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[kol_4] 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 1) (Teil 2)
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur

In einer wegweisenden Studie für das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik analysierte 1998 der Wissenschaftler Dr. Klaus Eßer die Situation Lateinamerikas. Seine Aussagen haben auch im Jahr 2010 noch Gültigkeit, weswegen caiman.de sie in seiner Serie "Lateinamerika: 200 Jahre Befreiung" zusammengefasst in acht komprimierten Thesen vorstellt.

Der interregionale Vergleich deutet auf eine Verspätung der lateinamerikanischen Regionalkultur hin. Die Gesellschaften sind weder traditionell noch modern; sie blieben im Übergang stecken. Ihr industriell-technologischer Rückstand zu den Industrieländern vertieft sich. Es ist wichtig, die Modernisierungshemmnisse der Regionalkultur herauszuarbeiten, um es möglich zu machen, Handlungsanforderungen und Politiken, die auf einen dynamischen Modernisierungsprozeß gerichtet sind, zu formulieren.

Dr. Eßer, Klaus
Modernisierungshemmnisse der lateinamerikanischen Regionalkultur
Berichte und Gutachten Nr. 4/1998, 114 S.
Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Berlin 1998

Hervorgehoben werden insgesamt acht Komplexe von Modernisierungshemmnissen in Lateinamerika, von denen fünf in diesem ersten und weitere drei in einem zweiten Teil vorgestellt werden.

Die Ausgangsbedingungen der Gesellschaften Lateinamerikas sind im Hinblick auf ihre Modernisierungsdynamik ungünstig. Das iberische Erbe, die Herkunft aus Gesellschaften mit geringer Modernisierungsdynamik und der Kulturtransfer aus diesen über lange Zeit sowie ein starker externer Spezialisierungsdruck prägen die Gesellschaften Lateinamerikas seit ihrer Aufbauphase. Viele Siedler in Nordamerika dagegen kamen aus einer europäischen Gesellschaft mit hoher Modernisierungsdynamik und waren einem geringeren externen Spezialisierungsdruck ausgesetzt.

Wirkungen des iberischen Erbes und des externen Spezialisierungsdruckes
Freilich führt die lange Zeit übliche Reduktion auf extern verursachte Hemmnisse interner Dynamik in Lateinamerika in die Irre. Die Ausgangsbedingungen stellen nach 500 Jahren Geschichte, fast 180 Jahren politischer Unabhängigkeit sowie verschiedenen selbstinszenierten Modernisierungsprojekten nicht mehr die einzigen, zumindest in diesem Jahrhundert auch nicht die wichtigsten Ursachen der gehemmten Modernisierung dar. Die Reduktion auf externe Ursachen der eigenen Rückständigkeit ist ohnehin unergiebig, da sich Gesellschaften, wenn überhaupt, nur aus eigener Kraft dynamisch zu modernisieren vermögen. Die Einbeziehung in Modernisierungsprozesse anderer ermöglicht allenfalls zeitweise Dynamik.

Der sich vertiefende industriell-technologische Rückstand zu den Industrieländern und einer wachsenden Gruppe asiatischer Länder war in Lateinamerika lange Zeit kein zentrales Thema. Die Orientierung an den Industrieländern fiel nachlässig aus; sie wurde sogar abgelehnt, der Markt als Steuerungsmechanismus zurückgedrängt. Der schwache und ineffektive Staat diente in starkem Maße, häufig überwiegend partikularen Interessen. Gegen die externe Verursachung spricht auch, dass der eigene Modernisierungspfad kaum je kritisch hinterfragt wurde. Und dies, obwohl die Gesellschaften immer undynamischer und im Hinblick auf Regeln, Politiken, Institutionen, Organisationen und Technologien unmoderner wurden. In dieser Region, so scheint es, lag eine historische Herausforderung, die eine große Antwort verlangt hätte, nicht vor. Die Gesellschaften wichen vielmehr in dem Maße, wie sie sich dem externen Spezialisierungsdruck zu entziehen vermochten, der Moderne aus.

Mangel an Kontinuitätsbrüchen
Die Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie die Denk- und Handlungsmuster der Gesellschaften Lateinamerikas, hierin besteht ihre wichtigste Gemeinsamkeit, sind außergewöhnlich stabil. Zwar gerieten diese Gesellschaften drei Mal an Gabelungen ihrer Geschichte; diese jedoch lösten keine Kontinuitätsbrüche aus. Anstelle eines radikalen Neuanfanges kam es zu vorsichtigen Reformen, die es erlaubten, eine gesellschaftliche Neuorientierung zu vermeiden:
  1. An der ersten Gabelung, im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, hatten die Schwäche der rückständigen Kolonialländer sowie das Interesse Großbritanniens zur Folge, dass die lokalen kreolischen Akteure das traditionelle Organisations-, Steuerungs- und Wachstumsmuster nach Erringung der politischen Unabhängigkeit gewinnträchtiger fortzuführen vermochten.
  2. Wegen der vorübergehenden Importschwäche der Industrieländer löste ab 1930 eine binnenorientierte, auf industrielle Importsubstitution (IIS) abstellende Politik die lange "Entwicklung nach außen" ab. Das schlichte Wachstumsmuster wurde sechs Jahrzehnte fortgeführt, obwohl es bald seine Dynamik verlor. Ihm fehlten Anreize zur Stärkung der technologischen Kompetenz, Steigerung der Produktivität und Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Letzteren stand über die Bedienung der engen, nur langsam wachsenden inländischen Nachfrage hinaus nur der Weg der Ausplünderung des Staates offen. Der Marktmechanismus hatte wegen des Abschlusses der Binnenmärkte keine Chance. Der Staatsinterventionismus war Ursache und Folge zunehmender Staatsfixierung. Die Rentenorientierung der Unternehmen wurde durch die Bestechlichkeit der Funktionäre erleichtert. Die anfängliche Investitionstendenz wurde zunehmend durch Konsumorientierung abgelöst. Der Umgang mit Rohstoffen und Kapital weist auf Vergeudung, nicht auf Kapitalmangel. Trotz des wachsenden industriell-technologischen Rückstandes und nachlassendem quantitativen Wachstum verharrten die Länder bei der IIS. Kapitalflucht wegen abnehmender Gewinne, jedoch wachsender Risiken führte zu Kapitalimport und Außenverschuldung, letztere zur Verschuldungskrise ab 1982.
  3. Auch die dritte Gabelung, die nun zu einer radikalen Marktorientierung führt, deutet nicht auf einen Kontinuitätsbruch hin: Eine wirtschaftspolitische Neuorientierung lag angesichts der abfallenden Dynamik der IIS im Interesse der vermögenden Schichten. Aufgrund der Verschuldungskrise wurde sie unvermeidbar, jedoch lange Zeit hinausgezögert. Bisher weist wenig auf einen Wechsel der wirtschaftlichen und politischen Führungsgruppen hin, jedoch vieles auf neue einseitige Vorteile zugunsten der vermögenden Schichten. Einkommenskonzentration und Armut verschärfen sich weiter. Wiederum wurden im Zuge der Umorientierung die zentralen Fragen nach einer industriell-technologischen Aufholstrategie und der Durchsetzung moderner Gesellschaften nicht einmal diskutiert.

Das neue Wachstumsmuster, Rationalisierung unter Weltmarktdruck plus Anstöße durch ausländische Direkt- und Portfolioinvestitionen sowie wirtschafts- und sozialpolitischen Kulturtransfer, baut endogene Modernisierungshemmnisse ab, lässt andere jedoch bestehen. Vernachlässigt werden die gesellschaftliche Integration, die Stärkung der Handlungsfähigkeit des Nationalstaates nach innen und außen, der Abbau der Armut und die Verbesserung der gesellschaftlichen Vorleistungen für die Wirtschaft. Die institutionellen Reformen stehen erst am Anfang. Das Ausbleiben von Kontinuitätsbrüchen, etwa des Typs europäischer Revolutionen oder auch kriegerischer Auseinandersetzungen, welche neuen politischen und wirtschaftlichen Führungsgruppen eine Chance geben, ist eine der Ursachen der geringen Dynamik der lateinamerikanischen Regionalkultur von innen her. Sie besitzt eine Grundstabilität, die sich als Hemmnis für Wachstum, Differenzierung, Komplexität und Lernen erweist. Der moderne Kapitalismus setzt sich weiterhin in deformierter und bruchstückhafter Form durch. Modernisierungsorientierte politische Kräfte, die ihm eine klare, eindeutige und dauerhafte Richtung geben könnten, zeichnen sich nicht ab.

Hemmende Wirtschafts- und Machtstrukturen
Wichtigste Ursache der exzessiven Stabilität ist das Fortbestehen traditioneller Wirtschafts- und Machtstrukturen. Wirtschafts- und Machtbasis der Oligarchie war lange Zeit das Latifundium; von diesem aus diversifizierte sie sich wirtschaftlich. Die Oberschicht, zufrieden, konsumorientiert, auf die Sicherung der Mechanismen weiterer Vermögens- und Einkommenskonzentration bedacht, kaum je ernsthaft bedroht, erweitert sich durch Kooptation Neureicher, die ihre Regeln akzeptieren. Sie ist wertekonservativ, heute auch marktliberal, in der Regel eng mit Kirche, Militär und konservativen Kräften in den USA und anderen Industrieländern verbunden. Sie besaß und besitzt ausreichend Potential zur Modernisierung, jedoch nur ein begrenztes, am eigenen Nutzen orientiertes Interesse an dieser. Außerdem blieb sie immer geistig zu eng, um Träume, Visionen und Strategien zu verfolgen. Die Hegemonie im Bereich der intellektuellen Kultur strebte sie nicht einmal an.

Sie blockierte die gesellschaftliche Integration, vor allem der armen indigenen, aus Afrika stammenden und weißen Unterschichten, verzichtete auf den Aufbau eines starken und effektiven Nationalstaates und unterließ es, eine systematische kapitalistische Produktion durchzusetzen. Kapital war durchaus verfügbar; es wurde im großen Stil vergeudet. Es fehlten Unternehmergeist, der Wille zu sparen, um zu investieren, sowie ein modernisierungsorientiertes Organisations- und Steuerungsmuster. In manchem kleinen armen Land reicht der Gestaltungswille der vermögenden Schichten bis heute kaum je über Machterhalt sowie familiäre, Klub- und Lobby-Interessen hinaus. Während der IIS-Phase bestanden die Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie viele Denk- und Handlungsmuster der "Entwicklung nach außen" fort. Die Einkommenskonzentration, die sich - im Unterschied zu Angloamerika - in einer frühen Phase der Geschichte aus dem Rohstoffexport und dem Latifundium ergab, begünstigte die gesellschaftliche Polarisierung ebenso wie die Lern- und Gestaltungsmängel der Oberschicht sowie deren Neigung, auf immer neue soft options zu setzen.

Auch im Verlaufe der IIS vermochten sich proindustrielle Kräfte nicht klar, eindeutig und dauerhaft durchzusetzen. Die proindustriellen Gruppierungen gingen mit den traditionellen Kräften und auch mit den verteilungsorientierten Mittel- und Unterschichten immer neue politische und wirtschaftspolitische Kompromisse ein. Erschwert wurde ihre Position dadurch, dass die IIS durchaus keine Strategie industriell-technologischen Aufholens darstellte.

Weil die proindustriellen Gruppierungen die Unternehmen einerseits im engen Binnenrahmen blockierten, andererseits schonten und förderten, statt sie Modernisierungsanreizen und Exportdruck auszusetzen, wurden die vorindustriellen Kräfte wirtschaftlich nicht geschwächt, sondern vermochten aus der Hochintervention Nutzen zu ziehen und rentistische Interessen gegenüber dem Staat geltend zu machen. Als das Substitutionspotential sich erschöpfte, nahmen der politische Einfluss und die wirtschaftspolitische Gestaltungskraft der proindustriellen Gruppierungen ab. Sie setzten in den achtziger Jahren mangels alternativer Konzepte wie die konservativen Kräfte auf wirtschaftliche Stabilisierung. Der folgende Umbruch zur Marktorientierung, damit neuen Formen der Stabilisierung, stärkte die traditionellen Strukturen und Kräfte ungemein.

Exzessive Heterogenität
Die exzessive Stabilität in Lateinamerika ist auch durch die außerordentliche Heterogenität in und zwischen Wirtschaftssektoren, Gesellschaftssegmenten und den einzelnen Staaten gesichert. Trotz einer weitgehend gemeinsamen Geschichte über Jahrhunderte und des Zusammenlebens in einem geographisch abgegrenzten Kulturkreis blieben die integrativen Tendenzen schwach. Lateinamerika ist eine Kultur in Stücken.

Die Heterogenität hat gemeinsame Ursachen: Die kreolischen Landherren sprengten die Region auf, als sie ihre Staaten, nicht aber Nationalstaaten schufen. Sie hemmten die gesellschaftliche Integration notfalls mit Gewalt, wie die ethnische Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung verdeutlicht. Ein einigendes Modernisierungsprojekt fassten sie nicht einmal ins Auge. Die gesellschaftliche Ungleichheit ist traditionell ausgeprägt und verschärft sich bis heute weiter. Sie ist eine Ursache der geringen inländischen Nachfragedynamik und der nur schwachen nationalen Homogenisierung; beide wiederum hemmen die Modernisierung.

Die städtische Bevölkerung vermochte die Macht der Landherren zu schwächen, jedoch kein tragfähiges eigenständiges Modernisierungsprojekt durchzusetzen. Es mangelte ihr an Kraft und Konzept, einen modernen Nationalstaat sowie eine systematische kapitalistische Produktion zu etablieren. Der politische Wille, die integrative Kraft und die Konzepte der Reformbewegungen reichten nicht aus, um breite Lernprozesse, Rationalisierungsdruck sowie eine andauernde industrielle Dynamik auszulösen. Es blieb in allen Bereichen, von der Erziehung bis zur Stahlindustrie, bei quantitativer Expansion mit geringer Qualität. Als diese Expansion an Dynamik verlor, verschärften sich die sozialen Expulsionseffekte der Wirtschaft.

Die Marktorientierung stärkt neue Werte und Verhaltensmuster, z.B. der Arbeiter, Manager und Unternehmer. Sie überwindet Überbleibsel der vorindustriellen Ökonomie, staatsbürokratische Verwaltungspraktiken und den lange gepflegten Exportpessimismus. Das Wirtschaftswachstum fällt jedoch zu niedrig aus, die Fragmentierung der Unternehmen und die technologische Heterogenität bleiben zu stark, um die gesellschaftliche Fragmentierung zu überwinden. Die Zahl der im formellen Wirtschaftssektor neu und zusätzlich geschaffenen Arbeitsplätze ist gering. Die Einkommensverteilung wird noch ungleicher, was u.a. die inländische Nachfrage verengt. Das Organisations- und Steuerungsmuster trägt kaum dazu bei, ein lokales, regionales und nationalstaatliches Zusammenwachsen auszulösen.

Das neue Gestaltungskonzept vermag mangels Gemeinschaftsbildung, etwa durch das Erziehungswesen, keine starke gesellschaftliche Dynamik auszulösen, die auf industrielle, technologische, soziale und politische Modernisierung gerichtet ist. Es kommt zu einem weiteren Modernisierungsschub, der mangels Lerndynamik und Gestaltungswillen die Fragmentierung fortsetzt und, indem fast jede Rücksichtnahme aushebelt wird, sogar verschärft. Unter diesen Umständen bleibt die Fähigkeit zur Selbststeuerung in dieser Randzone der Moderne gering; eine soziale Idee, die auf eine aktive Gesellschaft zielt, eine integrative Kraft entfaltet und eine eigenständige kulturelle Dynamik in der Region auslöst, ist weiterhin nicht in Sicht. Ökonomisches Denken und Handeln setzen sich durch; die gesellschaftlichen Vorleistungen bleiben jedoch sogar für das schlichte Wachstumsmuster unzureichend. Eine radikale Marktorientierung in Gesellschaften mit ohnehin geringer Bindekraft und Solidarität, die soziale Verantwortung und sozialen Zusammenhalt ausklammert, hemmt ihre eigene Dynamik. Erneut sind die Tendenzen zu einem eigenständigen nationalstaatlichen Modernisierungsprojekt schwach ausgeprägt. Lateinamerika wird in die Moderne anderer einbezogen, da es sein Potential an intellektueller, institutioneller und technischer Kultur unzureichend aus eigener Kraft und zukunftsorientiert mobilisiert.

Ähnliche Denk- und Handlungsmuster
Auch wegen ähnlicher Denk- und Handlungsmuster stellt Lateinamerika einen Kulturkreis dar. Dies gilt für Wertesysteme, Gefühls- und Sichtweisen, Einstellungen und Verhaltensweisen. Besonders ausgeprägt sind die Gemeinsamkeiten der intellektuellen Kultur. Das iberische Erbe, die hegemoniale Position einer vorindustriellen Oligarchie, die in einigen Kleinstaaten bis heute besteht sowie die im Zeitraum 1930 - 1990 ungeklärten macht- und wirtschaftspolitischen Fragen hemmten die technisch-organisatorisch-soziale Modernisierung. Eine wichtige Folge ist, dass in den Gesellschaften Lateinamerikas der Prozess institutioneller Verfestigung, normativer Einengung, des Aufbaus von Einrichtungen, die Konsens- und Dialogfähigkeit ermöglichen sowie der Einübung von Kontrolle und Evaluierung, um Ergebnisse zur Grundlage neuer Entscheidungsprozesse zu machen, zudem klarer und dauerhafter Spielregeln, um die Unternehmen als treibende Kraft kapitalistischer Modernisierung zu etablieren, stecken blieb.

Größere Bedeutung als den überkommenen Denk- und Handlungsmustern, einschließlich des Katholizismus, kommt der Prägung durch Wirtschafts- und Machtstrukturen über Jahrhunderte zu, die beim größten Teil der Bevölkerung immer wieder zu Leid, Enttäuschung und Frustration führen. Bildung und Leistung zählen wenig, wenn Macht und Beziehung dauerhaft mehr vermögen. Sparen, Investition und Zukunftsvertrauen sind bei rechtsarmer Praxis, manipulierbaren Spielregeln, übermächtigen partikularen Interessen und Institutionen, welche die Korruption begünstigen, fragwürdige Ziele. Dauerhaft schwache Personen - oder Staaten - folgen dem Leitbild obedezco, pero no cumplo: Sie sind offen, freundlich und unverbindlich, vermeiden Widerrede und Widerstand, befolgen Anweisungen jedoch nur teilweise und unterlaufen Vereinbarungen, wo immer möglich, im eigenen Interesse. Bei ausländischen Experten liegen Erfahrungen dieser Art, die auch auf geringes Vertrauen weisen, vor.

Der Unterschied zu Asien
In Lateinamerika fehlt ein aufstrebendes, die traditionalen Kräfte verdrängendes, stil- und profilbildendes Bürgertum, das der Mobilisierung der endogenen Potentiale eine Richtung gibt und die Werte, Mythen und Symbole sowie die Alltagskultur der Gesellschaft prägt. Denken und Handeln werden weiterhin durch vermögende Schichten geprägt, die, gemessen am Modernisierungsprozess und europäischen Werten, negative Vorbilder darstellen. Sie verbreiten Misstrauen, Gewalt, clientelismo, den Mangel an Bildungseifer und Sparsamkeit und consumismo. Ihnen fehlt Rastlosigkeit im Hinblick auf Neuerungsdynamik. Auch die Instanzen der "moralischen Infrastruktur", Schule oder Gemeinschaft, sind nicht durch Akteursgruppen geprägt, die den Nationalstaat als umfassenden Rahmen und Modernisierungsdynamik als verbindliches und einigendes Ziel begreifen. Gesellschaftliche Kompromissbildung und politische Konsensbildung sind nicht eingeübt.

Im Unterschied zu Asien ist ein Rückgriff auf traditionelle Werte und Normen, um die Modernisierungsdynamik zu stützen, kaum möglich. Allerdings prägen sogar dann, wenn die traditionalen Wirtschafts- und Machtstrukturen durchbrochen sind, die überkommenen Denk- und Handlungsmuster die intellektuelle, institutionelle und technische Kultur weiter. Beispiele sind die autoritär-paternalistischen Verhaltensweisen und Erwartungshaltungen sowie die Vernachlässigung der institutionellen Kultur auf Kuba. Die in einer Gesellschaft vorhandenen Verhaltensvoraussetzungen, dauerhafte Unverantwortlichkeit zentraler Akteure, institutionelle Mängel und Fehlentwicklungen, traditionale Agrarstrukturen und wirtschaftspolitische Irrwege über lange Zeit, prägen Mentalitäten und lösen Misstrauen, no-diálogo-Situationen und auch Gewalt aus. Die kulturellen Anpassungsleistungen sind also nicht nur auf Denk- und Handlungsmuster zurückzuführen. Sie hängen vor allem davon ab, ob es einer Gruppe politischer und wirtschaftlicher Akteure gelingt, entschieden das Modernisierungsziel zu verfolgen. Im Rahmen der einseitigen Marktorientierung der letzten Jahre gibt es Anzeichen dafür, dass das Wertemuster der Gesellschaften der Region sich verändert. Allerdings wird nicht gemeinsames nationalstaatliches Handeln, sondern der Primat der Ökonomie eingeübt. Der Konservatismus und die Persistenz obsolet gewordener Wirtschafts- und Machtstrukturen prägten auch die Denk- und Handlungsmuster der Reformer und Revolutionäre:

  1. Sie lösten, wie anderswo, romantische und idealistische Strömungen bei der Intelligenz aus.
  2. Sie führten zu anarchischen Tumulten und Revolten, die wegen ihrer Ziellosigkeit und Desorganisation, wie die häufigen Regierungswechsel, die keineswegs auf Machtveränderungen deuteten, zur Stabilisierung der Wirtschafts-, Einkommens- und Machtstrukturen beitrugen. Dieses Muster, im Ausland häufig als instabil gedeutet, wurde selten durchbrochen.

In Peru oder Guatemala mobilisierten Regime- und Systemgegner die großen, seit jeher unterjochten und abgedrängten indigenen Unterschichten. Hier kam es, zumal beide Seiten tatsächliche und perzipierte kulturelle Differenzen nährten, zu fundamentalistisch-unversöhnlichen Zuspitzungen und jahrzehntelanger brutaler Gewalt von oben und unten her, jedoch nicht zu Kontinuitätsbrüchen. In Chile stärkte ein gemäßigter, wegen seiner Konzeption sowie von Widerständen und Hemmnissen wenig erfolgreicher Reformprozess der Christlichen Demokraten die revolutionären und die konservativen Kräfte. Erstere setzten sich in demokratischen Wahlen durch; letztere wurden von einer Militärdiktatur, die grundsätzlich ihre Interessen vertrat, unter Modernisierungsdruck gesetzt. In Kolumbien, wo sich die traditionellen Kräfte als besonders stark und als wirtschaftlich relativ erfolgreich erweisen, wird ihre hegemoniale Position seit Jahrzehnten durch Guerrillas bekämpft, die jedoch zu schwach blieben, um die Machtfrage zu stellen. In anderen Ländern, z.B. Venezuela, sitzen Repräsentanten gewaltsamer Emanzipationsbewegungen heute im Parlament, einzelne auch in Regierungen, viele in öffentlichen Vorfeldinstitutionen. Die Fähigkeit, auch Dissidenten zu kooptieren, ist seit langem eingeübt.

Es kommt zu einer mañana-Haltung
Wirtschaft, Staat und die Gesellschaft insgesamt sind in sinnkodierte kulturelle Zusammenhänge eingebettet, die sich wiederum häufig aus Wirtschafts- und Machtstrukturen sowie Ineffizienz nährenden Wirtschaftspolitiken ergeben. Die institutionelle, technische und materielle Kultur weist viele Beispiele auf:

  • Juristische Spitzfindigkeit und Mangel an Geltung des Rechts lösen eine laxe Haltung in Rechtsfragen und private Antworten auf Rechtsverletzungen, bis hin zu Gewalt, aus.
  • Unternehmen, die, wie während der IIS, Produkte geringer Qualität auf geschützten Märkten zu hohen Preisen anbieten, vernachlässigen die Zeitökonomie. Heute wird diese in wettbewerbsorientierten Unternehmen Lateinamerikas kontrolliert eingeübt. Dies gilt auch für die Steuerehrlichkeit in Chile oder Peru.
  • Weist die materielle Kultur, wie wegen der IIS, dauerhaft Defekte auf, wird z.B. die materielle Infrastruktur nicht kostengünstig und stetig bereitgestellt, kommt es zu einer mañana-Haltung, die wiederum diese Defekte toleriert, sowie zu einer häufig kuriosen Flexibilität. Einwanderergruppen stellen solange Ausnahmen dar, bis sich ihre beharrliche Bildungstradition, ihr hartnäckiger Sparwillen und ihr spezielles Unternehmertum im neuen Umfeld mangels Transparenz, Kalkulierbarkeit, Effektivität und Ersatzteilen verlieren. Während der IIS wurde deutlich, dass die Suche nach kultureller Identität in einem Umfeld wachsender Defekte der institutionellen, technischen und materiellen Kultur eine Schimärenjagd darstellt. Die kulturellen Transaktionskosten sind zu hoch. Die Beständigkeit traditionaler Werte ergibt sich nicht nur aus Machtstrukturen, sondern auch aus dem Umstand, dass ein großer und wachsender Teil der Bevölkerung nicht in die moderne materielle Kultur, Produktion und Konsum, eingebettet ist. Erst die Marktorientierung verringert die überaus hohen Kosten für den Einzelnen und das Unternehmen, die durch die IIS entstanden.
Einseitige Binnenorientierung löst, insbesondere bei engen inländischen Märkten, Staatsorientierung aus; rentistisches Verhalten fragmentiert den Staatsapparat weiter. Die unübersichtliche Anhäufung von Regeln, etwa Eingriffen in den Marktmechanismus, hat Müdigkeit zur Folge, diesen nachzukommen. Unklare Anreize und hohe Risiken führen zu einer einseitigen Orientierung der Unternehmen an der kurzfristig erzielbaren Rendite; dies gilt umso mehr, wenn Raubbau bereits eingeübt ist. Auch der Richtungsmangel oder -verlust der politischen Akteure lösen cortoplazismo aus - eine Gegenwartsorientierung ohne Zukunftsvision und gerichteten Lernprozess.

Den Kritikern des Neoliberalismus in den modernen Gesellschaften mag es schwer verständlich sein, dass der neoliberale Umbruch in Lateinamerika bei einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung für eine Reihe von Jahren Hoffnung, Mut und sogar Begeisterung auslöste. Sie litt unter den Defekten ihrer institutionellen, technischen und materiellen Umwelt und des wirtschaftspolitischen Hochinterventionismus. Enttäuschungen werden jedoch nicht ausbleiben. Auf Dauer ungebändigte Konkurrenz, hier liegt die neue Gefahr, ist für den Markt schädlich und fragmentiert die Gesellschaft noch stärker. Märkte, die unzureichend reguliert sind, unterhöhlen gemeinschaftliche Werte oder unterbinden deren Entstehen. Ein marktgerichtetes Anreizsystem, das enthemmtes Marktfieber überwindet, eindeutige Vorteilserwartungen auslöst sowie Innovation, Produktivitätssteigerung und internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen fördert, ist selbst Resultat immer neuer gesellschaftlicher Anstrengungen, den marktwirtschaftlichen Wettbewerb in ein gesellschaftlich verbindliches, verlässliche Erwartungen und berechenbare Handlungen der Marktteilnehmer sicherndes Regelwerk einzubetten.

In der Juniausgabe gehts weiter mit: 200 Jahre Befreiung: Eine Kultur in Stücken (Teil 2)

Text + Foto: Dr. Klaus Eßer

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