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[art_2] Brasilien: Rapte-me camaleão! - Caetano Veloso zum 70.
Teil 9: Trauriges Ende (zumindest vorläufig)

Das neue Jahrtausend beginnt mit einem verstörenden Album. Ein schlechtes Omen darf man übrigens sagen. "Noites do Norte" ist eine Platte über die Sklaverei im Brasilien des 21. Jahrhunderts. Eigentlich wollte Caetano lediglich ein Album voll Percussion aus Bahia und Soundfragmenten einspielen. Doch dann inspirierte ihn ein alter Text von Joaquim Nabuco: "Minha Formação". Nabuco hatte ihn 1895, also sieben Jahre nach dem Ende der Skalverei, geschriebenen und prophezeit, dass die Sklaverei noch lange als Charakteristik der Nation fortbestehen werde.


Auf "Noites do Norte" präsentiert sich der Komponist Caetano Veloso völlig außer Form, die er seitdem nie wieder gefunden hat. Er taucht in die unterschiedlichsten Musikstile – singt klassisch schön auf Italienisch (Michelangelo Antonioni), begleitet eine wundervolle Percussionsequenz aus Bahia (Zera a reza) mit einem wenig inspirierten Text, spielt Rock der nicht in die Gänge kommt (Rock´n´Raul), kreiert Soundlandschaften, die an "Araça Azul", der experimentellen Platte von 1972, erinnern – und geht darin unter.

Höhepunkte? Für mich gibt es die nicht. Leider bringt Caetano als Komponist nicht mehr viel Nennenswertes hervor. So konzentriert er sich auf seine Shows.


Und so folgt im Jahre 2001 dann auch mit "Noites do Norte ao vivo" eine Live-LP. Es ist Caetanos erste Live-LP, die ungeschnitten eine komplette Show eins zu eins beinhaltet. Nahezu alle Lieder der Studio-LP tauchen hier auf, leider! – muss man sagen. Aber die Platte ist ihr Geld wert, zeigt Caetano doch wundervolle Versionen alter Klassiker: "Dom de iludir", "Tigresa", "Língua", "Nosso estranho amor" und "Tropicália". Wie fantastisch er doch war, denkt man sich da. Immerhin erinnert er sich noch an seine alten Lieder, muss man anerkennd feststellen.

Im darauf folgenden Jahr gelingt es ihm jedoch, seine Fans mit der nächsten Studio-LP abermals zu schockieren. Und scheinbar war ihm das schon vor der Veröffentlichung des Werks bewusst, nannte er es doch "Eu não peço desculpas": Ich bitte nicht um Verzeihung! Sollte er aber! Gemeinsam mit Langzeitkumpel Jorge Mautner wollte er wohl die Leidensfähigkeit der Zuhörer testen.


Immerhin - das hier alles irgendwie verkehrt ist, gesteht er direkt mit dem Titel des ersten Lieds "Todo errado" - "Alles verkehrt" ein. "Eu não peço desculpas, e nem peço perdão", "Ich bitte nicht um Verzeihung, entschuldige mich nicht", so Mautners Text. "Manjar de reis" ist immerhin vergnüglich, ein Stück von Mautner und dessen Kollegen Nelson Jacobina. Eine Version von "Maracatu atômico" gibt es auch noch, aber da hat man schon viel bessere gehört (Chico Science, Gilberto Gil); "O Namorado" ist eine Abwandlung von Carlinhos Browns "A namorada", ohne dass dies irgendwie lustig wäre. Und so geht es bis zum bitteren Ende weiter. Mein Gott, denkt sich der gequälte Geist der Zuhörer.

Das Jahr 2004 bringt neue Abenteuer in Fremdsprachen. Dieses Mal übt Caetano sich in jener Sprache, die er eigentlich gar nicht mag: dem Englischen. Zwischen Nirvana ("Come as you are") und Cole Porter ("So in love") bis Bob Dylan ("It`s alright, Ma") irrt er durch einen wirren Songkatalog aus berühmten anglo-amerikanischen Lieder. Eine Art "Fina Estampa" auf Englisch mit eingestreuten brasilianischen Rhythmen. Wenn die Platte mit dem Schlafliedchen "Love me tender" schließlich und endlich endet, fragt man sich, was man davon wohl halten soll. Ich entnehme die CD der Stereoanlage und verbanne sie auf ewig in die tiefsten Tiefen meiner Plattensammlung, aus denen sie niemals mehr den Weg ans Tageslicht finden soll – ich schwöre es.


Die einzigen überzeugenden Veröffentlichungen jenes seltsamen Jahre sind Lieder, die er nicht selber geschrieben hat: "Você não me ensinou a te esquecer" aus dem Film "Lisbela e o prisioneiro" und "Burn it blue" vom Soundtrack des Blockbusters "Frida". Beide sind überragend gut!

2006 folgt dann eine Platte mit neuen Stücken von Caetano. "Cê" nahm er mit seiner neuen Band aus jungen Musikern auf, die ihn bis heute begleitet. Die CD kommt rockig daher, ein Garagensound voller Wut. Verletzt vom Ende seiner zweite Ehe, trieft Caetano förmlich vor Enttäuschung und sexuellem Hunger. Und lässt seinem Ärger freien Lauf: "Você não vai me reconhecer quando eu passar por você, de cara alegre e cruel, feliz e mau como um pau duro…" (Du wirst mich nicht wiedererkennen, wenn ich Dir begegne, mit fröhlich-grausamem Gesicht, glücklich und böse wie ein steifer Schwanz…" Danach weint er "Minhas lágrimas" (Meine Tränen), nur um wenig später klarzustellen: "Não me arrependo" – ich bereue nichts.


In dem Stück "Rocks" klagt er, sie habe sich ihm gegenüber wie eine Ratte verhalten: "você foi mor rata comigo". Und in "Odeio" stellt er klar: "odeio você, odeio você, odeio você, odeio" (ich hasse, hasse, hasse Dich). Derart viel unverdauter Ärger ist auf die Dauer nervend, der grimmige Abgesang eines alten Mannes. Bis zum heutigen Tag scheint Caetano jene Gemütslage nicht mehr verlassen zu haben.

Das folgende Live-Album "Multishow Cê ao vivo" wiederholt die nervigen Lieder von "Cê". Zum Glück retten ihn wieder einmal interessante Versionen alter Klassiker. Dieses mal besucht er sein Londoner Exil: "London London" (in einer bombastisch-simplen Version), "You don`t know me" und "Nine out of ten".


2009 folgt "Zii e Zie", eine Platte mit dem gleichen Korpsgeist von "Cê", eingespielt mit derselben Band. Wieder gibt es Rock, aber dieses Mal in die Klänge des Samba gehüllt. Der gleiche Garagensound wie zuvor, wieder sexuell angehauchte Texte (er ist 66 zu dem Zeitpunkt!) - allerdings ist aus dem Ärger von "Cê" nun eine öde Traurigkeit geworden, Depression statt Aufbegehren. Sogar das Cover atmet Öde, Rio de Janeiro im Regen und trüben Licht. Caetano scheint derart uninspiriert gewesen zu sein, dass er die Flucht nach vorne gesucht zu haben scheint: er komponiert die neuen Songs live vor Publikum und nennt das Ganze "Obra em progresso" – Werk im Werden. Das Stück "Perdeu", das das Album eröffnet, hat sogar einige nette Momente. Danach wird es langweilig ("Lobão tem razão") und nervig ("Base de Guantanamo") bis hin zu peinlich ("Tarado ni você").


Danach folgt das altbekannte Rezept von "Cê" – eine Liveversion der Bühnenshow. Wieder kommen die langweiligen Stücke von "Zii e Zie" zur Aufführungen, gemischt – zum Glück – mit Klassikern im Garagensound: "A voz do morto", von 1968, "Maria Bethânia", "Irene" und "Não identificado", alle aus der Zeit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Dazu das tolle "Volver" von Carlos Gardel und Alfredo Le Pera.

Ein Jahr danach noch ein Live-Album: "Multishow ao vivo Caetano e Maria Gadú". Die beiden spielen Caetanos Hits und ein paar Lieder von Gadú nur begleitet von der Gitarre. Wunderbar: "Beleza pura", "O quereres", "Vaca profana" und "Rapte-me, camaleoa". Maria Gadú zeigt, was sie kann und spielt eine unglaubliche Version von Caetanos "Podres poderes", eines seiner besten Stücke inklusive einem langen und schwierigen Text. Aber Gadú bekommt es hin - und wie!


Wenige Monate später folgt "Caetano Veloso e David Byrne Live at Carnegie Hall", ein Spektakel aus dem Jahre 2004. Die Platte wird allerdings nicht in Brasilien veröffentlicht, wo sie nur als Import zu haben ist. Ebenfalls 2012 erscheint mit "Recanto Gal" eine CD von Gal Costa, für die Caetano alle Stücke geschrieben und produziert hat. Diese wollen wir allerdings hier nicht besprechen, auch deshalb, weil es unmöglich ist, sie sich am Stück anzuhören! (Ich hab es jedenfalls bis heute nicht geschafft) Auch die Live-Platte "Roberto Carlos e Caetano Veloso e a música de Tom Jobim" (2008) bleibt außen vor, da sie irgendwie nicht zur offiziellen Diskografie Caetanos zu zählen ist.

Damit sind wir im Hier und Jetzt angelangt. Ende 2012 veröffentlicht Caetano die dritte Platte mit seiner jungen Band, "Abracaço". Sie wollen wir in einem gesonderten Artikel präsentieren. Soviel sei aber schon mal verraten – ein Happy End wird es vorläufig erst einmal nicht geben.

Text + Fotos: Thomas Milz

Hier kommt ihr zu:
Teil 1: Vom Bossa zum Tropicalismo
Teil 2: London, London
Teil 3: Ergrautes Chamäleon, ewig junger Romantiker
Teil 4: Araçá Azul und die Frustrationen eines verwöhnten Jungen
Teil 5: Tudo Jóia?
Teil 6: Outras palavras - auf der Suche nach neuen Worten
Teil 7: Ein Fremder in neuen Zeiten
Teil 8: Fina Estampa

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