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[kol_1] Helden Brasiliens: Gesehen mit anderen Augen (Teil III)
Lula und die Wiederwahl 2006

Gleicher Ort, gleicher Anlass. Zurück auf der Avenida Paulista, vier Jahre nach Lulas erstem Wahlsieg. Ich war zu spät dran, da ich zuhause noch Geraldo Alckmins Rede vor seinen Parteianhängern abwarten musste, in der er Lula zu seiner Wiederwahl gratulierte, bevor ich mich aufmachen konnte. Im Taxi auf dem Weg zur Paulista hörte ich Lulas Rede, und als ich schließlich gegen Mitternacht auf der Paulista ankam, befand sich alles schon in Auflösung. Ich sah nur noch die Rücklichter einer entschwindenden Wagenkolonne, in der wohl auch der neue und alte Präsident saß, vermutete ich. Denn die mir entgegenströmenden Menschen signalisierten meiner Ansicht nach das Ende der Party.



Lula

Der Platz vor der improvisierten Bühne war nahezu leer. Sie war aus einigen Trio Elétricos zusammengesetzt worden; an einem prangte in greller Leuchtschrift "Demolidor". (Denselben Wagen sah ich Monate später in eine fahrende Go-Go-Boy-Disco umfunktioniert auf der Parada Gay auf derselben Paulista.) Eine Trommelgruppe spielte noch, dazu tanzten einige Menschen. Ein Spruchband wurde entrollt und die Paulista in Richtung Paraíso hoch getragen: "O povo venceu a mídia". Ich hatte die Party verpasst, an der laut Angaben der Polizei gerade einmal 5.000 Menschen teilgenommen hatten. Es war eine ungewöhnlich kühle Nacht und auch die Stimmung war sonderbar gedrückt.

Ganz anders als vier Jahre zuvor. An jenen 27. Oktober 2002 schwebte die Aura des historischen Moments über der begeisterten Menschenmasse auf der Avenida Paulista. Ein Moment des Aufbruchs. Und der Freude. Auf der Pressetribüne vor der Gazeta Mercantil drängelten sich die Fernsehteams aus aller Herren Länder, um auf Lulas Auftritt zu warten. Die Fotografen richteten ihre riesigen Teleobjektive auf den Balkon, auf dem sich der erste "sterbliche" Präsident zeigen würde. (Die Veja nannte ihn auf dem Titelbild ihrer Wahlausgabe "o primeiro Presidente de origem popular", die Folha de S. Paulo titelte am 28 Oktober "Metalúrgico é o primeiro líder de esquerda a ser eleito no país".) 



Lula

150.000 Menschen sollen damals auf der Paulista gewesen sein. Mehr als 20 Jahre und einige Karawanen quer durch Brasilien hatte es gedauert, bis der ehemalige Arbeiterführer den Schritt aus den Fabriken der grauen Vorstädten São Paulos in das strategische Zentrum Brasiliens geschafft hatte, von wo aus die Geschicke des Landes mitbestimmt werden. Jetzt war er angekommen.

Ich war erst Anfang 2002 in São Paulo angekommen und erst wenige Wochen vor der Wahl hatte ich mich der ACE angeschlossen. Eine der ersten ACE-Veranstaltungen, an der ich teilnahm, war die Pressekonferenz mit dem damaligen Präsidentschaftskandidaten Lula, PT-Chef José Dirceu und dem Vize und "companheiro de chapa" José Alencar. Lula wirkte ungeduldig, doch geduldig beantwortete er ausführlich die ihm gestellten Fragen.



Avenida Paulista

Es sollte das letzte Mal gewesen sein, dass sich Lula derart offen der Auslandspresse zur Verfügung stellte. Sein internationaler Vertrauensvorschuss war spätestens mit den nach zwei Jahren aufziehenden Korruptionsskandalen aufgebraucht und die Larry Rother Affäre trug sicherlich auch nicht zur Verbesserung des Klimas zwischen Regierung und internationaler Presse bei.

So blieb einem 2006 nicht viel anderes übrig, als Lula aus der Ferne zu betrachten. Zweimal sah ich ihn während der Campanha 2006 bei Wahlkampfveranstaltungen in den Randbezirken São Paulos. Am 05. August machte ich mich per Bus, Metrô und noch mal Bus auf, um ihn in São Mateus zu sehen. Gut zwei Stunden war ich unterwegs; dann stand ich auf der kleinen Praça, auf der einige tausend PT-Anhänger auf Lula warteten. Ich machte einige Interviews zur Frage, ob Lula wohl von der Korruption innerhalb der PT gewusst habe. Ein anderes Thema interessierte damals eigentlich nicht.



Avenida Paulista

Ein Architekt, PT-Militanter seit Gründerzeiten, vermutete die CIA und Condoleezza Rice als Urheber einer rechten Verschwörung mit dem Ziel, Hugo Chávez und Lula gemeinsam zu Fall zu bringen. Und eine ältere Dame drängelte sich vor mein Mikrofon, um einen Treueschwur auf Lula abzulegen; für immer PT, denn in der grauen Vorstadt ließe sich außer den PT-Größen von den Herren Politikern sonst niemand blicken.

Ähnlich war die Stimmung einige Tage später im Bairro das Pimentas, einem der ärmsten Viertel in Guarulhos. "Deus sabe, que é por causa de vocês, que cheguei na presidência! – Gott ist mein Zeuge; Euretwegen habe ich es bis in den Präsidentenpalast geschafft!"

Lulas Stärke war immer seine Auseinandersetzung mit dem kleinen Mann; hier auf den Plätzen der Peripherie fühlte er sich sichtlich wohl. Hier war er zuhause. Und so verzieh ihm der kleine Mann auch stets die Fehltritte und Auslassungen seiner ersten Amtszeit. Dass die große Politik ein schmutziges Geschäft sei, wusste ja sowieso jeder.



Avenida Paulista

Und selbst diejenigen, die sich als bitter enttäuschte ehemalige PT-Sympathisanten bezeichneten, konnten sich letztlich niemals wirklich vorstellen, deshalb für Geraldo Alckmin zu stimmen. Zu tief waren noch die in den 80er und 90er Jahren ausgehobenen parteipolitischen Schützengräben. So mühte sich Alckmin auch vergeblich, in Lulas Hochburg zu punkten. Ausgerechnet nach São Bernardo do Campo war er im August 2006 gekommen, in Rufweite des zu dieser Zeit von der Schließung bedrohten VW-Werks.

Alckmin und Serra wehte an diesem grauen und trostlosen Tag ein eisiger Wind ins Gesicht. Ein paar tausend PSDB-Anhänger hatten sich vor dem LKW versammelt, von dem aus zuerst José Serra und danach Geraldo Alckmin zu ihnen sprachen. Doch symptomatisch für den ganzen Wahlkampf gelang es Alckmin nie, sein Publikum wirklich mitzureißen. Er wirkte stets verkrampft, und besonders beim Bad in der Menge war er das genaue Gegenteil des Profis Lula. Näherte sich ihm jemand zum Händeschütteln, schloss Alckmin meist leicht verlegen die Augen und biss sich auf die Unterlippe.



Alckmin / Serra

Besser im Körperkontakt zu den Wählern war Heloísa Helena. Doch gerade einmal 50 Anhänger hatten sich in der Fußgängerzone von Guarulhos versammelt, um ihrem Vortrag zu lauschen. Kaum hatte sie die Rednerbühne auf dem Mini-Trio-Elétrico betreten, brach ein heftiger Sturm los und der Himmel öffnete seine Schleusen.

Vergeblich versuchte jemand über die Präsidentschaftskandidatin einen Schirm zu halten. Im Angesicht des über sie hereinbrechenden Unwetters verkürzte die ansonsten für ihre ausschweifenden Diskurse bekannte Kandidatin ihre Rede auf wenig mehr als zwei Minuten. Es schien, als ob sich sogar das Wetter mit Lula verbündet hatte. Das kurze Interview, das ich im Schutze mehrerer Regenschirme dann noch mit Heloísa führte, wurde durch in das Aufnahmegerät eindringendes Regenwasser zerstört.



Heloisa im Regen

Dass Lula im ersten Wahlgang knapp die absolute Mehrheit verpasste, lag letztlich wohl eher an seinem eigenen Hochmut des "schon gewonnen – já ganhou" als an der Stärke seiner Gegner. Denn so sehr man auch Lulas erste Amtszeit kritisieren mag, eine wirkliche Alternative zu ihm gab es nicht. In den eigenen Reihen konnte in seinem übermächtigen Schatten nichts Neues gedeihen. Und in der Opposition fehlte es an einem Kandidaten, der ein ähnliches nationales Renommee besaß wie Lula.

So bleibt das seltsame Gefühl zurück, dass Lula zwar viele seiner schärfsten Kritiker positiv überrascht, doch gleichzeitig viele seiner treusten Anhänger bitter enttäuscht hat. Man muss ihm wohl zugute halten, dass für die großen Ideen und Ideologien der 80er Jahre nicht mehr viel Raum übrig geblieben ist. Sie wirken wie melancholisch stimmende Reminiszenz an die Vorzeit einer immer stärker sich globalisierenden und komplexer werdenden Welt. Was bleibt, ist gute Miene zum bösen Spiel.



Mit Lula-Bildchen

Vielleicht war das auch die Grundstimmung unter den an jenem seltsam trüben Wahlabend 2006 auf der Paulista Versammelten. Ich schoss noch ein paar Fotos der sich auflösenden Menge. Erst Wochen später entdeckte ich auf einem dieser Bilder ein paar winkende Menschen auf der sonst leeren Rednerbühne. Als ich das Bild maximal vergrößerte, zeichneten sich darauf Lulas Konturen schemenhaft ab, die den wenigen noch vor der Bühne verharrenden Menschen zuwinkte. War er etwa die ganze Zeit noch auf der Bühne gewesen, ohne dass ich es gemerkt hatte? Waren die meisten Menschen schon nach Hause gegangen, obwohl Lula noch auf der Bühne stand? 2002 wäre so etwas undenkbar gewesen. Doch die Zeiten haben sich geändert.



Text + Fotos: Thomas Milz

"Lula und die Wiederwahl 2006" ist ein Textauszug (übersetzt aus dem Portugiesischen von Thomas Milz) aus dem Buch "O Brasil dos Correspondentes".

1977, São Paulo, in unruhigen Zeiten. Streiks erschüttern die Metropole, die Militärdiktatur ist besorgt. Ein Gewerkschaftsführer sorgt für Unruhe. Man werde ihn einschüchtern können, glauben die Militärs, und bald schon würde er von der Bühne verschwinden.

2006, São Paulo, in ruhigen Zeiten. Auf der Avenida Paulista jubelt der einstige Gewerkschaftsführer seinen Anhängern zu. Soeben ist Lula im Amt des Staatspräsidenten mit überwältigender Mehrheit bestätigt worden.

Viel ist in São Paulo und Brasilien geschehen in diesen 30 Jahren. Das Ende Herbst 2008 erschienene Buch "O Brasil dos correspondentes" erzählt die Geschichte dieser 30 Jahre aus der Sicht der in São Paulo arbeitenden Korrespondenten. Zugleich gibt es Auskunft darüber, wie sehr sich die Arbeit der Korrespondenten in diesen 30 Jahren verändert hat.

Das Buch erschien anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Gründung der Vereinigung der Auslandskorrespondenten São Paulos. Die erste Pressekonferenz hielt man damals übrigens mit eben jenem von den Militärs verfolgten Gewerkschaftsführer ab, der sich heute als Präsident weigert, vor die ausländische Presse zu treten.

O Brasil dos correspondentes
Herausgegeben von:
Jan Rocha, Thomas Milz und Verónica Goyzueta
Mit Fotografien von:
Paulo Fridman, Roberto Cattani und Thomas Milz

Verlag: Mérito Editora 2008
Preis 62 R$

In allen guten Buchhandlungen Brasiliens erhältlich!

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