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[kol_1] Amor: Doppelhochzeit im Reservat

Der Häuptling persönlich hatte mich eingeladen. Die Schwester des Häuptlings persönlich regte an, die Hochzeit doch wegen der Hitze zu verschieben; ich nickte, lächelte, schwitzte und dachte, dass es heute auch nicht wärmer als an den anderen unerträglich warmen Tagen war. Sonst dachte ich nicht viel; ich war jetzt schon eine ganze Weile im Reservat und hatte mich daran gewöhnt, der meist freundlich geduldete Außenseiter zu sein, viele Dinge nicht recht zu verstehen und die Geschehnisse um mich herum zu beobachten, ohne viel zu denken.



Die Familien der Brautleute saßen fein gekleidet auf einer Mauer bei der Dorfschule aufgereiht, ich stand etwas verlottert daneben. Dies nicht aus Nachlässigkeit oder bösem Willen, sondern weil ich keine feine Kleidung ins Reservat mitgebracht hatte und obendrein schon seit Tagen mehr oder minder ungeduscht weite Strecken über staubige Wege von einem indianischen Anführer zum nächsten gewandert war, um sie alle von der Nützlichkeit des Projektes, für das ich arbeitete und stand, zu überzeugen.

Der überdachte, weiß geflieste Vorplatz der Schule war bereits hergerichtet worden; Stühle standen dort in Reih und Glied und warteten auf Hintern, ein improvisierter Altar an der Stirnseite, eine Pracht von Papiergirlanden und Luftballons unter der Decke. Zeit verging. Die Indianer, ich und die Stühle harrten aus. Wir gingen hinunter zur Schule, wir setzten uns auf unsere Plätze.

Mehr Zeit verging. Die Indianer und ich harrten aus; die Stühle waren jetzt zufrieden, nehme ich an. Schließlich, endlich, rumpelte der weiße Pickup mit dem Paar auf der Ladefläche die Schotterpiste vom Haus der Eltern der Braut hinauf; Köpfe drehten sich, ein Raunen ging durch die Sitzreihen – doch abrupt kam der Wagen zum Stehen, kaum dass er den Lehmplatz im Dorfzentrum erreicht hatte. Die Fahrertür öffnete sich, der Häuptling persönlich stürzte heraus und eilte auf mich zu. "Ah, da bist du ja. Also, ich möchte, dass du so von vorne filmst, wie sie aus dem Wagen steigen. Dann lässt du sie an dir vorbeigehen, ungefähr hier, und dann folgst du ihnen von hinten bis zum Altar. Und dann möchte ich, dass du während der Zeremonie die Gesichter filmst, und dann die Hände, wenn sie die Ringe tauschen, und dann..." Ich besitze eine Videokamera. Der Häuptling persönlich nicht. Wär schön, wenn du zur Hochzeit meines Neffen kämst, hatte er gesagt. Kannst auch deine Kamera mitbringen, hatte er gesagt.

Er klopfte mir jovial auf die Schulter, eilte ebenso geschwind zum Auto zurück, wie er auf mich zugeeilt war, stieg ein, schloss die Tür, machte ein festliches Gesicht und gab mir ein Zeichen: Los! Ich tat, wie mir geheißen. Warum auch nicht, man bekommt nicht alle Tage die Gelegenheit, eine indianische Hochzeit zu filmen, umso seltener mit offiziellem Segen der Obrigkeit.


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Der Pfarrer kam leider nicht – die Braut war ihm zu jung, mit einer solchen Unchristlichkeit wollte er nichts zu tun haben. Weil aber in den Augen der Indianer eine Hochzeit "nach dem Buch", wie sie es nannten, unentbehrlich war, musste der Vertreter der Indianerbehörde, übrigens ein Verwandter des Häuptlings persönlich, die Trauung vollziehen. Dabei stand ihm ein Bruder des Häuptlings zur Seite, der den liturgischen Teil des Gottesdienstes übernahm - über ihn sagte man mir, dass er ein sehr aktives Mitglied der örtlichen Neupfingstler-Gemeinde sei und sich daher in diesen Dingen auskenne.

Es tönte romantische Musik aus dem mitgebrachten kleinen Kassettenrecorder. Der Häuptling und seine Schwester ließen es sich nicht nehmen, nicht kurze Reden zu halten, den Kindern wurde die Zeremonie zu lang, und sie begannen, sich mit Luftballons zu bewerfen und Girlanden herunterzureißen. Ich bekam nicht viel von dem mit, was um mich herum geschah, weil ich ständig mit meiner Kamera zwischen den Leuten hin- und herlief – vorgeblich, um filmen zu können, was ich filmen sollte, aber auch, weil ich froh war, überhaupt eine Rolle zugewiesen bekommen zu haben; so konnte ich mich irgendwie nützlich und nicht völlig fehl am Platz fühlen.

Schließlich kam der Punkt, auf den alle gewartet hatten: Ihr dürft euch jetzt küssen. Sie küssten sich, und in der Tat, das war schön anzusehen – ich hatte nicht einmal richtig bemerkt, dass die beiden ein wirklich schönes Paar waren.

Als das Ritual sich dann in allgemeines Geplauder auflöste und ich die Kamera beiseite legen konnte, lernte ich Olinda kennen – die gewiss hübscheste Indianerin im Dorf, die obendrein genauso hieß wie die wohl hübscheste Stadt in Brasilien, in der ich obendrein mal gelebt hatte. Olinda hatte vor ein paar Jahren einen Ethnologen kennen und lieben gelernt, der wie ich mit einem Projekt ins Reservat gekommen war. Aus dem Projekt ist er rausgeflogen, inzwischen wohnt er mit ihr im Reservat, sieht täglich nach den Bananen und streitet sich ständig mit ihren Verwandten herum (unter ihnen der Häuptling persönlich), die finden, dass ein Weißer nicht mit einer Indianerin zu leben habe, und schon gar nicht im Indianerland. Ein beeindruckendes Was-wäre-wenn-Szenario, das mich eine ganze Weile beschäftigte (inzwischen bin ich wieder in Deutschland, soviel dazu).

So plauderte ich also vor mich hin und dachte, ich wäre aus meiner Pflicht entlassen, als der Häuptling begann, die Gäste in Autos zu laden, um sie zur nächsten Etappe der Festlichkeit zu bringen.

Beim Haus der Eltern des Bräutigams verschwand die feine christliche Hochzeitsgesellschaft einer nach dem anderen, um einer nach dem anderen durch eine feine indianische Hochzeitsgesellschaft ersetzt zu werden: Die Gäste und das junge Paar hatten sich der weißen Kleider und schwarzen Anzüge entledigt und trugen jetzt Baströcke, Kopfschmuck und Körperbemalung. Den prächtigsten Federschmuck von allen trug der Häuptling, und er war es, der das Ritual leitete, das auf einer Lichtung in einem nahe gelegenen Waldstück stattfand.

Mit dem wirkmächtigen Rauch aus seiner riesigen Tabakpfeife zog er einen Kreis um die Feiernden, während die Brautleute sich getrennt voneinander in kleine Hütten aus Bananenblättern zurückziehen mussten. Es wurde gemeinsam gesungen und Toré getanzt. Ich filmte, und Olindas Mann, der Kollege, der nicht länger ein Kollege, aber auch kein richtiger Indianer war, fotografierte. Manchmal bildeten wir uns aus Versehen gegenseitig ab, und dann tauschten wir wissende, augenzwinkernde Blicke – zwei, die irgendwie etwas gemeinsam haben und doch fast gar nichts.

Zum Abschluss des Rituals wurden Braut und Bräutigam von ihren Trauzeugen aus der Abgeschiedenheit ihrer Hütten befreit und knieten sich in den Kreis, zusammen mit dem Häuptling und seiner Schwester. Sie teilten und aßen den Beju, einen Gebäckfladen aus Maniok und Kokos, und der Häuptling schenkte Kauim aus, zuerst für das Paar, dann für alle, aus einer großen Coca-Cola-Flasche aus Plastik.

Mich nahm er beiseite. "Das ist unser indigenes Getränk, wie Bier!", sagte er nicht ohne Stolz. "Es besteht aus Maniok, Zuckerrohrsaft, Honig und zwei Sachen, die ich dir nicht sagen darf." Er schenkte mir einen großzügigen Becher ein. "Hm, lecker!", sagte ich. "Hm, komisch", dachte ich. "Blubb, blubb", antwortete mein Magen. Nur Augenblicke später musste ich auf die Toilette. Selten hatte ein Nahrungsmittel so schnell den vielfach gewundenen Weg durch mich hindurch gefunden, selten wollte es so dringend wieder aus mir heraus.


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Über dem Waldstück war es inzwischen dunkel geworden. Jemand hatte vereinzelte Sterne und einen fast vollen Mond an den dunkelblauen Himmel geheftet, die Hitze des Tages war jetzt woanders. Schwache Lampen am Haus der Eltern des Bräutigams warfen warmgelbes Licht auf die Kinder, die wohlerzogen in einer Reihe vor der Terrasse standen, um ihre Teller mit Stücken vom Hochzeitskuchen zu füllen.

Für den Rest des Abends war ich der Bursche, der gefilmt hat. Hier, los, noch ein Stück Kuchen für den Burschen, der gefilmt hat! Hier, der Bursche der gefilmt hat, soll noch einen Becher Kauim kriegen! Und noch einen! Und noch einen! "Hm, lecker!", sagte ich. "Hm, lecker!", dachte ich. Meinem Magen hörte ich schon nicht mehr zu.

Text + Fotos: Nico Czaja