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[art_2] Mexiko: Karneval und Leben in San Juan Chamula
 
Kriegsgeschrei hallt durch die Straßen. Bunt gekleidete Männer, die sogenannten Mash (Affen), machen Musik mit Trommeln, Gitarren, Akkordeon und Tuten. Sie laufen drei Mal um die Kirche herum, tanzen, halten inne, murmeln Gebete und entzünden Feuerwerkskörper. Es ist Karneval in San Juan Chamula.

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Das Dorf liegt in den Bergen des südmexikanischen Bundesstaates Chiapas. Seine Bewohner gehören dem Maya-Volk der Tzotziles an und gelten als sehr stolz. Sie lehnen den westlichen Lebensstil ab und verweisen alle Dorfbewohner aus der Gemeinschaft, die sich von den Traditionen der Vorfahren abwenden. Wichtigstes Fest in San Juan Chamula ist Kin Tahulitic, der fünftägige Karneval. Geschickt gelang es den Chamulanen, in das närrisch-katholische Fest der spanischen Eroberer ihre eigenen Glaubensvorstellungen zu integrieren. Für sie markiert der Karneval den Zeitpunkt der Aussaat und erinnert an die fünf verlorenen Tage des Jahrtausende alten Maya-Kalenders.

Die prähispanischen Maya hatten zwei Kalendersysteme, den Ritualkalender Tzolkin und den Sonnenkalender Haab. Das Sonnenjahr umfasste 365 Tage unterteilt in 18 Monate mit je 20 Tagen. Die fehlenden fünf Tage am Jahresende wurden Uayeb genannt und galten als Unheil bringend. Bis heute assoziieren die Chamulanen diese Tage mit Chaos und Unglück. Sie trinken Unmengen Posh (Zuckerrohrschnaps) und spielen kriegerische Konflikte der Dorfgeschichte nach.

San Juan Chamula verwandelt sich während des Karnevals in einen Hexenkessel mit kostümierten Fahnenschwenkern, affenähnlichen Wesen und Tausenden von Zuschauern. Vom Balkon des Rathauses blicken die Mitglieder des Ältestenrates herab. Zum Zeichen ihrer Autorität tragen sie schwarze Umhänge aus Schafwolle, rot-gelb-grün geschmückte Strohhüte und unter den Arm geklemmte Stöcke mit Silberknauf.

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Am vierten Festtag, dem Faschingsdienstag, findet die Purificación (Reinigung) statt. Begleitet von Glockengeläut arrangieren die Mash auf dem Hauptplatz einen sechs Meter breiten und 80 Meter langen Strohteppich, den Sbe Htotik (Pfad Gottes). Dann entzünden sie das trockene Gras. Weihrauchschwenker und Fahnenträger laufen über den brennenden Heiligen Weg. Der Feuerlauf symbolisiert den Aufstieg des Sonnengottes aus der Unterwelt. Nach vier Tagen Chaos stellt er auf der Erde wieder Ordnung her. Die Zeit des Fastens und der Aussaat beginnt.

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Die meisten Chamulanen sind Bauern und leben von dem, was ihnen Mutter Erde schenkt. Angebaut werden Mais, Bohnen und Gemüse; einige halten auch ein paar Hühner. Sonntags findet in San Juan Chamula ein farbenfroher Markt statt, auf dem Feldfrüchte, Heilkräuter, Eier und Fleisch angeboten werden. Für den Verkauf sind vor allem die Frauen verantwortlich, die traditionell gekleidet sind. Ihre Tracht besteht aus einem schwarzen Wickelrock, der mit einem breiten Gürtel zusammengehalten wird. Dazu trägt frau eine bestickte Satinbluse, Schmuck und Badeschlappen.

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Neben der Landwirtschaft ist der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Die Dorfbewohner verdienen ein bisschen Geld mit dem Verkauf von Kunsthandwerk, die Dorfverwaltung mit dem Eintrittsgeld in die Kirche. Von Außen unterscheidet sich das Gotteshaus Chamulas nicht von anderen katholischen Kirchen. Beim Betreten fühlt man sich jedoch in eine andere, mystische Welt versetzt. Es gibt weder Bänke, noch Orgel oder Beichtstühle. Stattdessen ist der Boden mit duftenden Piniennadeln bedeckt und es brennen mehrere Hundert Kerzen.

In Weihrauch gehüllt knien Dorfbewohner auf dem Boden und murmeln Gebete. Einige haben einen Ilol (Schamanen) engagiert, der Kontakt zu den Göttern aufnimmt. Er zündet Kerzen in unterschiedlichen Farben an: gelbe zur Abwendung des Neides, blaue zur Heilung von Krankheiten und schwarze zur Verwirrung des Bösen. Gackernde Hühner werden über schmerzende Körperstellen gehalten und geopfert. Posh unterstützt das Ritual. Der Zuckerrohrschnaps versetzt die Gläubigen in einen Trancezustand, nachgespült wird mit Coca Cola. Beide Getränke reizen den Magen und verursachen Rülpser. So entweichen böse Geister aus dem Körper. Die Seele wird gereinigt.

Doch auch die katholischen Heiligen, die von den Wänden des Gotteshauses herabblicken, spielen eine wichtige Rolle. Voller Inbrunst werden sie im Gebet verehrt und bei Unglück zur Rechenschaft gezogen. Der bedeutendste Heilige ist Chamulas Schutzpatron San Juan, Johannes der Täufer. Er nimmt das höchste Amt in der Heiligenhierarchie ein. Jesus Christus steht unter ihm. Die Chamulanen haben die katholischen Heiligen mit ihren alten Maya-Göttern verschmolzen. So ist in ihrer Vorstellung Jesus Christus vom Kreuz gestiegen, um als Sonne wiederaufzuerstehen.

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Fotografieren ist in Chamulas Kirche strengstens verboten; ebenso wie bei Zeremonien beispielsweise dem Feuerlauf am Faschingsdienstag. Auch wenn sie zum bescheidenen Wohlstand der Gemeinde beitragen, sind Fremde in San Juan Chamula eher geduldet als herzlich willkommen. Hotels gibt es nicht. Touristen müssen das Tzotziles-Dorf vor Sonnenuntergang verlassen.

Text + Fotos: Jutta Ulmer

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