portugal: Das Hieronymus-Kloster in Lissabon
Ein Besuch in der schönsten Kirche Portugals
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
spanien: Catalunya - Nation?
NIL THRABY
[art. 2]
brasilien: Zukunftspflanze Zuckerrohr
THOMAS MILZ
[art. 3]
spanien: Valencias Stadt der Künste und Wissenschaften
DIRK KLAIBER
[art. 4]
amor: Amor perdido
ANDREAS DAUERER
[kol. 1]
grenzfall: Moderne Formen der Sklaverei
Ein Gespräch mit Padre Ricardo Rezende Figueira
THOMAS MILZ
[kol. 2]
macht laune: Spinnen die Freunde
DIRK KLAIBER
[kol. 3]
lauschrausch: SEM trifft Bajofondo Tango Club
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Portugal: Das Hieronymus-Kloster in Lissabon
Ein Besuch in der schönsten Kirche Portugals

Allerheiligen 1755. Das katastrophalste Erdbeben, das jemals Europa heimsuchte, verwandelte eine der schönsten Städte der Welt, die heutige portugiesische Hauptstadt Lissabon, in ein trostloses Trümmermeer und forderte allein im Stadtzentrum 30.000 Opfer; hundert Kirchen und unzählige Paläste wurden zerstört. Nur ein großer Gebäudekomplex überstand diese Katastrophe fast unbeschädigt: das Hieronymus-Kloster. Damit blieb das bedeutendste Monument Lissabons verschont und kann noch heute in authentischer Pracht bewundert werden.


Aber versetzen wir uns ein halbes Jahrtausend zurück. Damals war der direkt an der Mündung des Tejo gelegene Stadtteil Belém noch ein Ort weit vor den Toren Lissabons, erst später wurde er von der wachsenden Metropole der aufstrebenden Kolonialmacht geschluckt. Und damals stand hier am Flussufer auch noch kein monumentales Kloster, sondern eine kleine Kapelle. Im Morgengrauen des 8. Juli 1497 kniete ein bärtiger Kapitän betend in dieser Kapelle der Jungfrau von Bethlehem (Belém) und bat um himmlischen Segen für sein bevorstehendes Abenteuer. Vasco da Gama hatte von König Manuel I., der den schönen Beinamen "Der Glückliche" bekam, die Erlaubnis zu einer Entdeckungsfahrt erhalten, die dem Ziel diente, Indien und seine Schätze auf dem Seeweg zu erreichen.

Als der skrupellose Vasco da Gama 1499 erfolgreich und mit einer Schiffsladung kostbarer indischer Gewürze nach Lissabon zurückkehrte, beschloss König Manuel I., zum Dank für die neuen portugiesischen Handelsniederlassungen im fernen Indien eine repräsentative Klosteranlage an der Stelle der kleinen Kapelle zu errichten. Im Jahre 1500 wurde das ehrgeizige Bauvorhaben begonnen und in Rekordzeit konnten die Architekten Diogo Boytac und Joao do Castilho bereits 1522 große Teile des Mammut-Projekts vollenden. Bis zur vollständigen Ausstattung des Klosters sollte allerdings ein Jahrhundert vergehen (1604).


Es war kein Zufall, dass man die Tejomündung als Standort für das Kloster wählte: von hier aus brachen die Schiffe der mutigen Entdecker auf ins endlose Blau, um auf Routen, die noch niemals zuvor befahren worden waren, vorzudringen in Territorien, auf die noch kein Europäer den Fuß gesetzt hatte. Und hier legten sie wieder an, wenn sie mit Gewürzen aus Indien oder Gold und Perlen von den soeben von Cabral und Amerigo Vespucci entdeckten Küsten Brasiliens zurückkehrten. Die Regierungszeit Manuel des Glücklichen war das Goldene Zeitalter Portugals. Eine Epoche des Überflusses und kultureller Höchstleistungen, in der das kleine Land am westlichen Rand Europas zur Weltmacht aufstieg, auf allen Kontinenten Kolonien eroberte und ein globales Handelsimperium errichtete. An so exponierter Stelle, an der Tejomündung, die das Tor zu all diesen (aus europäischer Sicht) neu entdeckten Welten wurde, entstand ein einzigartiger Sakralbau, der schon Zeitgenossen in Staunen versetzte, und noch im 21. Jahrhundert die Besucher in seinen Bann zieht.

Nicht nur die Dimensionen dieser Gottesburg sind beeindruckend – allein die der Flussmündung zugewandte Hauptfassade ist über 300 Meter lang – sondern vor allem die prunkvolle Dekoration und überreiche Ausgestaltung der Klosterkirche und des Kreuzgangs halten einige Überraschungen bereit. Schon von weitem imponiert die strahlend weiße Südfront, die aufgrund des filigranen Fassadenschmucks nie festungsartig oder zu pathetisch wirkt. Wenn man die Klosterkirche von Sao Jerónimo betritt, wird man im ersten Augenblick überrascht sein, wie wenig lichtduchflutet dieses weiße Gebäude im Innern ist.

Nachdem man sich an das mystische Dunkel gewöhnt hat, fallen zuerst die wunderbaren Mosaikfenster auf, die in kräftigen Farben leuchten. Die Lichtstrahlen malen bunte Muster auf die Mauern und die eleganten 25 Meter hohen Säulen.

Wie schlanke Stämme von Palmbäumen sehen sie aus und hoch oben gabeln sich ihre "Äste" und gehen über in prachtvolle Sterngewölbe. Diese einzigartigen Säulen sind mit platereskem Reliefschmuck überzogen, was sie noch zerbrechlicher wirken läßt. Es ist kaum zu glauben, dass ausgerechnet eine so instabil scheinende Konstruktion das große Erdbeben überstanden hat.

Langsam schreitet man zwischen diesen Palmbäumen aus Stein hin zum Höhepunkt des Klosterinneren: dem spektakulären Renaissance -Hochaltar, der den gesamten Chorraum ausfüllt, und aus Gemälden des Hofmalers Lourenço de Salzedo besteht. Etwas dunkel wirkt dieser Altarraum, solange er nicht angestrahlt wird. Doch die Illumination bringt die warmen Farben der Gemälde und die vergoldeten Rahmen und Säulen zum Strahlen. Unter diesem Goldglanz haben viele der berühmtesten Portugiesen standesgemäß ihre letzte Ruhestätte gefunden: König Manuel der Glückliche (gest. 1521) und seine Nachfolger bis hin zum unglücklichen König Sebastiao, der mit nur 24 Jahren in der Schlacht von Ksar-el-Kebir in Marokko fiel, sind hier begraben. An anderen Stellen des Hieronymus-Klosters sind der Entdecker Vasco da Gama (in der Krypta), der Renaissance-Dichter Luis Vaz de Camoes, der seine Entdeckungen im Nationalepos "Os Lusíadas" verewigte, und der Dichter Fernando Pessoa bestattet.

Kein Wunder, dass vielen Portugiesen dieses Kloster als nationales Heiligtum gilt. Es ist nicht zu übersehen, dass bei diesem Prachtbau an nichts gespart wurde, denn König Manuel belegte gleich nach der Rückkehr von Vasco da Gama aus Indien alle importierten Gewürze und andere Luxusgüter mit einer Sondersteuer, um den Bau der gigantischen Klosteranlage zu finanzieren. Und als ob man zurück zu den Wurzeln all dieses Prunks und Reichtums gehen wollte, wurde nach der teilweisen Säkularisierung des Klosters in einem großen Teil der Räume das nationale Seefahrtsmuseum untergebracht. Denn die heute so klein wirkenden Schiffe der Entdecker Bartolomeo Díaz, Cabral oder Vasco da Gama waren im 16. Jahrhundert der Grundstein für den Aufstieg Portugals zu einem mächtigen Imperium.

Doch alle Räume von Sao Jerónimo, sogar die Kirche, werden noch übertroffen vom phantastischen Kreuzgang des Klosters, der zu den schönsten der Welt gehört.

Er besteht aus zwei Stockwerken und wurde erst 1517, deutlich später als der Kirchenbau, begonnen. Er ist wie die gesamte Anlage ein Hauptbeispiel des Manuelinischen Stils, der zur Regierungszeit Manuels I. in etwa zeitgleich mit dem Estilo Plateresco in Spanien entstand und gotische Strukturen mit Renaissance und feinen, an Goldschmiedearbeiten erinnernden Reliefs verband. Jeder Besucher wird begeistert sein von der filigranen Dekoration der Fensterbögen dieses Kreuzgangs, in dem man immer neue, überraschende Details entdecken kann, die man nicht unbedingt mit einem christlichen Kloster assoziiert. Da sind zahlreiche Symbole aus der Seefahrt, Anker und Schiffstaue, die wieder an die Entdecker und den Ursprung des plötzlichen Reichtums erinnern. Und auch viele Anspielungen auf die neu entdeckten Gebiete: es ist keine Einbildung, wenn hier einiges im exotischen Fassadenschmuck an indische Tempel oder orientalische Bauten denken lässt. So flossen Eindrücke, die von den Übersee-Expeditionen aus allen Winkeln der Welt mitgebracht wurden, ein in diesen großartigen Gebäudekomplex, der 1983 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden ist.


Soviel Aufwand wurde nicht nur getrieben, um einen Raum für Gebet und Meditation zu schaffen. Die expandierende Weltmacht Portugal, die sich damals mit der iberischen Schwester Spanien auf dem Globus übermütig die Welt teilte (Vertrag von Tordesillas 1494, Vertrag von Zaragoza 1529), brauchte Bauten, um diese neu gewonnene Macht und ihren globalen Herrschaftsanspruch zu manifestieren. So wurde das Mosteiro dos Jerónimos von Beginn an nicht nur als fromme Pilgerstätte, sondern als repräsentatives Nationalmonument konzipiert. Das Bildprogramm mit seiner Pracht und seinen exotischen Einflüssen sollte allen, die hier ein und aus gingen, vor Augen führen, dass Portugal sich auf alle Kontinente ausgedehnt hatte. Und es ist kein Zufall, sondern Programm, dass die offizielle Adresse dieses National-Klosters auch heute noch heißt "Praça do Império".

Text: Berthold Volberg
Fotos: Camila Uzquiano

Infos:
Öffnungszeiten (November 2005):
Oktober – April: 10.00 – 17.00
Mai – September: 10.00 – 18.00

Eintritt (November 2005):
nur für den Kirchenbesuch frei,
für Kreuzgang und Museum: 4,50 Euro





[art_2] Spanien: Catalunya - Nation?

"Früher gab es die Pesete. Heute den Euro. Früher bekamen wir Post. Heute Emails. Es gibt keinen Zweifel: seit wir vor 26 Jahren das Statut beschlossen haben, hat sich viel verändert." So wirbt die katalonische Nationalregierung - die geschichtsträchtige Generalitat - für einen neuen "Staaten"-Vertrag mit Spanien. Die Beziehung zwischen beiden ist etwas angespannt.

2014 sind es 300 Jahre, seit Katalonien fatalerweise im Erbfolgekrieg auf das falsche Pferd setzte. Die Bourbonen besetzten am 11. September 1714 das rebellische Barcelona. Als Strafe für dessen Festhalten am österreichischen Kandidaten für den spanischen Thron wurde nicht nur die Stadt zerstört, sondern auch alle speziellen Rechte Kataloniens außer Kraft gesetzt.

Etwas mehr als 200 Jahre später gab es ein kurzes Aufflackern der katalonischen Selbstregierung. Die damit verbundenen Hoffnungen wurden aber von einem etwas zu kurz geratenen Mann restlos vernichtet: für Francisco Franco war Spanien "groß" und "eins". Da hatten kulturelle Parallelwege keine Chance. Wer damals Katalanisch sprach und Pech hatte, liegt heute in einem der vielen - oftmals versteckten - Massengräber.

Mit der Demokratie kam auch ein vorsichtiger Föderalismus. Und ein Statut, ein Vertrag also, der fortan die Beziehung Kataloniens mit Spanien regeln sollte. Das ist nun 26 Jahre her und es ist an der Zeit, das Statut zu erneuern. So weit, so gut. Nur ist leider in Spanien noch immer eine gewisse Bipolarität festzustellen und von gegenseitiger kultureller Akzeptanz ist wenig zu spüren. Dafür hört man die Leitkulturhammel umso deutlicher blöken. Und das auf beiden Seiten.

Für Deutsche ist der ganze Themenkomplex eher schwer zu verstehen und allgemeines Kopfschütteln die meist gesehene Reaktion - von Ablehnung vielleicht mal abgesehen. Zwar finden sich auch in Deutschland regionale Eigenheiten wie etwa das bayerische Oktoberfest oder der rheinische Karneval, aber sie werden als regionale Eigenheiten akzeptiert.

Sind die Deutschen also im Vergleich besonders kulturtolerant? Wer die Leitkulturdebatte vor einiger Zeit verfolgt hat, kann hier nur schmunzeln. Vielmehr sind die fundamentalen Unterschiede zu Spanien darin zu suchen, dass irgendwer irgendwann die blendende Idee hatte, Deutschland ein föderalistisches System zu geben. Leider hat Spanien diese Chance verpasst.

Zurück nach Katalonien. Die Verhandlungen für den neuen Staatenvertrag zaubern Farbe ins Gesicht der radikaleren Vertreter auf beiden Seiten der Barrikaden. Die Gründe entbehren, wie immer bei Pseudodebatten, nicht einer gewissen Peinlichkeit. So heißt es im ersten Paragrafen des Vertragsentwurfs: Katalonien ist eine Nation. Mir ist nicht bekannt, ob diese Klausel nur aufgenommen wurde, um Verhandlungsmaterial in der Hinterhand zu haben. Im Sinne von: ich nehme das hier raus, aber dafür bleibt das andere drin. Wenn das der Fall sein sollte, ist die folgende Argumentation völlig sinnlos, und der Unterzeichnende wird alles zurücknehmen und das Gegenteil behaupten. Einen geschickten Schachzug wird er es dann nennen.

Im Moment aber erhitzen sich die Gemüter an eben diesem Begriff. Dabei weiß eigentlich keiner, was er eigentlich bedeuten soll. Ein geschwinder Blick in das Wörterbuch hilft da wenig, denn "große, meist geschlossen siedelnde Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur, die ein politisches Staatswesen bilden", lässt alle Türen offen.

Diese Debatte ist total sinnlos und meines Erachtens nach auch künstlich herbei geführt. In den Jahren, die ich in Katalonien lebe, habe ich bis auf wenige Ausnahmen die Ureinwohner hier als erfreulich tolerante und sehr praktische Wesen kennen gelernt. Auch linguistisch. Dass die einem Ausländer gegenüber bewiesene Toleranz nicht immer auch auf spanische "Einwanderer" angewandt wird, lässt sich vielleicht historisch verstehen - wenn auch nicht gut heißen. Nun muss man sich das nicht so vorstellen, als gäbe es hier einen linguistischen Grabenkrieg oder als würden ständig Messer gezückt, wenn die falsche Sprache über die Lippen kommt. Der berühmte Spruch "Setze jutges d’un jutjat menjen fetge d’un penjat" (Sechszehn Richter eines Gerichts essen Leber eines Gehängten) ist schon längst in Rente gegangen. Der Legende nach diente der für Spanier schwer auszusprechende Satz in erwähntem Erbfolgekrieg als Entscheidungskriterium für eine potenzielle Exekution.

Auf der anderen, der spanischen Seite haben die Politiker der Rechten es verstanden, sich das kulturelle Unverständnis zu Nutze zu machen. Das ist genau so wenig überraschend wie angenehm. Seit das neue Statut nach Madrid gereist ist, um dort den Abgeordneten zur Abstimmung vorgelegt zu werden, schlagen mancherorts die Wellen hoch und höher. Die ehemalig regierende partido popular - oder auch Volkspartei, mit "Volk" wie in "Völkisch" - hat letzte Woche ihre neue, 500 000 Euro teure Kampagne gegen das Statut vorgestellt. Der Radiosender COPE der katholischen Kirche hat bereits zum Boykott katalonischer Waren aufgerufen - und die katalonischen Bischöfe haben heute erklärt, dass sie nichts gegen ihren Zerberus unternehmen können (oder wollen?). Viel Rauch also.

Die wahren Gründe für das dahinter stehende Feuer sind - wie immer - wirtschaftlicher Natur. Bisher gehen nämlich die Steuern zunächst nach Madrid, wo sie dann verteilt werden. Ein Teil dieser Steuern kommt dann mehr oder weniger postwendend zurück. Doppelter Weg dachten einige und haben ins Statut hinein geschrieben, dass die Steuern künftig in Katalonien erhoben werden und dann ein entsprechender Obolus nach Madrid abgeführt wird. Ein kleiner, aber gewichtiger Unterschied.

Und dazu einer, der viel mehr Zweifel aufdeckt, als man zunächst vermuten möchte. Dahinter steht nämlich die absolut und total ungeklärte Frage, wie es in einem zukünftigen Europa mit der inneren Solidarität gehalten wird. Wer wird in Zukunft bestimmen, in welchem Grade die Bewohner Europas ein Recht auf gleiche wirtschaftliche Rahmenbedingungen haben? Oder ist dieser gegenseitige Ausgleich vielleicht vorbei, vielleicht ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert?

Nicht dass man mich falsch versteht: ich glaube nicht, dass Katalonien aus dem spanischen Solidarbund austreten will. Ebenso wenig glaube ich, dass Deutschland ein selbes will, nur weil es Beiträge zur Europäischen Union kürzt. Aber die Frage, die sich hinter all dem Nationenklamauk auftut ist die: wer hat das Entscheidungsrecht darüber, wie viel "Solidarität" genug ist?

Katalonien könnte jetzt mit Recht sagen: ein kleiner Schritt für mich, aber ein großer für Europa. Tatsächlich wird hier die Autorität des Staates herausgefordert und dessen "gute Verwaltung" in Frage gestellt. An einer eingehenden Diskussion dieser Fragen vermag ich nichts auszusetzen. Schade nur, dass sie nicht stattfinden wird, denn vor lauter Rauch brennen einem die Augen.

Text + Fotos: Nil Thraby







[art_2] Brasilien: Zukunftspflanze Zuckerrohr

Die Macheten geben jedes Mal einen singenden Klang von sich, wenn das Zuckerrohr kurz über dem Boden abgeschlagen wird. Mit der linken Hand, die in einem ledernen Schutzhandschuh steckt, greift der Cortador, der das Zuckerrohr schlägt, die Stangen, um mit der rechten den Schlag auszuführen. Dann wirft er die abgeschlagenen Stangen zur Seite und kämpft sich weiter durch das dichte, etwa zwei Meter hohe Feld.



"Gestern ist das Feld abgebrannt. Das war nicht geplant, da das Zuckerrohr eigentlich noch gar nicht zur Ernte vorgesehen war. Aber jemand hat wohl eine Zigarette weggeworfen, und so ist es abgebrannt", sagt Eduardo Silva Dutra, Ingenieur der Usina Albertina, die täglich 7,500 Tonnen Zuckerrohr verarbeitet.

Normalerweise werden die Felder nach einem vorher festgelegten Plan abgefackelt, um die Bevölkerung auf die dichten Qualmwolken vorzubereiten. Bei Anbruch der Nacht wird Feuer gelegt, und innerhalb von 10 bis 15 Minuten brennen die Blätter der Zuckerrohrpflanze ab und lassen nur die gelb-braunen Stangen zurück.

Sertãozinho ist eines der Zentren der brasilianischen Zuckerindustrie. So weit das Auge reicht, erstrecken sich die grenzenlosen Felder über die plane Ebene. Die Stadt lebt von Zucker und Alkohol. 15.000 direkte Jobs bietet das Zuckerrohr, und mindestens doppelt so viele hängen von der Produktion ab.


400 Millionen Tonnen Zuckerrohr produziert Brasilien zurzeit, aus denen 17 Milliarden Liter Alkohol und 27 Millionen Tonnen Zucker gewonnen werden. "350 Millionen Tonnen davon kommen aus der zentral südlichen Region, die den Südosten, den Süden und den Zentral-Westen umfasst", sagt Manoel Carlos Azevedo Ortolan, Präsident der beiden regionalen Pflanzerorganisationen Orplana und Canaoeste. "Die restlichen 50 Millionen Tonnen werden im Norden und Nordosten Brasiliens produziert."

Im Süden Brasiliens dauert die Ernte von April bis November oder Dezember. Im Norden und Nordosten beginnt sie im September und endet im Februar. So hat man praktisch das ganze Jahr über Erntezeit.

Hier in Sertãozinho, einer 110.000 Einwohner kleinen Stadt im Westen des Bundesstaates São Paulo,pflanzt man zwischen Februar und Mai. Dann beginnt die Ernte 15 bis 18 Monate später. Es gibt jedoch einen zweiten Zuckerrohrtyp, der innerhalb von 12 Monaten geschlagen wird. "Wir pflanzen ihn im Oktober, so dass wir ihn im Oktober oder November des nächsten Jahres ernten können", so Ortolan.


Insgesamt fünfmal kann die Pflanze abgeerntet werden, bevor neu gepflanzt werden muss. Dazwischen muss der Boden sich ein Jahr lang erholen. Dazu pflanzt man Erdnüsse oder Soja. "In der Regel bevorzugt man Erdnüsse, die etwas schneller reifen als Soja", so Eduardo Silva Dutra. "Erdnüsse sind bereits nach drei Monaten erntereif, Soja benötigt vier bis fünf Monate."

Eigentlich bieten die flachen Ebenen des zentralen Südens der Zuckerindustrie einen entscheidenden Kostenvorteil gegenüber den hügeligen Küstenregionen des Nordostens, da man Erntemaschinen einsetzen kann. Diese ersetzen die Arbeitskraft von 50 Cortadores. Die Wirklichkeit aber sieht anders aus. Viele Pflanzer weigern sich, die Maschinen einzusetzen, da sie oft die Pflanze mitsamt den Wurzeln ausreißen. Zudem ist der Boden sehr steinig, was den Einsatz der Maschinen sehr schwierig macht und sie verlangen einen hohen Kapitaleinsatz, den viele Pflanzer nicht aufbringen können.

"Die Zuckerindustrie zahlt die besten Löhne der gesamten Agrarindustrie", sagt Ortolan. "Die Arbeiter verdienen im Schnitt 900 Reais im Monat, mehr als sonst irgendwo auf dem Land." Zudem bieten die Usinas ihren Arbeitern Krankenversicherung und Fortbildungsmaßnahmen.


Auf der Usina Albertina scheint der Lohn etwas niedriger zu liegen. "Unser Lohn hängt immer davon ab, wie viel Zuckerrohr wir schneiden. Aber zwischen 500 und 600 Reais kommen immer dabei rum,"sagt Aurim. Seit 23 Jahren arbeitet der 45-jährige als Cortador. "Meine Familie lebt in Bahia, und ich sehe sie erst nach der Ernte wieder, Ende Dezember. Dort ist die Situation viel schwieriger als hier. Es gibt keine Arbeit für die Menschen. Manchmal findet man für einen Tag in der Woche Arbeit, manchmal aber auch nicht. Zudem mögen wir diese Arbeit, trotz der unerträglichen Hitze. Sie sichert unser Überleben." Wenn er lacht, sieht man die zwei Zähne, die er im Oberkiefer noch hat. Seine Schienbeine und Unterarme sind mit Metallschienen gepolstert, auf dem Kopf trägt er eine Mütze. Acht Stunden pro Tag arbeitet er auf dem Feld. Fünf Tage am Stück, dann hat er einen Tag frei.

Die Usina Albertina verarbeitet 310 Tonnen Zuckerrohr pro Stunde. Eine Tonne enthält etwa 140 Kilogramm Saccharose, aus denen entweder Zucker oder Alkohol produziert wird. Pro Erntesaison summiert sich das auf 26 Millionen Liter Alkohol und 3 Millionen 50 Kilogramm Säcke Zucker.

Pro Tag können 20.000 Sack Zucker zu jeweils 50 Kilogrammproduziert werden. Dazu kommen entweder 190.000 Liter 93%iger Alkohol, hidratado genannt, oder 110.000 Liter reiner Alkohol, anidro.


"Der hidratado ist der Sprit, mit dem in Brasilien Millionen Flexpower-Autos fahren. Er hat zwischen 92,9% und 93,5% Alkoholgehalt, der Rest ist Wasser", erklärt Eduardo Silva Dutra. "Der anidro wird dem normalen Benzin untergemischt. Er gilt zwar als 100%iger Alkohol, doch sein Gehalt liegt in Wahrheit bei etwa 99,9%."

Im Zuckerrohr sieht Ortolandie Zukunft. "In 10 Jahren werden wir in Brasilien statt 400 Millionen Tonnen 650 Millionen produzieren. Der interne Automarkt verlangt bis 2010 etwa 7 Milliarden Liter Alkohol mehr als heute. Der Export wird bei 5 Milliarden Litern liegen, 3 Milliarden mehr als heute. Und der brasilianische Zuckermarkt wird bis 2012 um 6 Millionen Tonnen wachsen."

"Die Pflanzungen werden in die Viehwirtschaftregionen Zentralbrasiliens vordringen. Wir haben etwa 220 Millionen Hektar Weideland, aber nur 180 Million Tiere – weniger als eines pro Hektar. Mit etwas Technologie könnte man die Fläche einfach halbieren. Genug Platz, um noch mehr Zuckerrohr anzupflanzen."

Fotos: Thomas Milz






[art_4] Spanien: Valencias Stadt der Künste und Wissenschaften

Valencia läge an dem Fluss Turia, wenn er noch existierte und in den 80er Jahren nicht umgeleitet worden wäre. Nun trennt nur noch sein gewaltiges Flussbett die Alt- von der Neustadt. Fast auf der gesamten Länge zum Park umfunktioniert scheint das Bett aber jederzeit gewappnet, alle möglichen ankommenden Wassermassen aufnehmen zu können und in das nahe Meer zu geleiten. So sind auch alle Brücken, die die Stadtteile dies- und jenseits des Flusses verbunden haben noch voll betriebsfähig und nach wie vor im Einsatz. Gar so als erwarteten sie die Fluten erneut.



Stadtplanerisch stellt der immense neu geschaffene Raum in zentraler Lage ein gefundenes Fressen dar. So sollte man meinen, dass die ansonsten wenig mit Grünflächen verbundenen Stadtherrn mit Bagger und Kran zur Tat schreiten. Dem ist aber nicht so. Vielmehr scheinen sie ganz dem Grundsatz zu folgen: Neugeschaffenes müsse mindestens so skurril anmuten, wie der Geisterfluss an sich. Und so holten sie einen vor Ewigkeiten in die Ferne gezogenen Sohn der Stadt zurück, der weltweit den höchsten architektonischen Ruhm erlangt hat: Santiago Calatrava.


Calatrava wurde am 28. Juli 1951 in Valencia geboren. Zunächst blieb er in der Heimat, um Architektur zu studieren, dann zog es ihn nach Zürich. Dort promovierte er 1981 in Bauingenieurwesen. Ein Jahr zuvor hatte er in der Schweizer Metropole sein erstes Konstruktionsbüro eröffnet. 1989 folgte ein zweites in Paris. Sein futuristischer Stil ist heute überall auf der Welt gefragt. Zu seinen realisierten Projekten gehören etwa das just fertiggestellte 280 Meter hohe Wohnhaus Turning Torso in Malmö, wie auch eine Reihe von Brücken: Alamillo-Brücke in Sevilla, Puente de la Mujer in Buenos Aires, Kronprinzbrücke in Berlin und die Europabrücke in Orléans und nun auch die Stadt der Künste und der Wissenschaften in Valencia.


Folgt man dem Flussverlauf, so stößt man zu Beginn der Stadt auf einen riesigen Fisch, der sich den Turia entlang in Richtung Mittelmeer vorarbeitet. Je mehr man sich dem Ungetüm nähert, desto verspielter wird es und bietet der Vorstellungskraft jedes Einzelnen grenzenlose Imaginierfreuden: Kugelfisch, Ameisenkopf, Raumschiff oder vom Bug auch als Weißer Hai interpretierbar, der dem, wenn auch von der Grundform her ähnlich gearteten aber zunächst nicht eindeutig zuordbaren kleinerem Gebäude hinterher jagt. Bei dem Jäger handelt es sich um den Palast der Künste, der fast fertig gestellt ist und noch in diesem Jahr den Durst von 5000 gleichzeitigen Besuchern mit Theaterspektakel, Opernaufführungen und Ausstellungsräumen stillen soll. Der gejagte entpuppt sich nach genauerer Betachtung als menschliches Auge, das des Nachts über ein hydraulisches Augenlid in die Nacht blinzelt. Dieses Gebäude, vom Architekten L'Hemisfèric getauft, beherbergt ein Kino, dessen halbkreisförmiger Innenraum mit einer 900 Quadratmeter großen Leinwand überzogen ist, und ein Planetarium. Der längste Bau, das dritte Gebäude, der Wissenschafts- und Technologie-Palast, unter der Schirmherrschaft Prinz Felipes, ist einer gleichförmigen Welle nachempfunden. Von innen erinnert die Konstruktion an ein überdimensionales Fischgerippe. Parallel dazu verläuft eine bepflanzte Passage, deren Gittergerippengewölbe ebenfalls Wellenbewegungen vollführen. Dieser Teil der Anlage nennt sich L'Umbracle und dient als großzügig angelegter Zugangsbereich zur Ciudad de las Artes y las Ciencias, sowie als Oase der Erholung von den in ihrer Fülle erschlagenden Eindrücken, die die weiteren Gebäude von innen und von außen bereit halten.


Komplettiert wird die Stadt, die die Symbiose von Kunst und Wissenschaft thematisiert, vom L'Oceanogràfic, einer begehbaren Unterwasserwelt, die den Besuchern einen Querschnitt durch die Flora und Fauna der Ozeane bietet. Das Ozean-Museum liegt ein wenig abseits der anderen Gebäude. Von den fünf Gebäudekomplexen ist es aber auch das einzige, das nicht von Santiago Calatrava gestaltet wurde, sondern die Handschrift des Architekten Felix Candel trägt.

Insgesamt ist das fast vollendete und größten Teils in Betrieb genommene Projekt der Stadt der Künste und der Wissenschaften ein beeindruckender Zugewinn für Valencia und auf jeden Fall einen Besuch wert. Und natürlich kann man diesen mit der Besichtigung des bei Tag und Nacht reizvollen Zentrums der mit einer Dreiviertel-Million Einwohner drittgrößten Stadt Spaniens kombinieren.

Fotos: Dirk Klaiber

Infos:
Ciudad de las Artes y de las Ciencias:
http://www.cac.es

Santiago Calatrava:
http://www.calatrava.com







[kol_1] Amor: Amor perdido

Sergio ist ein gemütlicher Mann, Mitte vierzig und heute auf den Tag ein Jahr und zwei Monate von seiner Frau Valéria geschieden. Wenn man es ganz genau nehmen wollte, dann sind es noch sechs Stunden bis zu dem damaligen Ereignis, weil sie hochoffiziell erst am Nachmittag vom Notar in der Calle Gallardo geschieden wurden, aber im Großen und Ganzen ist dies vernachlässigbar. Anfangs haftete der Trennung von Valéria etwas Befreiendes an, inzwischen allerdings fehlt ihm irgendetwas, das er gar nicht richtig benennen kann. Und sei es nur, dass nach getaner Arbeit jemand auf ihn wartet; vielleicht mit einem Essen, aber das ist ihm gar nicht so wichtig. Einfach eine Präsenz von irgendjemandem. Seine Überlegungen, eine Haushaltshilfe einzustellen verbannte Sergio wieder aus seinen Gedanken, denn an sich war dies unnötig - den Haushalt hatte er stets im Griff gehabt - andererseits wäre es in mancherlei Bereichen willkommene Abwechslung gewesen.

Sich selbst bei diesen Gedankengängen ertappend, denkt Sergio an seine Ex-Frau. Für heute Abend hat er eigentlich ein Rendezvous mit ihr ausgemacht. Zum Essen. Eine komische Geschichte, denn eine Woche zuvor trafen sie sich wie zufällig in der Innenstadt und beschlossen, dass man sich ja mal sehen könne.

Um ehrlich zu sein, ist es Sergio bei diesem Gedanken alles andere als Wohl zu Mute. Natürlich haben sie sich in der Zwischenzeit ab und an mal wieder gesehen, aber vor jenem Treffen im Zentrum, waren es eher Monate denn Wochen ohne Kontaktaufnahme. Wie viele es wohl gewesen sein mögen? Während er noch an seinem Hemdknopf, holt ihn das Ertönen der Kaffeemaschine wieder in die Realität zurück. Zur Arbeit muss er heute nicht; wohlweißlich hat er sich heute und morgen frei genommen. Man kann ja nie wissen. Im Übrigen wünscht er sich nichts mehr, als einen halbwegs vernünftigen Umgang mit Valéria, wenngleich er daran nicht wirklich denken mag. Denn insgeheim regt sich in seinem Herzen der Wunsch nach einer Versöhnung und einem möglichen Neubeginn.

Die Zeit bis zum abendlichen Treffen verstreicht quälend langsam. Schon drei Stunden davor überlegt Sergio, was er anziehen soll. Der Anlass ist zweifelsohne wichtig für ihn, ja, wenn nicht entscheidend. Zumindest bildet er sich das hier und jetzt ein. Dennoch will er nicht im Anzug erscheinen, obwohl das Restaurant durchaus zu den schickeren in Puerto Madero gehört. Valéria mochte Anzüge nie besonders, aber welche Kleidung sonst bitteschön trägt ein Mitarbeiter im Dienstleistungssektor mit Kundenverkehr?

Nach einigen erfolglosen Farbkombinationsversuchen mit Hemd, Hose und Schuhen, wirft sich Sergio müde auf sein Bett und löscht das Licht. Regungslos liegt er da und im Zimmer ertönt nur sein gleichmäßiges Atmen. Die einzige Möglichkeit, die ihm jetzt einigermaßen plausibel erscheint, ist jene, im Dunkeln an den großen Schrank zu gehen und blindlings eine Hose und ein Hemd herauszuholen und anzuprobieren. Gedanken zu den Schuhen will er sich später machen.

Also erhebt er sich und geht in Richtung Schrank. Tastend nähert er sich seinen Hosen im Regal. War das nicht die schwarze, die er zuvor mit dem grüngestreiften Hemd kombiniert hat? Oder war es doch die braune? Nein, sagt er sich, zu viele Gedanken, ich ziehe  einfach alle Hosen aus dem Schrank, werfe sie aufs Bett und greife anschließend nach irgendeiner. Etwa zwei Minuten später hat Sergio den ersten Teil seiner Arbeit erledigt. Nun folgt das Oberteil. Da das Bett noch weitestgehend mit Hosen bedeckt ist, entschließt er sich, ein Hemd herauszuziehen und im gleichen Zuge anzuziehen.

Der kühle Baumwollstoff schmiegt sich an sein Gesicht und seinen Hinterkopf; die Arme lokalisiert er, aber irgendwie passt das Ding nicht über seinen Schädel. Sergio müht sich redlich, findet jedoch die Knopfleiste nicht auf Anhieb, so dass er zwei Mal kräftig am Stoff zieht, in der Hoffnung, die Knöpfe mögen reißen und seinen Kopf gänzlich freigeben! Doch die Knöpfe sind wider Erwarten resistenter Natur und bleiben an ihrem angestammten Platz. Um diesem Spuk ein vorzeitiges Ende zu bereiten, beginnt Sergio zum Lichtschalter zu taumeln. Beim zweiten Schritt, zugegebener Maßen nicht mit der geringsten Vorsicht vollführt, zieht etwas an seinem linken Bein. "Wohl eine der Hosen", sagt er laut ins Zimmer. Im Begriff diesen Missstand zu beseitigen, hebt er das linke Bein und beginnt im Raum umher zu hüpfen, damit der störrische Stoff seinen Herrn endlich freigeben werde. Ein großer Sprung, ein letzter Zupfer und Sergio knallt mit Wucht gegen das geöffnete Schlafzimmerfenster seines im fünften Stock gelegenen Appartements und weg ist er.

Glücklicherweise kann Sergio sich selbst beim freien Fall nicht zusehen. Der Kopf ist noch immer gefangen und der Aufprall weit weniger schlimm, als befürchtet. Mit einem dumpfen "Flatsch" kracht er einen Stock tiefer auf den Balkon seines Untermieters. Dabei verheddert er sich komplett in dessen Wäscheleine und ringt wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft, die ihm bei seinem Sturz gänzlich abhanden gekommen ist. Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, versucht Sergio langsam, die Wäscheleine von seinem Oberkörper zu lösen. "Sergio", hört er eine Stimme hinter sich, "was machst Du denn da". Der Stimme des Nachbars gefolgt von einem Gelächter, wie es zehn Frauen nicht hätten besser hinbekommen können. Es muss ein grausamer Anblick gewesen sein: eine vermummte Gestalt, unfähig sich zu bewegen und obendrein nun auch noch gut verschnürt. Ein Suizidgefährdeter hätte es nicht eindrucksvoller einfädeln können. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als das Lachen des Nachbars allmählich ausklingt, befreit er Sergio behutsam aus seiner misslichen Lage. Dabei fällt Sergio auf, dass es bereits dunkel ist und er nicht den blassesten Schimmer hat, wie viel Uhr es sein mag. "Roberto, wie spät es?". "Oh, ein Danke hätte schon genügt, Sergio! Hast Du getrunken?" Nein, natürlich hat er nicht getrunken, wobei man durchaus hätte zu dem Schluss kommen können. Zweifelsohne. Und erschwerend kommt noch dazu, dass er tatsächlich die schwarze Hose mit dem grün-weißen Hemd kombiniert hat. Immerhin hat das Hemd seinen Dienst getan, die Knopfleiste ist beim Entzurren kaputt gegangen. Ein Hemd weniger. "Roberto, kannst Du mir ein Hemd leihen? Irgendeins." Beinahe schon flehend wirft er seinem Nachbarn einen Blick zu, der jenem gleichzeitig zu verstehen gibt, dass er nicht noch einmal fragen werde.

Mit einem frischen blauen Hemd macht sich Sergio auf den Weg zum Hafen. Natürlich ist er zu spät. Bald eine halbe Stunde, aber, so denkt er es sich zumindest, wenn sie nicht mehr da ist, dann muss dies wohl so sein. Den Ober fragt er, ob er Valéria schon gesehen habe bzw. ob eine Frau irgendwo alleine an einem Tisch sitze und auf jemanden warte. Jener schüttelt den Kopf. "Nein, hier ist heute wirklich noch keine Frau alleine hereingekommen."

Sie hat ihn also versetzt! Unglaublich. Wie kann sie ihm nur so etwas antun? Er hatte sich wirklich gefreut, wenngleich mit einem mulmigen Gefühl. Was wäre schon dabei gewesen, sich zu treffen, vielleicht noch eine Nacht zu verbringen und dann... Langsam dreht er sich um. Seine Augen sind feucht und ein um die andere Träne kullert seine Wangen hinab als er hinaus ins Kühle tritt bis diese ihn schließlich gänzlich umgibt. Die Zeit heilt Wunden, sagt er sich, aber sie hinterlässt auch Narben. Eine davon trägt er fortan in seinem Herzen.

Text: Andreas Dauerer






[kol_2] Grenzfall: Moderne Formen der Sklaverei
Ein Gespräch mit Padre Ricardo Rezende Figueira

Auch 117 Jahre nach der offiziellen Abschaffung in Brasilien gibt es immer noch zahlreiche Fälle von Sklaverei in dem südamerikanischen Land. Etwa 2000 Fälle werden pro Jahr aufgedeckt. Dabei dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen.

Padre Ricardo Rezende Figueira engagiert sich seit vielen Jahren für die Ausrottung dieses Übels. Für die Pastoral da Terra, eine Basisorganisation der katholischen Kirche, die sich für die Belange der Landbevölkerung einsetzt, arbeitete er von 1977 bis 1996 in den nördlichen Bundesstaaten Pará und Tocantins.

Der Anthropologe erhielt in diesem Jahr den renommierten Jabuti-Literaturpreis für sein Buch "Pisando fora da própria sombra - A escravidão por dívida no Brasil contemporâneo" über die Schuldsklaverei in der Amazonasregion. Padre Ricardo leitet eine Forschungsgruppe zum Thema moderne Sklaverei an der Universität UFRJ in Rio de Janeiro. Zudem ist er Gründer der Menschenrechtsorganisation Rede Social de Justiça e Direitos Humanos.

Wir sprachen mit Padre Ricardo über das Problem der Sklaverei in Brasilien.

Wie viele Fälle von Sklaverei gibt es heute in Brasilien?
Es gibt zwar Schätzungen, die sind aber zweifelhaft. Man geht für Brasilien von 25000 Fällen pro Jahr alleine in den ländlichen Gegenden aus. Diese Zahl kommt von der Pastoral da Terra, und die Regierung hat sie übernommen. Aber in Wirklichkeit gibt es niemanden, der in der Lage wäre, wirkliche Zahlen zu ermitteln.

Da Sklaverei illegal ist, ist sie auch versteckt. Und die, die diese bekämpfen, dürfen die Fazendas selber nicht betreten. Und in mehr als 50% der Anzeigen schafft es die Regierung nicht, die Angaben zu überprüfen.

In welchen Regionen Brasiliens gibt es Sklaverei?
Padre Ricardo: Minas Gerais, Rio de Janeiro, Paraná.Aber in den letzten Jahren sind in allen Bundesstaaten Brasiliens Fälle von Sklaverei bekannt geworden, wovon die meisten und die gewalttätigsten in Amazonien aufgedeckt wurden.

Sind die Formen von Sklaverei von Region zu Region unterschiedlich?
Ja, das hängt ab von der Region und von dem jeweiligen Wirtschaftszweig. In der Holzkohleproduktion arbeiten neben Männern auch Frauen und Kinder. Genau wie im Obstanbau und in der Zuckerrohrproduktion. In der Waldrodung zur Erzeugung von Weideland dagegen sind fast nur Männer anzutreffen. Und dabei kommt es, besonders in Amazonien, zu Anwendung massiver Gewalt. Bewaffnete Wächter schießen auf Fliehende und prügeln sie.

In anderen Regionen wie dem Nordosten und dem Südosten geht die Sklaverei nicht immer mit solcher Gewaltanwendung einher. Die Unterdrückung funktioniert hier anders. Die Leute arbeiten weit weg von ihrer heimischen Umgebung, müssen Schulden abarbeiten, oder man nimmt ihnen ihre Dokumente und ihr Geld. Ohne diese aber kann der Arbeiter nicht nach Hause zurückkehren.

Doch das stärkste Druckmittel ist die Gefangennahme der Seele der Menschen, wie ich es nenne. Der Sklave selbst glaubt, dass der Sklavenhalter ein Recht hat, ihn festzuhalten. Dieser falsche Glauben, dass der Sklavenhalter im Recht ist, erklärt die Sklaverei und warum es relativ wenig Gegenwehr von Seiten der Sklaven gibt. Und selbst wenn es mal Gegenwehr gibt, richtet diese sich nicht gegen die eigentliche Sklaverei, sondern dagegen, dass der Sklavenhalter eine Grenze überschritten hat, etwas getan hat, was im Verständnis des Sklaven gegen die Vereinbarung verstößt.

Gehört die Kinderarbeit auch in den Komplex Sklaverei?
Es gibt sicherlich solche Fälle. Aber nicht immer ist Kinderarbeit auch Sklaverei.

Sklaverei liegt immer dann vor, wenn man nicht freiwillig gehen kann, weil man zurückgehalten wird. Du kannst deine Arbeitskraft nicht gegen Geld anbieten. Kinderarbeit kann durch Not und Armut motiviert sein. Im Bundesstaat Ceará zum Beispiel gab es vor ein paar Jahren eine parlamentarische Untersuchungskommission, die feststellte, dass es in ganz Brasilien Menschen aus Ceará gab, die versklavt wurden. Außer in Ceará selbst. Warum? Weil Ceará so arm ist, dass man die Leute erst gar nicht versklaven muss. Man findet immer jemanden, der freiwillig umsonst oder für nahezu nichts arbeitet. Man kann eine Professorin finden, die für ein Fünftel des offiziellen Mindestlohns von 300 Reais Unterricht gibt. Und zudem wird diese Person noch fünf Kilometer zu Fuß gehen, um zur Arbeit zu kommen. Wird den Unterrichtsraum putzen, fegen und dazu noch Essen für die Kinder zubereiten. Alles für 60 Reais im Monat.

Generell kann man sagen: wo bittere Armut herrscht, gibt es keine Sklaverei. Dort finden sich jedoch Menschen, die bereit sind, in anderen Regionen in die Sklaverei zu gehen.

Was unternimmt die Regierung gegen die Sklaverei?
1995 hat das Arbeitsministerium eine mobile Einsatztruppe gegründet, die zahlreiche Vor-Ort-Einsätze durchführt. Sie ist sehr kompetent, allerdings gestehen sie selber ein, dass ihre Arbeit nicht sehr wirkungsvoll ist. Sie befreiten viele Sklaven, die danach wieder zurück in die Sklaverei gingen. Denn an der Armut der Menschen ändert sich nichts, und die Fazendeiros ließen sich nicht einschüchtern von ihren Aktionen der Einsatztruppe.

Doch seit kurzem ergreift die Regierung Maßnahmen, die erfolgversprechend zu sein scheinen: zum einen hat sie eine so genannte "schmutzigen Liste" eingeführt, auf der die Namen der Fazendeiros veröffentlicht werden, die Sklaven halten. Diese Fazendeiros dürfen keine Kredite aufnehmen oder Vereinbarungen mit staatlichen oder bundesstaatlichen Banken treffen. Firmen, die früher von diesen Fazendas Kaffee, Alkohol oder Fleisch kauften, haben ein Abkommen unterzeichnet, von den auf der Liste registrierten Fazendas nichts mehr zu kaufen.

Zum anderen hat die Justiz damit begonnen, die Sklavenhalter mit harten mit harten Strafen zu belegen. Die Anklage lautet: "danos morais colectivos", kollektive moralische Schäden, was sicherlich zu einem Umdenken der Fazendeiros führen wird.

Es war früher billiger, die Strafen für Sklaverei zu zahlen anstatt der Löhne...
Die Strafen des Arbeitsministeriums wie zum Beispiel Entschädigungen für nicht gezahlten Lohn sind immer noch sehr niedrig. Aber die Strafen für kollektive moralische Schädigung sind sehr hoch.

Greift denn diese Gesetzgebung auch in den abseits gelegenen Regionen Brasiliens?
Es funktioniert mancher Orts. Dort, wo man wirklich überprüft. Sie haben mich am Anfang des Gesprächs gefragt, wie viele Fälle von Sklaverei es tatsächlich gibt. In einigen Gegenden gibt es Gruppen der Pastoral da Terra. Und es gibt andere wachsame Organisationen. Dort funktioniert die Überprüfung. Doch wir müssen uns fragen, wie es dort aussieht, wo es keine wachsamen Organisationen gibt. Die mobile Einsatztruppe kann dann nichts ausrichten, wenn es niemanden gibt, der Fälle von Sklaverei anzeigen könnte. Da niemand weiß davon, deshalb wird auch niemand etwas unternehmen.

Doch Sklaverei ist nicht ein ausschließlich brasilianisches Problem. Brasilien gehört nicht zu den Ländern mit der höchsten Anzahl von Sklaven. Brasilien ist das Land mit der wachsamsten Zivilgesellschaft und den meisten Aktionen des Staates. Schaut man beispielsweise nach Asien, so findet man dort wesentlich mehr Fälle von Sklaverei, wie auch der letzte Bericht der Internationalen Organisation für Arbeit, der im letzten Monat veröffentlicht wurde, zeigt. Dies soll jedoch keine Entschuldigung sein, zumal nicht wissenschaftlich belegt sind. Zum Beispiel: wie viele Sklaven gibt es denn im Stadtgebiet von Rio de Janeiro? Wir wissen es nicht. Wie viele in der Stadt São Paulo? Noch nicht einmal eine Schätzung haben wir darüber.

Text + Fotos: Thomas Milz






[kol_3] Macht Laune: Spinnen die Freunde

Gestern zog ich durch irgendwelche langweiligen Bars,
die ich sowieso nie wieder betreten werden. Teuer und stylisch.
Man lässt sich mitnehmen, was neues zeigen,
nur um gesellschaftsfähig zu bleiben,
aber man hasst es.

Fünf Euro fürs Bier, da hört der Spass auf.
Ich wüsste nicht,
mit welchem famosen Schauspiel irgendein Laden das Recht erwirken könnte,
so viel Geld für ein Getränk zu verlangen.
Ich war froh, als es vorüber war,
ich in meinem Bett lag und
den Spinnen zuschauen konnte,
wie sie durchs Zimmer jagten.

Das Moskitonetz hatte ich schon vor Tagen entfernt. Obwohl mein zerstochenes Gesicht keine unversehrte Angriffsfläche mehr aufwies, sollten sie mich ruhig weiter bearbeiten; solange bis mein Blut kippte, gegen die schwirrende Last aufbegehrte und den Biestern sauer und gewaltbereit entgegentrat. Für den Zeitraum der Hypersensibilisierung würden die insektenvertilgenden Spinnen meine besten Freunde bleiben.

Und dann kam der Morgen.
Wie immer viel zu früh.
Denn meist vergehen nicht mehr als drei Stunden des Schlafes,
bis das,
dem bissigen Mücken-Schwirren in nichts nachstehende,
Stubenfliegen-Bordell ausgebucht ist
und paarungswütige Brummer auf meinem Trommelfeld
orgastisch mit den Flügeln klatschen.

Text: Dirk Klaiber





[kol_4] Lauschrausch: Sexteto Electronico Moderno trifft Bajofondo Tango Club

Sexteto Electronico Moderno
Sounds from the elegant world
Vampisoul 036
Der Hammond-Sound wabert aus den Boxen, ein relaxtes Gefühl stellt sich ein. Trotz einer miserablen Wirtschaftslage und instabiler Verhältnisse im Uruguay der 60er Jahre, florierte in Montevideo das Nachtleben und Gruppen wie das "Sexteto Electronico Moderno" (SEM) lieferten die Musik dazu. 1968 produzierten sie ihr erstes Album, das sich unglaubliche 14.000 mal verkaufte. Ihre Mischung aus Eigenkompositionen und Instrumental-Coverversionen bekannter Titel aus den damaligen Charts kam gut an. Dabei sind die Kompositionen von Organist Armando Tirelli, beispielsweise das funkige "Soul Nuevo", mit dem diese Compilation der fünf Alben des SEM beginnt, den internationalen Hits wie "In the year 2525" von Zager & Evans oder "The look of love" von Dusty Springfield durchaus ebenbürtig.

Die 15 Titel wandern zwischen jazzig und Easy Listening ("Je t’aime") hin und her und bedienen sowohl Fans eingängiger Melodien von Burt Bacharach, als auch Anhänger souliger Melodien von Booker T. & M.G.’s ("Soul limbo"). Gesungen wird glücklicherweise nur beim letzten Titel, denn dann driftet der Klang doch sehr in den Kitsch ab.

Auf einigen der alten Aufnahmen sind Sprünge und Kratzer hörbar (Stück Nr. 8) und manchmal klingen die Titel ein wenig dumpf. Trotzdem gebührt der Arbeit des Labels "Vampisoul" Anerkennung, denn die Originalaufnahmen waren und sind in Europa nicht erhältlich.

Bajofondo Tango Club
Bajofondo Tango Club
Universal
Drei Jahre nach seinem Erscheinen in Argentinien ist das Debütalbum des Projektes "Bajofondo Tango Club" nun auch in Deutschland erhältlich. Dahinter verbirgt sich Gustavo Santaolalla, ein erfolgreicher Musiker und Produzent, der mittlerweile in den USA lebt. Vergleichbar mit dem europäischen "Gotan Project" versucht Santaolalla den Tango der heutigen Musikwelt zu öffnen, indem er ihn mit Elektronik und anderen Stilen mischt. Klassische Instrumente wie Bandoneon, Gitarre oder Klavier finden dabei ebenso Verwendung wie Computer und Sampler. So befreit Santaolalla ihn von seinem staubigen Image und macht ihn der jungen Generation zugänglich.

Das gelingt den vielen am Projekt beteiligten Musikern auf sehr unterschiedliche Weise:

Vom beat-lastigen, und an frühen Acid House erinnernden, aber sehr tanzbaren "Los tangueros" über das jazzig klingende "Bruma" - unter Beteiligung des Jazzpianisten Adrian Iaies - und die sparsame und sehr schöne Instrumentierung von "En mi/Soledad" bis zum Ohrwurm "Mi corazón" mit der gesampleten Stimme des in den 60er Jahren sehr beliebten Sängers Roberto Goyeneche reicht die Bandbreite.

Der Soundtrack des heutigen Buenos Aires, clubtauglich, aber auch für den häuslichen Genuss!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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