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Amor: Amor perdido
Sergio ist ein gemütlicher Mann, Mitte vierzig und heute auf den Tag ein Jahr und zwei Monate von seiner Frau Valéria geschieden. Wenn man es ganz genau nehmen wollte, dann sind es noch sechs Stunden bis zu dem damaligen Ereignis, weil sie hochoffiziell erst am Nachmittag vom Notar in der Calle Gallardo geschieden wurden, aber im Großen und Ganzen ist dies vernachlässigbar. Anfangs haftete der Trennung von Valéria etwas Befreiendes an, inzwischen allerdings fehlt ihm irgendetwas, das er gar nicht richtig benennen kann. Und sei es nur, dass nach getaner Arbeit jemand auf ihn wartet; vielleicht mit einem Essen, aber das ist ihm gar nicht so wichtig. Einfach eine Präsenz von irgendjemandem. Seine Überlegungen, eine Haushaltshilfe einzustellen verbannte Sergio wieder aus seinen Gedanken, denn an sich war dies unnötig - den Haushalt hatte er stets im Griff gehabt - andererseits wäre es in mancherlei Bereichen willkommene Abwechslung gewesen.
Sich selbst bei diesen Gedankengängen ertappend, denkt Sergio an seine Ex-Frau. Für heute Abend hat er eigentlich ein Rendezvous mit ihr ausgemacht. Zum Essen. Eine komische Geschichte, denn eine Woche zuvor trafen sie sich wie zufällig in der Innenstadt und beschlossen, dass man sich ja mal sehen könne.
Um ehrlich zu sein, ist es Sergio bei diesem Gedanken alles andere als Wohl zu Mute. Natürlich haben sie sich in der Zwischenzeit ab und an mal wieder gesehen, aber vor jenem Treffen im Zentrum, waren es eher Monate denn Wochen ohne Kontaktaufnahme. Wie viele es wohl gewesen sein mögen? Während er noch an seinem Hemdknopf, holt ihn das Ertönen der Kaffeemaschine wieder in die Realität zurück. Zur Arbeit muss er heute nicht; wohlweißlich hat er sich heute und morgen frei genommen. Man kann ja nie wissen. Im Übrigen wünscht er sich nichts mehr, als einen halbwegs vernünftigen Umgang mit Valéria, wenngleich er daran nicht wirklich denken mag. Denn insgeheim regt sich in seinem Herzen der Wunsch nach einer Versöhnung und einem möglichen Neubeginn.
Die Zeit bis zum abendlichen Treffen verstreicht quälend langsam. Schon drei Stunden davor überlegt Sergio, was er anziehen soll. Der Anlass ist zweifelsohne wichtig für ihn, ja, wenn nicht entscheidend. Zumindest bildet er sich das hier und jetzt ein. Dennoch will er nicht im Anzug erscheinen, obwohl das Restaurant durchaus zu den schickeren in Puerto Madero gehört. Valéria mochte Anzüge nie besonders, aber welche Kleidung sonst bitteschön trägt ein Mitarbeiter im Dienstleistungssektor mit Kundenverkehr?
Nach einigen erfolglosen Farbkombinationsversuchen mit Hemd, Hose und Schuhen, wirft sich Sergio müde auf sein Bett und löscht das Licht. Regungslos liegt er da und im Zimmer ertönt nur sein gleichmäßiges Atmen. Die einzige Möglichkeit, die ihm jetzt einigermaßen plausibel erscheint, ist jene, im Dunkeln an den großen Schrank zu gehen und blindlings eine Hose und ein Hemd herauszuholen und anzuprobieren. Gedanken zu den Schuhen will er sich später machen.
Also erhebt er sich und geht in Richtung Schrank. Tastend nähert er sich seinen Hosen im Regal. War das nicht die schwarze, die er zuvor mit dem grüngestreiften Hemd kombiniert hat? Oder war es doch die braune? Nein, sagt er sich, zu viele Gedanken, ich ziehe einfach alle Hosen aus dem Schrank, werfe sie aufs Bett und greife anschließend nach irgendeiner. Etwa zwei Minuten später hat Sergio den ersten Teil seiner Arbeit erledigt. Nun folgt das Oberteil. Da das Bett noch weitestgehend mit Hosen bedeckt ist, entschließt er sich, ein Hemd herauszuziehen und im gleichen Zuge anzuziehen.
Der kühle Baumwollstoff schmiegt sich an sein Gesicht und seinen Hinterkopf; die Arme lokalisiert er, aber irgendwie passt das Ding nicht über seinen Schädel. Sergio müht sich redlich, findet jedoch die Knopfleiste nicht auf Anhieb, so dass er zwei Mal kräftig am Stoff zieht, in der Hoffnung, die Knöpfe mögen reißen und seinen Kopf gänzlich freigeben! Doch die Knöpfe sind wider Erwarten resistenter Natur und bleiben an ihrem angestammten Platz. Um diesem Spuk ein vorzeitiges Ende zu bereiten, beginnt Sergio zum Lichtschalter zu taumeln. Beim zweiten Schritt, zugegebener Maßen nicht mit der geringsten Vorsicht vollführt, zieht etwas an seinem linken Bein. "Wohl eine der Hosen", sagt er laut ins Zimmer. Im Begriff diesen Missstand zu beseitigen, hebt er das linke Bein und beginnt im Raum umher zu hüpfen, damit der störrische Stoff seinen Herrn endlich freigeben werde. Ein großer Sprung, ein letzter Zupfer und Sergio knallt mit Wucht gegen das geöffnete Schlafzimmerfenster seines im fünften Stock gelegenen Appartements und weg ist er.
Glücklicherweise kann Sergio sich selbst beim freien Fall nicht zusehen. Der Kopf ist noch immer gefangen und der Aufprall weit weniger schlimm, als befürchtet. Mit einem dumpfen "Flatsch" kracht er einen Stock tiefer auf den Balkon seines Untermieters. Dabei verheddert er sich komplett in dessen Wäscheleine und ringt wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft, die ihm bei seinem Sturz gänzlich abhanden gekommen ist. Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, versucht Sergio langsam, die Wäscheleine von seinem Oberkörper zu lösen. "Sergio", hört er eine Stimme hinter sich, "was machst Du denn da". Der Stimme des Nachbars gefolgt von einem Gelächter, wie es zehn Frauen nicht hätten besser hinbekommen können. Es muss ein grausamer Anblick gewesen sein: eine vermummte Gestalt, unfähig sich zu bewegen und obendrein nun auch noch gut verschnürt. Ein Suizidgefährdeter hätte es nicht eindrucksvoller einfädeln können. Im wahrsten Sinne des Wortes. Als das Lachen des Nachbars allmählich ausklingt, befreit er Sergio behutsam aus seiner misslichen Lage. Dabei fällt Sergio auf, dass es bereits dunkel ist und er nicht den blassesten Schimmer hat, wie viel Uhr es sein mag. "Roberto, wie spät es?". "Oh, ein Danke hätte schon genügt, Sergio! Hast Du getrunken?" Nein, natürlich hat er nicht getrunken, wobei man durchaus hätte zu dem Schluss kommen können. Zweifelsohne. Und erschwerend kommt noch dazu, dass er tatsächlich die schwarze Hose mit dem grün-weißen Hemd kombiniert hat. Immerhin hat das Hemd seinen Dienst getan, die Knopfleiste ist beim Entzurren kaputt gegangen. Ein Hemd weniger. "Roberto, kannst Du mir ein Hemd leihen? Irgendeins." Beinahe schon flehend wirft er seinem Nachbarn einen Blick zu, der jenem gleichzeitig zu verstehen gibt, dass er nicht noch einmal fragen werde.
Mit einem frischen blauen Hemd macht sich Sergio auf den Weg zum Hafen. Natürlich ist er zu spät. Bald eine halbe Stunde, aber, so denkt er es sich zumindest, wenn sie nicht mehr da ist, dann muss dies wohl so sein. Den Ober fragt er, ob er Valéria schon gesehen habe bzw. ob eine Frau irgendwo alleine an einem Tisch sitze und auf jemanden warte. Jener schüttelt den Kopf. "Nein, hier ist heute wirklich noch keine Frau alleine hereingekommen."
Sie hat ihn also versetzt! Unglaublich. Wie kann sie ihm nur so etwas antun? Er hatte sich wirklich gefreut, wenngleich mit einem mulmigen Gefühl. Was wäre schon dabei gewesen, sich zu treffen, vielleicht noch eine Nacht zu verbringen und dann... Langsam dreht er sich um. Seine Augen sind feucht und ein um die andere Träne kullert seine Wangen hinab als er hinaus ins Kühle tritt bis diese ihn schließlich gänzlich umgibt. Die Zeit heilt Wunden, sagt er sich, aber sie hinterlässt auch Narben. Eine davon trägt er fortan in seinem Herzen.
Text: Andreas Dauerer