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[kol_2] Grenzfall: Moderne Formen der Sklaverei
Ein Gespräch mit Padre Ricardo Rezende Figueira

Auch 117 Jahre nach der offiziellen Abschaffung in Brasilien gibt es immer noch zahlreiche Fälle von Sklaverei in dem südamerikanischen Land. Etwa 2000 Fälle werden pro Jahr aufgedeckt. Dabei dürfte die Dunkelziffer wesentlich höher liegen.

Padre Ricardo Rezende Figueira engagiert sich seit vielen Jahren für die Ausrottung dieses Übels. Für die Pastoral da Terra, eine Basisorganisation der katholischen Kirche, die sich für die Belange der Landbevölkerung einsetzt, arbeitete er von 1977 bis 1996 in den nördlichen Bundesstaaten Pará und Tocantins.

Der Anthropologe erhielt in diesem Jahr den renommierten Jabuti-Literaturpreis für sein Buch "Pisando fora da própria sombra - A escravidão por dívida no Brasil contemporâneo" über die Schuldsklaverei in der Amazonasregion. Padre Ricardo leitet eine Forschungsgruppe zum Thema moderne Sklaverei an der Universität UFRJ in Rio de Janeiro. Zudem ist er Gründer der Menschenrechtsorganisation Rede Social de Justiça e Direitos Humanos.

Wir sprachen mit Padre Ricardo über das Problem der Sklaverei in Brasilien.

Wie viele Fälle von Sklaverei gibt es heute in Brasilien?
Es gibt zwar Schätzungen, die sind aber zweifelhaft. Man geht für Brasilien von 25000 Fällen pro Jahr alleine in den ländlichen Gegenden aus. Diese Zahl kommt von der Pastoral da Terra, und die Regierung hat sie übernommen. Aber in Wirklichkeit gibt es niemanden, der in der Lage wäre, wirkliche Zahlen zu ermitteln.

Da Sklaverei illegal ist, ist sie auch versteckt. Und die, die diese bekämpfen, dürfen die Fazendas selber nicht betreten. Und in mehr als 50% der Anzeigen schafft es die Regierung nicht, die Angaben zu überprüfen.

In welchen Regionen Brasiliens gibt es Sklaverei?
Padre Ricardo: Minas Gerais, Rio de Janeiro, Paraná.Aber in den letzten Jahren sind in allen Bundesstaaten Brasiliens Fälle von Sklaverei bekannt geworden, wovon die meisten und die gewalttätigsten in Amazonien aufgedeckt wurden.

Sind die Formen von Sklaverei von Region zu Region unterschiedlich?
Ja, das hängt ab von der Region und von dem jeweiligen Wirtschaftszweig. In der Holzkohleproduktion arbeiten neben Männern auch Frauen und Kinder. Genau wie im Obstanbau und in der Zuckerrohrproduktion. In der Waldrodung zur Erzeugung von Weideland dagegen sind fast nur Männer anzutreffen. Und dabei kommt es, besonders in Amazonien, zu Anwendung massiver Gewalt. Bewaffnete Wächter schießen auf Fliehende und prügeln sie.

In anderen Regionen wie dem Nordosten und dem Südosten geht die Sklaverei nicht immer mit solcher Gewaltanwendung einher. Die Unterdrückung funktioniert hier anders. Die Leute arbeiten weit weg von ihrer heimischen Umgebung, müssen Schulden abarbeiten, oder man nimmt ihnen ihre Dokumente und ihr Geld. Ohne diese aber kann der Arbeiter nicht nach Hause zurückkehren.

Doch das stärkste Druckmittel ist die Gefangennahme der Seele der Menschen, wie ich es nenne. Der Sklave selbst glaubt, dass der Sklavenhalter ein Recht hat, ihn festzuhalten. Dieser falsche Glauben, dass der Sklavenhalter im Recht ist, erklärt die Sklaverei und warum es relativ wenig Gegenwehr von Seiten der Sklaven gibt. Und selbst wenn es mal Gegenwehr gibt, richtet diese sich nicht gegen die eigentliche Sklaverei, sondern dagegen, dass der Sklavenhalter eine Grenze überschritten hat, etwas getan hat, was im Verständnis des Sklaven gegen die Vereinbarung verstößt.

Gehört die Kinderarbeit auch in den Komplex Sklaverei?
Es gibt sicherlich solche Fälle. Aber nicht immer ist Kinderarbeit auch Sklaverei.

Sklaverei liegt immer dann vor, wenn man nicht freiwillig gehen kann, weil man zurückgehalten wird. Du kannst deine Arbeitskraft nicht gegen Geld anbieten. Kinderarbeit kann durch Not und Armut motiviert sein. Im Bundesstaat Ceará zum Beispiel gab es vor ein paar Jahren eine parlamentarische Untersuchungskommission, die feststellte, dass es in ganz Brasilien Menschen aus Ceará gab, die versklavt wurden. Außer in Ceará selbst. Warum? Weil Ceará so arm ist, dass man die Leute erst gar nicht versklaven muss. Man findet immer jemanden, der freiwillig umsonst oder für nahezu nichts arbeitet. Man kann eine Professorin finden, die für ein Fünftel des offiziellen Mindestlohns von 300 Reais Unterricht gibt. Und zudem wird diese Person noch fünf Kilometer zu Fuß gehen, um zur Arbeit zu kommen. Wird den Unterrichtsraum putzen, fegen und dazu noch Essen für die Kinder zubereiten. Alles für 60 Reais im Monat.

Generell kann man sagen: wo bittere Armut herrscht, gibt es keine Sklaverei. Dort finden sich jedoch Menschen, die bereit sind, in anderen Regionen in die Sklaverei zu gehen.

Was unternimmt die Regierung gegen die Sklaverei?
1995 hat das Arbeitsministerium eine mobile Einsatztruppe gegründet, die zahlreiche Vor-Ort-Einsätze durchführt. Sie ist sehr kompetent, allerdings gestehen sie selber ein, dass ihre Arbeit nicht sehr wirkungsvoll ist. Sie befreiten viele Sklaven, die danach wieder zurück in die Sklaverei gingen. Denn an der Armut der Menschen ändert sich nichts, und die Fazendeiros ließen sich nicht einschüchtern von ihren Aktionen der Einsatztruppe.

Doch seit kurzem ergreift die Regierung Maßnahmen, die erfolgversprechend zu sein scheinen: zum einen hat sie eine so genannte "schmutzigen Liste" eingeführt, auf der die Namen der Fazendeiros veröffentlicht werden, die Sklaven halten. Diese Fazendeiros dürfen keine Kredite aufnehmen oder Vereinbarungen mit staatlichen oder bundesstaatlichen Banken treffen. Firmen, die früher von diesen Fazendas Kaffee, Alkohol oder Fleisch kauften, haben ein Abkommen unterzeichnet, von den auf der Liste registrierten Fazendas nichts mehr zu kaufen.

Zum anderen hat die Justiz damit begonnen, die Sklavenhalter mit harten mit harten Strafen zu belegen. Die Anklage lautet: "danos morais colectivos", kollektive moralische Schäden, was sicherlich zu einem Umdenken der Fazendeiros führen wird.

Es war früher billiger, die Strafen für Sklaverei zu zahlen anstatt der Löhne...
Die Strafen des Arbeitsministeriums wie zum Beispiel Entschädigungen für nicht gezahlten Lohn sind immer noch sehr niedrig. Aber die Strafen für kollektive moralische Schädigung sind sehr hoch.

Greift denn diese Gesetzgebung auch in den abseits gelegenen Regionen Brasiliens?
Es funktioniert mancher Orts. Dort, wo man wirklich überprüft. Sie haben mich am Anfang des Gesprächs gefragt, wie viele Fälle von Sklaverei es tatsächlich gibt. In einigen Gegenden gibt es Gruppen der Pastoral da Terra. Und es gibt andere wachsame Organisationen. Dort funktioniert die Überprüfung. Doch wir müssen uns fragen, wie es dort aussieht, wo es keine wachsamen Organisationen gibt. Die mobile Einsatztruppe kann dann nichts ausrichten, wenn es niemanden gibt, der Fälle von Sklaverei anzeigen könnte. Da niemand weiß davon, deshalb wird auch niemand etwas unternehmen.

Doch Sklaverei ist nicht ein ausschließlich brasilianisches Problem. Brasilien gehört nicht zu den Ländern mit der höchsten Anzahl von Sklaven. Brasilien ist das Land mit der wachsamsten Zivilgesellschaft und den meisten Aktionen des Staates. Schaut man beispielsweise nach Asien, so findet man dort wesentlich mehr Fälle von Sklaverei, wie auch der letzte Bericht der Internationalen Organisation für Arbeit, der im letzten Monat veröffentlicht wurde, zeigt. Dies soll jedoch keine Entschuldigung sein, zumal nicht wissenschaftlich belegt sind. Zum Beispiel: wie viele Sklaven gibt es denn im Stadtgebiet von Rio de Janeiro? Wir wissen es nicht. Wie viele in der Stadt São Paulo? Noch nicht einmal eine Schätzung haben wir darüber.

Text + Fotos: Thomas Milz