf dem Weg dorthin muss ich drei Mal umsteigen und durchforste die Listen. Vergebene Liebesmühe. Gibt es etwas Abtörnenderes als sich um halb 11 Uhr nachts noch ein Hotel aus einer Liste herauszupicken? Eben. Beim Hinausgehen gen Sonne frage ich kurzerhand zwei junge Madrilenen. Bereitwillig geben sie mir Ratschläge und sie kennen sich erstaunlich gut aus. "Wir arbeiten im Tourismus", erklärt Ana lächelnd.

So schnell wie ich mir das vorgestellt habe, stehe ich in einer schicken Hotellobby, gebe meine Kreditkarte ab und bin seltsam glücklich. Dann aber meldet sich mein Bauch und der will mit mir hinaus in die milde Nacht. "La Latina" wird mir von José dem Nachtportier empfohlen. "Da gibt's viele Tapasbars und man kann gepflegt Wein oder Bier trinken." Nachtportiers scheinen ein geschultes Auge für ihre Klientel zu haben. Ich gehe durch die Nacht und in Richtung der Straßen Cava Baja und Grafal. Ein klein wenig Sightseeing darf natürlich nicht fehlen. Wie ferngesteuert komme ich tatsächlich am Plaza Mayor vorbei und dort versucht man natürlich gerne, einen Gestrandeten in eines der Restaurants zu locken. Lachend lehne ich ab, erfreue mich daran, dass mitten unter der Woche in Madrid um halb 12 noch einiges auf den Beinen ist und biege nach zweimaligem Nachfragen in die Cava Baja ein.



Wer wie ich noch nie in der spanischen Hauptstadt war und die Nacht liebt, der muss hierher. Das wird mir klar, als ich links und rechts schon auf den ersten 20 Metern fast ebenso viele kleine Bars und Spelunken sehe - eine einladender als die andere. Ich lasse mich treiben, gehe vorbei an La Concha, La Chata, Tomás, Casa Lucas und etlichen anderen. Ich entscheide mich für das Tempranillo und habe Mühe, überhaupt an die Theke zu kommen. Eine Menge Leute tummeln sich hier. Aber die Madrilenen sind ein geduldiges Volk und schneller als ich es mir hätte erträumen lassen, stehe ich an der Theke, drei Tapas-Teller vor mir und ein Gläschen Wein. Solo Vino Español steht auf einem Schild direkt am mächtigen Weinregal. Wenn ich das nächste Mal nach Madrid kommen sollte, werde ich mich durch das Regal testen, das ist sicher. In dieser Nacht jedoch ist daran nicht zu denken. So voll es auch beim Betreten in der kleinen Bar war, so schnell wollen die Spanier wohl unter der Woche auch wieder ins Bett. Ehe ich den letzten Bissen genossen habe, bin ich quasi allein. Nur der Batista und ein Kellner leisten mir Gesellschaft, sind aber nicht sonderlich erfreut, als ich noch ein Glas Wein ordern möchte.

Lange halte ich mich am Weinglas nicht fest, dann hat mich die Abendluft wieder. So lebhaft es auf dem Hinweg zugegangen sein mag, so hochgeklappt erscheinen mir jetzt die Bürgersteige. Die Stadt scheint ausgestorben. Wo ist sie nur, diese nie endend wollende Lebensfreude, die Herzlichkeit, das Liebenswerte? Oder reicht ein zweistündiger Aufenthalt in einer Tapas-Bar hierfür nicht aus? Immerhin, die paar Stunden am nächsten Morgen, ehe ich erneut zum Flughafen muss, habe ich für einen kleinen Stadtrundgang genutzt. Keine Frage, ich werde wohl bald wiederkommen müssen, um mir ein umfassenderes Bild von den Leuten und Madrid zu machen. Denn eins ist klar: Die (Innen-)Stadt hat Charme und kann sich durchaus sehen lassen.

Text + Fotos: Andreas Dauerer

[druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: grenzfall]





[kol_4] 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 1) (Teil 2)
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur

In einer wegweisenden Studie für das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik analysierte 1998 der Wissenschaftler Dr. Klaus Eßer die Situation Lateinamerikas. Seine Aussagen haben auch im Jahr 2010 noch Gültigkeit, weswegen caiman.de sie in seiner Serie "Lateinamerika: 200 Jahre Befreiung" zusammengefasst in acht komprimierten Thesen vorstellt.

Der interregionale Vergleich deutet auf eine Verspätung der lateinamerikanischen Regionalkultur hin. Die Gesellschaften sind weder traditionell noch modern; sie blieben im Übergang stecken. Ihr industriell-technologischer Rückstand zu den Industrieländern vertieft sich. Es ist wichtig, die Modernisierungshemmnisse der Regionalkultur herauszuarbeiten, um es möglich zu machen, Handlungsanforderungen und Politiken, die auf einen dynamischen Modernisierungsprozeß gerichtet sind, zu formulieren.

Dr. Eßer, Klaus
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
Berichte und Gutachten Nr. 4/1998, 114 S.
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Berlin 1998

Hervorgehoben werden insgesamt acht Komplexe von Modernisierungshemmnissen in Lateinamerika, von denen fünf in diesem ersten und weitere drei in einem zweiten Teil vorgestellt werden.

Die Ausgangsbedingungen der Gesellschaften Lateinamerikas sind im Hinblick auf ihre Modernisierungsdynamik ungünstig. Das iberische Erbe, die Herkunft aus Gesellschaften mit geringer Modernisierungsdynamik und der Kulturtransfer aus diesen über lange Zeit sowie ein starker externer Spezialisierungsdruck prägen die Gesellschaften Lateinamerikas seit ihrer Aufbauphase. Viele Siedler in Nordamerika dagegen kamen aus einer europäischen Gesellschaft mit hoher Modernisierungsdynamik und waren einem geringeren externen Spezialisierungsdruck ausgesetzt.

Wirkungen des iberischen Erbes und des externen Spezialisierungsdruckes
Freilich führt die lange Zeit übliche Reduktion auf extern verursachte Hemmnisse interner Dynamik in Lateinamerika in die Irre. Die Ausgangsbedingungen stellen nach 500 Jahren Geschichte, fast 180 Jahren politischer Unabhängigkeit sowie verschiedenen selbstinszenierten Modernisierungsprojekten nicht mehr die einzigen, zumindest in diesem Jahrhundert auch nicht die wichtigsten Ursachen der gehemmten Modernisierung dar. Die Reduktion auf externe Ursachen der eigenen Rückständigkeit ist ohnehin unergiebig, da sich Gesellschaften, wenn überhaupt, nur aus eigener Kraft dynamisch zu modernisieren vermögen. Die Einbeziehung in Modernisierungsprozesse anderer ermöglicht allenfalls zeitweise Dynamik.

Der sich vertiefende industriell-technologische Rückstand zu den Industrieländern und einer wachsenden Gruppe asiatischer Länder war in Lateinamerika lange Zeit kein zentrales Thema. Die Orientierung an den Industrieländern fiel nachlässig aus; sie wurde sogar abgelehnt, der Markt als Steuerungsmechanismus zurückgedrängt. Der schwache und ineffektive Staat diente in starkem Maße, häufig überwiegend partikularen Interessen. Gegen die externe Verursachung spricht auch, dass der eigene Modernisierungspfad kaum je kritisch hinterfragt wurde. Und dies, obwohl die Gesellschaften immer undynamischer und im Hinblick auf Regeln, Politiken, Institutionen, Organisationen und Technologien unmoderner wurden. In dieser Region, so scheint es, lag eine historische Herausforderung, die eine große Antwort verlangt hätte, nicht vor. Die Gesellschaften wichen vielmehr in dem Maße, wie sie sich dem externen Spezialisierungsdruck zu entziehen vermochten, der Moderne aus.

Mangel an Kontinuitätsbrüchen
Die Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie die Denk- und Handlungsmuster der Gesellschaften Lateinamerikas, hierin besteht ihre wichtigste Gemeinsamkeit, sind außergewöhnlich stabil. Zwar gerieten diese Gesellschaften drei Mal an Gabelungen ihrer Geschichte; diese jedoch lösten keine Kontinuitätsbrüche aus. Anstelle eines radikalen Neuanfanges kam es zu vorsichtigen Reformen, die es erlaubten, eine gesellschaftliche Neuorientierung zu vermeiden:
  1. An der ersten Gabelung, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, hatten die Schwäche der rückständigen Kolonialländer sowie das Interesse Großbritanniens zur Folge, dass die lokalen kreolischen Akteure das traditionelle Organisations-, Steuerungs- und Wachstumsmuster nach Erringung der politischen Unabhängigkeit gewinnträchtiger fortzuführen vermochten.
  2. Wegen der vorübergehenden Importschwäche der Industrieländer löste ab 1930 eine binnenorientierte, auf industrielle Importsubstitution (IIS) abstellende Politik die lange "Entwicklung nach außen" ab. Das schlichte Wachstumsmuster wurde sechs Jahrzehnte fortgeführt, obwohl es bald seine Dynamik verlor. Ihm fehlten Anreize zur Stärkung der technologischen Kompetenz, Steigerung der Produktivität und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Letzteren stand über die Bedienung der engen, nur langsam wachsenden inländischen Nachfrage hinaus nur der Weg der Ausplünderung des Staates offen. Der Marktmechanismus hatte wegen des Abschlusses der Binnenmärkte keine Chance. Der Staatsinterventionismus war Ursache und Folge zunehmender Staatsfixierung. Die Rentenorientierung der Unternehmen wurde durch die Bestechlichkeit der Funktionäre erleichtert. Die anfängliche Investitionstendenz wurde zunehmend durch Konsumorientierung abgelöst. Der Umgang mit Rohstoffen und Kapital weist auf Vergeudung, nicht auf Kapitalmangel. Trotz des wachsenden industriell-technologischen Rückstandes und nachlassendem quantitativen Wachstum verharrten die Länder bei der IIS. Kapitalflucht wegen abnehmender Gewinne, jedoch wachsender Risiken führte zu Kapitalimport und Außenverschuldung, letztere zur Verschuldungskrise ab 1982.
  3. Auch die dritte Gabelung, die nun zu einer radikalen Marktorientierung führt, deutet nicht auf einen Kontinuitätsbruch hin: Eine wirtschaftspolitische Neuorientierung lag angesichts der abfallenden Dynamik der IIS im Interesse der vermögenden Schichten. Aufgrund der Verschuldungskrise wurde sie unvermeidbar, jedoch lange Zeit hinausgezögert. Bisher weist wenig auf einen Wechsel der wirtschaftlichen und politischen Führungsgruppen hin, jedoch vieles auf neue einseitige Vorteile zugunsten der vermögenden Schichten. Einkommenskonzentration und Armut verschärfen sich weiter. Wiederum wurden im Zuge der Umorientierung die zentralen Fragen nach einer industriell-technologischen Aufholstrategie und der Durchsetzung moderner Gesellschaften nicht einmal diskutiert.

Das neue Wachstumsmuster, Rationalisierung unter Weltmarktdruck plus Anstöße durch ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Kulturtransfer, baut endogene Modernisierungshemmnisse ab, lässt andere jedoch bestehen. Vernachlässigt werden die gesellschaftliche Integration, die Stärkung der Handlungsfähigkeit des Nationalstaates nach innen und außen, der Abbau der Armut und die Verbesserung der gesellschaftlichen Vorleistungen für die Wirtschaft. Die institutionellen Reformen stehen erst am Anfang. Das Ausbleiben von Kontinuitätsbrüchen, etwa des Typs europäischer Revolutionen oder auch kriegerischer Auseinandersetzungen, welche neuen politischen und wirtschaftlichen Führungsgruppen eine Chance geben, ist eine der Ursachen der geringen Dynamik der lateinamerikanischen Regionalkultur von innen her. Sie besitzt eine Grundstabilität, die sich als Hemmnis für Wachstum, Differenzierung, Komplexität und Lernen erweist. Der moderne Kapitalismus setzt sich weiterhin in deformierter und bruchstückhafter Form durch. Modernisierungsorientierte politische Kräfte, die ihm eine klare, eindeutige und dauerhafte Richtung geben könnten, zeichnen sich nicht ab.

Hemmende Wirtschafts- und Machtstrukturen
Wichtigste Ursache der exzessiven Stabilität ist das Fortbestehen traditioneller Wirtschafts- und Machtstrukturen. Wirtschafts- und Machtbasis der Oligarchie war lange Zeit das Latifundium; von diesem aus diversifizierte sie sich wirtschaftlich. Die Oberschicht, zufrieden, konsumorientiert, auf die Sicherung der Mechanismen weiterer Vermögens- und Einkommenskonzentration bedacht, kaum je ernsthaft bedroht, erweitert sich durch Kooptation Neureicher, die ihre Regeln akzeptieren. Sie ist wertekonservativ, heute auch marktliberal, in der Regel eng mit Kirche, Militär und konservativen Kräften in den USA und anderen Industrieländern verbunden. Sie besaß und besitzt ausreichend Potential zur Modernisierung, jedoch nur ein begrenztes, am eigenen Nutzen orientiertes Interesse an dieser. Außerdem blieb sie immer geistig zu eng, um Träume, Visionen und Strategien zu verfolgen. Die Hegemonie im Bereich der intellektuellen Kultur strebte sie nicht einmal an.

Sie blockierte die gesellschaftliche Integration, vor allem der armen indigenen, aus Afrika stammenden und weißen Unterschichten, verzichtete auf den Aufbau eines starken und effektiven Nationalstaates und unterließ es, eine systematische kapitalistische Produktion durchzusetzen. Kapital war durchaus verfügbar; es wurde im großen Stil vergeudet. Es fehlten Unternehmergeist, der Wille zu sparen, um zu investieren, sowie ein modernisierungsorientiertes Organisations- und Steuerungsmuster. In manchem kleinen armen Land reicht der Gestaltungswille der vermögenden Schichten bis heute kaum je über Machterhalt sowie familiäre, Klub- und Lobby-Interessen hinaus. Während der IIS-Phase bestanden die Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie viele Denk- und Handlungsmuster der "Entwicklung nach außen" fort. Die Einkommenskonzentration, die sich - im Unterschied zu Angloamerika - in einer frühen Phase der Geschichte aus dem Rohstoffexport und dem Latifundium ergab, begünstigte die gesellschaftliche Polarisierung ebenso wie die Lern- und Gestaltungsmängel der Oberschicht sowie deren Neigung, auf immer neue soft options zu setzen.

Auch im Verlaufe der IIS vermochten sich proindustrielle Kräfte nicht klar, eindeutig und dauerhaft durchzusetzen. Die proindustriellen Gruppierungen gingen mit den traditionellen Kräften und auch mit den verteilungsorientierten Mittel- und Unterschichten immer neue politische und wirtschaftspolitische Kompromisse ein. Erschwert wurde ihre Position dadurch, dass die IIS durchaus keine Strategie industriell-technologischen Aufholens darstellte.

Weil die proindustriellen Gruppierungen die Unternehmen einerseits im engen Binnenrahmen blockierten, andererseits schonten und förderten, statt sie Modernisierungsanreizen und Exportdruck auszusetzen, wurden die vorindustriellen Kräfte wirtschaftlich nicht geschwächt, sondern vermochten aus der Hochintervention Nutzen zu ziehen und rentistische Interessen gegenüber dem Staat geltend zu machen. Als das Substitutionspotential sich erschöpfte, nahmen der politische Einfluss und die wirtschaftspolitische Gestaltungskraft der proindustriellen Gruppierungen ab. Sie setzten in den achtziger Jahren mangels alternativer Konzepte wie die konservativen Kräfte auf wirtschaftliche Stabilisierung. Der folgende Umbruch zur Marktorientierung, damit neuen Formen der Stabilisierung, stärkte die traditionellen Strukturen und Kräfte ungemein.

Exzessive Heterogenität
Die exzessive Stabilität in Lateinamerika ist auch durch die außerordentliche Heterogenität in und zwischen Wirtschaftssektoren, Gesellschaftssegmenten und den einzelnen Staaten gesichert. Trotz einer weitgehend gemeinsamen Geschichte über Jahrhunderte und des Zusammenlebens in einem geographisch abgegrenzten Kulturkreis blieben die integrativen Tendenzen schwach. Lateinamerika ist eine Kultur in Stücken.

Die Heterogenität hat gemeinsame Ursachen: Die kreolischen Landherren sprengten die Region auf, als sie ihre Staaten, nicht aber Nationalstaaten schufen. Sie hemmten die gesellschaftliche Integration notfalls mit Gewalt, wie die ethnische Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung verdeutlicht. Ein einigendes Modernisierungsprojekt fassten sie nicht einmal ins Auge. Die gesellschaftliche Ungleichheit ist traditionell ausgeprägt und verschärft sich bis heute weiter. Sie ist eine Ursache der geringen inländischen Nachfragedynamik und der nur schwachen nationalen Homogenisierung; beide wiederum hemmen die Modernisierung.

Die städtische Bevölkerung vermochte die Macht der Landherren zu schwächen, jedoch kein tragfähiges eigenständiges Modernisierungsprojekt durchzusetzen. Es mangelte ihr an Kraft und Konzept, einen modernen Nationalstaat sowie eine systematische kapitalistische Produktion zu etablieren. Der politische Wille, die integrative Kraft und die Konzepte der Reformbewegungen reichten nicht aus, um breite Lernprozesse, Rationalisierungsdruck sowie eine andauernde industrielle Dynamik auszulösen. Es blieb in allen Bereichen, von der Erziehung bis zur Stahlindustrie, bei quantitativer Expansion mit geringer Qualität. Als diese Expansion an Dynamik verlor, verschärften sich die sozialen Expulsionseffekte der Wirtschaft.

Die Marktorientierung stärkt neue Werte und Verhaltensmuster, z.B. der Arbeiter, Manager und Unternehmer. Sie überwindet Überbleibsel der vorindustriellen Ökonomie, staatsbürokratische Verwaltungspraktiken und den lange gepflegten Exportpessimismus. Das Wirtschaftswachstum fällt jedoch zu niedrig aus, die Fragmentierung der Unternehmen und die technologische Heterogenität bleiben zu stark, um die gesellschaftliche Fragmentierung zu überwinden. Die Zahl der im formellen Wirtschaftssektor neu und zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze ist gering. Die Einkommensverteilung wird noch ungleicher, was u.a. die inländische Nachfrage verengt. Das Organisations- und Steuerungsmuster trägt kaum dazu bei, ein lokales, regionales und nationalstaatliches Zusammenwachsen auszulösen.

Das neue Gestaltungskonzept vermag mangels Gemeinschaftsbildung, etwa durch das Erziehungswesen, keine starke gesellschaftliche Dynamik auszulösen, die auf industrielle, technologische, soziale und politische Modernisierung gerichtet ist. Es kommt zu einem weiteren Modernisierungsschub, der mangels Lerndynamik und Gestaltungswillen die Fragmentierung fortsetzt und, indem fast jede Rücksichtnahme aushebelt wird, sogar verschärft. Unter diesen Umständen bleibt die Fähigkeit zur Selbststeuerung in dieser Randzone der Moderne gering; eine soziale Idee, die auf eine aktive Gesellschaft zielt, eine integrative Kraft entfaltet und eine eigenständige kulturelle Dynamik in der Region auslöst, ist weiterhin nicht in Sicht. Ökonomisches Denken und Handeln setzen sich durch; die gesellschaftlichen Vorleistungen bleiben jedoch sogar für das schlichte Wachstumsmuster unzureichend. Eine radikale Marktorientierung in Gesellschaften mit ohnehin geringer Bindekraft und Solidarität, die soziale Verantwortung und sozialen Zusammenhalt ausklammert, hemmt ihre eigene Dynamik. Erneut sind die Tendenzen zu einem eigenständigen nationalstaatlichen Modernisierungsprojekt schwach ausgeprägt. Lateinamerika wird in die Moderne anderer einbezogen, da es sein Potential an intellektueller, institutioneller und technischer Kultur unzureichend aus eigener Kraft und zukunftsorientiert mobilisiert.

Ähnliche Denk- und Handlungsmuster
Auch wegen ähnlicher Denk- und Handlungsmuster stellt Lateinamerika einen Kulturkreis dar. Dies gilt für Wertesysteme, Gefühls- und Sichtweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Besonders ausgeprägt sind die Gemeinsamkeiten der intellektuellen Kultur. Das iberische Erbe, die hegemoniale Position einer vorindustriellen Oligarchie, die in einigen Kleinstaaten bis heute besteht sowie die im Zeitraum 1930 - 1990 ungeklärten macht- und wirtschaftspolitischen Fragen hemmten die technisch-organisatorisch-soziale Modernisierung. Eine wichtige Folge ist, dass in den Gesellschaften Lateinamerikas der Prozess institutioneller Verfestigung, normativer Einengung, des Aufbaus von Einrichtungen, die Konsens- und Dialogfähigkeit ermöglichen sowie der Einübung von Kontrolle und Evaluierung, um Ergebnisse zur Grundlage neuer Entscheidungsprozesse zu machen, zudem klarer und dauerhafter Spielregeln, um die Unternehmen als treibende Kraft kapitalistischer Modernisierung zu etablieren, stecken blieb.

Größere Bedeutung als den überkommenen Denk- und Handlungsmustern, einschließlich des Katholizismus, kommt der Prägung durch Wirtschafts- und Machtstrukturen über Jahrhunderte zu, die beim größten Teil der Bevölkerung immer wieder zu Leid, Enttäuschung und Frustration führen. Bildung und Leistung zählen wenig, wenn Macht und Beziehung dauerhaft mehr vermögen. Sparen, Investition und Zukunftsvertrauen sind bei rechtsarmer Praxis, manipulierbaren Spielregeln, übermächtigen partikularen Interessen und Institutionen, welche die Korruption begünstigen, fragwürdige Ziele. Dauerhaft schwache Personen - oder Staaten - folgen dem Leitbild obedezco, pero no cumplo: Sie sind offen, freundlich und unverbindlich, vermeiden Widerrede und Widerstand, befolgen Anweisungen jedoch nur teilweise und unterlaufen Vereinbarungen, wo immer möglich, im eigenen Interesse. Bei ausländischen Experten liegen Erfahrungen dieser Art, die auch auf geringes Vertrauen weisen, vor.

Der Unterschied zu Asien
In Lateinamerika fehlt ein aufstrebendes, die traditionalen Kräfte verdrängendes, stil- und profilbildendes Bürgertum, das der Mobilisierung der endogenen Potentiale eine Richtung gibt und die Werte, Mythen und Symbole sowie die Alltagskultur der Gesellschaft prägt. Denken und Handeln werden weiterhin durch vermögende Schichten geprägt, die, gemessen am Modernisierungsprozess und europäischen Werten, negative Vorbilder darstellen. Sie verbreiten Misstrauen, Gewalt, clientelismo, den Mangel an Bildungseifer und Sparsamkeit und consumismo. Ihnen fehlt Rastlosigkeit im Hinblick auf Neuerungsdynamik. Auch die Instanzen der "moralischen Infrastruktur", Schule oder Gemeinschaft, sind nicht durch Akteursgruppen geprägt, die den Nationalstaat als umfassenden Rahmen und Modernisierungsdynamik als verbindliches und einigendes Ziel begreifen. Gesellschaftliche Kompromissbildung und politische Konsensbildung sind nicht eingeübt.

Im Unterschied zu Asien ist ein Rückgriff auf traditionelle Werte und Normen, um die Modernisierungsdynamik zu stützen, kaum möglich. Allerdings prägen sogar dann, wenn die traditionalen Wirtschafts- und Machtstrukturen durchbrochen sind, die überkommenen Denk- und Handlungsmuster die intellektuelle, institutionelle und technische Kultur weiter. Beispiele sind die autoritär-paternalistischen Verhaltensweisen und Erwartungshaltungen sowie die Vernachlässigung der institutionellen Kultur auf Kuba. Die in einer Gesellschaft vorhandenen Verhaltensvoraussetzungen, dauerhafte Unverantwortlichkeit zentraler Akteure, institutionelle Mängel und Fehlentwicklungen, traditionale Agrarstrukturen und wirtschaftspolitische Irrwege über lange Zeit, prägen Mentalitäten und lösen Misstrauen, no-diálogo-Situationen und auch Gewalt aus. Die kulturellen Anpassungsleistungen sind also nicht nur auf Denk- und Handlungsmuster zurückzuführen. Sie hängen vor allem davon ab, ob es einer Gruppe politischer und wirtschaftlicher Akteure gelingt, entschieden das Modernisierungsziel zu verfolgen. Im Rahmen der einseitigen Marktorientierung der letzten Jahre gibt es Anzeichen dafür, dass das Wertemuster der Gesellschaften der Region sich verändert. Allerdings wird nicht gemeinsames nationalstaatliches Handeln, sondern der Primat der Ökonomie eingeübt. Der Konservatismus und die Persistenz obsolet gewordener Wirtschafts- und Machtstrukturen prägten auch die Denk- und Handlungsmuster der Reformer und Revolutionäre:

  1. Sie lösten, wie anderswo, romantische und idealistische Strömungen bei der Intelligenz aus.
  2. Sie führten zu anarchischen Tumulten und Revolten, die wegen ihrer Ziellosigkeit und Desorganisation, wie die häufigen Regierungswechsel, die keineswegs auf Machtveränderungen deuteten, zur Stabilisierung der Wirtschafts-, Einkommens- und Machtstrukturen beitrugen. Dieses Muster, im Ausland häufig als instabil gedeutet, wurde selten durchbrochen.

In Peru oder Guatemala mobilisierten Regime- und Systemgegner die großen, seit jeher unterjochten und abgedrängten indigenen Unterschichten. Hier kam es, zumal beide Seiten tatsächliche und perzipierte kulturelle Differenzen nährten, zu fundamentalistisch-unversöhnlichen Zuspitzungen und jahrzehntelanger brutaler Gewalt von oben und unten her, jedoch nicht zu Kontinuitätsbrüchen. In Chile stärkte ein gemäßigter, wegen seiner Konzeption sowie von Widerständen und Hemmnissen wenig erfolgreicher Reformprozess der Christlichen Demokraten die revolutionären und die konservativen Kräfte. Erstere setzten sich in demokratischen Wahlen durch; letztere wurden von einer Militärdiktatur, die grundsätzlich ihre Interessen vertrat, unter Modernisierungsdruck gesetzt. In Kolumbien, wo sich die traditionellen Kräfte als besonders stark und als wirtschaftlich relativ erfolgreich erweisen, wird ihre hegemoniale Position seit Jahrzehnten durch Guerrillas bekämpft, die jedoch zu schwach blieben, um die Machtfrage zu stellen. In anderen Ländern, z.B. Venezuela, sitzen Repräsentanten gewaltsamer Emanzipationsbewegungen heute im Parlament, einzelne auch in Regierungen, viele in öffentlichen Vorfeldinstitutionen. Die Fähigkeit, auch Dissidenten zu kooptieren, ist seit langem eingeübt.

Es kommt zu einer mañana-Haltung
Wirtschaft, Staat und die Gesellschaft insgesamt sind in sinnkodierte kulturelle Zusammenhänge eingebettet, die sich wiederum häufig aus Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Ineffizienz nährenden Wirtschaftspolitiken ergeben. Die institutionelle, technische und materielle Kultur weist viele Beispiele auf:

  • Juristische Spitzfindigkeit und Mangel an Geltung des Rechts lösen eine laxe Haltung in Rechtsfragen und private Antworten auf Rechtsverletzungen, bis hin zu Gewalt, aus.
  • Unternehmen, die, wie während der IIS, Produkte geringer Qualität auf geschützten Märkten zu hohen Preisen anbieten, vernachlässigen die Zeitökonomie. Heute wird diese in wettbewerbsorientierten Unternehmen Lateinamerikas kontrolliert eingeübt. Dies gilt auch für die Steuerehrlichkeit in Chile oder Peru.
  • Weist die materielle Kultur, wie wegen der IIS, dauerhaft Defekte auf, wird z.B. die materielle Infrastruktur nicht kostengünstig und stetig bereitgestellt, kommt es zu einer mañana-Haltung, die wiederum diese Defekte toleriert, sowie zu einer häufig kuriosen Flexibilität. Einwanderergruppen stellen solange Ausnahmen dar, bis sich ihre beharrliche Bildungstradition, ihr hartnäckiger Sparwillen und ihr spezielles Unternehmertum im neuen Umfeld mangels Transparenz, Kalkulierbarkeit, Effektivität und Ersatzteilen verlieren. Während der IIS wurde deutlich, dass die Suche nach kultureller Identität in einem Umfeld wachsender Defekte der institutionellen, technischen und materiellen Kultur eine Schimärenjagd darstellt. Die kulturellen Transaktionskosten sind zu hoch. Die Beständigkeit traditionaler Werte ergibt sich nicht nur aus Machtstrukturen, sondern auch aus dem Umstand, dass ein großer und wachsender Teil der Bevölkerung nicht in die moderne materielle Kultur, Produktion und Konsum, eingebettet ist. Erst die Marktorientierung verringert die überaus hohen Kosten für den Einzelnen und das Unternehmen, die durch die IIS entstanden.
Einseitige Binnenorientierung löst, insbesondere bei engen inländischen Märkten, Staatsorientierung aus; rentistisches Verhalten fragmentiert den Staatsapparat weiter. Die unübersichtliche Anhäufung von Regeln, etwa Eingriffen in den Marktmechanismus, hat Müdigkeit zur Folge, diesen nachzukommen. Unklare Anreize und hohe Risiken führen zu einer einseitigen Orientierung der Unternehmen an der kurzfristig erzielbaren Rendite; dies gilt umso mehr, wenn Raubbau bereits eingeübt ist. Auch der Richtungsmangel oder -verlust der politischen Akteure lösen cortoplazismo aus - eine Gegenwartsorientierung ohne Zukunftsvision und gerichteten Lernprozess.

Den Kritikern des Neoliberalismus in den modernen Gesellschaften mag es schwer verständlich sein, dass der neoliberale Umbruch in Lateinamerika bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung für eine Reihe von Jahren Hoffnung, Mut und sogar Begeisterung auslöste. Sie litt unter den Defekten ihrer institutionellen, technischen und materiellen Umwelt und des wirtschaftspolitischen Hochinterventionismus. Enttäuschungen werden jedoch nicht ausbleiben. Auf Dauer ungebändigte Konkurrenz, hier liegt die neue Gefahr, ist für den Markt schädlich und fragmentiert die Gesellschaft noch stärker. Märkte, die unzureichend reguliert sind, unterhöhlen gemeinschaftliche Werte oder unterbinden deren Entstehen. Ein marktgerichtetes Anreizsystem, das enthemmtes Marktfieber überwindet, eindeutige Vorteilserwartungen auslöst sowie Innovation, Produktivitätssteigerung und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen fördert, ist selbst Resultat immer neuer gesellschaftlicher Anstrengungen, den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in ein gesellschaftlich verbindliches, verlässliche Erwartungen und berechenbare Handlungen der Marktteilnehmer sicherndes Regelwerk einzubetten.

In der Juniausgabe gehts weiter mit: 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 2)

Text + Foto: Dr. Klaus Eßer

[druckversion ed 05/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: 200 jahre befreiung]





[kol_3] Helden Brasiliens: Elektronische Weihwasserspender, katholische Kreuzfahrt, Autodeals...
7. Expocatolica in São Paulo
 
Batteriebetriebene Kerzen, Soundsysteme für die moderne Kirchen, Christusfiguren in jeder beliebigen Größe - kein Wunsch blieb bei den Besuchern der katholischen Messe Expocatolica in São Paulo offen. Zum siebten Mal fand Anfang April 2010 Lateinamerikas größte Ausstellung religiöser Utensilien statt. Vor Fortschritt und Modernität wollten sich die Aussteller und Organisatoren dabei bewusst nicht drücken.


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"Wir können nicht die Augen verschließen und so weitermachen wie vor 30 oder 40 Jahren", meint Padre Valdeir dos Santos Goulart. Er ist Geschäftsführer der kommerziellen Abteilung der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB. Diese erhofft sich von der Expocatolica neue Impulse für die Evangelisierungsarbeit. "Die Technologie kann uns im Bereich der Spiritualität helfen. Das Ziel bleibt aber stets das Gleiche: die Menschen zu einer Begegnung mit Jesus Christus hinzuführen."


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Gut 35.000 Besucher lockt die Messe an vier Tagen an, Neugierige, Fachpublikum und besonders viele Priester. Diesen werden neben schicker Messkleidung und goldenen Abendmahlbechern auch ganz praktische Hilfestellungen gegeben. "Wir führen alkoholfreien Wein", preist eine Verkäuferin und bittet zur Weinprobe. Damit können auch die Menschen an der Eucharistie teilnehmen, die keinen Alkohol zu sich nehmen wollen. Daneben gibt es aber auch richtigen Wein mit 10,1 Prozent Alkohol.  Zu Ehren des verstorbenen polnischen Papstes trägt er den Namen Johannes Paul II.


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"Wir bieten unsere Produkte auf die Zielgruppe katholische Kirche zugeschnitten an", preist eine große brasilianische Versicherungsagentur wenige Meter daneben ihre eigens kreierte Kirchen-Produktlinie. "Auto und Wohnhaus der Priester, wir versichern alles." Auch Lebensversicherung und Rentenmodelle, "alles was für den säkularen Kunden angeboten wird, haben wir auf die speziellen Bedürfnisse der katholischen Kirche abgestimmt. Und dazu bekommen die Padres bei uns noch einen speziellen Rabatt."


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Aber nicht nur ums Verkaufen geht es bei der Expocatolica. Das Rahmenprogramm bietet zahlreiche Seminare und Diskussionsrunden. Hier wird neben Glaubensfragen auch über die praktische Organisation und Verwaltung der Kirchen und ihres Glaubensalltags referiert. Wie baue ich eine denkmalgeschützte Kirche um? Wie kann ich in die Jahre gekommene Kirchenkunst fachgerecht restaurieren? Die Antworten findet man hier.


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Derweil diskutiert eine Gruppe von Nonnen über eine Audio-Software für das Gemeinderadio. Am Nachbarstand werden elektronische Weihwasserspender angepriesen, inklusive eines Sensors "der erkennt, sobald eine Hand darunter gehalten wird und dann genau zwei Tropfen Weihwasser freigibt", so die Werbetafel. Besonders hygienisch und effizient sei dies, "null Verschwendung!"


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Katholische Kreuzfahrt - reiselustige Katholiken werden eingeladen bei der nächsten katholischen Kreuzfahrt vor der Küste Brasiliens dabei zu sein. Vier Tage auf hoher See samt religiösen Musikshows, unter Beteiligung eines echten Erzbischofs. Aber auch auf dem Land locken religiöse Tourismusziele wie die Stadt Aparecida mit ihrer Basilika, der zweitgrößten der katholischen Welt. (Mehr als neun Millionen Pilger besuchen jedes Jahr den Ort der Marienerscheinung. Gemeinsam mit der Cristo-Erlöserstatue in Rio de Janeiro und der Pilgerstätte für die Heilige Paulina in der südbrasilianischen Stadt Nova Trento hat man sich zusammengetan um den religiöse Tourismus noch weiter anzukurbeln.)


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Aber darf Religion und Kommerz überhaupt Hand in Hand gehen? "Würden wir die Gottesdienste an sich kommerzialisieren, den Segen gegen Geld erteilen, dann hätten wir tatsächlich ein Problem", meint Padre Goulart von der CNBB. "Aber hier werden Dinge angeboten, die den Menschen in seiner Spiritualität unterstützen, den Padre bei der Feier der Eucharistie helfen, ihn berät bei Fragen der Größe des Kreuzes oder des Altares in seiner Kirche. Deshalb sehe ich da keinen Widerspruch."


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Stolz präsentiert Padre Goulart auf der Expocatolica eine Partnerschaft die er vor wenigen Monaten mit einem großen Autokonzern eingefädelt hat. "Wir haben in Brasilien 13.000 Gemeinden, 20.000 Priester, unzählige katholische Schulen und vieles mehr." Da liege es doch nahe, die katholische Kaufkraft zu bündeln, so Goulart. "Der Rabatt den die CNBB vom Hersteller bekommt ist praktisch doppelt so hoch, als wenn jede Gemeinde einzeln beim normalen Autohändlern kaufen würde." Gewollt sei schließlich alles, was die Evangelisierung erleichtert, sagt er mit einem leichten Lächeln.

Text + Fotos: Thomas Milz

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[kol_4] Lauschrausch: Oh... Panama!

Die meisten Texte zu Panama beginnen mit einem Zitat des Kinderbuchautors Janosch, meiner nicht. Aber wie die Figuren in dieser Geschichte für Kinder können sich wohl nur wenige Menschen konkret etwas unter diesem Land vorstellen, dessen Name aufgrund des berühmten Kanals trotzdem fast jedem geläufig ist. Lateinamerikainteressierte kennen vielleicht noch den in Drogengeschäfte verwickelten Ex-Präsidenten Noriega und den Salsero und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Rubén Blades. Letzterer ist das musikalische Aushängeschild des kleinen Landes und - neben Billy Cobham - wohl der einzige international bekannte Musiker.


Das musikalisch in Panama einiges passiert und passiert ist, unterstreicht die Strategie von einigen US-Labeln: Ihnen dienten die Discotheken von Panama-City oft als Testfeld für neue Latin-Produktionen. Wenn sie dort ankamen, waren sie auch für den US-Markt geeignet. Für viele der Titel aus den Jahren 1965-1977, die auf den drei hier vorgestellten CDs des Labels Soundway versammelt sind, hätte das wohl auch gegolten, aber sie fanden nur selten ihren Weg auf den internationalen Markt.


Die Musik Panamas spiegelt dessen Gesellschaft wider: eine Mischung aus indigenen Völkern, spanischen Eroberern, afrikanischen Sklaven, karibischen und asiatischen Gastarbeitern und US-Bürgern, die seit der Übernahme des Kanals durch die USA im Jahr 1902 ins Land strömten. Son, Rumba, Calypso, Salsa, Bolero, Foxtrott, Jazz, Gospel, Funk, Rock und Militärmärsche werden fröhlich durcheinander gewirbelt und vervollständigt durch Musik der großen Nachbarstaaten, also Cumbia und Vallenato aus Kolumbien und Música Ranchera aus Mexiko. Das alles fließt auch in die hier versammelten Stücke ein, die - in der Tradition von Soundway - vor allem tanzbar sein sollen. Dabei reicht die Bandbreite von den Folkloremusiken Tamborera und Tamborito, gespielt von Papi Brandao oder Los Silvertones, über kubanischen Guaguanco von Freddy y sus Afrolatinos bis zum Soul-Boogaloo von Victor Boa, vom Akkordeonspiel Ceferino Nietos bis zum Guajira-Jazz der Telecasters. Der Soul von The Exciters muss sich nicht hinter der Musik von US-Krimiserien der 70er Jahre verstecken und auch die Version der Los Invasores von "El ratón" steht dem Original in nichts nach.


Die Soundqualität entspricht zwar nicht immer heutigen Maßstäben, da viele der Tracks von alten 45ern übernommen werden mussten, aber das tut der Musik keinen Abbruch, verstärkt eher die Authentizität des Hörerlebnisses. Die einleitenden Texte sind nicht weniger als eine kurze Musikgeschichte Panamas. Was Roberto Ernesto Gyemant mit diesen drei CDs vor dem Vergessen gerettet hat, ist beeindruckend. Und weil ich es dann doch nicht lassen kann, muss ich Janosch zitieren: "Ach wie schön ist [die Musik in] Panama..."

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

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