spanien: Kolumbus – begraben unterm Billardtisch?
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
peru: Abuelitos adoptieren
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 2]
brasilien: Gegen die Strömung
Projekt "Semeando para Cristo Jesus" in Rio de Janeiro
THOMAS MILZ
[art. 3]
venezuela: Hotel Tipp - Posada Casa Vieja in Mérida
SILVIO RYMSA
[art. 4]
amor: Doppelhochzeit im Reservat
NICO CZAJA
[kol. 1]
grenzfall: Wer ist Filipe De Long?
THOMAS MILZ
[kol. 2]
macht laune: Reggaeton
1. Gib mir mehr / 2. Daddy Yankee in Quito
SARAH LINDNER
[kol. 3]
lauschrausch: Mittelalterliches aus Katalonien
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Spanien: Kolumbus – begraben unterm Billardtisch?

Jedes Kind kennt seinen Namen und es gibt sogar Stimmen, die behaupten, er sei nach Jesus Christus der wichtigste (oder zumindest der bekannteste) Mensch gewesen: Christoph Kolumbus, der Entdecker Amerikas. Daher erscheint es fast logisch, dass er von vielen vereinnahmt wird und nicht wie ein jeder normaler Mensch nur ein Grab erhielt. In mindestens drei Gräbern warten seine Gebeine darauf, ewigen Frieden zu finden. Aber das wird Kolumbus nicht leicht gemacht, denn während der vergangenen fünf Jahrhunderte wurden die sterblichen Überreste des Entdeckers der Neuen Welt fünfmal umgebettet und dabei zweimal zwischen den Kontinenten Europa und Amerika hin und her transportiert.

Kurz vor dem großen Jubiläum des 400. Jahrestags der Entdeckung Amerikas im Jahre 1892 gab es vor allem drei Institutionen, die ein verständliches Interesse daran hatten, Christoph Kolumbus wieder aus dem Dunkel des Vergessens ans Licht zu holen und für sich zu reklamieren.

Die erste war die Katholische Kirche, die eine Symbolfigur für die Missionierung Amerikas brauchte. Und wer wäre dazu besser geeignet gewesen als der Entdecker der Neuen Welt, mit dem die Christianisierung des Kontinents begonnen hatte? Außerdem spielte die Symbolkraft seines Namens eine Rolle. Im italienischen Original heißt er "Cristóforo" (Christophorus) – der "Christus-Träger". Er war derjenige, der Christus (und das Christentum) von der Alten in die Neue Welt getragen hatte. Ob er dabei von christlichen Gedanken motiviert wurde, darf zumindest angezweifelt werden.

Um die Bedeutung des Kolumbus für die Ausbreitung des christlichen Glaubens in Amerika zu untermauern, wurde 1866 von der Katholischen Kirche sogar ein Heiligsprechungs-Prozess in Gang gesetzt, aber ausgerechnet im Jubiläumsjahr 1892 kam die kirchliche Kommission zu dem Schluss, dass der Entdecker Amerikas wohl doch kein allzu Heiliger war. Dieses Ergebnis ist nicht wirklich überraschend, wohl aber die Begründung der Ablehnung. Entscheidend war weniger die Tatsache, dass Kolumbus die Sklaverei in der Neuen Welt eingeführt und erstmals Indios auf dem Sklavenmarkt in Sevilla zum Verkauf angeboten hatte – obwohl dies für einen Heiligen schon ein unschönes Verhalten wäre. Schlimmer war für die Kirchenrechtler seine "wilde Ehe" mit Beatriz de Harana. Also wurde nichts aus einem "Heiligen Kolumbus". Aber zumindest gebührt der Katholischen Kirche das Verdienst, Kolumbus aus der Vergessenheit hervorgeholt und klar gestellt zu haben, dass er und nicht Amerigo Vespucci der Entdecker Amerikas war. Denn der Elsässer Kartograph mit dem schönen Namen Waldseemüller hatte 1507 vorgeschlagen, die Gebiete jenseits des Atlantik "Amerika" zu nennen – wodurch Kolumbus als Entdecker vorübergehend fast in Vergessenheit geraten war; was wiederum die spanische Krone freute, die den Namen Kolumbus am liebsten ausgelöscht hätte, um die Forderungen seiner Erben nach Besitztiteln abzublocken.

Die Stadt Sevilla war die zweite Institution, die sich plötzlich sehr für den Entdecker interessierte, aufgeweckt durch die Jubiläumsfeierlichkeiten von 1892. Das Motiv ist nachvollziehbar. Den Sevillanern wurde bewusst, dass ihre Stadt der Entdeckungsfahrt des Kolumbus eigentlich all ihren Reichtum und damit auch die Kulturblüte im Goldenen Zeitalter (16. und 17. Jahrhundert) verdankt. Denn ohne seine Entdeckung wäre Sevilla nicht zur Drehscheibe des "Indienhandels" und Verwaltungshauptstadt Amerikas geworden und hätte niemals diese dominierende Stellung in der Weltgeschichte eingenommen. Deshalb hatte man ein enormes Interesse, die Gebeine des Entdeckers "heimzuholen". Und 1899 war es offenbar so weit.

Böse Stimmen behaupten, Kolumbus sei nach seinem Tod mehr auf Reisen gewesen als zu seinen Lebzeiten. Dabei ist nur eines sicher: der "Admiral des Ozeanischen Meeres" starb am 20. Mai 1506 in Valladolid und sein Leichnam wurde in der Krypta des Klosters San Francisco beigesetzt. Irgendwann zwischen 1509 und 1513 soll sein Sarkophag auf Wunsch seiner Söhne nach Sevilla gebracht worden sein und in einer Kapelle des Kartäuserklosters Santa María de las Cuevas einen neuen, aber nur kurzen Aufenthalt gefunden haben. Zwischen 1537 und 1539, nach dem Tod seines Sohnes Diego ersuchte María de Toledo, die verwitwete Schwiegertochter von Kolumbus und Nichte des Duque de Alba, Kaiser Karl V. darum, die sterblichen Überreste des Entdeckers in dessen zweite Heimat bringen zu dürfen – in die von ihm gegründete Stadt Santo Domingo auf der Insel Hispaniola. Der Kaiser stimmte zu, nur der Erzbischof von Santo Domingo weigerte sich zunächst, einen "Fremden" in seiner Kathedrale zu bestatten – dabei handelte es sich bei diesem Fremden um den Gründer der Stadt!


Bildergalerie Kolumbusgrabstätten: 10 Fotos

Schließlich begann die fünfte Atlantiküberquerung des "Admirals des Ozeanischen Meeres" – diesmal als Leichnam. Nachdem der Erzbischof überzeugt werden konnte, wurden die Urnen von Kolumbus und seinem Sohn Diego in der Krypta der Kathedrale in der ältesten von Spaniern gegründeten Stadt Amerikas beigesetzt. Es sollte jedoch nicht die letzte Ruhestätte des Entdeckers bleiben. Denn als 1795, sechs Jahre nach der Französischen Revolution, die republikanischen Truppen Frankreichs Santo Domingo besetzten, evakuierten die Spanier in großer Eile den toten Admiral und brachten seinen Sarkophag in die Kathedrale von Havanna (Cuba). Dort blieb er aber auch nur ein Jahrhundert, denn als Cuba nach dem verlorenen Krieg Spaniens gegen die USA "unabhängig" wurde, nahmen die Spanier die Knochen des Kolumbus wieder mit in die Stadt, von der aus Amerika einst verwaltet worden war: nach Sevilla.

Dort wurde in der Kathedrale ein gewaltiges Grabmal für den Entdecker errichtet. Immerhin erinnerte man sich hier, dass Kolumbus kurz vor seinem Tod aus Wut über die fehlende Anerkennung seiner Ansprüche durch die spanische Krone gesagt hatte, er wolle niemals in spanischer Erde begraben werden.

Daher schwebt sein Sarkophag in der Sevillaner Kathedrale in der Luft – getragen von vier Herolden, welche die spanischen Königreiche León, Kastilien, Navarra und Aragón symbolisieren.

Und im Zuge der nach dem 400-jährigen Jubiläum gestiegenen Popularität des mutigen Genuesen reklamierten nun plötzlich drei Städte das Kolumbusgrab für ihre Kathedrale: in der Dominikanischen Republik wurde behauptet, der echte Sarkophag mit seinen Gebeinen habe Santo Domingo nie verlassen, in Havanna hieß es, er sei in der dortigen Kathedrale angekommen und geblieben, und in Sevilla war man ganz sicher, dass die rastlosen Reste des Admirals nach langer Odyssee dort gelandet seien.



Eines haben alle drei Grabstätten gemeinsam: sie sind von geradezu skandalöser Geschmacklosigkeit. Der Kolumbus-Sarkophag in Sevilla ist das einzige scheuäliche Element in der grandiosen Sevillaner Kathedrale. Errichtet im Jahre 1900, sind die heroischen Statuen der vier Herolde geprägt vom plumpen Nationalismus jener Epoche. Das alte Kolumbusgrab in der Kathedrale von Santo Domingo war mit einem kitschigen Eisengitter und integrierten Lobessprüchen geschmückt. Erst recht fassungslos steht man jedoch vor der monströsen Mussolini-Architektur des riesigen Kolumbus-Heiligtums, das auf Befehl des Präsidenten der Dominikanischen Republik anlässlich des 500. Jahrestags der Entdeckung Amerikas 1992 neu gebaut wurde. Hierhin wurde die Urne des Kolumbus 1992 feierlich umgebettet. Die einzige nette Idee sind die Bibel- und Philosophensprüche, in denen die Entdeckung einer neuen Welt jenseits des groäen Wassers vorausgeahnt wird. Sie sind auf Tafeln an dem faschistoiden Betonklotz angebracht. Offenbar soll Kolumbus - dessen Grab man hier zuerst gar nicht haben wollte - nun zu einem Nationalhelden der Dominikanischen Republik gemacht werden.



Es ist auffällig, dass besonders nationalistisch gesinnte Regierungen Kolumbus, den Entdecker neuer Welten, immer wieder für sich vereinnahmen. So gab die Franco-Regierung 1946 eine Studie in Auftrag, die von Antonio Ballesteros durchgeführt wurde und die – natürlich – zu dem Ergebnis kommt, dass der einzig wahre Kolumbus in der Kathedrale von Sevilla schwebt. Darauf initiierte die Regierung der Dominikanischen Republik in den 50er Jahren eine eigene Untersuchung der Kolumbusgräber. Man ahnt schon das Ergebnis: die sterblichen Reste des Kolumbus befinden sich zweifellos in der Kathedrale von Santo Domingo, denn die Spanier hätten bei ihrer Evakuierungsaktion 1795 in der Eile den falschen Sarg mitgenommen.

Als 1959 der Sarkophag in Santo Domingo geöffnet wird und ein US-amerikanischer Professor die Knochen untersucht, stellt er fest, dass es Teile von verschiedenen Skeletten sein müssen, die sich im Kolumbusgrab befinden, denn es sind mehrere Armknochen, aber nur ein Beinknochen in der Urne. Wahrscheinlich wurden irgendwann die Gebeine von Kolumbus und seinem Sohn Diego "vermischt" und dann geteilt – aus Versehen oder absichtlich? – so dass möglicherweise wirklich ein Teil in Santo Domingo blieb und der andere Teil über Havanna nach Sevilla gelangte.

Es gibt aber noch eine weitere These über den Verbleib der Kolumbus-Knochen, sie ist durchaus die originellste und gar nicht so unwahrscheinlich, wie man auf den ersten Blick denken könnte. Sie wurde aufgestellt vom Italiener Gianni Granzotto in seiner brillant geschriebenen und 1984 publizierten Kolumbus-Biographie. Demnach wäre der Leichnam niemals fortgeschafft worden aus Valladolid, sondern in der Krypta des Klosters San Francisco geblieben. Denn die Franziskaner – als größte Rivalen der Dominikaner – hätten schon damals die Bedeutung des Toten erkannt und ihn nicht hergeben wollen – schon gar nicht an die Kathedrale der Dominikaner auf Hispaniola. Deshalb hätten sie irgendwelche Gebeine auf Reisen geschickt, das Kolumbusgrab aber heimlich behalten. Das Franziskanerkloster in Valladolid wurde Mitte des 20. Jahrhunderts abgerissen, nur die unterirdische Krypta mit irgendwelchen Särgen blieb teilweise erhalten. Über ihr wurde das Café del Norte erbaut, in dem heute ein Dutzend Billardtische stehen. Und genau unter den Billardtischen könnte also gemäß der These von Granzotto das vergessene wahre Grab des Kolumbus liegen. Wir dürfen uns also schon freuen auf eine neue Studie, die demnächst wahrscheinlich von der Stadt Valladolid in Auftrag gegeben wird. Möglicherweise wird man inmitten der Billardtische bald eine Kolumbus-Kapelle zum Gedenken an den illustren Toten errichten.

Selbst wenn der Kult um Kolumbus oft seltsame Blüten treibt: wenn an diesem 12. Oktober wie jedes Jahr wieder eine halbe Milliarde Menschen der spanischsprachigen Welt mit dem "Día de la Hispanidad" den Tag der Entdeckung Amerikas feiern, sollten sie sich auch kurz an ihn erinnern, dem sie das zu verdanken haben – mit allen guten wie bösen Konsequenzen. Kolumbus, weiß Gott kein Heiliger und wohl kaum der "zweitwichtigste Mensch", aber Initiator der Globalisierung und Entdecker eines Kontinents, der eigentlich nicht Amerika heißen dürfte, sondern Kolumbien.

Text: Berthold Volberg
Fotos: Berthold Volberg + Dirk Klaiber

Literatur-Tipps:
Gianni Granzotto: "Christoph Kolumbus – Eine Biographie"
Salvador de Madariaga: "Kolumbus – Entdecker neuer Welten"





[art_2] Peru: Abuelitos adoptieren

Julia Böhme öffnet die klapprige Tür, die aus Holzbrettern rudimentär zusammen gezimmert ist. Beherzt betritt sie den kleinen Hof mit den Hütten aus Pappe und Plastikplanen. "Wie schön, dass Du gekommen bist", sagt eine alte Frau. Sie strahlt und umarmt Julia herzlich. Zusammen mit ihrem Sohn, den der Drill beim Militär den Verstand gekostet hat, und mit ihrer Enkelin Victoria lebt sie in einer klapprigen Hütte. Gleich daneben liegt die Behausung ihres Ex-Mannes und dessen neuer Frau. Es ist ein elendes Leben, das die 76-jährige führt. Zu ihren Lichtblicken gehören die Besuche von Julia.

Neun Monate lang lebt Julia hier in Lima. Nicht im schicken Teil der Stadt, wo es Bars und Discotheken gibt, sondern in Villa Salvador, einer riesigen Ansammlung elender Hütten und einfachster Häuser aus unverputzten Ziegelsteinen, der Grenze zwischen Stadt und Slum.

380.000 Menschen leben hier, immerhin gibt es in den meisten Behausungen Strom und Wasser. Kein Tourist verirrt sich hierhin. Doch Julia hat sich mit ihren 20 Jahren dafür entscheiden, nach dem Abi nicht gleich zu studieren, sondern ein anderes Leben kennen zu lernen. Sie arbeitet als Freiwillige in dem "Programa Especial del Adulto Major Los Martinsitos", benannt nach einem peruanischen Heiligen. Das Projekt kümmert sich um alte Menschen, die keine Familie haben, die sie versorgt, um die Ärmsten der Alten. Drei Mal in der Woche kommen die Abuelitos, Großelterchen, wie sie liebevoll genannt werden, in das Zentrum, wo sie Essen erhalten, Alphabetisierungskurse durchgeführt und ein paar handwerkliche Tätigkeiten angeboten werden. Es gibt einen Arzt und manchmal einen Physiotherapeuten, Puzzle und einen kleinen Garten. An zwei Tagen in der Woche werden die besucht, die zu alt und krank sind, um in das Zentrum kommen zu können.

Julia begleitet Schwester Jackie vom deutschen "Orden der Armen Schulschwestern", die sich resolut ihren Weg durch die staubigen Gasse Villa Salvadors bahnt.

Für sie sind Freiwillige wie Julia eine große Bereicherung ihrer Arbeit. "Allein die Tatsache, dass da junge Menschen um die halbe Welt gereist sind um sie zu besuchen gibt den Alten das Gefühl wichtig zu sein. Und diese Wertschätzung, die zählt oft mehr als alles andere".

Julia selber hat oft gar nicht so sehr das Gefühl zu helfen: "Eigentlich mache ich gar nicht viel. Ich höre oft einfach nur zu." Es sind Geschichten von schweren Schicksalen, die sie da zu hören bekommt. Gewalt ist in Villa Salvador alltäglich: Prügelnde Ehemänner, Kinder, die ihre Eltern schlagen. Es sind auch Geschichten von Missbrauch, von Krankheit und Armut. "Am Anfang konnte ich das alles kaum glauben. Was die Alten erzählen, hat mich fertig gemacht. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, ich lasse es nicht mehr so dicht an mich ran. Manchmal habe ich deswegen ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich denke, ich hätte ein kaltes Herz. Aber vielleicht muss das so sein, damit ich es ertragen kann." So sitzt sie an Krankenlagern und hält Hände in Hütten, deren einziges Mobiliar aus Pappkartons und Plastiktüten besteht.

Die Martinsitos mit ihren Freiwilligen sind häufig die einzigen Bezugspersonen, die die Alten haben. In keiner Hütte fehlt die Fotocollage, auf dem alle 145 Abuelitos, die Helfer und der Hund des Projektes abgebildet sind.

Das Leben in Villa Salvador ist für Julia nicht immer leicht. Am meisten nervt sie die ständige Anmache der Männer. "Da kommt die Mutter meiner Kinder", tönt es aus allen Ecken. Es wird gepfiffen und gezischt. Manchmal kann sie das einfach ignorieren, aber wenn sie unter Stress steht, könnte sie zuschlagen.

"Ich bin in Deutschland ein ganz normales Mädchen. Aber hier gelte ich als schön, weil ich blond bin. Es ist anstrengend ständig gemustert und beobachtet zu werden." Seitdem sie sich die Haare dunkler gefärbt hat, ist es etwas besser geworden. Trotzdem ist Villa Salvador alles andere als eine sichere Gegend. Fast jeder hier ist schon beraubt worden und Julias Gastfamilie besteht darauf, dass sie im Dunkeln nicht alleine herumläuft. Sie tut es trotzdem. "Manchmal glaube ich, dass ich zu wenig Angst habe. Aber bisher ist mir noch nichts passiert".

Ihre Entscheidung für Monate in eine Welt zu ziehen, die nicht weiter von Reusten bei Tübingen entfernt sein könnte, hat Julia trotzdem nicht bereut. Seit Jahren hat sie sich für Amnesty International engagiert und Geld für Hilfsprojekte gesammelt. Nun wollte sie erfahren, was Dritte Welt wirklich heißt.

Nach Villa Salvador kam sie, weil ihre Schule hier eine Partnerschaft hat. Ihre Eltern fanden die Idee gut und unterstützen sie auch finanziell, denn für Kost, Logis und private Ausgaben muss sie selber aufkommen. Bei der Planung wurde sie vom Service Civil International unterstützt. Die Organisation schickt Jugendliche aus aller Welt in Soziale Projekte, wo sie als Freiwillige arbeiten. "Ich bilde mir nicht ein, dass ich hier viel helfen kann. Ich glaube, die Arbeit mit den Alten gibt mir viel mehr als ihnen. Ich habe gelernt, wie hart das Leben sein, und was man dennoch alles ertragen kann. Es ist bewundernswert wie die Alten noch arbeiten, wie sie sich durchschlagen."

Aber es gibt nicht nur traurige und ergreifende Momente bei den Martinsitos. Es wird viel gelacht und auch gefeiert. "Wenn einer von den Alten Geburtstag hat, dann gibt es ein richtiges Fest. Und Leute, die kaum Laufen können, fangen an zu Tanzen."

In ein paar Wochen wird sie nach Deutschland zurück kehren um Kunst auf Lehramt zu studieren. Wenn sie an den Abschied denkt, dann wird sie traurig. "Manche von den Alten habe ich richtig lieb gewonnen. Sie sind für mich zu Großeltern geworden.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Info: Man kann einen "Abuelito" aus Villa Salvador adoptieren. Nähere Informationen unter www.adopt-a-grandparent.org

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Peru verfasst, den Ihr voraussichtlich ab dem 01.12.2009 im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Peru Kompakt
Autoren: Katharina Nickoleit, Kai Ferreira-Schmidt
288 Farbseiten
4. überarbeitete und komplett aktualisierte Auflage
ISBN: 978-3-89662-336-2
Verlag: Reise Know-How






[art_3] Brasilien: Gegen die Strömung
Das Projekt "Semeando para Cristo Jesus" in Catumbi – Rio de Janeiro

"In Kürze hier: Modell-, Friseur- und Theaterkurse" steht auf dem Schild an der Wand. Diese ist voller Löcher, der Boden mit Ziegelstein-Stapeln übersät, dazwischen Zementsäcke und Holzreste. "Das war mal ein Aufnahmestudio für Filmsynchronisierungen. Wir werden diesen Ort in ein Studienzentrum für die Kinder dieses Viertels verwandeln, Berufsbildung für Jugendliche und Alphabetisierungskurse anbieten." Luiz Alberto Pereira Fernandes ist voller Enthusiasmus. In Anzug und Krawatte gekleidet führt er die kleine Besuchergruppe durch das ganze Haus.

Die Mönche der indischen NGO Amurt sind schwer begeistert. "Das wird ein sehr schönes Projekt werden", sagt einer von ihnen, ein Afrikaner aus dem Kongo, mit seinem schweren französischen Akzent. Ein anderer Mönch mit asiatischen Zügen schüttelt zustimmend den Kopf. Die Mönche betreuen bereits zahlreiche Sozialprojekte in Brasilien, und in Kürze werden sie darüber entscheiden, ob sie auch das "Semeando para Cristo Jesus" Projekt, "Sähen für Jesus Cristus", unterstützen werden.



Luiz Alberto (2. von links),
Capoeiralehrer (rechts) und die
Mönche der Indischen NGO Amurt

"Wenn wir in einer Gemeinschaft ankommen, haben wir niemals ein fertiges Konzept in der Schublade. Wir bieten zunächst auch nichts an. Wir fragen die Menschen lediglich: Was ist Euer Traum? Und wenn Ihr wollt, können wir Euch dabei helfen, ihn zu realisieren," erklärt der Mönch aus dem Kongo. "Und wir ziehen uns aus dem Projekt zurück, sobald sich eine kompetente lokale Führung gebildet hat."

"Ihr könnt auf der Veranda keine Fotos schießen. Und zeigt bitte auch nicht mit dem Finger auf irgend ein Haus." Luiz Alberto ist besorgt. "Es gibt fünf Favelas um uns herum, und genau in diesem Augenblick werden wir von vielen Augen sorgsam beobachtet. Wenn ihr auf ein Haus zeigt oder es fotografiert, werden sie denken, dass ihr von der Polizei seid – und schießen."

Seit zwei Jahren ist der 44-jährige Luiz Alberto Präsident des "Semeando para Cristo Jesus" Projektes, das Freizeitprogramm und Unterricht für Kinder und Jugendliche aus Catumbi anbieten will, einem nahe dem Zentrum von Rio de Janeiro gelegener Stadtteil, welcher an das berühmte Ausgehviertel Lapa grenzt. "Der Schlüssel, um eine Person in einen Bürger zu verwandeln, ist dieser bestimmte Fähigkeiten zu vermitteln. Sie müssen lernen, sich selbständig zu versorgen und sich selbst als wertvoll zu akzeptieren", legt Luiz Alberto die Philosophie des Projektes dar.

Er weiß, wovon er spricht: "Als ich zwölf war, habe ich mit den Drogen begonnen. Aus Revolte, weil ich von meinen Eltern zurückgewiesen wurde. Einen Hass auf die ganze Menschheit hatte ich in mir.

Und mein Vater drohte ständig: Wenn Du auf die schiefe Bahn gerätst, fliegst Du aus dem Haus. Als ich vierzehn war, hat er meine Drogensucht entdeckt und mich rausgeschmissen. Er selbst war in die Lotteriemafia verstrickt, aber Drogen hat er nie akzeptiert."

Auf der Straße wurde Luiz Alberto zum Drogendealer. Er schmuggelte Kokain von Bolivien nach Rio de Janeiro. Mehr als zwanzig Jahre lang lebte er als Krimineller in Abhängigkeit von den Drogen. Jetzt will er selbst Ex-Knackis und Ex-Drogis bei ihrer Wiedereingliederung in die Gemeinschaft helfen.

"Wenn Du in die Droge einsteigst, weißt du: das Risiko heißt töten – und sterben. Aber ich habe überlebt, denn ich hatte sehr viel Glück. Gott hat mich aus dieser Hölle heraus gezogen und an diesen Ort hier gebracht, um der Gemeinde zu helfen. Eine alte Schwarze der Umbanda-Religion hat mich gerettet. Schmeiß alles hin und hau ab, hat sie mir geraten. Deine Zeit ist schon abgelaufen, sagte sie, und wenn Du nicht sofort was dagegen unternimmst, wirst Du sterben."

"Ich wohnte damals in Niterói. Da gab es eine schmale Treppe ohne Fluchtmöglichkeiten. Die ging ich hinunter, und vor mir, auf dem Platz am Ende der Treppe, wartete bereits die Polizei, um mich kalt zu machen. Und eine Stimme sagte zu mir: Du bist bereits ausgeknipst. Aber Gott hat mir einen Fluchtweg gezeigt, und ich bin entkommen. Ich in ein evangelisches Entzugsheim gegangen. Dort machte ich dann eine Ausbildung zum Missionar, und nun bin ich Missionar."

Wir sind mittlerweile in einem Hinterhof des Hauses angekommen. Hier können wir in Ruhe ein paar Bilder fotografieren, denn die wachsamen Augen der Beobachter aus den Favelas können uns hier nicht sehen.

150 Mitglieder, 100 Mitarbeiter und 10 finanzielle Unterstützer – das sind die Zielvorgaben des Projektes. "Wir werden einen symbolischen Monatsbeitrag erheben, etwa zehn Reais. Wir wollen hier nichts kostenlos anbieten. Und wer seinen Beitrag nicht bezahlen kann, muss halt irgendeine Leistung zum Tausch anbieten." Das Projekt wird bereits von professionellen Kräften unterstützt, wie einem Sportlehrer und einer Yogaprofessorin.

Eine Capoeiralehrer gibt es auch bereits. Seine eigenen fünf Kinder springen auch schon durch das halbrenovierte Haus. "Ich habe gelernt, dass Capoeira ein Mittel ist, um mich von meinen Aggressionen zu befreien", erzählt er.

Luiz Alberto ist optimistisch, Hilfe von vielen Seiten für sein Projekt zu bekommen. "Gott hat schon so viele Menschen von weit her hier hin gebracht. Die Mönche aus Indien, Menschen aus anderen teilen Brasiliens, und jetzt Du aus Deutschland."


Als wir uns verabschieden, drückt er meine Hand. "Komm mal wieder hier vorbei. Und vielleicht gibt es ja in Deutschland ein paar Menschen, die uns helfen möchten."

Text + Fotos: Thomas Milz
Infos zum Projekt: Thomas Milz






[art_4] Venezuela: Hotel Tipp - Posada Casa Vieja in Mérida

Bislang ist mir der Sinn verborgen geblieben in die Ferne zu reisen, wenn in Deutschland die Sonne bis tief in den Abend hinein scheint. Nun aber in Anbetracht des ausbleibenden Sommers beschließen meine Gedanken ihren favorisierten Ort aus all den wundervollen, einst besuchten Plätzen herauszufiltern und dann zu auf und davon zu streben. Sekunden vergehen und schon haben sie ihr Ziel erreicht, dessen wohlklingenden Namen sie mir melodisch von einem leichten Nieselregen untermalt unterbreiten: Venezuela, Mérida, Tabay, Posada Casa Vieja.



In der Hängematte unter den Orangenbäumen verbringe ich die Siestazeit. Mit halb geschlossenen Augen dösend genieße ich die Ruhe inmitten des grünen Gartens, der mit reichlich farbtupferspendenden Pflanzen übersät ist. Hin und wieder schwirren Kolibris um die Kelche der Paradiesblumen. Mit dem ersten Sonnenstrahl war ich zu Fuß aufgebrochen zu den heißen Quellen unweit der Posada. Da es zu den Termalbädern fast eine halbe Stunde bergauf geht und weitere 15 Minuten bergab, gefällt mir der Gedanke an diesem Tag bereits genug geleistet zu haben.


Das Fundament der Casa Vieja stammt aus dem 18. Jahrhundert. Zeugen sind die meterdicken Grundmauern und der zwei mal zwei Meter große, aus Stein konstruierte Ofen vor dem Haus. Die sieben Gästezimmer befinden sich im Garten. Alejandra und Joe, die die Casa Vieja leiten, haben sie erst 2003 gebaut, doch sie sind ganz im Stil des Haupthauses gehalten. Jedes Zimmer besitzt einen Zugang zum Garten hin und ist mit je zwei Doppelbetten ausgestattet. Eines steht mitten im Zimmer, das andere befindet sich per Holzleiter erreichbar über dem Bad. Weiter hinten im Garten findet sich für die Gäste eine geräumige Freiluftküche.

Die Posada liegt knapp einen Kilometer vom Plaza Bolívar Tabays entfernt, in einer kleinen Straße, die von der Transandina abgeht, umgeben von sechs weiteren Häusern. Das Areal nennt sich El Paramíto und ist jedem Bus- und Taxifahrer bekannt. Busse nach Mérida (20 Minuten) halten in 150 Meter Entfernung und passieren im Fünfminuten-Rhythmus. In die andere Richtung geht es hoch in die Sierra Nevada. Nach einer Stunde erreicht man die Seen Laguna Negra und Laguna Mucubají, und etwas weiter auf 4200 Meter Höhe den Adlerpass (Paso del Aguila), der mit seinen bis zu drei Meter hohen Frailejónes (Espilezien oder Edelweiss der Anden) und dem gleichnamigen Kloster eine bizarre Landschaft darstellt.



Die Umgebung bietet unzählige Ausflugsmöglichkeiten. Direkt ab der Casa Vieja kann man für einen halben bis zu mehreren Tagen durch den Nationalpark Sierra Nevada aufbrechen. Einfacher erreicht man die 5000er Grenze mit dem Teleférico, der längsten Seilbahn der Welt, die direkt in Mérida Stadt ihre Talstation hat und über drei Zwischenhalte bis zur höchsten Station Pico Espejo empor steigt. Von dort aus geht ein Wanderweg in 4500 Meter Höhe in das Andendorf Los Nevados.



Einzigartig rund um Mérida und Tabay sind Klima, Pflanzen- und Tierwelt. Regenfreier Kaktuscanyon und feuchter Nebelwald liegen nur 10 Autominuten von einander entfernt. Ansonsten herrscht ewiger Frühling: warm bis heiß am Tag, angenehm kühl am Abend. Im Osten, das heißt an der Casa Vieja vorbei über den Adlerpass (wo man mit etwas Glück einen Kondor erspäht) erstrecken sich die Llanos, eine von Flüssen durchzogene Steppenlandschaft. Dieses ist die Heimat der Viehherden und der im Sattel der Pferde heimischen Llaneros. Wildpferde und Ameisenbären treffen an den Wasserlöchern auf Kaimane, Piranhas und Anakondas. Zu den heimischen Voglarten zählen Seeadler und Eisvogel, Rosa Löffler, Schwärme purpurfarbener Ibise und der Jaribu, der größte Storch der Erde.


An die westlichen Abhänge der Páramos de los Conejos grenzt der undurchdringliche Urwald der Zulia-Ebene, die den Maracaíbo-See umschließt, auf dem wie schon zu Zeiten der ersten spanischen Entdecker, die Bewohner in Pfahlbauten leben. Im Jahr 1500 erinnerte der Landstrich den Reisenden Americo Vespuchi an Venedig und er taufte es Venezuela (kleines Venedig).



In Zusammenarbeit mit Posadas oder Agenturen in Los Roques, Choroní, Canaima (Tafelberge) vermittelt Alejandra und Joe Touren durch ganz Venezuela. Auf jeden Fall hat man die besten Chancen, wenn man Gast in der Posada Casa Vieja ist, eine Llanos- oder Zulia-Tour mit Joe als Guide fahren zu können, was aufgrund seines Wissens über Flora und Fauna und seiner Art sich durch das Land zu bewegen Venezuela unvergessen werden lässt.

Text: Silvio Rymsa

Info:
Joe, der die Posada Casa Vieja gebaut hat und nun zusammen mit seiner Frau Alejandra leitet, habe ich bereits 1993 in Kanada kennen gelernt. Damals hat er für ein Dreivierteljahr in den Outdoors bei Winnipeg als Schreiner gearbeitet. In Venezuela gelangte er über die Zwischenstationen Tucacas (Parque National de Morrocoy) und Caracas nach Mérida. Seit 1996 verschmelzen Hobbys, wie Wandern, Reiten, Wildlife, Vogelkunde- und Beruf: Er begeistert Venezuelareisende, Ornitologen und Botaniker, Fotografen und Filmteams mit Touren rund um Mérida, quer durch Los Llanos und das Amazonasgebiet. Darüber hinaus organisiert er Abenteuer-Tripps, wie Canyoning, Paraglyding, Rafting

Website Posada Casa Vieja (dt/eng/es):
www.casa-vieja-merida.com/

Email (dt/eng/es):
info@casa-vieja-merida.com



Online Reiseführer Venezuela (reihe fernrausch)
Der Hauptteil des Reiseführers besteht aus Beschreibungen von Ausflugsmöglichkeiten in die Natur, in Form von ein- oder mehrtägige Touren, individuell oder mit Guide organisiert, und Abenteuertrips.





[kol_1] Amor: Doppelhochzeit im Reservat

Der Häuptling persönlich hatte mich eingeladen. Die Schwester des Häuptlings persönlich regte an, die Hochzeit doch wegen der Hitze zu verschieben; ich nickte, lächelte, schwitzte und dachte, dass es heute auch nicht wärmer als an den anderen unerträglich warmen Tagen war. Sonst dachte ich nicht viel; ich war jetzt schon eine ganze Weile im Reservat und hatte mich daran gewöhnt, der meist freundlich geduldete Außenseiter zu sein, viele Dinge nicht recht zu verstehen und die Geschehnisse um mich herum zu beobachten, ohne viel zu denken.



Die Familien der Brautleute saßen fein gekleidet auf einer Mauer bei der Dorfschule aufgereiht, ich stand etwas verlottert daneben. Dies nicht aus Nachlässigkeit oder bösem Willen, sondern weil ich keine feine Kleidung ins Reservat mitgebracht hatte und obendrein schon seit Tagen mehr oder minder ungeduscht weite Strecken über staubige Wege von einem indianischen Anführer zum nächsten gewandert war, um sie alle von der Nützlichkeit des Projektes, für das ich arbeitete und stand, zu überzeugen.

Der überdachte, weiß geflieste Vorplatz der Schule war bereits hergerichtet worden; Stühle standen dort in Reih und Glied und warteten auf Hintern, ein improvisierter Altar an der Stirnseite, eine Pracht von Papiergirlanden und Luftballons unter der Decke. Zeit verging. Die Indianer, ich und die Stühle harrten aus. Wir gingen hinunter zur Schule, wir setzten uns auf unsere Plätze.

Mehr Zeit verging. Die Indianer und ich harrten aus; die Stühle waren jetzt zufrieden, nehme ich an. Schließlich, endlich, rumpelte der weiße Pickup mit dem Paar auf der Ladefläche die Schotterpiste vom Haus der Eltern der Braut hinauf; Köpfe drehten sich, ein Raunen ging durch die Sitzreihen – doch abrupt kam der Wagen zum Stehen, kaum dass er den Lehmplatz im Dorfzentrum erreicht hatte. Die Fahrertür öffnete sich, der Häuptling persönlich stürzte heraus und eilte auf mich zu. "Ah, da bist du ja. Also, ich möchte, dass du so von vorne filmst, wie sie aus dem Wagen steigen. Dann lässt du sie an dir vorbeigehen, ungefähr hier, und dann folgst du ihnen von hinten bis zum Altar. Und dann möchte ich, dass du während der Zeremonie die Gesichter filmst, und dann die Hände, wenn sie die Ringe tauschen, und dann..." Ich besitze eine Videokamera. Der Häuptling persönlich nicht. Wär schön, wenn du zur Hochzeit meines Neffen kämst, hatte er gesagt. Kannst auch deine Kamera mitbringen, hatte er gesagt.

Er klopfte mir jovial auf die Schulter, eilte ebenso geschwind zum Auto zurück, wie er auf mich zugeeilt war, stieg ein, schloss die Tür, machte ein festliches Gesicht und gab mir ein Zeichen: Los! Ich tat, wie mir geheißen. Warum auch nicht, man bekommt nicht alle Tage die Gelegenheit, eine indianische Hochzeit zu filmen, umso seltener mit offiziellem Segen der Obrigkeit.


Bildergalerie

Der Pfarrer kam leider nicht – die Braut war ihm zu jung, mit einer solchen Unchristlichkeit wollte er nichts zu tun haben. Weil aber in den Augen der Indianer eine Hochzeit "nach dem Buch", wie sie es nannten, unentbehrlich war, musste der Vertreter der Indianerbehörde, übrigens ein Verwandter des Häuptlings persönlich, die Trauung vollziehen. Dabei stand ihm ein Bruder des Häuptlings zur Seite, der den liturgischen Teil des Gottesdienstes übernahm - über ihn sagte man mir, dass er ein sehr aktives Mitglied der örtlichen Neupfingstler-Gemeinde sei und sich daher in diesen Dingen auskenne.

Es tönte romantische Musik aus dem mitgebrachten kleinen Kassettenrecorder. Der Häuptling und seine Schwester ließen es sich nicht nehmen, nicht kurze Reden zu halten, den Kindern wurde die Zeremonie zu lang, und sie begannen, sich mit Luftballons zu bewerfen und Girlanden herunterzureißen. Ich bekam nicht viel von dem mit, was um mich herum geschah, weil ich ständig mit meiner Kamera zwischen den Leuten hin- und herlief – vorgeblich, um filmen zu können, was ich filmen sollte, aber auch, weil ich froh war, überhaupt eine Rolle zugewiesen bekommen zu haben; so konnte ich mich irgendwie nützlich und nicht völlig fehl am Platz fühlen.

Schließlich kam der Punkt, auf den alle gewartet hatten: Ihr dürft euch jetzt küssen. Sie küssten sich, und in der Tat, das war schön anzusehen – ich hatte nicht einmal richtig bemerkt, dass die beiden ein wirklich schönes Paar waren.

Als das Ritual sich dann in allgemeines Geplauder auflöste und ich die Kamera beiseite legen konnte, lernte ich Olinda kennen – die gewiss hübscheste Indianerin im Dorf, die obendrein genauso hieß wie die wohl hübscheste Stadt in Brasilien, in der ich obendrein mal gelebt hatte. Olinda hatte vor ein paar Jahren einen Ethnologen kennen und lieben gelernt, der wie ich mit einem Projekt ins Reservat gekommen war. Aus dem Projekt ist er rausgeflogen, inzwischen wohnt er mit ihr im Reservat, sieht täglich nach den Bananen und streitet sich ständig mit ihren Verwandten herum (unter ihnen der Häuptling persönlich), die finden, dass ein Weißer nicht mit einer Indianerin zu leben habe, und schon gar nicht im Indianerland. Ein beeindruckendes Was-wäre-wenn-Szenario, das mich eine ganze Weile beschäftigte (inzwischen bin ich wieder in Deutschland, soviel dazu).

So plauderte ich also vor mich hin und dachte, ich wäre aus meiner Pflicht entlassen, als der Häuptling begann, die Gäste in Autos zu laden, um sie zur nächsten Etappe der Festlichkeit zu bringen.

Beim Haus der Eltern des Bräutigams verschwand die feine christliche Hochzeitsgesellschaft einer nach dem anderen, um einer nach dem anderen durch eine feine indianische Hochzeitsgesellschaft ersetzt zu werden: Die Gäste und das junge Paar hatten sich der weißen Kleider und schwarzen Anzüge entledigt und trugen jetzt Baströcke, Kopfschmuck und Körperbemalung. Den prächtigsten Federschmuck von allen trug der Häuptling, und er war es, der das Ritual leitete, das auf einer Lichtung in einem nahe gelegenen Waldstück stattfand.

Mit dem wirkmächtigen Rauch aus seiner riesigen Tabakpfeife zog er einen Kreis um die Feiernden, während die Brautleute sich getrennt voneinander in kleine Hütten aus Bananenblättern zurückziehen mussten. Es wurde gemeinsam gesungen und Toré getanzt. Ich filmte, und Olindas Mann, der Kollege, der nicht länger ein Kollege, aber auch kein richtiger Indianer war, fotografierte. Manchmal bildeten wir uns aus Versehen gegenseitig ab, und dann tauschten wir wissende, augenzwinkernde Blicke – zwei, die irgendwie etwas gemeinsam haben und doch fast gar nichts.

Zum Abschluss des Rituals wurden Braut und Bräutigam von ihren Trauzeugen aus der Abgeschiedenheit ihrer Hütten befreit und knieten sich in den Kreis, zusammen mit dem Häuptling und seiner Schwester. Sie teilten und aßen den Beju, einen Gebäckfladen aus Maniok und Kokos, und der Häuptling schenkte Kauim aus, zuerst für das Paar, dann für alle, aus einer großen Coca-Cola-Flasche aus Plastik.

Mich nahm er beiseite. "Das ist unser indigenes Getränk, wie Bier!", sagte er nicht ohne Stolz. "Es besteht aus Maniok, Zuckerrohrsaft, Honig und zwei Sachen, die ich dir nicht sagen darf." Er schenkte mir einen großzügigen Becher ein. "Hm, lecker!", sagte ich. "Hm, komisch", dachte ich. "Blubb, blubb", antwortete mein Magen. Nur Augenblicke später musste ich auf die Toilette. Selten hatte ein Nahrungsmittel so schnell den vielfach gewundenen Weg durch mich hindurch gefunden, selten wollte es so dringend wieder aus mir heraus.


Bildergalerie

Über dem Waldstück war es inzwischen dunkel geworden. Jemand hatte vereinzelte Sterne und einen fast vollen Mond an den dunkelblauen Himmel geheftet, die Hitze des Tages war jetzt woanders. Schwache Lampen am Haus der Eltern des Bräutigams warfen warmgelbes Licht auf die Kinder, die wohlerzogen in einer Reihe vor der Terrasse standen, um ihre Teller mit Stücken vom Hochzeitskuchen zu füllen.

Für den Rest des Abends war ich der Bursche, der gefilmt hat. Hier, los, noch ein Stück Kuchen für den Burschen, der gefilmt hat! Hier, der Bursche der gefilmt hat, soll noch einen Becher Kauim kriegen! Und noch einen! Und noch einen! "Hm, lecker!", sagte ich. "Hm, lecker!", dachte ich. Meinem Magen hörte ich schon nicht mehr zu.

Text + Fotos: Nico Czaja






[kol_2] Grenzfall: Wer ist Filipe De Long?

Das Telefon klingelt früh an jenem Morgen. "Bist du das, Filipe de Long?", quäkt mir eine Kinderstimme vom anderen Ende der Leitung entgegen. Beim ersten Anruf verneine ich noch höflich und lege dem kindlichen Anrufer nahe, dass es sich wohl um einen Irrtum handeln müsse.

Nachdem mich die Göre jedoch zum dritten mal an diesem Wochenendmorgen aus dem Bett geklingelt hat, unternehme ich drastischere Schritte und verlange, sofort mit der Mutter oder einem anderen Erziehungsberechtigen zu sprechen. "So geht das ja nicht, Fräulein, hier morgens einfach so anzurufen!" Doch sie legt auf. Und ruft dafür fünf Minuten später noch mal an.

Nun, so etwas passiert sicherlich jedem und ständig. Etwas verwundert war ich aber, als sich innerhalb weniger Tage die Anrufe für jenen Filipe de Long exponentiell häuften. Das Entsetzen setzte jedoch erst ein, als eine dunkel-verrauchte, leicht laszive Frauenstimme mich fragte, wie viel Filipe denn wohl für einen Hausbesuch "mit vollem Programm" berechnen würde.

"Wir werden hier nämlich eine gemütliche Privatfeier haben, und da wäre eine kleine Showeinlage Herrn De Longs genau das richtige,um die Jungs so richtig auf Trab zu bringen!"

Nachdem ich den Hörer auf die Gabel geknallt hatte, verharrte ich kurz, schaute mich im Zimmer um und lauschte den Geräuschen meiner beiden Mitbewohner. Beide in ihren Zimmern, verdächtig stumm an ihren Computern arbeitend. Beide im Internet. Wer weis schon so genau, auf welchen moralisch verwerflichen Webpages der so nett wirkende Mitbewohner so seine Anzeigen setzt?

Klick klack klacken die Tastaturen ihrer PCs, jagen wilde Angebote in das weltweite Netz, unter die sie unsere überaus honorige, bisher über alle Zweifel erhabene Telefonnummer setzen. Erste Assoziationen um den Tarnnamen De Long tauchen vor meinem geistigen Auge auf.

Als das Thema beim Abendessen auf den Tisch kommt, verneinen alle glaubhaft jedwede Beteiligung an solch dunklen Machenschaften. So etwas von ihnen, undenkbar sei das!

Der Telefonterror ging weiter. Eine ganze Woche lang störte er mich entschieden bei meiner überaus Konzentration beanspruchenden Heimarbeit. Immer, wenn ich die meist weiblichen Anrufer zur Rede stellen wollte und versuchte, ihnen mal unter Androhungen der Polizei, mal unter vollem Einsatz meines Telefon-Charmes die entscheidende Information zu entlocken, legten sie rasch auf.

"Woher haben Sie diese Telefonnummer?" Klack. Aufgelegt.

Bis es mir eines verregneten Nachmittags gelang, eine junge Anruferin in einen kleinen Plausch zu verwickeln. "Die Nummer hab ich von Filipes Website", gestand sie mir freimütig.

"Und woher kennen Sie Filipe eigentlich?", setzte ich geschickt meine Investigation fort. "Meine kleine Schwester ist Fan von ihm. Sie hat ihn letzten Sonntag in der Faustão-Show gesehen, wo er sein neuestes Lied vorgestellt hat. Und auf seiner Webseite ist diese Telefonnummer als Kontakt für Shows angegeben."

Als ich diese interessanten Neuigkeiten der versammelten Runde am Abendbrottisch mitteilte, wusste plötzlich jeder, wer Felipe De Long ist. "Mensch, kennste den denn nicht. So ein 17-jähriger langhaariger Sänger", weis plötzlich der eine zu berichten. "Sogar ziemlich süß, der kleine", outet sich der andere. Und sie kritzeln auf ein Papier seinen Namen: Felipe Dylon!

Die Anrufe gehen weiter. Wir überlegen uns, welche Geschichten wir den anrufenden Kindern erzählen sollen. "Er ist bei einem Tauchunfall gestorben und gibt deshalb keine Konzerte mehr", halte ich zuerst und persönlich für etwas zu geschmacklos.

Aber schon wenige Tage später ertappe ich mich selbst bei der unverhohlen ausgesprochenen Grausamkeit eines Satzes wie: "Er hat sich zur Ruhe gesetzt und singt nicht mehr". Erschrocken legt das kleine Mädchen am anderen Ende der Leitung auf, und sofort lasten tonnenschwere Schuldgefühle auf meinen Schultern.

Wir beschließen, vom nächsten Anrufer eine Vorauszahlung von 5,000 Reais für ein einstündiges Konzert Felipes zu verlangen. Neben dem Telefon liegt die Kontonummer eines Mitbewohners bereit, doch niemand traut sich letztlich, den Schritt in die kriminelle Unterwelt wirklich zu vollziehen.

"Ihr müsst Felipe Bescheid sagen, dass er versehentlich eure Telefonnummer auf seine Seite gesetzt hat", rät mir eine peruanische Freundin. "Ruf ihn doch einfach an und sag, dass das eure Telefonnummer ist."

In Anbetracht der vielen verzweifelten Mädchen, die vergeblich versuchen, Felipe für ihren Kindergeburtstag zu engagieren, beschließe ich, ihrem Rat zu folgen. Seine Telefonnummer fand ich auf seiner Internetseite. Seitdem versuche ich jedoch unentwegt, Felipe an die Strippe zu bekommen. Sooft ich auch anrufe, es ist immer besetzt.

Text: Thomas Milz
Fotos: amazon.de








[kol_3] Macht Laune: Reggaeton
1. Gib mir mehr / Dame más - 2. Daddy Yankee in Ekuador

1. Gib mir mehr / Dame más

Kuba, März 2005. Rechts und links hohe Hausfassaden, an denen die hellrosa Farbe abblättert. Aus dem oberen Fenster schallt das Heulen eines Kindes, eine Nachbarin ruft alle paar Minuten "Ruhe!". Zwei ältere Damen unterhalten sich lautstark über die Straße hinweg, von Balkon zu Balkon. Der Motor eines durch die Sonne hellgelb gebleichten Chevys knattert ruhelos. Ein paar Meter weiter, auf der Querstraße, schnaubt ein mit Bananen überladener LKW vorbei, an der Straßenecke ruft ein betagter Mann mit Zigarre "Maní, Maní". Übertönt wird das alles durch einen Musikrefrain. "Dame más Gasolina" hallt es gleichzeitig, wie durch ein Megafon gejagt, in allen Räumen, Straßenecken, Vierteln, in gesamt Havanna und auf der ganzen Insel.



Reggaeton ist eine Mischung zwischen Hip Hop, Rap, R&B, mit dem Rhythmus von House Music. Das Internetportal Reggaetonline.net definiert den Musikstil als "Music that is being played in Spanish with no English translation to accompany it”. Die Musiker heißen Tego Calderon, Don Omar, Luny Tunes oder auch Daddy Yankee mit seinem Album "Barrio fino". Die meisten Künstler sind männlich, die Königin des Reggaeton aber heißt Ivy Queen. Die 1972 geborene Puerto Ricanerin lebte einige Jahre in New York, ehe sie zurück nach Mittelamerika kam. Das erste Album von Martha Ivelisse Pesante, ihr bürgerlicher Name, produzierte sie mit Sony. "En Mi Imperio" verkaufte sich auf anhieb über 100.000 Mal. Auch in ihrem zweiten Album "Original Rude Girl" setzt sie, statt auf grobe Sprache, auf Botschaft: Ihre Songs sprechen von Puerto Rico, vom Leben der Frauen und vom Missbrauch. Ihr drittes Album, "Diva" ist seit 2003 auf dem Markt.

Einfach nur die Straße entlanggehen - unmöglich. Die jungen Kubaner bewegen sich im Takt und singen mit. Man kann sich dem Rhythmus nicht entziehen, muss mittanzen: Die Arme schulterbreit auseinander, nach vorne gestreckt, die Ellenbogen leicht nach außen. Nun geben die flachen Handflächen den Takt an und zucken leicht vor und zurück. Kopf und die Schultern gehen mit. Der Körper hat den Rhythmus verinnerlicht. Der Reggaeton durchzieht die Adern wie die Straßen, macht sich in sämtlichen Städten und kleinen Dörfern Kubas breit, dringt überall durch, selbst in entlegenste Orte.

Die Musikrichtung Reggae, Namensgeber und wichtiger Bestandteil des Reggaeton, wurde in den 70er Jahren in Jamaika geboren. Manche Quellen gehen davon aus, dass der Reggae nach Panama kam, als viele Jamaikaner zum Bau des Panama-Kanals übersiedelten. In den frühen 90er Jahren mischte sich die Musik in Puerto Rico mit dem Rap aus den USA und es entstand eine Latins-Anglo-Mischung, die die Multikulturalität Puerto Ricos widerspiegelt.

Inhaltlich geht es im Reggaeton, der "working-class popular music" meist um Liebe, Leidenschaft und dem Leben auf der Straße - ebenso wie Hip Hop, der ebenfalls vom täglichen Leben und den Problemen handelt, assoziiert der Reggaeton eine Untergrund-Bewegung der Jugendlichen.


Noch ist diese Musik nicht überall in Lateinamerika verbreitet. Und so schreibt Naty aus Uruguay bei Reggaetonline: "Yo soy uruguaya y este tipo de musica no se escucha, cuando vine para USA empece a escucharla y ahora me gusta mucho..."

Zudem spricht der Reggaeton auch eine Zielgruppe an, die bisher nicht viel mit spanischsprachiger Musik zu tun hatte, wie beispielsweise Cee: "I'm African-American and I've jus recently heard about Reggaeton and I`m in love with it… Even though I don`t know what they are saying (lol) it just sounds so nice!”

Reggaeton passt einfach in die heutige Zeit: Der Takt, die Musik, die Künstler. Zu den ersten Sängern zählen El General, Vico C und Tempo, sowie William Omar Landrón, besser bekannt als Don Omar. Spanische Phrasen, eine vulgäre, schroffe Sprache, schallen in immer gleichem Rhythmus ins Ohr, begleiten einen durch den genau so schnellen Alltag. Übersättigt vom englischen Rap oder House ist Reggaeton der Ausweg, und zu jeder neuen Reggaeton-Welle gibt es einen neuen Tanzstil: Zu Liedern der Gruppe "Cubanito 2002" vor etwa zwei Jahren war die Hüftbewegung der Clou, jetzt ist der Oberkörper in Bewegung. Während Europa noch nach den alten Regeln tanzt, entsteht in Kuba vielleicht schon wieder ein ganz neuer Trend.

Hamburg, Juni 2005. Über 8.000 Kilometer entfernt von Kuba auf der Tanzfläche einer Diskothek - es ist erst kurz vor elf. Die ersten Takte eines neuen Liedes sind zu vernehmen. "Ist das nicht `Pobre Diabla´ von Don Omar?" fragt eine Frau, die auf einmal ihre Arme nach oben reißt. Ihr hellrosa T-Shirt trägt schon jetzt unter den Armen zwei dunkle Flecken. Mit der Hand fährt sie sich durch die langen braunen Locken. Es ist heiß - doch immer mehr Frauen und Männer, gerade noch an der Bar, stellen ihre Bierflaschen ab und drängeln sich in die Mitte der Tanzfläche. Das rosa Shirt zuckt im Takt immer hin und her, die Augen sind geschlossen, die Wangen glühen. Das Lied wird schneller, die rechte Hand boxt als Faust gen Himmel, ekstatisch tanzt sie ohne ihr Umfeld wahrzunehmen. "Llorando por un hombre que no vale ni un centavo", grölt neben ihr auch ein braun gebrannter Mann um die 25.



2. Daddy Jankee in Ekuador

Umgehend nach seiner Nominierung für die MTV-Musik-Awards in Miami besuchte Daddy Jankee, der stolzer Besitzer von fünf Platinalben ist, Ekuador. Zwei Konzerte standen auf dem Tourplan. Zum Auftakt spielte er am Freitag, den 2. September in der Hauptstadt Quito.

Um 20 Uhr soll das Konzert im Kolosseum Rumiñahui nahe der amerikanischen Botschaft beginnen. Es ist erst 17 Uhr, doch schon seit Stunden reihen sich junge Ekuadorianer im Alter von 14 bis 20 Jahren vor den Toren ein, um die besten Plätze zu ergattern. Die preiswertesten Karten für das Konzert kosten 18 Dollar, viel Geld für die Einwohner des wirtschaftlich und politisch angeschlagen Ekuadors. Viele der Fans mussten, um sich den Eintritt leisten zu könne, über Monate hinweg sparen.

Polizisten bewachen die geordnete Menschenschlange. Die Jugendlichen verhalten sich nach wie vor ruhig, obwohl sie bereits seit Stunden warten. Nur Reaggeton-Musik, die aus vorbei fahrenden Autos herüber schallt, bringt die Wartenden in Bewegung.



Eine Stunde vor Konzertbeginn. Im Stadion selbst, die oberen Ränge sind bereits vollständig gefüllt, während auf den besseren unteren noch etliche Plätze frei sind, ist es mit der Ruhe und Gelassenheit vorbei. Die Vorfreude versetzt viele Besucher in aufgeregte Partystimmung. Die Masse begleiten jeden einzelnen Takt, der von Daddy Jankees Musik zu Testzwecken eingespielt wird, mit wildem Gekreische.

Was dann passiert, können weder die zahlreichen uniformierten Wächter, noch der Gitterdraht zwischen den oberen und den unteren Reihen verhindern: Zunächst geht ein Raunen, dann ein Schreien durchs Stadion als erst einige wenige, bald aber immer mehr Ekuadorianer versuchen, über den Zaun auf die unteren Sitze zu gelangen.


Die Uniformierten können den Massen nichts entgegensetzen. Nach und nach springen Jungen und Mädchen auf die besseren Plätze und immer mehr strömen nach. Alles was für sie zählt, ist näher bei ihrem Idol sein zu können. Als die unteren Ränge gefüllt sind, beruhigt sich der Aufruhr - für Minuten. Nun meint die Polizei einschreiten zu müssen unter Zuhilfenahme von Tränengas. Zuschauer - Eindringlinge wie auch diejenigen, die in Besitz von teuren, regulären Eintrittskarten sind - flüchten panikartig nach rechts und links zu den Ausgängen. Erst als sich das Gas verflüchtigt hat und sich die Ränge wieder füllen, kann das Konzert beginnen.

18.000 verkaufte Karten für ein Stadion, das 25.000 Menschen fasst – und das in Anbetracht der horrenden Preise. Die Stimmung ist riesig, das Kolosseum kocht, die Ekuadorianer feiern Daddy Jankee. Einem sich kräuselnden Meer mit mittlerem Wellengang gleicht die Bewegung der Menschenmasse, die ohne Unterbrechung zum Takt tanzt und singt.



Denn anders als im europäischen Ausland, wo nur einige, wenige Lieder des Künstlers bekannt sind, wie "Machete", "Lo que pasó, pasó" oder "Gasolina", die der Künstler an diesem Tag erst gegen Ende spielt, kennen die jungen Ekuadorianer jedes Lied und begleiten es lautstark Wort für Wort. Bis 22:30 Uhr begeistert der Künstler, der mehr als 50 CDs in Puerto Rico und im Ausland produziert hat, sein Publikum. Dann ist Schluss.

Am darauf folgenden Abend spielt Daddy Jankee im Estadio Modelo in Ekuadors größter Stadt Guayaquil. Der Erfolg gleicht dem der Hauptstadt – das Publikum tobt. Wie hoch die ekuadorianischen Fans ihren Liebling einschätzen, erkennt man daran, dass nach dem für die WM-Qualifizierung 2006 wichtigen Sieg der ekuadorianischen Fussball-Mannschaft über Bolivien dem Künstler, der ebenso in Merengue und Salsa bewandert ist, ein Trikot in den nationalen Farben gelb, blau und rot überreicht wird.

Text + Fotos: Sarah Lindner





[kol_4] Lauschrausch: Mittelalterliches aus Katalonien

L’Ham de Foc
Cor de Porc
galileo mc
Das Mittelalter war die goldene Zeit der katalanischen Kultur und dorthin entführen uns L’Ham de Foc (Angelhaken aus Feuer) auf ihrem Album "Cor de Porc". Schalmeien, Harfen und Drehleiern erklingen zu troubadouresken katalanischen Texten: "Tanca la porta amb set claus. Ferma el ferro dels set panys". Erstmals verarbeiten sie die valenzianische Tradition des Cant d´estil, bei der mit von einem Dichter eingeflüsterten Texten über eine feste Melodiebasis improvisiert wird.

Das Duo aus Valencia bietet uns aber nicht nur eine Zeitreise an, sondern schlägt auch eine Brücke zu anderen Kulturen mit den Klängen von Buzukis, galizischen Dudelsäcken, türkischen Saz oder Tablas. Nicht nur für Besucher von Mittelalterfesten oder Fans von "Dead can Dance" ein sehr empfehlenswertes Album.


Maria del Mar Bonet
Amic, Amat
Picap/ galileo mc

Maria del Mar Bonet gehört zu den Veteranen der katalanischen Liedermacher. Ihr neues Album "Amic, Amat" ist einmal mehr ein Brückenschlag zwischen der iberischen/katalanischen und der arabischen Kultur also auch zu den eigenen Wurzeln: Eingeladen zu einem Konzert in Damaskus, beschloss Bonet mit syrischen Musikern zusammen zu arbeiten. Die mystischen Texte stammen größtenteils aus dem Buch "Llibre d’Amic e d’Amat" des Universalgelehrten Ramón Llull, der im 13. Jahrhundert die Basis der katalanischen Schriftkultur legte sowie dessen Adaption durch den Dichter Jacint Verdaguer.

Andere Texte sind von arabischen Dichtern geschrieben und von Bruce Springsteen (sehr gelungen): dessen "Worlds apart" in der arabisch-katalanischen Version klingt wunderbar. Schöne Instrumentierung, Texte, die sich meistens um Liebende drehen ... dem bleibt nichts hinzuzufügen.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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