ed 01/2009 : caiman.de

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brasilien: Die Welle, die aus dem Meer kam (Teil II)
Brasilien und der Bossa Nova
THOMAS MILZ
[art. 1] druckversion:

[gesamte ausgabe]


spanien: Teneriffa
Bergwanderung über den Wolken
BERTHOLD VOLBERG
[art. 2]
argentinien: Luis Alberto Spinetta - Un mañana
Los Fabulosos Cadillacs – La luz del ritmo
ANDREAS DAUERER
[art. 3]
spanien: Granada (Romanauszug)
Für immer und nie wieder
MARKUS FRITSCHE
[art. 4]
helden brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil III)
Lula und die Wiederwahl 2006
THOMAS MILZ
[kol. 1]
grenzfall: Insel im Winter
NORA VEDRA
[kol. 2]
pancho: Cuba Libre für urlaubsreife Selbstorganisierte
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: Zuco 103 trifft Mojarra Electrica
TORSTEN EßER
[kol. 4]






[art_1] Brasilien: Die Welle, die aus dem Meer kam (Teil II); (Teil I)
Brasilien und der Bossa Nova



Rio de Janeiro / Wave von A Três: [a-tres-wave.mp3]

Während der Bossa Nova 1964 weltweit seinen Siegeszug fortsetzte, trübte sich in Brasilien die Stimmung deutlich ein: am 01. April 1964 putschte das brasilianische Militär gegen die demokratische gewählte Regierung.

Die Antwort der Kulturschaffenden war eine zunehmende Verschiebung des Fokus – man wollte das wirkliche Brasilien einfangen. Besonders das Cinema Novo, das "neue (brasilianische) Kino", machte sich auf die Suche nach der Essenz der "Brasilidade", des irgendwie unausgefüllten brasilianischen Bewusstseins. Bossa Nova geriet zunehmend ins Hintertreffen.



Sergio Ricardo
Der Musiker, Filmregisseur und Maler Sergio Ricardo: Wir vom Cinema Novo hatten eine ganz andere politische Sorge – wir wollten das Land verändern, aber ohne Krieg. Wir wollten mit dem Hunger aufräumen, mit der Armut, mit der Plünderung der Staatskassen und der ungesühnten Korruption. Mit all den Geschwüren, die Brasilien seit seiner Gründung plagen. Aber wir haben dies nicht geschafft. Denn unsere Maschinengewehre waren unsere Gitarren, unsere Filmkameras. Deshalb waren wir nicht in der Lage, etwas auszurichten.

In Brasilien hatte der Bossa Nova stets eine Tendenz, besonders in den Oberschichten des Landes beliebt zu sein. Musik der Elite nannte man ihn oft und während der Militärdiktatur war er DER Verkaufsschlager Brasiliens. 

Zwar wurden neue kritisch-politische Töne unterdrückt. Doch die Jugend verschaffte sich Zugang zu den westlichen Popkulturen und hörte Bob Dylan, Beatles und Rolling Stones, ließ sich von Woodstock und der Anti-Vietnam-Bewegung beeinflussen. Und 1968 begann auch in Brasilien der Protest der Studenten – ein Reflex auf die zunehmende politische Unterdrückung durch die Militärs. 

Viele junge Musiker wie Gilberto Gil und Chico Buarque gingen ins Exil. Bossa Nova war zwar ihre musikalische Basis, aber als Transportmittel für ihre politischen Botschaften nicht mehr passend. 

Die schneidenden Orgel- und E-Gitarrenklänge von Caetano Velosos "Alegria Alegria" (1967) verkündeten die Ankunft einer neuen Zeit. Einer Zeit des Aufbegehrens der Jugend, der Befreiung. "Gegen den Wind gehend, ohne etwas zum zudecken oder irgendeinen Ausweis dabei..." lautet die Anfangszeile des Liedes, das für viele den Beginn der brasilianischen Popmusik bedeutet.

Die Jugend von 1968 war nicht mehr die Jugend von 1958. Und der Bossa Nova plötzlich ein Auslaufmodell. Sergio Ricardo: Der Bossa Nova wurde zu etwas, dass das an der Erneuerung des Landes interessierte Publikum nicht mehr interessierte. Man wollte Lieder hören, die von der politischen Realität erzählten. Und so tauchten neue Musiker auf, die die Dinge Brasiliens auf den Punkt bringen wollten. Aber sie bedienten sich neuer Musikstile, die für die breite Masse zugänglicher waren.

(Garota de Ipanema von A Três: [a-tres-garota-de-ipanema.mp3])

Populär blieben die Melodien des Bossa Nova aber trotzdem. Zumindest bei einem Teil des Publikums.

Der Historiker und Bossa Nova Biograph Ruy Castro auf die Frage, ob der Bossa Nova die Musik der Elite oder eher der breiten Masse ist: Bossa Nova begann tatsächlich als sehr komplexe Musik, obwohl sie gleichzeitig sehr schön war. Und sie hatte einen gewissen Erfolg, aber dies natürlich vor allem unter der so genannten Elite des Landes. Allerdings, mittlerweile sind ja jetzt schon 50 Jahre vergangen und ich wage zu behaupten, dass jeder Brasilianer, wenn er "Chega de Saudade" oder zahlreiche andere Lieder des Bossa Nova  hört, in der Lage wäre, mitzusingen.

Dennoch ist es eine Ungerechtigkeit zu sagen, dass Bossa Nova nur in der Elite gehört wird, wie dies (der Musiker) Carlos Lyra verkündet hat. Klar war Bossa Nova immer die Musik der Elite, der Leute, der Musiker, die reisen, die über den Tellerrand hinaus gucken konnten. Diese Leute mochten nicht den Samba, sondern den Bossa Nova.

Wenn aber plötzlich jemand im Maracanãstadion auftauchen, mitten auf dem Platz, und "Chega de Saudade" singen würde, würden die Menschen auf den Rängen mitsingen.


Ruy Castro

Während in Brasilien die Stimmung zusehends ungemütlicher wurde, feierte Tom Jobim in den USA immer größere Erfolge. 1967 nahm er mit Frank Sinatra ein Album mit seinen größten Hits auf. Doch für die neuen Intellektuellen Brasiliens war Tom Jobim ebenso eine Art des "Bewahrers des Establishments" wie sein Gesangspartner Sinatra für die Anti-Vietnam-Bewegung in den USA.

Sergio Ricardo über die Stimmung Ende der 60er Jahre: Es gab eine Kategorie von Künstlern, die sich nicht um ihre politische und kulturelle Realität scherten, die diesen Moment als einen ästhetischen Moment lebten. Es ging um die Suche nach der Schönheit, darum, die schönsten Melodien zu kreieren, die schönsten Gedichte zu erschaffen, - und man erschuf viele Momente großartiger Schönheit. Aber auf eine Art blieb dies alles auf Distanz zur Realität Brasiliens. Denn eigentlich war man in Brasilien bereits auf der Suche nach etwas ganz anderem: die engagierten Künstler suchten nach ganz anderen Wegen. Wir erreichten andere Territorien Brasiliens, die nicht Rio de Janeiro waren. Denn der Bossa Nova war sehr begrenzt auf  die zerbrechliche Liebe, die Zartheit der Interpretation, die Sorge um die Feinheit, die Schönheit der Dinge. 

Edle Motive, die aber nicht mehr allzu gefragt waren. Denn die Zeichen standen auf Sturm und die Zeit des Bossa war endgültig abgelaufen. Sergio Ricardo: Es ging halt so lange, wie es ging. Bis heute leben diese Lieder in unserer Erinnerung; umgeben von einer unübertroffenen Schönheit. 



Sergio Ricardo

Ruy Castro zieht ein Fazit, 50 Jahre nachdem alles begann: Der Bossa Nova hat gezeigt, dass es möglich ist, hoch qualitative Musik zu machen, die gleichzeitig populär ist. Und der Bossa Nova hat der Populärmusik der ganzen Welt sehr gut getan. Er hat gezeigt, dass ein Land der Dritten Welt etwas so komplexes und verfeinertes hervorbringen kann, so schön und so von Dauer. Nicht nur in Brasilien wird der 50. Geburtstag des Bossa Nova gefeiert – auf der ganzen Welt erscheinen CDs mit Bossa Nova.

Es scheint ein weltweites Bewusstsein zu geben, dass der Bossa Nova einen wichtigen Geburtstag feiert. Das bedeutet, dass er immer noch präsent ist. Es ist in der globalen Musikszene spürbar. Zwar findet man den Bossa Nova nicht in den Hitparaden, aber die große Populärmusik der USA ist dort auch nicht vertreten, ebenso wenig wie die große französische oder italienische Musik oder die der Karibik.  

Obwohl es ja eigentlich immer dieselben Lieder sind, ist es erstaunlich, wie sie konsumiert werden. Warum nutzt man das nicht aus und komponiert neue Lieder? Man greift immer wieder auf die alten Lieder zurück. Ich wäre froh, wenn es einen Erneuerungsprozess geben würde.







Rio de Janeiro, Lagune / [a-tres-2.mp3]

Interview mit der brasilianische Frauenband A Três in São Paulo

Wieso habt Ihr Euch entschieden, 40 oder sogar 50 Jahre alte Lieder zu spielen? 
Wir drei sind alle Töchter von Musikern und somit bereits in ein musikalisches Umfeld hineingewachsen. Mit der Musik des Bossa Nova sind wir groß geworden, so dass das eigentlich eine ganz natürliche Entwicklung war. Und das Wichtigste ist: wir mögen diese Art von Musik nun einmal. 

Zudem ist der Bossa Nova immer modern, stets aktuell. Und er ist reich an Harmonien, er ist synkopisch und das führt dazu, dass er immer irgendwie neu ist. Warum sollte man den Bossa Nova also als alt betrachten?

Bossa Nova wird für uns niemals alt sein. Ich hatte nie eine Phase, in der ich lieber Rock gehört habe. Das führte dazu, dass sich die anderen über mich lustig machten als ich noch ein Kind war. Aber das war mir egal, ich war immer glücklich mit meinem Musikgeschmack. 

Zudem gab es vor 50 Jahren Leute, die viel modernere Sachen gemacht haben als das, was heute so produziert wird. 

[a-tres-3.mp3] 

Was ist denn musikalisch gesehen so neu am Bossa Nova gewesen? Der Rhythmus?
Der Bossa Nova wird oft für einen musikalischen Rhythmus gehalten. Dabei stimmt das nicht ganz. Der Bossa Nova war in den 60er Jahren eine Bewegung, eine Lebensweise, Mode, "Garota Bossa Nova" wurde zu einem Sinnbild – letztlich kommt das also alles zusammen, ist ein Mix von all dem, was man damals gelebt hat. Auch vom Samba-Jazz ist etwas mit dabei. Johnny Alf zum Beispiel mag den Begriff Bossa Nova überhaupt nicht. Er sagt, dass er Samba-Jazz spielt...

Deshalb ist Bossa Nova eigentlich vielmehr eine Gattung als ein Rhythmus. Denn vom Rhythmus her ist es ja eher eine Variante der Samba.

Bossa Nova fand in Rio in den so genannten "goldenen Jahren" statt. War alles nur schön und easy? 
Nun, die Jugendlichen der Bossa Nova Bewegung kamen nun einmal aus gutem Hause und hatten die wirtschaftlichen Voraussetzungen, um den Tag über am Strand zu sein und sich der Musik hinzugeben. Das ist ja immer auch ein Kritikpunkt. Dabei wissen wir, dass das Rio der 50er Jahre auch nicht nur ein Meer aus Rosen war. So golden waren diese Jahre nun auch nicht.

Und heutzutage sehen die Dinge ja auch ganz anders aus. Wer heute Geld hat, kann es nicht wirklich genießen. Man kann nicht mehr in aller Ruhe an den Strand gehen, sondern muss Angst haben, dass man überfallen wird.


In diesem Sinne waren die 50er und frühen 60er Jahren wirklich "goldene Jahre". Die Leute damals konnten das Leben noch leben, im Gegensatz zu heute.


[a-tres-4.mp3] 


Der Tropicalismo löste den Bossa Nova Ende der 60er Jahre ab. Gab es dabei einen Rückschritt in Bezug auf die Qualität?
Wie alles im Leben ist auch dies eine zyklische Entwicklung. Man brauchte halt etwas Neues, dachte sich: jetzt haben wir aber genug über den blauen Himmel und das Meer gesungen. Es war zwar nett, aber jetzt muss was Anderes her. Aber das sind zwei verschiedene Bewegungen, die beide ihren Wert besitzen. Ich respektiere den Tropicalismo.

Es gibt genug Platz für alle Stilrichtungen.

Text + Fotos + Interview: Thomas Milz


mp3-Files: A Três, http://www.myspace.com/grupoatres

Links:





[art_2] Spanien: Teneriffa
Bergwanderung über den Wolken

Meine Begleiterin Cayetana wollte eigentlich nur zwei Wochen entspannten Strandurlaub in Puerto de la Cruz auf Teneriffa. Aber das war mit mir nicht zu machen. Nach immerhin fünf Tagen Sonnenbad und Planschen an der Playa Jardín schlug ich ihr daher vor: "Lass uns mal in die Berge, die Strände von oben ansehen." Begeistert ist sie nicht, schließlich habe sie ja auch keine passenden Wanderschuhe dabei. Ich muss ihr versprechen, dass es bei dieser einzigen Bergwanderung für den Rest unseres Urlaubs bleiben wird.

Morgens um 9.00 Uhr nach dem üblichen Frühstück (eine wilde Kombination aus Tostada mit gebratener Blutwurst und Mangosahne-Törtchen) stellen wir uns an die Bushaltestelle, wo der Bus nach Aguamansa abfahren wird. Neben uns ein offenbar deutsches Paar, zwei bestens gelaunte Engländerinnen, zu erkennen am überdimensionalen Sonnenbrand, und ein etwas finster, extrem kerlig aussehender Herr, eine schwere goldene Kette um den Hals, mit einer Begleitung, die seine Tochter hätte sein können.

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Hinter La Orotava beginnt der weniger befahrene Teil der Strecke und der Bus müht sich die Serpentinen hoch. Immer weniger Häuser tauchen vor den Busfenstern auf und der Wald wird immer dichter. Vor uns sitzend stubst die Landsfrau aus Alemania ihren Mann an: "Ja guck mal, das sieht ja aus wie bei uns im Schwarzwald!" Ich verdrehe die Augen nach dieser Bemerkung, die ich sofort Cayetana übersetzen muss. Nein, es sieht nicht aus wie im Schwarzwald, denn hier besteht der Wald nur aus kanarischen Kiefern und nicht aus Schwarzwald-Tannen. Inzwischen kämpft sich der Bus durch Passatwolkennebel und als wir wieder ins Sonnenlicht eintauchen, bemerkt eine der Engländerinnen entzückt, dass wir uns "above the clouds" bewegen. Einige Kilometer oberhalb von Aguamansa, auf einer Höhe von ca. 1800 Metern, stoppt der Bus und wir steigen aus. Dabei hören wir, dass der finster dreinblickende Mann mit seiner Begleiterin Russisch spricht.

Während alle anderen losziehen, bleiben wir kurz stehen, um die Aussicht zu genießen. Cayetana bringt ihre Fotokamera zum Einsatz und erfreut sich noch bester Laune. Wir holen das Paar aus dem Schwarzwald ein, das mit einer Landkarte wild gestikulierend an einer Weggabelung steht. Als wir an ihnen vorbei wollen, fragt der männliche Part auf unverfälschtem Schwäbisch: Ach entschuldige se bidde, welches Weegle führt blos nuff uff selle Teide?" Wie kommt ein alemannischer Tourist in einem einsamen Wald auf einer afrikanischen Insel in der Nähe Südmarokkos darauf, dass hier irgendjemand Schwäbisch versteht? Cayetanas Erscheinung mit ihrer pechschwarzen Lockenmähne und den andalusischen, fast schwarzen Mandelaugen ermutigt jedenfalls niemanden zu glauben, sie würde ein Wort Deutsch verstehen und ich sehe auch nicht deutsch aus. Deshalb reagiere ich mit pädagogischem Ernst: Ich gebe vor, kein Wort verstanden zu haben, beuge mich über die (deutsche) Wanderkarte und zucke mit den Schultern. Cayetana sprudelt in einer Minute zehn unfassbar schnelle Sätze mit andalusischem Akzent hervor, die noch nicht einmal ein Katalane verstanden hätte, und zeigt abwechselnd in alle vier Himmelsrichtungen. Gnadenlos überlassen wir die beiden orientierungslosen Schwaben ihrem Schicksal. Und stolpern selbst weiter durch einen Graben im Wald, der von Erosion geschaffen wurde. Hier vermuten wir die Fortsetzung des Wanderwegs, der in der Tat schlecht ausgeschildert ist. Wir steigen immer höher und geraten schnell außer Atem.

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Der Schweiß färbt unsere T-Shirts dunkel, während wir uns weiter nach oben kämpfen. Nachdem Cayetana sich leicht den Fuß verstaucht hat, will sie schon umkehren. "Nach einer Viertelstunde? Kommt nicht in Frage!" Sie quengelt etwas, aber als ich verspreche, dass wir spätestens um vier Uhr nachmittags wieder zurück fahren, damit sie sich drei Stunden lang für die Samstags-Party im "Vulcano" auf Hochglanz bringen kann, ist sie zufrieden.

Auf etwa 2.300 Metern Höhe haben wir den Wald unter uns gelassen und bewegen uns über einen schmalen Felspfad, links immer den Abgrund vor Augen. Wenn hier jemand ausrutschen würde, wäre ein Sturz von 80 - 100 Meter in die Tiefe angesagt. Deshalb können wir kaum die grandiose Aussicht auf das wabernde Wolkenmeer und die Kierferninseln genießen, sondern tasten uns vorsichtig, immer wieder nach Felsvorsprüngen greifend, weiter die Schlucht entlang.

Cayetana bleibt abrupt und mit merkwürdigem Grinsen stehen und zeigt auf die Stelle, wo der Pfad wieder breiter wird. Da vorn in einer Kurve über dem Abgrund steht in Pose der russische Super-Macho, der sich natürlich längst seines Hemdes entledigt und einige wirklich angsteinfößende Tattoos freigelegt hat. Seine Schulter ziert der Kopf eines Schneeleoparden. Er zeigt seiner Freundin irgendwas am Horizont und fotografiert minutenlang offenbar dasselbe Motiv. Wir blicken in diese Richtung. "Der Teide!", ruft Cayetana entzückt und vergisst ihre Schmerzen. Fasziniert betrachten wir Spaniens höchsten Gipfel, der nicht nur über dem Atlantik, sondern über scheinbar endlosem Kiefernwald und einem Kranz aus Wolken thront.

Ein aggressives Bellen reißt uns aus unserem Gipfeltraum. Ein großer Schäferhund taucht in der Steilkurve des Wanderwegs auf, wo sich der russische Supermann und seine blonde Barbie befinden. Wir haben schon Angst um den Hund – ob der Putin-Klon ihn mit bloßen Händen zerquetschen wird? Doch dann geschieht das Unglaubliche vor unseren Augen: der Möchtegern-Herkules packt seine Freundin und hält sie wie einen Schutzschild vor sich, um den Hund abzuwehren – er hat Angst!
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Der Hund bellt wütend weiter, einen Moment scheint es, als würde er zum Sprung auf das verängstigte Paar ansetzen. Die blondgefärbte Begleiterin des Russen findet die Situation nicht gerade verlängerungswürdig. Da biegen die beiden sportlichen Engländerinnen um die Ecke – und brechen beim Anblick des sich selbst in Frage stellenden Machos, der immer noch seine Freundin schützend vor sich hält, in weithin schallendes, nur ganz am Rande schadenfrohes Lachen aus. Das wiederum erschreckt den Hund, der nun bergab hinter der Kurve des Bergpfads verschwindet.

Sofort verhalten sich alle, als sei nichts gewesen: die Engländerinnen schalten zurück vom lauten Lachen zu einem glucksenden Kichern, die Russin wirft ihrem Millionär ohne Manieren einen sehr bösen Blick zu, zieht es aber vor, aus finanziellen Gründen zu schweigen, so scheint es. Er streift sich erst einmal sein Hemd über, denn den Schneeleoparden hat er nun wirklich nicht rausgelassen, ergreift ihre Hand und tritt den Rückzug an. Und wir sind froh, dass uns der Hund in Ruhe gelassen hat und genehmigen uns auf den Schreck kurz hinter der Kurve, auf einem Felsblock mit spektakulärem Ausblick, ein Picknick.

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Wir schließen die Augen und atmen tief den würzigen Kiefernduft ein. Während Cayetana schon von den Salsa-Rhythmen der kommenden Nacht träumt, genieße ich die Ruhe. Auf dem Rückweg, der immerhin zwei Stunden dauert, begegnen wir keinem Menschen und wandern allein durch diesen Märchenwald. Auf dem mittleren Wegabschnitt präsentiert sich der Wald auf phantastische Weise: alle Bäume sind dicht bedeckt mit silbergrauen Flechten, die von überall herab hängen wie Lametta an Weihnachtsbäumen. Der ganze Wald sieht aus als wäre er für einen Fantasy-Film dekoriert. Auf der Fahrt zurück zum Meer sind wir die einzigen Touristen im Bus. Unten am Hafen bereitet sich die Jugend darauf vor, die Nacht durchzutanzen, während über uns der von Wanderern verlassene Wald sich in nebliges Schweigen hüllt. Cayetana sieht zufrieden aus und flüstert, dass sie Lust hätte auf eine zweite Bergwanderung – am vorletzten Tag.

Text + Fotos: Berthold Volberg

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[art_3] Argentinien: Dürres Genius 
Luis Alberto Spinetta - Un mañana

Niemand wird für seine Musik derart verehrt, niemand für seine Musik derart gehasst. Wer über Spinetta, den sie in seiner argentinischen Heimat liebevoll "El Flaco" nennen, mit anderen Musikinteressierten spricht, stößt recht schnell an die Grenzen. Entweder man mag seine Musik ("Spinetta es un groso, un genio") oder man meidet sie, wie der Teufel das allzu berühmte Weihwasser ("¿Spinetta? ¡Canta cualquiera!"). Dennoch ist der schlaksige Mann schon seit einem gefühlten Jahrhundert ein Aushängeschild was argentinische Rockmusik anbelangt und nimmer müde, seine Ideen auf ein Album zu pressen.

Mit "Un mañana" hat er sein inzwischen 36. Album vorgelegt und es ist mit Sicherheit nicht das schlechteste. Es ist vorsichtiger, harmonischer und insgesamt recht homogen, wenn man das von seinen Liedern überhaupt sagen kann, und es ist gewissermaßen eine Fortsetzung der letzten Alben "Para los árboles" und "Pan". Beim ersten Hören stellt sich fast schon Lounge-Atmospähre ein. Sanfte Gitarrenriffs und -soli, facettenreiche Melodien und fast immer das raumfüllende Keyboard von Claudio Cardone; nicht zu vergessen Sergio Verdinelli am Schlagzeug und Nerina Nicotra am Bass. 


Und doch bleibt sich das dürre Genius treu. Spinetta lebt in seiner eigenen musikalischen Welt, in der er sich bewegt, die er immer wieder durchbricht um Platz für Neues zu schaffen. "Oh, vielleicht, vielleicht / Umarm ich Dich, wo immer Du auch bist / Denn ohne ein Zusammentreffen fehlen der Harmonie die Beine", heißt es in dem ruhigen "Hiedra al sol", das nur von seiner akustischen Gitarre begleitet wird. Leichter zugänglich ist da schon "Tu vuelo al fin" – am besten dabei die Augen schließen und mit Spinetta gemeinsam abheben, ehe man sich in "Canción de amor para Olga" verliert, in dem er die Dankbarkeit und Hoffnung besingt. Vielleicht sein bestes Stück auf dieser Platte.

Doch wie so oft sind seinen teils recht hermetischen Texten keine Interpretationsgrenzen gesetzt, so dass man sich schon selbst seine Gedanken machen muss. Aber, und das ist bei Spinetta nicht neu, die Platte sollte man mehr als ein-, zweimal hören. Zeit und Raum sollte man dem Album einräumen und es nicht zu purer Hintergrundmusik verkommen lassen. Wer sich buchstäblich in das Album fallen lässt, der wird belohnt. Spätestens, wenn das Herz von den unzählig kräftigen Harmonien ein wenig mehr vom Licht abbekommt. In diesen dunklen Zeiten durchaus ein Segen.

Luis Alberto Spinetta

Un mañana
World Connection / edel

Offizielle Seite: http://www.spinettacual.com.ar/




Fabulöse Neuauflage 
Los Fabulosos Cadillacs - La luz del ritmo 

Das Jahr 2008 wird wohl vor allem als Jahr der Comebacks in Erinnerung bleiben. Sting und Police gingen wieder auf Tour, Gustavo Cerati vertrug sich wieder mit Soda Stereo und stieg auf die altbekannte Bühne – und jetzt zeigten sich auch Vicentico und die Fabulosos Cadillacs wieder in trauter Einigkeit. War die Europatournee von Police nicht unbedingt nur von Erfolg gekrönt – teils gab es leere Ränge in den Locations wegen der horrenden Eintrittspreise – ist davon in Argentinien wenig zu spüren. Die Stadien werden da auch mal drei Tage hintereinander gefüllt, obwohl auch hier die Eintrittspreise vergleichsweise knackig sind. Aber, wenn jemandem Ehre gebührt, dann sind das diese beiden Ausnahmebands ganz ohne Zweifel. 

Jetzt also auch die Fabulosos, möchte man sagen. Immerhin bestätigten sich damit die unendlichen Gerüchte um eine mögliche Reúnion und, entgegen der meisten Band-Wiedervereinigungen, haben sie auch ein neues Album im Gepäck. So richtig "neu" darf man aber gar nicht sagen, denn es finden sich nur fünf wirklich neue Songs darauf; sechs weitere wurden neu eingespielt und sogar zwei Coverversionen ("Should I stay or should I go von The Clash und "Wake up and make love with me" von Ian Dury) geben die sieben Herren zum Besten. Und das alles in ihrem eigenwilligen Stil aus Latino-Rhythmen, Ska und Rock.

Bei "Nosotros Egoístas" lässt der charismatische Bandkopf Vicentico seinem Bassisten (und nicht minder charismatischen) Flavio Cianciarulo den Vortritt. Ein Stück, das sehr emotionsgeladen daherkommt, weil es dem im März 2008 verstorbenen Percussionist Gerardo "Toto" Rotblat gewidmet ist. Das anschließende "Hoy" könnte auch auf jeder Solo-Platte von Vicentico zu hören sein, weil es seinen leicht verklärten romantischen Ansatz weiter führt und eher einen folkloristischen Touch hat. Die drei restlichen neuen Songs ("La Luz del Ritmo", "Flores" und "El fin del amor") allerdings beeindrucken weniger. Es sind die gewohnt rhythmischen Gute-Laune-Stücke, die man von den Fabulosos ohnehin erwartet. Sie sind zwar nicht direkt enttäuschend, ob der wenigen neuen Lieder aber hätte man etwas mehr erwarten können.

Interessanter sind da schon die alten, aber neu arrangierten Stücke wie "Basta de llamarme así" (im 70er Jahre Ska-Stil eingespielt) und "El genio del Dub", schon damals eines der größten Erfolge, das jetzt sogar ein paar Hip-Hop-Alusionen bekommen hat. Musikalisch bleibt die Band sich somit einerseits treu, andererseits probiert sie auch ein klein wenig Neues aus. Ein bisschen Reggae und der eben erwähnte Hip-Hop finden sich ebenso auf der Platte wie das Cumbia beeinflusste "Padre Nuestro". So entstand mit "El luz del ritmo" ein solider Nachfolger der letzten Studio-Platte "La marcha del golazo solitario", die immerhin schon neun Jahre zurück liegt. Von einem Meilenstein des argentinischen Rock Nacional ist sie allerdings sehr weit entfernt.

Los Fabulosos Cadillacs
la luz del ritmo
World Connection / edel

Offizielle Seite: http://www.fabulosos-cadillacs.com

Text: Andreas Dauerer
Fotos: Andreas Dauerer + amazon.de

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: argentinien]





[art_4] Spanien: Granada (Romanauszug)
Für immer und nie wieder

Dieter lotste ihn geschickt auf die Plaza Nueva am Rande des Albaicin, des alten jüdisch-arabischen Viertels, dem Gegenhügel zur Alhambra, dem westlichen Gegenpunkt zum Tausendundeine-Nacht-Orient, dem Schmelztiegel aus Völkern anderer Jahrhunderte, einer Fluchtburg für tätowierte Finger, die der Welt den Vogel zeigten, gleich einer offenen Vagina mit konvex-konkav-konvulsischen Zuckungen, die das aufrecht steife fest umschloss, aufsaugte, ganz in sich verschwinden ließ, ineinanderblutend in desertierenden Stößen, jeder Quadratzentimeter Kopfsteinpflaster ein schwellender Orgasmus unter stechendem Gleichschritt in Richtung des Epizentrums von Herzvorlauferhitzern.

Es war noch genau ein Parkplatz frei, sie ließen das Auto gebührenlos stehen und tauchten wie Kapuzenschatten in die spärlich erleuchteten Gassen ein.

Die Luft war auch in den Bergen noch mild, das Kopfsteinmosaik pflasterte sich Baustein um Baustein steil nach oben, Albaicin, der Hügel. Ernst schwitzte rascher als er Atem holen konnte, Dieter schien ein festes Ziel zu haben.


In den dunklen Hauseingängen standen nicht minder helle Gestalten, die ab und an in den Lichtkegel einer Straßenlaterne traten und sofort wieder daraus verschwanden, arabische Gesprächsfetzen, nordafrikanische Gesichtszüge, ebenmäßig glatt poliert in schimmerndem Olivgrün, wunderschöne Gesichter, die sich stroboskopierend im Nachtschwarz sofort wieder auflösten, alte Frauen in maurischen Türrahmungen vor mit Kerzen ausgeleuchteten Innenhöfen sitzend, sich stumm Luft zufächelnd, die Sprache direkt aus der Holzkohlenglut vor den Augenhöhlen herauszüngelnd.

Ein junger Mann im offenen Hemd hatte leger ein Paar Skier auf seiner Schulter liegen, er hatte wohl die letzte Abendabfahrt aus dem rotglühenden Schnee der Sierra Nevada auf das Dach der Alhambra genommen und pfiff jetzt zufrieden ein Liedchen vor sich hin.

Sie wurden sehr freundlich gefragt, ob sie Haschisch kaufen wollten, mit der gleichen arabischen Freundlichkeit lehnte Dieter zuvorkommend ab, ein Araber tätschelte öffentlich lächelnd die schweren Brüste einer Frau.

Ernst hatte das Gefühl, den Gipfel einer Wüstenkarawane zu erklimmen, in seinem Nacken tauchten immer mehr Baubestandteile der Alhambra auf, Dieter blieb immer wie selbstverständlich mit stehen. Vor einer teteria, einer Art arabischer Teestube, kam alles zum Stillstand, sogar die Luft, glaubte Ernst zu spüren. Beim Eintreten mussten beide den Kopf einziehen, dick verrauchte Luft erschwerte lockere Atemübungen.

Dieter ging auf den Araber hinter der Theke zu, küsste ihn erst links, dann rechts auf die Wange und bestellte eine besondere Mischung Tee, die es nur für eine Art von Familienmitgliedern gab, soviel Verständnis ließ das schlechte Spanisch von Ernst gerade noch zu.

Seine Augen brannten, er sah sich in der orientalisch gestalteten Architektur des Raumes um, Oumane, eine Band aus Marokko mit traurig anklagenden Wüstenliedern leierte aus einem Kassettenrekorder, der bestimmt fast dreißig Jahre alt war, die hohlwangig klagende Klangwärme verteilte sich satt lastend im Raum, ganz hinten, an einem Ecktisch saß Maritta.

Maritta. Ihr Kopf ragte aus der Schulter eines hünenhaften, noch sehr jungen Arabers. Ernst starb sofort in seinem Überleben herum, biegsam wie ein Grashalm bei Windstille gab es in seinen Knien nach, im Gegenlicht des Gegengesichtes spiegelte und spaltete sich der Schmerz und ein Holzklotz aus Glücksmorphinen, Tränen schossen ihm in den Rauch zwischen seinen Augen, stammelndes Sehnsuchtswasser trat aus seinen Herzkammern und überschwemmt die Oberfläche seiner Haut.

Maritta flüsterte dem arabischen Hünen etwas zu, erhob sich fliegend aus seiner Schulter und kam rasch auf Ernst zu. Ernst spürte schon vor der Berührung den furchtbaren Aufprall. Ihre Körper bohrten sich ineinander, ohne Zeit und mit dem ganzen Raum, ein Schwindelkarussell himmelhoch über der Herzlinie, im Umhang der Zwischentöne hielt die Welt den Atem an und niemand schloss die Dunkelheit dahinter ab. Überraschungsgier und verrutschte Schwellungen. Ernst spürte deutlich seinen Körper an ihrem Körper, ihre sich steil aufbäumenden Brustwarzen rissen leichte Schnittwunden unter sein Hemd.


Viel Wein ohne hartes Brot, Farbraumschiffe pendelten durch den Raum und konservierten Lichtpunktorgien in die nächste Unendlichkeit, schillernde Dolchklingen funkelten aus ihrem Bauchnabel, zwischen ihrer Scham und ihren Brüsten zog ein Feuermagnet an ihm, der ihm ihre Innereien überstülpte. Der Boden schwankte, Ernst fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben ganz bei Trost, sie schwitzten sich in Sekundenschnelle klatschnass ineinander.

Geteiltes Leid war alles Leid, Maritta roch nach Schwermut und bunten Trümmern, ernst presste sie wie eine umgekehrte Geburt noch heftiger in sich hinein. Sie verließen einen Punkt und waren auf der Linie, über die nur noch Einleibigkeit strömte.

Als Maritta sich aus ihm herauslöste, da stand auch der Boden wieder still. Sie griff nach Ernsts schweratmender Hand, nahm sie mit zu Dieter an die Theke hinüber und umarmte Dieter so lange, bis ihr Rücken zuckte, dann löste sie sich auch von ihm. Die Tränen in ihren Augen hätten jedes Glas einer Sonnenbrille verbrannt.

Sie gingen an den Ecktisch hinten im Raum, der arabische Hüne war verschwunden, der arabische Wirt brachte drei grünlich gewässerte Teetassen, Ernst sah Maritta an und fühlte sich wie ein durchtrainierter Kokser, der den Gipfel des Schneeberges erklommen hatte, das Schweben in einer wohligen Bilderflut, die auch er nicht sehen konnte.

Maritta rauchte. Dieter rauchte nicht. Der Tee rotierte wie eine wasserlösliche Droge im Kopf. Ernst fand, dass Maritta einen Waffenschein für ihre Augen besitzen müsste. Aus den Löchern des getönten Lampenschirms fielen dreieckige Lichttropfen wie eine zerstückelte Abendsonne heraus, die ungebremst in das Eigengeweide stürzten und dort entmenschlicht verschlungen wurden.

Text + Fotos: Markus Fritsche

Lesetipp:
Granada ist ein Auszug aus: Markus Fritsche: Für immer und nie wieder
Schardt Verlag in Oldenburg, 1999, ISBN 3-933584-19-1

Markus Fritsche: Wenn Dali noch leben würde. Streifschüsse in Cadaqués
Schardt Verlag in Oldenburg, 2005, ISBN 3-89841-165-6

Bestellen könnt ihr beide Romane bei: Schardt Verlag in Oldenburg, Tel.: 0441-21779287,
E-Mail: schardtverlag@t-online.de, www.schardtverlag.de

oder direkt beim Autor:
Markus Fritsche, E-Mail: altmar.fritsche@t-online.de

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: spanien]





[kol_1] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil III)
Lula und die Wiederwahl 2006

Gleicher Ort, gleicher Anlass. Zurück auf der Avenida Paulista, vier Jahre nach Lulas erstem Wahlsieg. Ich war zu spät dran, da ich zuhause noch Geraldo Alckmins Rede vor seinen Parteianhängern abwarten musste, in der er Lula zu seiner Wiederwahl gratulierte, bevor ich mich aufmachen konnte. Im Taxi auf dem Weg zur Paulista hörte ich Lulas Rede, und als ich schließlich gegen Mitternacht auf der Paulista ankam, befand sich alles schon in Auflösung. Ich sah nur noch die Rücklichter einer entschwindenden Wagenkolonne, in der wohl auch der neue und alte Präsident saß, vermutete ich. Denn die mir entgegenströmenden Menschen signalisierten meiner Ansicht nach das Ende der Party.



Lula

Der Platz vor der improvisierten Bühne war nahezu leer. Sie war aus einigen Trio Elétricos zusammengesetzt worden; an einem prangte in greller Leuchtschrift "Demolidor". (Denselben Wagen sah ich Monate später in eine fahrende Go-Go-Boy-Disco umfunktioniert auf der Parada Gay auf derselben Paulista.) Eine Trommelgruppe spielte noch, dazu tanzten einige Menschen. Ein Spruchband wurde entrollt und die Paulista in Richtung Paraíso hoch getragen: "O povo venceu a mídia". Ich hatte die Party verpasst, an der laut Angaben der Polizei gerade einmal 5.000 Menschen teilgenommen hatten. Es war eine ungewöhnlich kühle Nacht und auch die Stimmung war sonderbar gedrückt.

Ganz anders als vier Jahre zuvor. An jenen 27. Oktober 2002 schwebte die Aura des historischen Moments über der begeisterten Menschenmasse auf der Avenida Paulista. Ein Moment des Aufbruchs. Und der Freude. Auf der Pressetribüne vor der Gazeta Mercantil drängelten sich die Fernsehteams aus aller Herren Länder, um auf Lulas Auftritt zu warten. Die Fotografen richteten ihre riesigen Teleobjektive auf den Balkon, auf dem sich der erste "sterbliche" Präsident zeigen würde. (Die Veja nannte ihn auf dem Titelbild ihrer Wahlausgabe "o primeiro Presidente de origem popular", die Folha de S. Paulo titelte am 28 Oktober "Metalúrgico é o primeiro líder de esquerda a ser eleito no país".) 



Lula

150.000 Menschen sollen damals auf der Paulista gewesen sein. Mehr als 20 Jahre und einige Karawanen quer durch Brasilien hatte es gedauert, bis der ehemalige Arbeiterführer den Schritt aus den Fabriken der grauen Vorstädten São Paulos in das strategische Zentrum Brasiliens geschafft hatte, von wo aus die Geschicke des Landes mitbestimmt werden. Jetzt war er angekommen.

Ich war erst Anfang 2002 in São Paulo angekommen und erst wenige Wochen vor der Wahl hatte ich mich der ACE angeschlossen. Eine der ersten ACE-Veranstaltungen, an der ich teilnahm, war die Pressekonferenz mit dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Lula, PT-Chef José Dirceu und dem Vize und "companheiro de chapa" José Alencar. Lula wirkte ungeduldig, doch geduldig beantwortete er ausführlich die ihm gestellten Fragen.



Avenida Paulista

Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass sich Lula derart offen der Auslandspresse zur Verfügung stellte. Sein internationaler Vertrauensvorschuss war spätestens mit den nach zwei Jahren aufziehenden Korruptionsskandalen aufgebraucht und die Larry Rother Affäre trug sicherlich auch nicht zur Verbesserung des Klimas zwischen Regierung und internationaler Presse bei.

So blieb einem 2006 nicht viel anderes übrig, als Lula aus der Ferne zu betrachten. Zweimal sah ich ihn während der Campanha 2006 bei Wahlkampfveranstaltungen in den Randbezirken São Paulos. Am 05. August machte ich mich per Bus, Metrô und noch mal Bus auf, um ihn in São Mateus zu sehen. Gut zwei Stunden war ich unterwegs; dann stand ich auf der kleinen Praça, auf der einige tausend PT-Anhänger auf Lula warteten. Ich machte einige Interviews zur Frage, ob Lula wohl von der Korruption innerhalb der PT gewusst habe. Ein anderes Thema interessierte damals eigentlich nicht.



Avenida Paulista

Ein Architekt, PT-Militanter seit Gründerzeiten, vermutete die CIA und Condoleezza Rice als Urheber einer rechten Verschwörung mit dem Ziel, Hugo Chávez und Lula gemeinsam zu Fall zu bringen. Und eine ältere Dame drängelte sich vor mein Mikrofon, um einen Treueschwur auf Lula abzulegen; für immer PT, denn in der grauen Vorstadt ließe sich außer den PT-Größen von den Herren Politikern sonst niemand blicken.

Ähnlich war die Stimmung einige Tage später im Bairro das Pimentas, einem der ärmsten Viertel in Guarulhos. "Deus sabe, que é por causa de vocês, que cheguei na presidência! – Gott ist mein Zeuge; Euretwegen habe ich es bis in den Präsidentenpalast geschafft!"

Lulas Stärke war immer seine Auseinandersetzung mit dem kleinen Mann; hier auf den Plätzen der Peripherie fühlte er sich sichtlich wohl. Hier war er zuhause. Und so verzieh ihm der kleine Mann auch stets die Fehltritte und Auslassungen seiner ersten Amtszeit. Dass die große Politik ein schmutziges Geschäft sei, wusste ja sowieso jeder.



Avenida Paulista

Und selbst diejenigen, die sich als bitter enttäuschte ehemalige PT-Sympathisanten bezeichneten, konnten sich letztlich niemals wirklich vorstellen, deshalb für Geraldo Alckmin zu stimmen. Zu tief waren noch die in den 80er und 90er Jahren ausgehobenen parteipolitischen Schützengräben. So mühte sich Alckmin auch vergeblich, in Lulas Hochburg zu punkten. Ausgerechnet nach São Bernardo do Campo war er im August 2006 gekommen, in Rufweite des zu dieser Zeit von der Schließung bedrohten VW-Werks.

Alckmin und Serra wehte an diesem grauen und trostlosen Tag ein eisiger Wind ins Gesicht. Ein paar tausend PSDB-Anhänger hatten sich vor dem LKW versammelt, von dem aus zuerst José Serra und danach Geraldo Alckmin zu ihnen sprachen. Doch symptomatisch für den ganzen Wahlkampf gelang es Alckmin nie, sein Publikum wirklich mitzureißen. Er wirkte stets verkrampft, und besonders beim Bad in der Menge war er das genaue Gegenteil des Profis Lula. Näherte sich ihm jemand zum Händeschütteln, schloss Alckmin meist leicht verlegen die Augen und biss sich auf die Unterlippe.



Alckmin / Serra

Besser im Körperkontakt zu den Wählern war Heloísa Helena. Doch gerade einmal 50 Anhänger hatten sich in der Fußgängerzone von Guarulhos versammelt, um ihrem Vortrag zu lauschen. Kaum hatte sie die Rednerbühne auf dem Mini-Trio-Elétrico betreten, brach ein heftiger Sturm los und der Himmel öffnete seine Schleusen.

Vergeblich versuchte jemand über die Präsidentschaftskandidatin einen Schirm zu halten. Im Angesicht des über sie hereinbrechenden Unwetters verkürzte die ansonsten für ihre ausschweifenden Diskurse bekannte Kandidatin ihre Rede auf wenig mehr als zwei Minuten. Es schien, als ob sich sogar das Wetter mit Lula verbündet hatte. Das kurze Interview, das ich im Schutze mehrerer Regenschirme dann noch mit Heloísa führte, wurde durch in das Aufnahmegerät eindringendes Regenwasser zerstört.



Heloisa im Regen

Dass Lula im ersten Wahlgang knapp die absolute Mehrheit verpasste, lag letztlich wohl eher an seinem eigenen Hochmut des "schon gewonnen – já ganhou" als an der Stärke seiner Gegner. Denn so sehr man auch Lulas erste Amtszeit kritisieren mag, eine wirkliche Alternative zu ihm gab es nicht. In den eigenen Reihen konnte in seinem übermächtigen Schatten nichts Neues gedeihen. Und in der Opposition fehlte es an einem Kandidaten, der ein ähnliches nationales Renommee besaß wie Lula.

So bleibt das seltsame Gefühl zurück, dass Lula zwar viele seiner schärfsten Kritiker positiv überrascht, doch gleichzeitig viele seiner treusten Anhänger bitter enttäuscht hat. Man muss ihm wohl zugute halten, dass für die großen Ideen und Ideologien der 80er Jahre nicht mehr viel Raum übrig geblieben ist. Sie wirken wie melancholisch stimmende Reminiszenz an die Vorzeit einer immer stärker sich globalisierenden und komplexer werdenden Welt. Was bleibt, ist gute Miene zum bösen Spiel.



Mit Lula-Bildchen

Vielleicht war das auch die Grundstimmung unter den an jenem seltsam trüben Wahlabend 2006 auf der Paulista Versammelten. Ich schoss noch ein paar Fotos der sich auflösenden Menge. Erst Wochen später entdeckte ich auf einem dieser Bilder ein paar winkende Menschen auf der sonst leeren Rednerbühne. Als ich das Bild maximal vergrößerte, zeichneten sich darauf Lulas Konturen schemenhaft ab, die den wenigen noch vor der Bühne verharrenden Menschen zuwinkte. War er etwa die ganze Zeit noch auf der Bühne gewesen, ohne dass ich es gemerkt hatte? Waren die meisten Menschen schon nach Hause gegangen, obwohl Lula noch auf der Bühne stand? 2002 wäre so etwas undenkbar gewesen. Doch die Zeiten haben sich geändert.



Text + Fotos: Thomas Milz

"Lula und die Wiederwahl 2006" ist ein Textauszug (übersetzt aus dem Portugiesischen von Thomas Milz) aus dem Buch "O Brasil dos Correspondentes".

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das Ende Herbst 2008 erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: helden brasiliens]





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[kol_3] Pancho: Cuba Libre für urlaubsreife Selbstorganisierte

Nach der Lektüre irgendeiner Unterschichtenzeitung hatte BertRAM beschlossen, den Ergebnissen irgendeiner Untersuchung an irgendeiner Universität Folge zu leisten. An diesem Morgen setzte er sich daher nicht wie üblich, ein Handtuch lose um die Hüften geschwungen, vor seinen Bildschirm, sondern begab sich ins Bad, duschte, rasierte, manikürte und pedikürte sich. Im Anschluss bereitete er sein tägliches Müsli mit Kaffee und aß und trank in der Küche. Er hörte Radio und vernahm ganz nebenbei, dass eine Schulfreundin aus frühen Tagen die aktuellen Nachrichten verlas:
"Der venezolanische Präsident Hugo Chávez unterstützt mit 24.000.000 Euro sozial Benachteiligte in London. Diese fahren künftig im Stadtbereich für 45 Pence gegenüber 90 Pence wie bislang..."

RAM schmunzelte ohne wirklich zuzuhören. Er war gedanklich beim zweiten Frühstück, das es laut Studie vorzubereiten galt. Aus den Tiefen seines Bettkastens hatte er gestern Nacht noch einen Aktenkoffer zu Tage befördert. In diesen packte er nun: Fix und Foxi, Sudoko und die frisch zubereiteten Frühstücksspaghetti Spinaci. Auch seine Kleidung lag bereits parat. Er zog die Jeans über die Socken und streifte das Hemd über den Kopf. Das Hemd, das er sich aus Anlass des 80sten Geburtstags seiner Oma gekauft hatte und das sie nun jedes Mal, wenn er sie besuchte, mit Hingabe bügelte. Das Bügelbrett war ihre letzte Bastion. Alzheimer nagte an ihr. Was vor sechs Jahren mit dem Verlust der Fähigkeit, Auto zu fahren begonnen, ihr dann den Sinn für das geliebte Reisen geraubt hatte, reduzierte nun Interesse und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben aufs Bügeln.



Da er selber nur ausgelatschte Sportschuhe besaß, wählte er aus dem Fundus seines Mitbewohners, des in den 80er Jahren noch schnieken Kommissar Shakiros, ein Paar himbeerfarbene Robin-Hood-Stiefel. Die Studie hatte aufgezeigt, dass Selbstständige zur Eigenmotivation und zum Auftritt am Telefon gegenüber Kunden unbedingt das Ritual des ins Bürogehens vollziehen mussten. BertRAM plagten aber weder Motivationsproblem noch Defizite im Bereich Kommunikationsfähigkeit. Sein Antrieb resultierte einzig aus einer Laune heraus. Nun saß er vor dem Computer mit seinen Gedanken bei der Studie. Wie verhielten sich Selbständige und Freiberufler, die von zu Hause aus arbeiteten: Gab es unter Ihnen tatsächlich eine Anzahl, die sich tagtäglich als Büroangestellte verkleidete und – ein weiterer zentraler Punkt der Gelehrten – ihren selbständigen Arbeitsrhythmus Zwangsbürozeiten unterstellten? Die Freiheit wählten, um sie mit dem gesellschaftlich motivieren Wahnsinn in Eigenregie zu geißeln?

Er beschloss, den heutigen Tag als Experiment des Examinierten zu betrachten. Falls sich, gruppiert um sein akkurates Auftreten Konzentration, Motivation und Kreativität in hohem Maße einstellen sollten, mehr noch als um das für Gewöhnlich lose um die Hüfte gebundene Handtuch, dann wolle er sich in diesem Aufzug auch betten. Wenn dann der nächste Tag die Produktivität des heutigen Tages noch überstiege, würde er sich übermorgen umgehend an die Zeitung wenden, die in ihrem Beitrag den Lesern verheimlichte, welche Institution und welcher Professor hinter solch wunderbaren Studien steckte, um ihnen mitzuteilen, dass er unter korrekt wissenschaftlichen Laborbedingungen die Studie fortgeführt hätte, mit dem Ergebnis, dass man sich nach drei Tagen des Schlafens im korrekten Bürooutfit besser wieder ins Handtuch hüllt, weil sich die Fliegen angelockt fühlten und den Bildschirm bekackten.

RAM hatte seinen Arbeitstag noch nicht richtig begonnen, da stand Shakiro in der Tür:
"Ich brauch Urlaub."
Sein zerknittertes Äußeres unterstrich die Aussage glaubhaft. RAM, der sich bereits nach seinem Handtuch sehnte, verstand jedoch genau in diesem Moment, den Sinn seines eigenen Auftritts. Wer sich korrekt kleidete und feste Arbeitszeiten anstrebte, hatte natürlich auch Anrecht auf Erholung.
"Ich bin dabei", kam es ihm mit einem Strahlen über die Lippen.
Ohne weitere Worte machte der Shakiro kehrt und warf sich in die gleiche Schale wie gestern.

Wenig später standen sie auf der Straße, blickten zögernd nach rechts und links, schritten dann aber entschlossen geradeaus, die U-Bahn runter, die sie zwei Stationen später ausspuckte, direkt gegenüber einem Reisediscounter.

"Tach."
"Guten Morgen."
"Moin."
"Was kann ich für sie tun?"
Shakiro begann: "Ich muss weit weg. Brauche Berge, Sonne und Strand, viel Fleisch und Fisch, auf keinen Fall Kälte, aber keine zu große Hitze. Bisschen Action, bisschen Erholung."
BertRAM ergänzte: "Guter Espresso. Kaltes Bier."
Für eine Sekunde glaubte der arme Kerl hinter dem Tresen, dass es sich bei den beiden ersten Pappnasen, die sich an diesem sonnigen Dezembertag in den Discounter begeben hatte, um Testkunden handelte. Menschen, meist zu zweit, die vom Kettenchef angeheuert, nicht zu realisierende Wünsche äußerten und dann die Verkaufsfähigkeiten unter den goldenen 12 zu berücksichtigenden Regel bewerteten, die immer griffbereit neben der Kasse lagen. Es war das erste Mal, dass er bei Kunden dachte, sie wollten ihn testen, da hatte er sich auch schon wieder gefasst und blieb seinem Grundsatz treu:
"Ich verkaufe nur, was sich lohnt und mir Spaß machen würde."
Shakiro, dem in seiner Eigenschaft als Kommissar die Fähigkeit des Gedankenlesens unabdingbar war, wusste, es wird ein guter Tag.
"Wann soll es losgehen?"
"Noch zwei, drei Cuba Libre, dann können wir starten", BertRAM wollte etwas Zeit gewinnen, um die Schneestiefel gegen Turnschuhe zu tauschen.
"Also schau ich mal ab morgen."
"Genau", RAM atmete tief durch.
"Ich hab günstige Flüge in die Dominikanische Republik, nach Costa Rica und nach Venezuela. Wobei gutes, kaltes Bier, exzellenter Kaffee und viel Fleisch sprechen für die Chávez-Republik."
Bei Chávez machte es Klick und RAM erinnerte sich an die Meldung im Radio. Doch bevor er zustimmen konnte, entschied Shakiro:
"Ich trag die Haare heute stumpf, so stumpf, so stumpf, du kleiner Schlumpf."
Reisekaufmann: "Die Anakonda sagt dem Ameisenbär gute Nacht."
Die Würfel waren gefallen. Mit zwei frisch gedruckten Tickets steuerten Shakiro und RAM in die nächstbeste lateinamerikanisch angehauchte Kneipe, um zu begießen, was zu begießen im Raume stand.



Cuba Libre!
Um Gottes Willen. Bewahren sie mich vor Barcardi-Cola, serviert im Rialtoglas mit einem winzigen Stückchen schmilzendem Irgendwas. Nein! Vielmehr nehme man ein Longdrinkglas bis oben hin gefüllt mit Eis. Dann bedarf es eines guten Rums. Bleiben wir bei Venezuela und nehmen Gran Reserva oder Cazique, Pampero ist auch in Ordnung. Cazique 500 wäre übertrieben; den lieber pur trinken. Das Glas zu circa Zweidrittel mit dem Zuckerrohrschnaps füllen, dazu Cola und eine halbe Limette reichen. Beschnuppern, verkosten: So schmeckt der Kurzurlaub für Selbstorganisierte.

Text + Fotos: Dirk Klaiber

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: pancho]





[kol_4] Lauschrausch: Zuco 103 trifft Mojarra Electrica

Zuco 103
After the carneval
World Connection / edel
Sagen wir es direkt: Mit "After the carneval" ist Zuco 103 ein weiterer Meilenstein des Brasilectro-Dancefloors gelungen, den sie selbst 1999 begründet haben. Allerdings präsentieren Sängerin Lilian Vieira (BR), Drummer Stefan Kruger (NL) und Keyboarder Stefan Schmid (D) ihn hier nicht in seiner massenkompatiblen Weichspülform, sondern haben ihn weiterentwickelt zu einer intelligenten Tanzmusik mit Anleihen u.a. an Funk und 80er-Synthiepop: So beginnt "Beija a mim" mit einem Synthiebass wie ihn die Kombo Deutsch-Amerikanische Freundschaft ihr eigen nannte. Überhaupt finden sich - gepaart mit Samba- und Bossaklängen - einige Anspielungen auf den 80er-Synthiepop, so z.B. in "She", wo im Hintergrund bedrohlich eine Klangtapete à la "Proximity Switch" von den Informatics wabbert, oder in "Ginga de criança", das wie ein gebremstes "Master & Servant" von Depeche Mode beginnt.

Zuco 103
After the Carneval
World Connection / edel

Zuco 103

Die Texte klingen manchmal leicht einfältig, drehen sich meistens um Liebe, Sehnsucht, Trennung und auch mal um die Tidenwelle des Amazonas ("Pororoca"). Das alles hört sich aber auf Brasilianisch wunderbar an, und es handelt sich ja auch um "Tanzmusik". Ich hoffe, dass Lilian und der "doppelte Stefan" noch viele solche Alben in Umlauf bringen, die zwischen Jazz, Samba, Bossa, Elektro und Pop angesiedelt sind.

Mojarra Electrica
Raza
Nuevos Medios / galileo
In Kolumbien leben die Nachfahren der schwarzen Sklaven aus Afrika vor allem an der Karibikküste. Dort, wo sie stark vertreten sind, hat sich auch ihre Kultur erhalten, allen voran die Musik. Viele Afro-Kolumbianer mussten aus wirtschaftlichen Gründen in den vergangenen Jahren in die großen Städte ziehen und mit ihnen ihre Kultur. Mojarra Electrica ist ein Abbild dieser Geschichte, vereint die Gruppe in ihren Stücken doch die afrokolumbianischen Traditionen und Instrumente (Marimba, Tambores etc.) mit urbanen Sounds.

Mojarra Electrica
Raza
Nuevos Medios / galileo

Auf "Raza", dem zweiten Album der 2001 gegründeten Band, wechseln sich flotte Tanznummern mit eher folkloristischen Titeln ab. Jazzimprovisationen, vor allem der Bläser, ziehen sich durch alle Titel. In ihren Texten beschäftigt sich die Gruppe u.a. in einem ironischen Abgesang mit der Sehnsucht vieler Kolumbianer, in die USA auszuwandern zu "blonden Silikonmäuschen und Ferrarifahrern" ("El hueco") oder in "Calle 19" mit den alltäglichen Morden aufgrund des Bürgerkrieges und der Kriminalität. In dieser Straße in Bogotá trafen sich die Musiker übrigens zum ersten Mal zu Jam-Sessions. Mojarra Electrica produzieren einen interessanten und pulsierenden Stilmix, auch wenn manchmal die textlichen Endlosschleifen etwas nerven ("El hoyo negro").

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon

[druckversion ed 01/2009] / [druckversion artikel] / [archiv: lauschrausch]





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