ed 02/2011 : caiman.de

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spanien: Tanz der Engel – die Kirchen von Antequera
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
druckversion:

[gesamte ausgabe]


mexiko: Karneval und Leben in San Juan Chamula
JUTTA ULMER
[art. 2]
brasilien: Der Tsunami aus den Bergen
Rio de Janeiros Katastrophengebiet nach der Flut
THOMAS MILZ
[art. 3]
peru: Cusco – die assimilierte Stadt
ROBERT GAST
[art. 4]
amor: Re-Cordis: aus dem Latein: sich erinnern, beherzigen!
CRISTINA POLI
[kol. 1]
helden brasiliens: Der Wandermönch vom São Francisco-Fluss
Treffen mit Bischof Luiz Flavio Cappio
THOMAS MILZ
[kol. 2]
erlesen: Tequila-Moral für Saubermänner
MARIA JOSEFA HAUSMEISTER
[kol. 3]
lauschrausch: Jakobsmusik
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Tanz der Engel – die Kirchen von Antequera
 
Antequera im andalusischen Bergland der Provinz Malaga gehört zu den monumentalsten Kleinstädten Europas. Für mich war – neben dem arabischen Burgberg und dem romantischen "Felsen der Verliebten" – besonders ein Versprechen verlockend: "Antequera ist die Stadt in Spanien mit den meisten Kirchen pro Einwohner." So wird es in vielen Kunstführern und Touristenbroschüren angepriesen. Die Einwohnerzahl liegt bei unter 40.000, die Zahl der Kirchen wird dabei meist mit 33 angegeben: eine für jedes Lebensjahr von Christus. Meine Erwartungen waren also hoch, während ich in einer schön heißen Septemberwoche 2010 den enorm steilen, Schweiß treibenden Hügel vom Bahnhof Richtung Ortszentrum empor stieg und dabei zwar kein Kreuz auf den Schultern trug, aber einen schweren Koffer hinter mir her zog.

Iglesia de San Agustín [zoom]
Convento de la Trinidad [zoom]

Auf dem Gipfel angekommen, stand ich vor der ersten Kirche, dem Convento de la Trinidad (Kloster der Dreifaltigkeit). Eine ansehnliche Barockkirche, aber leider geschlossen. Dasselbe Bild bot sich während der zwei Tage meiner klerikalen Entdeckungstour immer wieder: die meisten der Gotteshäuser von Antequera blieben abweisend, als hätten böse Hände sie für alle Ewigkeit versiegelt. Zugegeben, ich war nicht an einem Sonntag oder religiösen Feiertag in Antequera, sondern an einem Mittwoch und Donnerstag und es mag auch sein, dass einer der verschlossenen Tempel vielleicht zur Frühmesse um 6:30 Uhr für eine halbe Stunde geöffnet war. Doch solche Öffnungszeiten sind touristisch irrelevant.

So war die Iglesia de San Agustín, eine wuchtige Trutzburg, in deren Innenraum man wunderbare Gemälde des Renaissance-Malers Antonio Mohedano hätte bestaunen können und die angeblich laut einer Broschüre des Tourismus-Büros von 11 Uhr bis 13 Uhr hätte geöffnet sein sollen, natürlich auch so geschlossen wie die Stadtmauern von Ávila bei einem Feindesangriff. Die spätbarocke Iglesia Madre de Dios – verschlossen. Die Kirche Johannes des Täufers und das Kloster Virgen de los Remedios – geschlossen.

Virgen de los Remedios [zoom]
Iglesia de San Sebastián [zoom]

Ich war so enttäuscht, dass mir ernsthaft der Gedanke kam, sofort zurück nach Sevilla zu fahren - dort gibt es mehr als 160 Kirchen und die meisten davon sind irgendwann auch mal zugänglich. Aber dann kam ich zum Mittelpunkt von Antequera, der Plaza de San Sebastián, und stand plötzlich vor einer Kirche, die auch Kathedrale hätte sein können und es war kaum zu glauben, aber ihre Pforten waren weit offen! Und zur Ehrenrettung der Stadt sei schon mal gesagt, dass immerhin die drei wichtigsten Kirchen von Antequera großzügige Öffnungszeiten haben und allein dafür lohnt sich schon der Weg.

Iglesia de San Sebastián [zoom]
Iglesia de San Sebastián [zoom]

Die Iglesia de San Sebastián ist die erste. Aber ich zögerte noch, hinein zu gehen, denn die pompöse Frontfassade aus der Renaissance mit ihren plateresken Reliefs gehört zu den schönsten Kirchenportalen Andalusiens und will ausgiebig betrachtet werden. Rechts und links über dem kaiserlichen Doppeladler-Wappen Karls V. liegen Adam und Eva in paradiesischem Schlaf. Besonders ins Auge fällt die Darstellung der sehr lässigen Eva, die nackt und mit wallendem Haar auf der Fassade ruht, den Kopf auf den rechten Arm gebettet, während sie in der linken Hand verlockend und doch etwas versteckt den Apfel hält. Großes Kino auf der Kirchenmauer. Darunter zwischen Petrus und Paulus der Namenspatron der Kirche, der gefesselte heilige Sebastian.

Der barocke Glockenturm links ist wohl einer der schönsten von ganz Spanien, man kann es erahnen, aber er ist – auch hier verfolgt mich das Pech – in der oberen Hälfte eingerüstet. Daher bleibt die elegante Turmspitze mit dem Wahrzeichen der Stadt, einer sich im Wind drehenden Engelsstatue, verborgen.

Nachdem die Fassade genug bestaunt ist, wende ich mich dem Innenraum zu, der aber im Vergleich zum prachtvollen Äußeren nicht mithalten kann. Das liegt auch an einem Brand, der im Jahr 1960 den größten Teil der Originalausstattung vernichtet hat. So wurde Vieles mit geschmacklosem Neobarock "aufgefüllt".

Iglesia de San Sebastián [zoom]
Convento de las Carmelitas Descalzas [zoom]

Anschließend führte mich der Weg vorbei am Konvent der Unbeschuhten Karmeliterinnen (Carmelitas Descalzas), in dem sich auch ein kleines Museum neben der Kirche befindet. Von der Fassade grüßen exquisite Monster. Doch ich hatte es eilig und würdigte sie nur einiger Seitenblicke, denn ich strebte ungeduldig dem unbestrittenen Höhepunkt der klerikalen Schönheit Antequeras zu: der hochbarocken Iglesia del Carmen.

Von außen wirkt dieser Tempel völlig unscheinbar, für eine Barockkirche erschreckend schlicht und man glaubt kaum, dass sich dahinter etwas Grandioses verbirgt. Doch sobald man eintritt, stürzt von allen Seiten eine von Engeln überquellende Pracht wie ein Schwindel erregendes Kunst-Karussell auf den Zuschauer ein. Dies ist eine der schönsten Kirchen nicht nur Spaniens, sondern der ganzen Christenheit.

Iglesia del Carmen [zoom]
Iglesia del Carmen [zoom]

Iglesia del Carmen [zoom]
Iglesia del Carmen [zoom]

Nach oben hin wölbt sich ein Sternenhimmel aus Holz, im 16. Jahrhundert im arabisch beeinflussten Mudéjarstil erschaffen. Im barocken Universum dieses Kirchenwunders gibt es kaum einen Zentimeter ohne Dekoration. Im Hauptschiff hängt links und rechts unter dem Sternenhimmel ein schöner, dem Leben des Erlösers gewidmeter Gemäldezyklus des größten Künstlers von Antequera, Antonio Mohedano (1563 - 1626). Und überall tummeln sich Engel in den Hochaltären. Strahlende, musizierende und sogar tanzende Engel. Einige scheinen fast übermütig aus dem riesigen Altargebirge des 1747 vollendeten Hauptretabels zu springen. Antonio Primo und José de Medina schufen diese gigantische Bühne für goldene Engel und Heilige. Vor drei Jahren wurde die Iglesia del Carmen anlässlich der Ausstellung "Andalucía Barroca" aufwändig restauriert und zeigt sich jetzt in Hochglanz.

Iglesia del Carmen [zoom]
Iglesia del Carmen [zoom]

Iglesia del Carmen [zoom]
Iglesia del Carmen [zoom]

Krönender Abschluss des kirchturmhohen Hauptaltars ist ein tanzender Erzengel Michael beim Triumph über den Satan. Zwar schwingt der Erzengel Schild und Flammenschwert, aber er trägt auch ein geblümtes Röckchen, so dass er kaum Angst einflößend wirkt. Ich aber war besonders angetan von einer entzückend traurigen Maria Magdalena, die etwas versteckt in einer Seitenkapelle auf der rechten Seite in ihr Taschentuch weint. In meiner Meditation ließ ich mich auch nicht stören von einem Trupp wackerer Putzfrauen, die sich mit Hingabe und sehr geräuschvoll dem Fußboden der Karmeliterkirche zuwandten, während ich in den hölzernen Himmel und die obersten Altaretagen starrte. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in diesem Raum zugebracht habe und es fiel schwer, sich von diesem theatralischen Prunk loszureißen.

Iglesia del Carmen [zoom]
Erzengel Michael [zoom]

Aber es wartete ja hoch oben auf dem Berg noch die dritte der wichtigsten Kirchenattraktionen von Antequera: Santa María Coronada, die Kirche der gekrönten Gottesmutter, war meine letzte Station. Sie thront auf dem Burgberg der Alcazaba hoch über dem Stadtpanorama und ist eigentlich "außer Betrieb". Gottesdienste finden hier nicht mehr statt, aber Konzerte und Kunstausstellungen. Auch dieser Tempel, der erste sakrale Renaissancebau in Andalusien, hat fast die Größe einer Kathedrale und demonstriert wie viele andere Hauptkirchen in andalusischen Dörfern und Kleinstädten den Reichtum, der im 16. Jahrhundert nach der Entdeckung Amerikas und Ausbeutung der spanischen Kolonien in Peru und Mexiko auch in entlegene Regionen gelangte. Die monumentale Fassade ist zwar deutlich schlichter als die von San Sebastián, aber die gesamte Außen- und Innenraumgestaltung präsentiert sich elegant und repräsentativ. Nicht umsonst war die Frontfassade ein Vorbild, das Alonso Cano zum Entwurf des Hauptportals der Kathedrale von Granada inspirierte.

Santa María Coronada [zoom]
Santa María Coronada [zoom]

Das Innere von Santa María Coronada wurde nicht barockisiert, sondern beeindruckt im reinsten Renaissance-Stil Andalusiens – mit Ausnahme des hölzernen Dachstuhls in Mudéjar-Mustern. Die steinernen Deckengewölbe über dem Chor und den Seitenkapellen glänzen mit filigran gestalteter Dekoration. Blumen, Zapfen und Kugeln hängen neben originellen Fächergewölben. Einige der wunderbaren Kunstwerke, auf die man hier trifft, sind nur zu Besuch, solange das Stadtmuseum von Antequera noch wegen Restaurierung geschlossen ist: ein ergreifender, in mystischer Meditation versunkener heiliger Franziskus des genialen Bildhauers Pedro de Mena und Gemälde von Antonio Mohedano.

Iglesia del Carmen [zoom]
Santa María Coronada [zoom]

Dieser Maler der Spätrenaissance gehört neben dem Dichter Pedro Espinosa (ebenfalls 16. Jahrhundert) und der Flamenco-Sängerin La Nina de Antequera zu den Berühmtheiten, die dieses Städtchen hervor gebracht hat. Bezaubernd sein Bild eines schlafenden Jesuskindes, das von Maria zugedeckt wird, wobei daneben ein Engel den Finger auf den Mund legt und Pssst! flüstert. Als Angst einflößendes Kontrastprogramm lauert gleich neben dem Eingang der Kirche die bombastische Darstellung einer sogenannten "Tarasca". Dieses barocke Monster, ein seltsames Zwitterwesen, halb Dame, halb Drache, eröffnete im 18. Jahrundert die Fronleichnamsprozession in Andalusien. Dabei stehen die sieben Köpfe des Drachen für die sieben Todsünden und die Frauengestalt für den Triumph des Glaubens. Ich hatte soviel Angst vor den Zähne fletschenden Drachenköpfen, dass meine Hände beim Fotografieren zitterten und die Aufnahmen unscharf wurden.

Santa María Coronada [zoom]
Santa María Coronada [zoom]

Also lassen wir die Drachen der Apokalypse hinter uns und treten hinaus ins helle Sonnenlicht des sonnigen Septembertages. Heute Nacht träumen wir nicht von Monstern oder Höllenfeuer, sondern von den tanzenden Engeln der Iglesia del Carmen.

Text + Foto: Berthold Volberg


Sehenswertes:

Anfahrt mit dem Zug nach Antequera
Von Málaga (Fahrt dauert ca. 30 Minuten)
Von Sevilla (knapp 2 Stunden)
Von Madrid (mit dem AVE, 3 Stunden)

Monumente
Alcazaba von Antequera:
Öffnungszeiten: Di.-Fr. 10.30-14.00 und 16.00-18.00, Sa. + So. 11.30-14.00,
Eintritt Frei (Mo. geschlossen)

Dólmenes (Grabtempel)
Öffnungszeiten: Di.-Sa. 9.30-18.00, So. 9.30-14.30, Mo. geschlossen
Eintritt Frei

Museo Municipal
Öffnungszeiten: (z.Z. wg. Restaurierung geschlossen)

Ausflug in den Naturpark "El Torcal"
Ein Taxi (außer Leihwagen oder Fahrrad die einzige Möglichkeit) zur spektakulären Berglandschaft des Naturparks "El Torcal" (ca. 20 Kilometer gen Süden) kostet 40,- € und man startet am besten von der Stierkampfarena an der Puerta de Estepa aus.


Empfehlungen:

Hostal Colón
C. Infante Don Fernando 29-31, Tel. ++34-952840010
Sehr schönes altes Hotel in bester Lage mit einfachen, sehr preisgünstigen Zimmern und sehr freundlichem und hilfsbereitem Empfang.

Hostal + Restaurante Plaza San Sebastián
Plaza San Sebastián 4; Tel. ++34-952844239
Email: informacion@hotelplazasansebastian.com
www.hotelplazasansebastian.com

Restaurante La Giralda
C. Mesones 8-10, Tel ++34-952845860
Email: lagiralda@conexanet.com
www.conexanet.com/lagiralda
Geöffnet 12 Uhr-16 Uhr und 20 Uhr-23.30 Uhr, montags geschlossen
Schönes Restaurant mit sehr netter Bedienung
Spezialitäten: Lammfleisch, rotes Fleisch vom Grill und Wild; Crepes und "Delicatessens" (köstliche kleine Überraschungen); gute Weinkarte

Meson Juan Manuel
C. San Agustin 1, Tel. ++34- 952843484,
geöffnet 13 Uhr-17 Uhr und 20 Uhr-24 Uhr,
Rustikales Ambiente, mittags ein leckeres und großzügiges Tagesmenü,
Spezialiäten: Geflügel, "Porra Antequerana" (die hiesige Version des "Salmorejo", eine Art cremiges "de luxe Gazpacho"), Fleisch vom Grill

El Angelote
C. Encarnación"/ Ecke "Coso Viejo", Tel. ++34-952703465
Edles Restaurant der gehobenen Preisklasse, untergebracht in altem Palast,
breit gefächerte Spezialitätenangebot und Weinkarte

Cafetería La Mandrágora
Plaza Las Descalzas 1, Tel. ++34-952845743
Email: elpadrinodemenga@hotmail.com
Eine Tapas-Bar / Cafetería für vorwiegend junges, teils alternatives Publikum, mit leckeren + sehr preisgünstigen Tapas + Kuchen + Crepes und mit sehr geschmackvoller Musik-Berieselung (Flamenco, Jazz, Blues).

Quellen:

"El Angelote”- Periodico turistico de Antequera, Nr. 4 (2010)
"Comarca de Antequera – más cerca de tí" (Guía de profesionales 2010)

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]






[art_2] Mexiko: Karneval und Leben in San Juan Chamula
 
Kriegsgeschrei hallt durch die Straßen. Bunt gekleidete Männer, die sogenannten Mash (Affen), machen Musik mit Trommeln, Gitarren, Akkordeon und Tuten. Sie laufen drei Mal um die Kirche herum, tanzen, halten inne, murmeln Gebete und entzünden Feuerwerkskörper. Es ist Karneval in San Juan Chamula.

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Das Dorf liegt in den Bergen des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. Seine Bewohner gehören dem Maya-Volk der Tzotziles an und gelten als sehr stolz. Sie lehnen den westlichen Lebensstil ab und verweisen alle Dorfbewohner aus der Gemeinschaft, die sich von den Traditionen der Vorfahren abwenden. Wichtigstes Fest in San Juan Chamula ist Kin Tahulitic, der fünftägige Karneval. Geschickt gelang es den Chamulanen, in das närrisch-katholische Fest der spanischen Eroberer ihre eigenen Glaubensvorstellungen zu integrieren. Für sie markiert der Karneval den Zeitpunkt der Aussaat und erinnert an die fünf verlorenen Tage des Jahrtausende alten Maya-Kalenders.

Die prähispanischen Maya hatten zwei Kalendersysteme, den Ritualkalender Tzolkin und den Sonnenkalender Haab. Das Sonnenjahr umfasste 365 Tage unterteilt in 18 Monate mit je 20 Tagen. Die fehlenden fünf Tage am Jahresende wurden Uayeb genannt und galten als Unheil bringend. Bis heute assoziieren die Chamulanen diese Tage mit Chaos und Unglück. Sie trinken Unmengen Posh (Zuckerrohrschnaps) und spielen kriegerische Konflikte der Dorfgeschichte nach.

San Juan Chamula verwandelt sich während des Karnevals in einen Hexenkessel mit kostümierten Fahnenschwenkern, affenähnlichen Wesen und Tausenden von Zuschauern. Vom Balkon des Rathauses blicken die Mitglieder des Ältestenrates herab. Zum Zeichen ihrer Autorität tragen sie schwarze Umhänge aus Schafwolle, rot-gelb-grün geschmückte Strohhüte und unter den Arm geklemmte Stöcke mit Silberknauf.

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Am vierten Festtag, dem Faschingsdienstag, findet die Purificación (Reinigung) statt. Begleitet von Glockengeläut arrangieren die Mash auf dem Hauptplatz einen sechs Meter breiten und 80 Meter langen Strohteppich, den Sbe Htotik (Pfad Gottes). Dann entzünden sie das trockene Gras. Weihrauchschwenker und Fahnenträger laufen über den brennenden Heiligen Weg. Der Feuerlauf symbolisiert den Aufstieg des Sonnengottes aus der Unterwelt. Nach vier Tagen Chaos stellt er auf der Erde wieder Ordnung her. Die Zeit des Fastens und der Aussaat beginnt.

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Die meisten Chamulanen sind Bauern und leben von dem, was ihnen Mutter Erde schenkt. Angebaut werden Mais, Bohnen und Gemüse; einige halten auch ein paar Hühner. Sonntags findet in San Juan Chamula ein farbenfroher Markt statt, auf dem Feldfrüchte, Heilkräuter, Eier und Fleisch angeboten werden. Für den Verkauf sind vor allem die Frauen verantwortlich, die traditionell gekleidet sind. Ihre Tracht besteht aus einem schwarzen Wickelrock, der mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wird. Dazu trägt frau eine bestickte Satinbluse, Schmuck und Badeschlappen.

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Neben der Landwirtschaft ist der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Dorfbewohner verdienen ein bisschen Geld mit dem Verkauf von Kunsthandwerk, die Dorfverwaltung mit dem Eintrittsgeld in die Kirche. Von Außen unterscheidet sich das Gotteshaus Chamulas nicht von anderen katholischen Kirchen. Beim Betreten fühlt man sich jedoch in eine andere, mystische Welt versetzt. Es gibt weder Bänke, noch Orgel oder Beichtstühle. Stattdessen ist der Boden mit duftenden Piniennadeln bedeckt und es brennen mehrere Hundert Kerzen.

In Weihrauch gehüllt knien Dorfbewohner auf dem Boden und murmeln Gebete. Einige haben einen Ilol (Schamanen) engagiert, der Kontakt zu den Göttern aufnimmt. Er zündet Kerzen in unterschiedlichen Farben an: gelbe zur Abwendung des Neides, blaue zur Heilung von Krankheiten und schwarze zur Verwirrung des Bösen. Gackernde Hühner werden über schmerzende Körperstellen gehalten und geopfert. Posh unterstützt das Ritual. Der Zuckerrohrschnaps versetzt die Gläubigen in einen Trancezustand, nachgespült wird mit Coca Cola. Beide Getränke reizen den Magen und verursachen Rülpser. So entweichen böse Geister aus dem Körper. Die Seele wird gereinigt.

Doch auch die katholischen Heiligen, die von den Wänden des Gotteshauses herabblicken, spielen eine wichtige Rolle. Voller Inbrunst werden sie im Gebet verehrt und bei Unglück zur Rechenschaft gezogen. Der bedeutendste Heilige ist Chamulas Schutzpatron San Juan, Johannes der Täufer. Er nimmt das höchste Amt in der Heiligenhierarchie ein. Jesus Christus steht unter ihm. Die Chamulanen haben die katholischen Heiligen mit ihren alten Maya-Göttern verschmolzen. So ist in ihrer Vorstellung Jesus Christus vom Kreuz gestiegen, um als Sonne wiederaufzuerstehen.

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Fotografieren ist in Chamulas Kirche strengstens verboten; ebenso wie bei Zeremonien beispielsweise dem Feuerlauf am Faschingsdienstag. Auch wenn sie zum bescheidenen Wohlstand der Gemeinde beitragen, sind Fremde in San Juan Chamula eher geduldet als herzlich willkommen. Hotels gibt es nicht. Touristen müssen das Tzotziles-Dorf vor Sonnenuntergang verlassen.

Text + Fotos: Jutta Ulmer

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: mexiko]





[art_3] Brasilien: Der Tsunami aus den Bergen
Rio de Janeiros Katastrophengebiet nach der Flut

Für Briefträger Jorge Luiz ist es der schwierigste Arbeitstag seines Lebens. Zwei Wochen nach den verheerenden Überschwemmungen in der Bergregion nördlich von Rio de Janeiro trägt er heute zum ersten Mal wieder die Post aus. Nahezu sämtliche Brücken im Vale da Boa Esperanca, dem Tal der Guten Hoffnung in den Außenbezirken der Stadt Itaipava, wurden von der Schlamm- und Gerölllawine zerstört. So balanciert er über einen behelfsmäßig über den Bach Santo Antonio gelegten Baumstamm um auf die andere Seite zu kommen. 

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Dort erwartet ihn bereits Luiz Otavio, der Pförtner eines am Ufer gelegenen Wohnkomplexes. Gemeinsam gehen sie die Post durch, sortieren sie nach existierenden und nicht mehr existierenden Adressen. "Seit 15 Jahren arbeite ich hier, kenne alle Bewohner persönlich", so der Briefträger. Die Hälfte der Post nimmt er schließlich unverrichteter Dinge wieder mit zurück. 

Pförtner Luiz Otavio hatte in der Nacht des 11. Januar Dienst. Seit Mitternacht hatte es heftig geregnet und gegen 4.10 Uhr fiel der Strom aus, während der kleine Bach in der Mitte des Tales bedrohlich schnell anschwoll. Um 4.45 Uhr traf die Gerölllawine das Tal. "Es war stockfinster, doch die Nacht war erfüllt mit Schreien von Menschen, die in den Fluten trieben und um Hilfe riefen", berichtet der Pförtner. Als der Morgen graute, wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung sichtbar. Die meisten Häuser hatte die Flut mit sich gerissen. "Wir haben immer gesagt, dass es in Brasilien keine Tsunamis gäbe - jetzt wissen wir, dass das nicht stimmt."

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Auf seiner Runde fährt der Briefträger weiter Tal aufwärts. Er hat Post für den 67-jährigen Rentner Lair Carreiro de Carvalho. Dieser ist gerade dabei, seinen unter Schlamm begrabenen Pool frei zu legen. Lair hat Glück gehabt. Seine Familie hat überlebt. Mit seiner Frau hatte er sich auf eine Matratze geflüchtet, die vom Wasser bis an die Zimmerdecke gehoben wurde. Die Familie seines Sohnes, die im Nachbarhaus lebte, hatte sich derweil auf das Dach gerettet. Als dieses einstürzte, konnte Lair seinen 7-jährigen Enkel Artur Ribeiro de Carvalho im letzten Moment retten. Gerne zeigt der Junge Besuchern jetzt die Überreste seines Kinderzimmers, von dem nur noch Trümmer übrig sind.

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In jener Nacht entschieden Bruchteile von Sekunden über Tod oder Leben. Mindestens 850 Menschen haben jene kostbare Zeit nicht mehr gehabt. Sie ruhen nun auf improvisierten Friedhöfen, oft nur mit einer Nummer statt eines Grabsteins bedacht. Über 500 Menschen werden noch vermisst. Alleine im Dorf Cuiaba sind es 18. Hier geht das Tal der Guten Hoffnung in zwei Nebentäler über. Der Ort wurde in jener Nacht zur tödlichen Falle für seine Bewohner. Aus beiden Tälern schossen Wassermassen hindurch, die Baumstämme, Erdmassen und mächtige Felsen mit sich brachten. Wo einst 30 Häuser standen, liegt jetzt eine vier Meter dicke Schlammschicht.

Adalberto Cabral Motta ist auf der Suche nach Erinnerungsstücken seines Elternhauses. Hier ist er aufgewachsen, seiner Familie gehörte einst der ganze Ort. Die Familie hatte sich an jenem Tag versammelt, das Haus war voller Menschen. Kurzfristig entschied sich Adalberto, mit seiner Tochter in seinem eigenen, wenige Kilometer die Straße hinunter gelegenen Haus zu übernachten. Als der Regen kam, rief er besorgt seine Mutter an. So wurde er Zeuge ihrer letzten Sekunden, hörte das Entsetzen am anderen Ende der Leitung, bis diese schließlich verstummte. "Hier, wo wir jetzt stehen, verlief einst die Straße des Dorfes, die nach meiner Oma benannt war", erklärt er unter Tränen. Nur noch die Erinnerung ist geblieben.

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In Itaipava kamen etwa 60 Menschen ums Leben. In dem schicken Urlaubsstädtchen Teresopolis, gut 30 Kilometer weiter östlich, waren es über 400. Hier wälzten sich die Gerölllawinen gut 6 Kilometer talabwärts. Von der Siedlung Campo Grande, in der hauptsächlich arme Menschen in behelfsmäßig errichteten Häusern lebten, ist nichts mehr übrig geblieben. Bereits Tage vor der Katastrophe hatte es geregnet, der Boden konnte kein zusätzliches Wasser mehr aufnehmen. Lediglich ein bis zwei Meter ist das Erdreich hier tief, dann stößt man auf Felsen. Unter dem zwei Stunden dauernden Platzregen gab die Erde schließlich nach.

Das Bild der Zerstörung zieht sich durch die gesamte Region. Entlang der Bergstraße, die Teresopolis mit dem 65 Kilometer entfernten Nova Friburgo verbindet, sind viele kleine Ansiedlungen in jener Nacht zertsört worden. Am schlimmsten hat es Nova Friburgo selbst getroffen. Bis in die von Bergen durchzogene Innenstadt hinein zieht sich die Schneise der Verwüstungen. Die Rückkehr zur Normalität ist hier besonders schwierig, das Grauen an jeder Straßenecke greifbar. Die Menschen tragen Atemmasken wegen des Staubes und aus Angst vor um sich greifenden Krankheiten wie Leptospirose, an der bereits die ersten erkrankt sind. 


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Inmitten der Stadt starten und landen Hubschrauber der brasilianischen Marine von zwei Fußballfeldern aus, um in die isolierten Bergdörfer vorzudringen. Auf einer riesigen Tafel hat man 36 Orte aufgelistet, die angeflogen werden. Nach 14 Vermissten sucht man alleine dort, doch es könnten noch viel mehr sein. Die Menschen glauben nicht an die offizielle Todesstatistik der Regierung. Alleine in Campo Grande, einem Stadtteil Teresopolis, hätte es 700 Häuser gegeben, tausende Menschen könnten zu Tode gekommen sein, vermutet man. Doch es gibt keinerlei Statistiken über die genaue Einwohnerzahl. 

Die Überlebenden sind in Schulen und Gemeindehäusern untergebracht. Insgesamt sollen es über 20.000 sein, Menschen, die alles verloren haben. 8.000 Wohnungen will die Regierung in den nächsten Monaten für sie errichten; bis dahin ist man auf die Mithilfe der Mitmenschen angewiesen. Die Katastrophe habe gezeigt, wie solidarisch die Menschen hier seien, lobte Präsidentin Dilma Rousseff zuletzt die Anwohner. Und versprach Regierungsgelder, um die Gefahrengebiete endlich zu erfassen. Denn bisher gibt es keinerlei Bebauungspläne, keine Gefahrenanalysen. Ungeordnet ziehen sich ganze Stadtviertel über die steilen Berge.

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Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: brasilien]






[art_4] Peru: Cusco - die assimilierte Stadt
 
Ich hatte mir Cusco irgendwie bunter vorgestellt. Entsprechend überrascht war ich, als unser Bus einen auf 3.500 Metern gelegenen Pass überquerte und die Stadt plötzlich hinter einem Felsen auftauchte. Denn die in einem Talkessel gelegene Touristenhochburg ist im Juli vor allem eins: braun. Rot-braune Lehmhäuser, braune Hügel und ziemlich viel Verkehr mit braunen Abgasen.

Dabei lässt das Portrait der Stadt zunächst an Natürlichkeit denken: Cusco war einst die Hauptstadt des Inkareiches, das sich um 1500 n.Chr. vom heutigen Chile bis nach Kolumbien erstreckte.

Ausblick von der Terrasse unseres Hostals

Die Inka waren ziemlich überraschend innerhalb von hundert Jahren vom provinziellen Andenstamm zum größten Imperium des amerikanischen Kontinents herangewachsen. Cusco bildete dabei in jeder Hinsicht das Zentrum - sowohl als Ausgangspunkt des tausende Kilometer langen Straßennetzes der Inka, als auch als Verwaltungs- und Kulturzentrum. Die Inka hatten zwar keine Schrift (weswegen gesicherte Erkenntnisse über ihre Kultur nur bedingt existieren), konnten aber die Sterne lesen und haben dieses Wissen in ihren Bauwerken verewigt. Die oft angeführten Menschenopfer gab es zwar, wohl aber sehr vereinzelt und wenn, dann vor allem, um die jähzornigen Naturgötter zu besänftigen. Insgesamt hatten es sich die Inka Anfang des 16. Jahrhunderts geradezu gemütlich in ihrem Großreich gemacht.

Dann kamen die Spanier. Um 1520 griff eine von den ersten Europäern eingeschleppte Pocken-Epidemie von Mittelamerika ins Inkareich über. Die Südamerikaner waren dem Krankheitserreger schutzlos ausgeliefert und gingen in Scharen zugrunde. So auch der Inka-König Huayna Capac, der bis dahin das Zepter fest in der Hand gehalten hatte. Nach seinem Tod war es mit der Einigkeit im Inkareich vorbei: Huayna Capac hinterließ einen legitimen Sohn in Cusco (Huascar), bevorzugte wohl aber seinen von einer Konkubine in Quito geborenen Sohn Atahualpa. Die Folge war ein erbitterter Bürgerkrieg, der das Inkareich spaltete.

Die 180 Spanier, die 1532 im heutigen Peru landeten, fanden ein zermürbtes Land vor. Inspiriert von der hinterhältigen Gefangennahme des Aztekenherrschers Montezuma durch Hernan Cortes wenige Jahre zuvor, gelang es den Spaniern, den aus dem Bürgerkrieg siegreich hervorgegangenen Atahualpa in einen Hinterhalt zu locken und als Geisel zu nehmen. Anschließend marschierten die Konquistadoren nach Cusco und setzten den Marionetten-Herrscher Manco Capac ein. Atahualpa wurde bereits vorher von den spanischen Eroberern hingerichtet - allerdings erst nachdem sie einen kompletten Raum voller Gold und zwei Kammern voller Silber als Lösegeld für das Inka-Oberhaupt erhalten hatten.


Plaza de Armas in der Abenddämmerung

Zwar war damit der Widerstand der Inka nicht gebrochen, dieser Streich aber war ohne Frage der Anfang vom Ende. Insgesamt machten die Konquistadoren dank ihrer Feuerwaffen, ihrer Schlachtrösser (Pferde waren in Südamerika zu diesem Zeitpunkt komplett unbekannt) und ihrer Kampfhunde mit den zahlenmäßig weit überlegenen Heeren der Eingeborenen kurzen Prozess.

Die spanische Krone zementierte in den folgenden Jahrzehnten ihre Macht in Peru, indem sie die Festungen der Inka niederreißen und Kirchen auf die Fundamente der Inkatempel bauen ließ. An der Pazifikküste gründeten die Spanier die neue Landeshauptstadt Lima. Schließlich wurde auch die Inkasprache Quechua verboten und der Katholizismus zur einzig gültigen Religion erklärt.

In den folgenden vier Jahrhunderten wurde Cusco zur abgelegenen Andenstadt mit hübschen Mauerresten aus der Inkazeit und imposanten katholischen Kathedralen. Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten westliche Archäologen dann immer mehr der teils vergessenen Festungen im abgelegenen heiligen Tal der Inka. Darunter auch das 75 Kilometer entfernte Machu Picchu. 1983 schließlich wurde die größtenteils erhaltene Stadt zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.

Dann kamen die Touristen. Cusco befand sich plötzlich erneut im Blickpunkt Südamerikas. Der Strom Schaulustiger nahm in den 90er Jahren beständig zu. Heute besuchen jedes Jahr hunderttausende Touristen Cusco und Machu Picchu.

Die Kathedrale San Cristobal erbaut die auf den Fundamenten des Sonnentempels

Die Ausländer veränderten das Stadtbild von Cusco vermutlich in ähnlichem Maße, wie es einst die Spanier taten. So wird es heute von Hostal- und Restaurant-Fassaden bestimmt, zwischen denen hellhäutige Touristen mit Llama-Strickmützen und Sonnenbrillen hin und her schlendern.

Die Folge davon ist eine komplette Verdrängung der peruanischen Kultur in der Region. So gut wie jeder Peruaner in Cusco lebt auf irgendeine Art und Weise vom Tourismus. Der Verkauf von Inka-Souvenirs beispielsweise hat eine eigene Industrie hervorgebracht, deren Ziel es ist, Touristen möglichst viele Pullover, Jacken, Taschen, Armbänder und Mützen aus Alpaka-Wolle zu verkaufen. An jeder zweiten Straßenecke lauern traditionell gekleidete 10-Jährige mit einem Llama-Jungen auf dem Arm, die für einen Dollar photographiert werden möchten.

Ohnehin wird der Gang über den im Zentrum gelegenen Plaza de Armas zum Spießroutenlauf: alle paar Schritte werden einem lautstark Massagen, Bergtouren oder besagte Photos angeboten.

Cusco bei Nacht, Waldbrand am Horizont

Nach ein paar Tagen wird das - zusammen mit den Preisen auf westeuropäischem Niveau - zum dominierenden Nervfaktor und man muss sich zusammenreißen, nicht unfreundlich gegenüber Menschen zu sein, die das in ihrer Situation Naheliegende machen. Die eleganteste Lösung stellt wohl jene dar, die ein Bekannter anwandte. Er malte sich ein großes Schild mit den Worten "No, gracias!" und hielt es beim Gang durch Cusco vor seine Brust.

Das Erstaunliche an Cusco ist aber, dass es trotz dieses offensichtlichen Mangels an Authentizität irgendwie zu gefallen weiß. Vielleicht wegen des tagsüber stets sommerlichen Wetters und des oftmals strahlend blauen Himmels. Vielleicht aber auch, weil man hier den Übergang einer Kultur in eine andere (so verurteilenswert er auch sein mag) aufs Anschaulichste nachvollziehen kann.

Die Stadt ist gewissermaßen ein Inkaheiligtum, das von den Tentakeln des Katholizismus durchdrungen wurde.

Dieser ungleiche Hybrid wurde schließlich in dem Bestreben, Scharen von Touristen zu bespaßen, in höchstem Masse verwestlicht und kommerzialisiert.

Ein Stück Inkamauer, inklusive weltberühmtem 12-eckigem Stein

So zeugen heute vor allem noch die überall sichtbaren Mauerreste aus Inkazeiten, auf denen koloniale Gebäude oder Kirchen errichtet wurden, von dem Cusco vergangener Jahrhunderte.

Den Kontrast der Welten kann man aber auch bei einem Spaziergang auf einen der Hügel am Rande der Stadt erleben. Hier befinden sich die Ruinen der Festung Saqsaywamán (touristisch: "sexy woman"), die einst als Bollwerk gegen Eindringlinge errichtet wurde und von der noch irreal glatte Mauerreste zeugen, die die letzten fünfhundert Jahre dank der meisterhaften Steinmetzkunst der Inka unbeschadet überstanden haben.


Saqsaywamán-Ruinen (rechts) und Jesus-Statue (links) über Cusco

Wenige Meter von der Festung entfernt, breitet eine zehn Meter hohe, aus weißem Stein gefertigte und nachts hell beleuchtete Jesus-Statue ihre Arme über der Stadt aus. Sie wirkt wie ein Fremdkörper und man wünscht sich, sie könnte davon fliegen.

Text + Fotos: Robert Gast

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: peru]





[kol_1] Amor: Re-Cordis: aus dem Latein: sich erinnern, beherzigen!
 
Ich erinnere mich, ich war damals ein Mädchen und meine Oma sagte: " Kinder sind wie Engel. Ja, mein Kind, du bist ein Engel."
Und ich fragte:" Warum Oma, warum bin ich ein Engel? Und was bist du dann?"
Sie antwortete: "Ihr Kinder, Geschöpfe Gottes, ihr könnt fliegen. Wir Erwachsenen haben es verlernt, Engel zu sein, fliegen zu können; aber mach dir keine Sorgen, eines Tages werde ich dir besser erklären können, wie ich, deine Oma, das Fliegen erlernt habe. Es war in einem Traum!"

Ich erinnere mich... ich bin jetzt eine Frau – und meine Oma ist schon lange tot – ich bin kein Kind mehr... und deshalb auch kein Engel. Aber wenn man schon mal ein Engel war, kann es doch sein, dass man es immer noch ist, oder? Ich weiss, ich trage den Wunsch vom Fliegen und Reisen immer noch in mir.

Ich erinnere mich... es war so real, obwohl in einem Traum, es war Nacht, eine wunderschöne Nacht mit vielen Sternen und so warm, eine Sommernacht. In diesem Traum bin ich geflogen... einfach den Boden nicht mehr spüren und los! ... nach oben, höher und höher, uaaah... was für ein tolles Gefühl. Ich kann es immer noch, leicht sein und loslassen können. Und wieder zurück zum Boden, um einen neuen Impuls zu bekommen.

Ich bin über die Stadt geflogen, und von oben konnte ich Häuser sehen, die Strassen, die Ruhe der Nacht in dieser Stadt. Alle schliefen. Es ist besser so, habe ich gedacht, denn kein Erwachsener würde akzeptieren, dass ich, eine erwachsene Frau, immer noch fliegen kann. Ich sollte aufpassen, denn sie könnten sich vor mir fürchten, oder es könnte passieren, dass ich selber nicht mehr daran glaubte, fliegen zu können.

Doch nichts dergleichen geschah und ich reiste weiter, bis ich ein Haus mit Fenstern sah, von denen eines hell erleuchtet war. Neugierig näherte ich mich... ich stieß gegen die Jalousien und dachte, nun wird er enden mein Traum. Und schon sah ich jemanden auf mich zukommen. Die Flucht ergreifen; bloss nicht aufwachen. Zu spät. "Ah, ein Engel!"

Ich erschrak, es war die Stimme einer alten Frau, es war die Stimme meiner Großmutter.

Ich bin wach geworden und habe die Sehnsucht nach Flügeln und nach meiner Großmutter gespürt. Ja, meine liebe Oma, ich bin heute 32 Jahre alt, ich bin eine Frau und ich kenne den Traum vom Fliegen ohne dafür träumen zu müssen! Alles liegt in unserem Herzen! Re-Cordis das Leben!

Text: Cristina Poli

[druckversion ed 02/2010] / [druckversion artikel] / [archiv: amor]






[kol_2] Helden Brasiliens: Der Wandermönch vom São Francisco-Fluss
Treffen mit Bischof Luiz Flavio Cappio

Geboren wurde er am Tag des Heiligen Franz von Assisi, dem 4. Oktober. Beinahe hätten seine Eltern ihn deshalb Francisco genannt. Aber sie nannten ihn Luiz Flavio. Doch die Verbindung zu dem Heiligen sollte ein Leben lang bestehen. Vom Wunsch beseelt, ein religiöses Leben zu führen und den Ärmsten der Armen nahe zu sein, trat er in den Franziskanerorden ein und begann in den Vororten São Paulos zu wirken.

Irgendwann trieb es ihn hinaus und er begab sich auf den Weg durch Brasilien. – Bis in den Bundesstaat Bahia, an die Ufer des nach dem Heiligen Franz von Assisi benannten Rio São Francisco. Diesen wanderte er von der Quelle bis zur Mündung entlang, um das Leben der Anwohner verstehen zu lernen.



Ich treffe Dom Luiz Flavio Cappio ebenfalls am Ufer des São Francisco, in dem kleinen Ort Barra, wo Cappio seit über einem Jahrzehnt als Bischof tätig ist. Es ist früher Morgen, gerade hat er seine Morgenbotschaft über das Gemeinderadio an die gläubigen Frühaufsteher verkündet. Jetzt kauft er Brot und Milch auf dem Markt, spricht mit den Leuten, hört sich ihre Sorgen an. Jeden Morgen macht er diese Tour durch die Stadt, sofern er da ist. Denn meist ist er unterwegs, bereist seine riesige Diözese. Mit öffentlichen Bussen, "denn bei langen Strecken schlafe ich gerne am Steuer ein". Der stete Wanderer wurde zum ewigen Reisenden.

Gerade ist er von einer 10-tägigen Rundreise durch seine Diözese zurück gekommen. Erschöpft wirkt er, nach gerade einmal drei Stunden Schlaf. Doch die Pflicht rufe, und stets werde er um 4.30 Uhr wach, "so oder so, da hilft nichts".

Ob es nicht seltsam sei, dass er ausgerechnet am São Francisco lebe? "Vielleicht hat mir da ja mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt …" Nachdenklich schaut er auf den Fluss. Gerade hat er über das Radio von einer Mutter erzählt, die um ihren Sohn bangt, der den Kampf gegen die Drogen zu verlieren scheint. Ob sie sich nicht schämen würden, so viele Familien ins Verderben zu stürzen, hat der Bischof die Drogendealer per Radio gefragt. Manchmal würden sie ihm drohen, doch er glaube nicht, dass man ihm tatsächlich etwas antun werde, meint Cappio.

Ein Prophet sei er, hört man seine Mitbürger über ihn sagen. Ein Held! Bei Messen und Veranstaltungen in seiner Diözese kommt einem eher der Begriff "Popstar" in den Sinn, so stark ist die Reaktion der Gläubigen, wenn sie ihn treffen. Vielleicht liegt es an seiner Glaubwürdigkeit, seiner Unbedingtheit im Kampf um die gute Sache. Zwei Mal trat er in Hungerstreik gegen die von der Regierung geplante Umleitung von Wasser aus dem São Francisco-Fluss ins trockene Hinterland. "Die Leute fragten mich damals, ob ich gerne sterben würde – nein, leben wolle ich – antwortete ich ihnen darauf und deswegen kämpfe ich um den São Francisco." Wasser sei Leben, der Tod des Flusses bedeute den Tod der Menschen hier.



Cappio verabschiedet sich, es ist früher Morgen. Die Milchkanne hat er in der Hand, gleich beginnt sein Rundgang über den Markt, die kurzen Gespräche mit den Menschen. Er winkt, dann schlendert er die Uferpromenade hinab.

Text + Fotos: Thomas Milz

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]






[kol_3] Erlesen: Tequila-Moral für Saubermänner
 
Ach Jung, weißt du noch...
Achjung und ich haben uns am Tresen im Bierhimmel fest gekettet und versuchen für einen Augenblick, die Realität auszubeamen.
Ach Jung, unser letztes gemeinsames echtes Bierfrühstück... Du und ich, von der Dorfdisco nach Hause getramt oder doch gelaufen, Georg Danzer auf die Ohren zum Einschlafen und dann das glückselige Erwachen: Eltern im Urlaub, blau machen, blau werden, ohne das Bett zu verlassen. Mit ungetrübter Lebensfreude ziehen wir Bierchen um Bierchen, es wird dunkel und wir schlafen uns mit Danzers Legendärem Wixerblues vom 7.10.1976 ins Wochenende.

Das letzte echte Bierfrühstück fällt auf den Tag genau auf 13 Jahre nach dem Wixerblues und 21 Jahre vor dem Jetzt. Nur der Traum ist mir geblieben. Jedes Mal blinzele ich, ob sich der ewige Glücksmoment des morgendlichen Dämmerzustandes endlich bewahrheitet, ob mein Liebster mit einer Dose Tecate oder Modelo, von mir aus auch Jever und einem geeisten Glas auf einem einfachen Tablett drapiert, vor mir steht, um mich nur ein einziges Mal im Leben glücklich zu wecken.

Ne, das mach ich nicht. Du kannst doch nicht am frühen Morgen schon an Bier denken. Vor der Arbeit Bier trinken? In solchen Momenten bist du mir echt fremd. Wenn du magst, geh ich Brötchen holen – frische Brötchen und selbstgekochte Marmelade. Mmmh.

Dann auf dem Weg zur Arbeit kreisen meine Gedanken um einen Zweitfreund – oh Wunder. Es müsste ein Mensch sein, der mir ohne sinnloses Morgengelabere, dafür mit herrlich hopfig Wohltemperiertem die Welt versüßt. In mein beflügeltes, zufriedenes Lächeln, erklingt die Stimme meines spießbürgerlichen Angetrauteten und seine Miniaturausgabe in protestantisches Gewandet gehüllt, erscheint vor meinem geistigen Auge:
Du imaginierst ein Doppelleben. Himmel steh uns bei! Bier und Bigamie. Welch Schande über unsere Familie.

Mein literarischer Held ist Carlos Hernández, Polizist aus Mexiko Stadt. Als Officer im Mittelbau verdient er legal den Unterhalt für seine Frau und seine beiden Kinder sowie für seine Freundin und seine beiden Kinder. Legal meint nicht, dass das offizielle Gehalt auch nur annähernd zur Zufriedenstellung beider Familien reichen würde, nicht einmal allein käme Hernández über die Runden, aber die geduldeten bzw. von höherer Stelle gewünschten Zusatzeinkünfte verstoßen gegen keine katholisch mexikanischen Moralvorstellungen.

Der Tequila-Effekt
Rolo Diez

180 Seiten
Distel-Verlag (2002)
ISBN-10: 3923208707
ISBN-13: 978-3923208708


Beide Frauen beklagen sich über zu wenig Zeit für die Familie, inszenieren Eifersüchteleinen und erdrücken doch den ewig treuen Polizisten mit ihrer Liebe. Der genießt und flieht ab und an in die Arme einer aztekischen Blume oder der wunderschönen Rosario. Einst als Haushälterin in einer seiner Familien tätig, wurde Rosario von Carlos Hernández in das freischaffende Gewerbe in der Zona Rosa eingeführt. Als Dank ist ihm ihre Zuneigung in Form von allerlei Gefälligkeiten und auch Finanziellem gewiss.

Die Beziehung zu seinem Chef grenzt an eine Vater-Sohn Hassliebe. Einzig auf kleine Rituale und ihre Bedeutung kann sich Herández verlassen, wenn er das Büro des Kommandanten betritt. Wird ihm die Zigarette gereicht, dann stehen heikle Aufgaben bevor. Um Extragelder zur Bewältigung dieser wird dann ausgiebig gefeilscht, auch mit Tequila. Neben den dummdreisten, nichtsnutzigen Mitstreiterinnen und -streitern seiner Abteilung, die für jeden Fingen, den sie rühren, die Hand aufhalten, angeführt vom ewig müden Silberpfeil, erfährt Hernández Unterstützung und Freundschaft im Recherchemonster aus den Katakomben. Quasimodo, meist am Gras berauscht, eignet sich wunderbar zur Wahrheitsfindung im Verhör.

Und all dieses hier lediglich angerissene Beziehungskonstrukt basiert auf einer einzigen Handlung voller Liebe und Zuneigung: dem stets exakt temperierten Cuaguama-Bier, gereicht zur Stunde des Erwachens von irgendeiner wundervollen Vertrauten.

Ach Jung, ich werde Mama. Kommt meine Tochter nach mir, dann besteht die Chance auf mexikanisch beglückende Ritualisierungen im tristen Alltag meines Daseins. Kommt sie nach dem Moralisten, den ich salziges Täubchen der Enthaltsamkeit nenne, dann Oh Allmächtiger sei meiner Seele gnädig und führe mich in den Bierhimmel in Kreuzberg. Und wenn du schon dabei bist, lass den Danzer noh oimal die Sonn aufgehn sehn für einen Tequila wider der protestantischen Enthaltsamkeit.

Text: Maria Josefa Hausmeister

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[kol_4] Lauschrausch: Jakobsmusik
 
Diverse
Cantigas do Camiño
galileo mc
Das Pilgern auf dem Jakobsweg war schon immer eine wunderbare Ausstiegsmöglichkeit aus dem hektischen Alltag und in den letzten Jahren wurde es durch eine Flut von Publikationen noch populärer. Das letzte Stück des Weges bis zum Grab des Hl. Jakobus in Santiago de Compostela verläuft durch Galicien. Und neben die spirituelle Bedeutung des Weges ist die handfeste ökonomische getreten, die einer peripheren Region Europas den Geldsegen des Tourismus beschert.

Diverse
Cantigas do Camiño
galileo mc

Die galicische Regionalregierung hat also allen Grund, den Kult um den Jakobsweg zu fördern und tut dies auch: mit Kulturprojekten. Für das Jahr 2010 rief sie ein spezielles Jahr der Erinnerung an Jakobus aus - Xacobeo 2010 - und unterstützte u.a. diese opulent ausgestattete CD, in deren schön illustriertem Booklet dreisprachig u.a. die Geschichte des Weges in der Musik erläutert wird.

Die galicische Volksmusik mit ihren gaitas (Dudelsäcken), Leiern, Trommeln und Harfen ist in ihren Wurzeln eher keltisch als romanisch geprägt und erfreut sich auch heute noch großer Beliebtheit. Viele Künstler wie Susana Seivane oder Carlos Nuñez versuchen diese Richtung (sanft) zu modernisieren und haben damit sogar international Erfolg. 13 der besten Interpreten und Ensembles haben sich zu Ehren des Jakobsweges auf "Cantigas do Camiño" zusammengefunden und den Weg bzw. das Pilgern besungen.

Die Idee ist nicht neu, denn schon die Pilger im 12. Jahrhunderts sangen Choräle und Lieder zu Ehren des Hl. Jakobus, aber wunderbar umgesetzt. Neben reiner Folklore von der Gruppe "Treixadura" und sehr galicisch klingenden Instrumentalstücken des 40köpfigen Orchesters "SonDeSeu" sowie der Bands "Bonovo" (eine Jota) und "Berrogüetto" tummeln sich der Sänger Guadi Galego, der mit Kollegen ein Stück aus dem "Códice Calixtino" modernisiert hat, Susana Seivane, die den "Camiño longo" besingt, ebenso wie ihre Kollegin Uxía, die dafür einen fröhlichen Samba gewählt hat und die Frauengruppe "Leilía", die mehrstimmig über 1000 Wege singt. Und auch der eine oder andere sakrale Ton wird angeschlagen, so in "O Camiño" von "Milladoiro", allerdings immer eingebettet in moderne Kompositionen. Insgesamt Musik, die Lust auf’s Pilgern macht!


Fuxan Os Ventos
Terra de soños
galileo mc
Wer von galicischer Volksmusik nicht genug bekommen kann, dem sei die neue Live-CD der Gruppe "Fuxan Os Ventos" empfohlen (inkl. DVD), die auch einen Titel zur "Jakobs-CD" beigesteuert haben. "Fuxan Os Ventos" erhoben sich seit ihrer Gründung, 1972, in Galicien zu einer legendären Band, die schon zu Francos Zeiten in der eigenen Sprache sang.

Fuxan Os Ventos
Terra de soños
galileo mc

Rund 20 Jahre nach ihrer Auflösung gaben sie eine Reihe von Konzerten, von denen die beiden in Santiago de Compostela, im Jahre 2008, den Kern der vorliegenden Aufnahme bilden. Auf "Terra de soños" spielen die neun Bandmitglieder mit Streichern und so vielen Gastmusikern, darunter Mercedes Peón, dass teilweise über 20 Musiker auf der Bühne standen. Die Künstler interpretieren fröhliche Volkslieder, nachdenkliche Balladen und die "Hits" der Band so wunderbar, dass die Live-Stimmung ansteckend wirkt. Tipp: Laut hören!

Text: Torsten Eßer
Cover: amazon

[druckversion ed 02/2011] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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