spanien: Ibn Khalduns Rückkehr nach Andalusien
Sevilla feiert den 600. Todestag des großen islamischen Historikers
BERTHOLD VOLBERG
[art. 1]
brasilien: Gott oder der Teufel im Sertão von Minas
Auf den Spuren Guimarães Rosas
THOMAS MILZ
[art. 2]
mexiko: Baja California Sur - Teil 2
Tausend Meilen bis ans Ende der Welt
MARTIN ROSENSTOCK
[art. 3]
kuba: Revolutionäre gehen nie in Pension
Fidel Castro wird 80 Jahre alt - beinahe
LARS BORCHERT
[art. 4]
grenzfall: Königlich Nebel saufen
Kleine Geschichte des Tabaks
ALEXANDRA GEISER
[kol. 1]
macht laune: Tigre Delta - das etwas andere Buenos Aires
ANDREAS DAUERER
[kol. 2]
helden brasiliens: Fazit WM 2006 in drei Teilen
THOMAS MILZ
[kol. 3]
lauschrausch: Putumayos Sommerparty
TORSTEN EßER
[kol. 4]





[art_1] Spanien: Ibn Khalduns Rückkehr nach Andalusien
Sevilla feiert den 600. Todestag des großen islamischen Historikers

Sein Leben
Der Botschafter des islamischen Herrschers von Granada durchschreitet das Eingangstor des Alcázar von Sevilla. Er ist gekommen, um dem hier residierenden König des christlichen Kastilien einen Friedensvertrag anzubieten. Es ist ein Januartag im Jahre 1364 als er vor den Thron von König Pedro I. tritt. Der Name des Gesandten ist Abu Said Abderrahman Ibn Khaldun Al-Hadrami (* Tunis 1332 - Kairo 1406). Er wird mit dem christlichen König Pedro dem Grausamen verhandeln, der in einem arabischen Palast wohnt, über dessen Portal die Worte prangen "Allah ist groß..."

Es waren nicht nur die arabischen Schriftzeichen, die dem in Tunis geborenen Ibn Khaldun bekannt vorkamen.

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Während er die Straßen von Sevilla durchschritt, kam ihm vieles sehr vertraut vor, obwohl er zum ersten Mal in seinem Leben nach Sevilla gekommen war. Im Gegensatz zu seinen Vorfahren, die Spanien bereits gegen Ende des 8. Jahrhunderts aus dem Jemen kommend betraten und Jahrhunderte lang in Sevilla lebten, wo ihre Sippe zu den einflussreichsten arabischen Patrizierfamilien gehörte. Zwei Jahrzehnte vor der Reconquista Sevillas durch Fernando el Santo, wohl schon ahnend, dass die Eroberung der Stadt durch die Spanier nur eine Frage der Zeit sei, kehrte sein Urgroßvater der geliebten andalusischen Heimat den Rücken und ließ sich zunächst in Ceuta, dann in Tunis nieder, wo Ibn Khaldun im Jahre 1332 geboren wurde. Als er 15 Jahre alt war, verlor Ibn Khaldun beide Eltern durch die große Pestepidemie von 1347/48. Kurz danach wanderte er aus nach Marokko, wo er zum Sekretär des Sultans von Fes ernannt wurde.

Doch Ibn Khaldun war ein ehrgeiziger Mensch. Um seinen politischen Einflussbereich zu vergrößern, folgte er 1363 der Einladung des jungen Sultans Muhammed V. von Granada. Umgeben vom Glanz der Alhambra wollte er seinen Traum von einer steilen Karriere verwirklichen. Es gelang Ibn Khaldun, schnell das Vertrauen des jungen Sultans zu gewinnen, und 1364 schickte ihn dieser mit dem Auftrag nach Sevilla, einen Friedensvertrag mit Pedro dem Grausamen auszuhandeln. Trotz seines Beinamens war der Brudermörder König Pedro ein toleranter und weiser Herrscher, der einen ausgezeichneten Geschmack bewies, indem er seinen Palast innerhalb der arabischen Burgmauern in maurischem Stil erbauen ließ (Mudéjarstil) und während seiner Regierungszeit Künste und Wissenschaften förderte. Er war fasziniert von dem arabischen Gelehrten Ibn Khaldun, der seine Wurzeln in Sevilla hatte, und lud ihn ein zu langen Unterhaltungen über Gott und die Welt. Dies sollte sich günstig auf die Bedingungen des Friedensvertrags mit Granada auswirken. König Pedro war vom Gesandten seines Gegners so beeindruckt, dass er sich ihn wohl selbst zum Ratgeber gewünscht hätte, denn er macht ihm ein großzügiges, fast märchenhaftes Angebot, um ihn zum Bleiben zu bewegen.

Er bot Ibn Khaldun an, ihm das Haus seiner Vorfahren und sämtliche Besitztümer, die sie damals in Sevilla lassen mussten, zurück zu geben.

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Ibn Khaldun jedoch lehnte ab und kehrte zurück an den Hof von Granada. Vielleicht wird er diese Entscheidung später bereut haben. Wahrscheinlich wäre er in Sevilla glücklicher geworden, aber dann hätte er der Welt wohl nicht sein großes Werk schenken können, das in der Einsamkeit entstehen musste.

Nachdem Ibn Khaldun vergeblich versucht hatte, erzieherisch auf den jungen Sultan Muhammed V. einzuwirken, verlor er die Gunst des Herrschers von Granada, der sich immer mehr zum Tyrannen entwickelte. Es ist nicht ganz geklärt, was Ibn Khaldun motivierte, Granada zu verlassen, möglicherweise Palastintrigen, die in der Alhambra gegen ihn, den Emporkömmling aus Afrika, geschmiedet wurden, oder die wachsende Rivalität zum Großwesir. Vielleicht um drohendem Exil zuvor zu kommen, begab er sich zurück nach Afrika. Dort machte ihn der Herrscher von Bougie (im heutigen Algerien) zu seinem ersten Minister. In diesem Amt aber agierte er glücklos, vor allem seine Steuerpolitik blieb erfolglos und gipfelte in Aufständen.

Schließlich führte ihn sein abenteuerlicher Lebensweg 1382 in die Mutter aller Städte - nach Kairo, das für ihn die "Metropole der Welt" war. Offenbar hatte er sich als Gelehrter einen Namen gemacht, denn dort erhielt er einen Lehrauftrag für die zweitälteste Universität der Welt und die wichtigste des Islam: die Al-Azhar-Universität.

Bis ins hohe Alter hielt er dort Vorlesungen, bis das Schicksal ihm noch einen letzten dramatischen Höhepunkt bescherte.

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Im Winter 1401 befand sich Ibn Khaldun in Damaskus, als der "Schrecken des Universums" nahte. Timur der Große, ein Nachkomme Dschinghis Khans, belagerte das damals zu Ägypten gehörende Damaskus. Es kam zu zahlreichen Treffen zwischen den beiden und Ibn Khaldun versuchte, günstige Bedingungen für die Übergabe der Stadt auszuhandeln. Der grausame und rücksichtslose Eroberer aus Transoxanien, den man das "Schwert des Islam" nannte, begegnete dem Gelehrten der Azhar-Universität mit großem Respekt und erteilte ihm den Auftrag eine Geschichte des Maghreb zu schreiben. Auf Ibn Khalduns Bitte, Damaskus nach der Einnahme von Plünderungen zu verschonen, nahm Timur jedoch keine Rücksicht: die Stadt wurde gnadenlos ausgeraubt und dem Riesenreich Timurs einverleibt. Ibn Khaldun erhielt freien Abzug und starb nach einem bewegten Leben 1406 in Kairo.

Sein Werk
Viele, die den Namen Ibn Khaldun zum ersten Mal hören, werden sich fragen, was an diesem Mann so bemerkenswert war - außer, dass er in drei verschiedenen Kontinenten und in einem halben Dutzend der schönsten Städte des Mittelmeerraums gelebt hat (Granada, Sevilla, Fes, Tunis, Kairo, Damaskus). Denen sei gesagt, dass Ibn Khaldun der Verfasser eines der bedeutendsten Bücher der Geschichtswissenschaft ist und neben Ibn Sina und Ibn Ruschd zu den größten islamischen Denkern gehört. Vielleicht war es gut, dass seine politischen Pläne in Granada und Algerien erfolglos blieben. Denn interessanter Weise motivierte ihn sein Scheitern in der aktiven Politik, nach den Ursachen des Misserfolgs zu forschen. Dazu zog er sich in die Einsamkeit der Wüstenburg Qalat-Ibn-Salama in Algerien zurück. Hier entstand in den 1370er Jahren sein Opus Magnum, die "Große Weltgeschichte", mit dem aufschlussreichen Titel "Buch der Erfahrungen" (Kitab-Al-Ibar).

Dieses monumentale Werk besteht aus drei Teilen: einer breit gefächerten Einleitung, der eigentlichen Weltgeschichte und seiner Autobiographie.

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Interessanter und wichtiger als die Geschichtsschreibung ist die mit zahlreichen soziologischen, religiösen und philosophischen Gedankengängen durchsetzte Einleitung ("Muqaddimah"). Beeinflusst von Aristoteles und Ibn Ruschd definiert Ibn Khaldun den Menschen als politisches Wesen und entwickelt die Idee von Geschichte als einem zyklischen Phänomen, das sich stets in "Wellenbewegungen" wiederholt. In der Muqaddimah untersucht der größte islamische Historiker immer wieder die Frage nach Ursache und Wirkung von historischen Ereignissen und präsentiert in einer interessanten Theorie, inwiefern Zivilisation und Gesellschaftsstruktur abhängig sind von Klimafaktoren.

Das außergewöhnlich Moderne am Geschichtsverständnis des Ibn Khaldun (und zugleich der Punkt, der zu den heftigsten Kontroversen führt) ist seine zentrale und alles durchdringende Behauptung, dass der Erfolg und Misserfolg von Staaten, die zyklische Entwicklung von Aufstieg und Niedergang der Zivilisationen bestimmt seien durch die Intensität (Zunahme und Abnahme) ihrer "Asabiya".

Dieser von Ibn Khaldun quasi neu erfundene Begriff ist aufgrund seiner Komplexität kaum korrekt zu übersetzen.

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Umschreiben könnte man seine Bedeutung mit "solidarischem Gruppengeist mit einheitlichem Wertekodex". Der Gelehrte, der so viele verschiedene Staaten und Kulturen in Afrika, Europa und Asien kennen gelernt hat, kommt zu dem Schluss, dass die "Asabiya" in nomadischen Gesellschaften stärker ausgeprägt ist und zum Aufstieg führt (Eroberungen), während sie nach der Sesshaftigkeit eines Volkes nachlässt (Dekadenz). Ein Schlüsselsatz in Ibn Khalduns Muqaddimah lautet: "....die Nomaden neigen stärker zum Guten als die Sesshaften." Denn nach einer Blütezeit würden sich in sesshaften Gesellschaften Werteverfall, Luxus, Verschwendung und Dekadenz breit machen, die der Anfang vom Ende seien und den Niedergang einleiten würden, während die Nomaden aufgrund strengerer Sitten, größeren Zusammenhalts und Solidarität erfolgreich expandieren könnten. Nach der Sesshaftigkeit steht ihnen jedoch das gleiche Schicksal bevor, wie den von ihnen besiegten Völkern. Die besten Beispiele dafür, dass diese Theorie zutreffend sein kann, fand Ibn Khaldun in seiner unmittelbaren Umgebung. Die Almoraviden und später die sie besiegenden Almohaden kamen als Nomaden aus den Wüsten des Maghreb, eroberten innerhalb kürzester Zeit ganz Nordafrika und die Südhälfte Spaniens, wo sie jeweils ein Reich gründeten, das aber innerhalb weniger Jahrzehnte zerfiel. Beide Bewegungen wurden anfangs dominiert von islamischen Mönchskriegern und geprägt von tiefer Religiosität, strengen Sitten und Solidarität (Asabiya), während sie sich nach dem Sieg in ihren Hauptstädten Marrakesch und Sevilla immer mehr dem Genuss und Luxus hingaben, was schließlich in Spanien die Reconquista beschleunigte und zur Niederlage ihrer ebenso glanzvollen wie kurzlebigen Staaten führte.

Mit dem Begriff der Asabiya als Messpegel für die Erfolgsaussichten und Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft lassen sich nicht nur historische Phänomene der Vergangenheit erklären.

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Richtig spannend wird es, wenn wir uns ganz aktuell in der Leitkultur-Debatte die Frage stellen, wie es denn um unsere "Asabiya" bestellt ist - in Deutschland, in Spanien und Europa. Diese Diskussion wurde u.a. von Prof. Bassam Tibi angeregt, der eine europäische Leitkultur als Asabiya fordert, die weniger durch religiöse, als vor allem durch bürgerrechtliche und humanistische Werte geprägt sein sollte. Spätestens bei der Anwendung des Asabiya-Begriffs auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen wird deutlich, was für ein universaler Geist Ibn Khaldun war. Seine Beobachtungen zur Asabiya orientierten sich zwar zunächst an der Geschichte von Berberstämmen, sind aber mit Einschränkung durchaus übertragbar auf die Dynamik von Aufstieg und Niedergang von Zivilisationen in allen Ländern und Epochen.

Die Ausstellung
Es hätte kaum einen passenderen Ort für die große Ibn Khaldun Ausstellung anlässlich seines 600. Todestages geben können als die Palasthallen des Alcázar von Sevilla, wo sich eine der entscheidenden Szenen seines Lebens abspielte - der Ort des Zusammentreffens des arabischen Geschichtsphilosophen mit dem kastilischen König Pedro.

Welcher Stellenwert dieser Ausstellung beigemessen wird, demonstrieren nicht nur die Kosten von fast drei Millionen Euro, sondern auch die Tatsache, dass zur Eröffnung 15 Regierungschefs aus fast allen arabischen Staaten von Marokko bis Oman sowie das spanische Königspaar anwesend waren.

Die Ausstellung mit dem Titel "Auge y declive de los Imperios - el Mediterráneo en el Siglo XIV" (Aufstieg und Niedergang der Reiche - der Mittelmeerraum im 14. Jahrhundert) besteht aus drei Bereichen:
1. Ibn Khaldun - sein Leben und Werk
2. Der Mittelmeerraum im 14. Jahrhundert als Raum der Begegnung zwischen islamischen und christlichen Mächten (Wirtschaftsbeziehungen, Kulturaustausch)
3. Sevilla und Andalusien im 14. Jahrhundert

Die Ibn Khaldun Ausstellung ist noch bis zum 30. September 2006 in Sevilla zu sehen, danach wandert sie ins Gebäude der Vereinten Nationen nach New York.

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Empfehlung: Die Ausstellung kann auch nachts besichtigt werden (20.00 - 24.00), was wegen der extremen Mittagshitze in Sevilla sehr sinnvoll ist.
Öffnungszeiten: Mo -Sa 9.30 - 19.30 und 20.00 - 24.00
So 9.30 - 17.30 und 18.00 - 24.00
Eintrittspreis: 7 Euro


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[art_2] Brasilien: Gott oder der Teufel im Sertão von Minas
Auf den Spuren Guimarães Rosas

"Gott lacht so manches Gelächter…"
Wem dienen wir, Gott oder dem Teufel? Wer bestimmt unser Leben, gibt uns die Richtung vor, die wir aus irgendeinem Grund einschlagen? Wer führt uns durch die Orientierungslosigkeit hindurch zur Seelenrettung?


Der Sertão, lässt Guimarães Rosa seine Romanfigur Riobaldo in "Grande Sertão: Veredas" erzählen, ist ein Ort, an dem die Viehweiden keine Begrenzungen haben, wo man zehn oder fünfzehn Léguas zurücklegen kann, ohne auf einen Menschen oder eine Hütte zu stoßen. Ein Ort, an dem Banditen wie Gott über Leben und Tod entscheiden, ohne von irgendeiner weltlichen Autorität aufgehalten zu werden.


Der Sertão ist der Schauplatz von Rosas Epos, eine Ebene, die der Protagonist Riobaldo durchquert wie einst Odysseus das Meer. Ähnlich dem Griechen ist Riobaldo hineingeworfen in eine Welt, die er nun auf der Suche nach einem Sinn durchschreitet.


Riobaldo ist ein jagunço, eine Mischung aus Viehhirte, Auftragskiller und Tunichtgut, der mit seiner Bande den Sertão des nördlichen Minas Gerais durchstreift. Und überall lauert der Teufel, ein übler Fallensteller, der Riobaldo und seinen Männern in den verschiedensten Formen erscheint: mal in Tier-, mal in Menschengestalt. Und mal als Schwarzer, mal als Indianer. "Die Indianer haben die größte Teufelsdosis in sich…" Im Sertão sagt man, dass es der Anteil an Indianerblut sei, der die Caboclos, die Menschen des Sertão, so jähzornig werden lässt. "Gott ist die Gelassenheit. Das Gegenteil ist der Teufel."


Ist es vielleicht der Teufel, mit dem Riobaldo einen Pakt geschlossen hat und der ihm zur Seite steht? Inmitten der von der unerbittlichen Sonne vertrockneten Natur irrt der Mensch scheinbar ziellos umher; stets bemüht, der ausgedörrten Erde sein Überleben abzutrotzen. "Der Sertão ist eine Strafe, ein Verbrechen. Im Sertão muss ein Mann einen starken Nacken und eine große Hand haben."


"Die ganze Welt ist verrückt, alle. Der Herr, ich, wir, alle Menschen. Deshalb benötigt man so sehr die Religion: um sich die Verrücktheit aus dem Leibe zu ziehen, den Irrsinn. Das Beten heilt vom Wahnsinn."


Doch wo Gott ist, muss zwangsläufig auch der Teufel sein. "Was nicht Gottes ist, gehört dem Dämon. Gott existiert selbst dann, wenn es ihn nicht gibt. Aber der Teufel muss nicht erst existieren, damit es ihn gibt - wenn die Menschen denken, dass es ihn nicht gibt, reißt er alle Macht an sich. Die Hölle ist ein endloses Etwas, das man nicht sehen kann."


"Der Teufel schreitet durch die Straßen, inmitten des Strudels…"


Lebensadern
"Nur der Rio São Francisco, der Chico, ist ein Fluss. Der Rest sind Veredas."
Wie Lebensadern durchziehen die Veredas den Sertão; kleine Flussläufe, verdeckt von üppigem Gestrüpp, Bäumen und Palmen. Sie halten Mensch und Vieh in der staubtrockenen Savanne am Leben. Ihnen folgt man, will man überleben. Sie geben die Richtung vor in einer ansonsten orientierungslosen Umgebung.


Riobaldos Leben ist ein ständiger Kampf. "Mein Glück lebend, voll Kämpfe und Kriegen!" Mit seinen Männern, darunter seinem treuen Begleiter Diadorim, durchzieht er das nördliche Minas Gerais. Mit Diadorim verbindet ihn eine leidenschaftliche Liebe, die jedoch rein platonischer Natur zu sein scheint. Gemeinsam sucht man den Banditen Hermógenes, der Diadorims Vater tötete. Riobaldo ist auf Rache aus.


"Hermógenes - er tut einem Leid, und macht gleichzeitig Angst. Ich hatte eine Vorahnung: mit dem Teufel darf man kein Mitleid haben, […] Denn er ist unheilbar irre. Eine Gefahr. Und damals war auch ich vollkommen verwirrt." Ist der mordend umherziehende Riobaldo selbst etwa vom Teufel besessen? Die Pferde scheuen vor ihm, ein untrügliches Zeichen?


Rosas Erzählung, die vor 50 Jahren erschien und den Autor zu Brasiliens berühmtestem Schriftsteller emporsteigen ließ, ist Riobaldos Lebensbeichte, mit der der Bandit sich am Ende seines Lebens vielleicht seine Absolution erhofft hatte.


Riobaldo ist eine Figur von faustischen Ausmaßen, hin und her gerissen zwischen dem Guten und dem Bösen. Im Gegensatz zu Goethes Mephistopheles ("Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.") meint Riobaldo jedoch: "Zu leben ist sehr gefährlich… Das Gute zu sehr zu wollen, ohne zu wissen wie, kann leicht das Schlechte hervorrufen."


Erst die Liebe zu seinem Gefährten Diadorim gibt Riobaldos Leben Sinn. Zu spät erkennt er den Grund seines rastlosen Treibens. Im apokalyptischen Endkampf gegen Hermógenes und dessen Bande in dem Dorf Paredão, der "großen Wand", stirbt Diadorim, Riobaldos geliebter Freund. Als er dessen aufgebahrten Körper sieht, erkennt er, dass es sich bei dem vermeintlichen Gefährten in Wahrheit um ein Mädchen handelt. Vielleicht ein hermaphroditisches Wesen in diesem brasilianischen Epos?


Aber die Liebe zu Diadorim hat ihn erlöst. Hat ihn rastlos und - scheinbar ziellos - durch die Welt ziehen lassen. Doch seine Suche hat ihr Ziel gefunden. Denn die Seele ist nur durch die Liebe zu retten.


Riobaldo beschließt, das Banditenleben hinter sich zu lassen und sich zurück zu ziehen. "Dass Gott existiert - ja… Er existiert - aber nur durch die Taten der Menschen: die guten und die bösen… Der große Sertão ist eine potente Waffe. Und Gott ist der Abzug?"

Und er schließt seine Erinnerungen ab: "...für mich ist klar: der Teufel existiert nicht. […] Es gibt nur menschliche Menschen." Und "der Sertão ist weder böse noch barmherzig… Er nimmt oder gibt, gefällt oder verbittert dich, abhängig davon, wie du selbst es willst."

Nur Du alleine kannst entscheiden, was das Leben für Dich bedeuten soll.

Text + Fotos: Thomas Milz

Das Buch: João Guimarães Rosa: Grande Sertão





[art_3] Mexiko: Baja California Sur - Teil 2 [Teil 1]
Tausend Meilen bis ans Ende der Welt

Am achtundzwanzigsten Breitengrad markiert ein großer Militärposten das Ende des nördlichen Teilstaats der Baja und den Beginn des südlichen. Da die Reise nicht nur nach Süden sondern auch nach Osten geht, endet hier die Zeitzone, und die Uhr wird eine Stunde vorgestellt.

Direkt hinter der Grenze liegt Guerrero Negro, benannt nach dem Wrack eines Walfängers aus Massachusetts. Es ist eine wenig attraktive Industriestadt, die größtenteils errichtet wurde, um die Arbeiter der Exportadora de Sal, einer Firma für Meersalzgewinnung, unterzubringen. Ein Abstecher kann sich dennoch lohnen, wenn man zwischen Dezember und April unterwegs ist. In diesem Zeitraum bringen die kalifornischen Grauwale in der angrenzenden Laguna Ojo de Liebre - auch Scammon’s Lagoon, benannt nach einem Kapitän des 19. Jahrhunderts, der dort als erster auf Walfang ging - ihre Jungen zur Welt.

Für US-$40 kann man mit einem panguero - dem Besitzer eines panga, eines kleinen Segelbootes - hinaus auf die Lagune fahren und mit ein bisschen Glück einen neugeborenen Grauwal streicheln.

Jenseits von Guerrero Negro führt die Carretera Transpeninsular schnurgerade nach Südosten. Dieser Abschnitt der Reise, quer durch die Desierto de Vinzcaíno, ist lang und ermüdend. Immer wieder bedeckt Staub die Straße, und ab zu fegt trockenes Gebüsch über sie hinweg. Das Land ist flach, soweit das Auge reicht. In der flimmernden Ferne drehen sich remolinos - kleine Windhosen - und verschwinden nach ein paar Minuten im Nichts. Alle paar Kilometer kommt mir ein einzelner verbeulter Toyata Pick-up entgegen. Ich beginne zu verstehen, was Glenn Frey meinte, als er für die Eagles in Take it Easy sang: "Don’t let the sound of your own wheels drive you crazy."

Schließlich geht es hinauf in die Hügel um die Oase San Ignacio, und nach einer weiteren Stunde erscheint hinter einer Straßenbiegung zum ersten Mal das Meer von Cortés, der schmale Golf, der die Halbinsel vom mexikanischen Festland trennt. Seine Färbung ist nicht die des Thunfischwassers um Ensenada, vielleicht weil der Golf nahezu bewegungslos ist. Es ist ein satteres, wärmeres Blau, das unter den braunroten Steilküsten ein bisschen ins Grünliche hinein schimmert. Eine Gruppe Pelikane streicht über das Wasser. Einer nach dem anderen kippen die Vögel senkrecht ab und stoßen mit angelegten Flügeln ins Meer. Sie sind aus gutem Grund hier. Das Meer von Cortés ist bekannt für seinen Fischreichtum und deshalb ein Paradies sowohl für Pelikane als auch für Sporttaucher.

Die Carretera Transpeninsular folgt der Küste, und bald erreiche ich den kleinen Ort Mulegé, der nach der Fahrt durch die Wüste wie ein tropisches Paradies wirkt. Mangroven und Tausende von Palmen säumen einen kleinen Fluss.

Ich besichtige die gut restaurierte Misión Santa Rosalía und trinke eine taza de café, die so stark ist, dass ich sie fast kauen muss.

Dann mache ich mich wieder auf den Weg, denn bis Loreto habe ich noch zwei weitere Stunden Fahrt vor mir. Obwohl es schon später Nachmittag ist, kann ich jedoch dem Anblick eines der weißen Sandstrände, die sich in langen Buchten die Küste hinunterziehen, nicht widerstehen und fahre ab.

Am Strand treffe ich June und Bruce, die auf Klappstühlen unter einer improvisierten Mansarde vor einem General Motors-Kleinbus sitzen. Bruce ruft etwas, das wie: "Hey, gringo, how’s California doin’?" klingt. Offensichtlich hat er mein Nummernschild gesehen.
"Last time I checked it was doin’ fine", sage ich, während ich auf die beiden zugehe.
"Didn’t check too hard, did ya?", fragt June.
Wir kommen ins Gespräch. June reicht mir eine Dose Tecate-Bier. Sie trägt eine Kette aus Halbedelsteinen um den Hals und hat ihr strohblondes Haar mit einem Piratentuch zurückgebunden. Ich erfahre, dass sie ihr Geld als Massagetherapeutin in Venice Beach verdient. Bruce steckt in Shorts und einem ausgebleichten Army T-Shirt und hat sein Äußeres in allen anderen Belangen dem von Bob Marley so weit angenähert wie es einem weißen Mitvierziger aus den südlichen Vororten von Los Angeles möglich ist. Auf meine Frage, was er beruflich macht, lautet die Antwort: "I live off the fat of the land", was in etwa zum Ausdruck bringt, dass er das sich Sorgen machen dem lieben Herrgott überlässt.

Die beiden laden mich zum Essen ein. Während zwei Brown Rockfish, die Bruce von einem Schlauchboot aus geangelt hat, in der Pfanne über dem Holzkohlenfeuer braten und ein appetitanregendes Aroma verbreiten, erzählt June, dass Bruce und sie schon seit Jahren so oft sie können nach Baja fahren. Sie ist Asthmatikerin, Bruce war 1992 bei Desert Storm dabei und leidet seitdem unter dem sogenannten Gulf War-syndrome.
"LA is killing us both", stellt er nüchtern fest, während er den Fisch wendet.
"Why do you stay?"
"I don’t, do I?"
June zuckt die Schultern. "It might be smog central, but it’s home."
Der Fisch ist hervorragend. Bruce hat jedoch nicht am Knoblauch gespart. Ich bin froh, dass ich heute keine sozialen Verpflichtungen mehr habe. Auf einmal muss ich gähnen. June meint, sie hätten noch einen Schlafsack im Bus, falls ich die Nacht am Strand verbringen möchte. Aber ich will nach der langen Fahrt auf Dusche und Bett nicht verzichten. Ich bedanke mich noch einmal und sage, sie sollten hier unten "the good ole US of A" nicht völlig vergessen. "Fat chance", lächelt June. Während ich zum Auto gehe, ruft mir Bruce den spanischen Abschiedsgruß nach: "Que te vaya bien!" - Auf dass es Dir gut gehen möge! Dann setzte er noch ein "Gringo!" hinzu.

Auf den letzten fünfzig Kilometern, die ich im Halbdunkel fahre, nehme ich ein paar Schlaglöcher mit, aber dafür fühlt sich mein Bett umso besser an.

Am Morgen schaue ich mir Loretos weißgetünchtes Rathaus aus dem 19. Jahrhundert an und die berühmte Mission, von der aus die Landnahme der Patres und Rancheros begann.

Ich bin am historischen Ausgangspunkt Kaliforniens angelangt. Während ich im Klostergarten herumgehe und die Eidechsen beobachte, die sich auf den Steinen sonnen, frage ich mich, ob sich die frommen Mönche in ihren schlimmsten Alpträumen hätten ausmalen können, was die Welt einmal mit dem Wort California assoziieren würde: Hollywood-Glanz und Star-Glamour, Schönheit und Hedonismus, zehnspurige Autobahnen und schnelles Geld. Sie hätten es ahnen können. 1510 hatte der spanische Schriftsteller Garci Rodríguez de Montalva in einem Teilstück seines Amadis de Gaula ein fabelhaft reiches, sehr irdisches Paradies beschrieben, über das die wunderschöne Königin Calafia herrschte.

Königin Calafia stand Patin als Kalifornien seinen Namen erhielt, und in vielerlei Hinsicht hat ihr Erbe triumphiert, nicht das der Männer Gottes, die es auf sich nahmen, hier am Rande der bekannten Welt die Heiden zu missionieren.

Die geschichtliche Spurensuche mag zu Ende sein, doch ich habe noch eine weite Wegstrecke vor mir. Von Loreto führt die Straße zurück nach Westen, dann nach Süden durch das flache Agrarland um die Städte Ciudad Insurgentes und Ciudad Constitución, wo unter pipelineartigen Bewässerungsanlagen Gemüse für den mexikanischen und US-amerikanischen Markt angebaut wird. Dann geht es weiter durch die Wüste Richtung La Paz, ursprünglich das Zentrum der Perlenfischerei in Baja. Heute ist La Paz eine Universitätsstadt mit starker wirtschaftlicher und touristischer Bindung zum Festland. Viele der Spaziergänger auf dem malecón, der Uferpromenade, sind Festlandsmexikaner, die hier ein paar Tage ausspannen. Ich mache Halt und löffele eine Schüssel ceviche, ein erfrischendes Gericht aus in Zitronensaft eingelegtem rohen Fisch, Zwiebeln und Tomaten.

Der Zipfel von Baja, der sich südlich an La Paz anschließt, hat mit dem äußersten Norden der Halbinsel vor allem drei Dinge gemein: Er ist gut erschlossen, relativ dicht bevölkert und seine Tourismuswirtschaft zielt auf ausländische Gäste - allerdings solche mit einer dicken Brieftasche.

Wie eine Schlaufe legen sich die Carretera Transpeninsular, die bis Cabo San Lucas reicht, und die Mex 19, die am Pazifik entlang zurück nach La Paz führt, um das Hochland der Sierra de la Laguna. Der Rundkurs ist eine interessante Tagestour. Während man an den Villensiedlungen vorbeikommt, die zwischen San José del Cabo und Cabo San Lucas die Küste säumen, könnte man meinen, an der Côte d’Azur zu sein - wären da nicht die Schilder, die für das Marlin-Angeln werben. Wem nicht der Sinn nach einem Kampf mit einem fünfhundert Pfund schweren Schwertfisch steht, kann an den Pools von Nobelhotels liegen, kite-surfen oder auf einem der zahlreichen Golfplätze an seinem Handicap arbeiten.

Ich erreiche Cabo San Lucas gegen Abend. Die Stadt ist voller amerikanischer und asiatischer Touristen. Es riecht nach Geld. Im Hafen reihen sich blendend weiße Motorjachten aneinander, und auf den Straßen fahren elegant leger gekleidete Menschen deutsche Sportwagen.

Ich spaziere hinaus zu einem der hellgelben Sandstrände. Vor mir vereinen sich das Meer von Cortés und der Pazifik zu einer Unendlichkeit von Wasser. Richtung Süden ist das nächste Land die Antarktis.

Während die untergehende Sonne das Meer rot färbt, drehe ich mich um und schaue zurück nach Norden. Ich habe mir ein paar Sehenswürdigkeiten für den Rückweg aufgespart, so etwa das im französischen Kolonialstil erbaute Santa Rosalia und die prähistorischen Höhlenmalerein in der Nähe von El Rosario. In vier Tagen werde ich wieder im Golden State, dem US-Staat Kalifornien, sein.

Für einen Moment denke ich, dass dort nicht das wahre California liegt, nur Alta California. Hier in Cabo ist auch nicht das wahre California. Das wahre California liegt dazwischen.

Text + Fotos: Martin Rosenstock

Literaturtipp: Wer nach Baja aufbricht und des Englischen mächtig ist, sollte unbedingt vorher Bruce Bergers Liebeserklärung an die Halbinsel, Almost an Island (University of Arizona Press, 1998), lesen. Der Autor hat Baja California fast drei Jahrzehnte lang bereist, kennt Land und Leute wie kein Zweiter und schreibt mit dem Wissen und der Begeisterung eines wahren fanático.





[art_4] Kuba: Revolutionäre gehen nie in Pension
Fidel Castro wird 80 Jahre alt - beinahe

"Verurteilt mich, die Geschichte wird mich freisprechen", sagt Fidel Castro am 16. Oktober 1953 in seinem Schlussplädoyer, als er sich für den Putschversuch gegen das Regime des kubanischen Diktators Fulgencio Batista vor Gericht verteidigen muss.

Nur ein knappes Vierteljahr vorher hat der kubanische Anwalt 130 Männer versammelt, um die Moncada-Kaserne zu stürmen und so die Revolution zu beginnen. Der Versuch scheitert und am Ende des Prozesses verurteilt ihn das Gericht zu 15 Jahren Zuchthaus. Doch nach nur zwei Jahren Haft kommt Castro frei und gründet die Bewegung des 26. Juli (M-26-7). Seine Strategie: Den bewaffneten Kampf gegen den Diktator mit geheimen Kampftruppen im Untergrund fortzuführen. Fidel Castro, der noch wenige Jahre zuvor seinen Doktortitel in Rechtswissenschaft erworben hat, wird endgültig zum Guerillero.

Um die Zusammenhänge zu verstehen, hilft ein Blick in seine Kindheit: Fidel wird als uneheliches Kind am 13. August 1927 auf einer Zuckerrohrplantage nahe der Ortschaft Biran geboren. Seine Mutter ist eine einfache Arbeiterin, sein Vater der Plantagenbesitzer. 1942 lässt er seinen Vater seine Geburtsurkunde auf das Jahr 1926 fälschen, um am Jesuitenkolleg angenommen zu werden. Später studiert er Jura in Havanna und dort erwacht auch sein politisches Interesse.

Von ihrer Gründung 1947 an ist Castro Mitglied der Revolutionären Jugend der Kubanischen Volkspartei, später "Orthodoxe Partei", für die er bei den für 1952 geplanten Parlamentswahlen kandidiert. Da Batista jedoch zuvor putscht, finden die Wahlen erst gar nicht statt - und Fidel zettelt den Sturm auf die Moncada-Kaserne an.

Ein paar Wochen nach seiner Haftentlassung wird Castro aus Kuba ausgewiesen und geht mit 82 Gleichgesinnten nach Mexiko ins Exil. Dort trifft er auf Ernesto "Ché" Guevara. Gemeinsam brechen sie Ende 1956 mit dem Boot "Granma" nach Kuba auf, und Castro führt als Comandante en Jefe (Befehlshabender Kommandant) die Rebellenarmee M-26-7 an. Nach über zwei Jahren Guerillakrieg gegen die zahlenmäßig weit überlegene Batista-Armee flüchtet der Diktator schließlich am 1. Januar 1959 mit der Staatskasse aus Kuba.

"Was gut für mich ist, ist auch gut für Kuba"
Castro übernimmt neben der militärischen nun auch die politische Führung der Insel und lässt sich von der Bevölkerung als Befreier und Schöpfer eines neuen sozialistischen Kuba feiern. Tatsächlich aber regiert der Máximo Líder mit der Unterstützung Ché Guevaras bald selbst mit harter, diktatorischer Hand. Er verstaatlicht die Industrie und verwandelt privaten Großgrundbesitz in staatliche Kooperativen. Die Medien unterwirft er einer strengen Zensur. Auch heute noch werden auf Kuba Journalisten und Dissidenten mit Haftstrafen an ihrer Pressefreiheit gehindert. Die Insel gilt als weltweit größtes Gefängnis für Reporter. Die Bevölkerung hat nur schwerlich die Möglichkeit, sich im Internet unabhängig zu informieren: Der Kauf von Computern ist reglementiert und private Internetanschlüsse sind extrem teuer.

Biografen attestieren Castro eine besonders ausgeprägte Egomanie: "Was gut für mich ist, ist auch gut für Kuba", betont er immer wieder. Gegen seine Gegner lässt Castro Revolutionsgerichte vorgehen. Ausländisches Eigentum wird auf sein Geheiß nationalisiert. Die amerikanisch-kubanischen Beziehungen entwickeln sich - nach Castros eigenen Worten - zu einer "Kanonen-Diplomatie". Konsequenz: Er nähert sich zuerst wirtschaftlich, später auch politisch, immer enger den sozialistischen Staaten, vor allem der UdSSR, an. Als Folge dessen kommt es 1962 zur Kuba-Krise. Spätestens jetzt ist Castro der Lieblingsfeind der USA. Selbst Ché Guevara will dem pro-sowjetischen Kurs Castros nicht folgen. Die Differenzen zwischen den beiden Revolutionsführern spitzen sich zu. Und schließlich verlässt Ché Kuba im Juli 1964 in der Verkleidung eines Geschäftsmanns und reist in den Kongo.

Kuba aber lediglich als sowjetischen Satelliten zu betrachten, ist falsch: Vielmehr ist das Land lange Zeit ein oft unbequemer Alliierter der UdSSR. Dies ändert sich in dem Maße, in dem sich die wirtschaftlichen Bedingungen der Insel verschlechtern. Nachdem die Sowjetunion jahrzehntelang einen erheblichen Teil der kubanischen Zuckerernte zu Preisen über dem Weltmarktniveau abnehmen und Kuba großzügig subventionieren - durchschnittlich mit 4,5 Milliarden Dollar jährlich - übernimmt Castro für den kubanischen Staat immer mehr den politischen Stil.

Große und nachhaltige Erfolge erzielt er im Erziehungssektor. Sein erklärtes Ziel ist eine Bildungsgesellschaft. Waren 1953 noch 23,6 Prozent aller Kubaner über zehn Jahre Analphabeten, sind es 1999 gerade einmal drei Prozent. Noch im Jahr 2000 beträgt der Anteil der Staatsausgaben für Bildung knapp 18 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr gerade einmal 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Einen weiteren Schwerpunkt setzt der Staatschef in der Gesundheitspolitik, die eine kostenlose Versorgung aller Bürger erreicht. Nach wie vor steht Kuba im Bildungs- und im Gesundheitswesen an der Spitze aller Entwicklungsländer.

Ein erstes deutliches Signal der Unzufriedenheit in der kubanischen Bevölkerung ist die Massenflucht im April 1980 in die peruanische Botschaft. Nur sehr zögerlich lässt Castro 10.000 Bürger per Luftbrücke ausreisen. Bis heute sind insgesamt mehrere hunderttausend Kubaner in die USA geflohen. Reformen in Richtung Pluralismus, Mehrparteiensystem und repräsentative Demokratie lehnt Castro dennoch strikt ab.

Mehr als ein Jahrzehnt nach Ende des Kalten Krieges und Kubas wirtschaftlicher sowie politischer Isolation bekommt der Máximo Líder wieder Unterstützung. Sein militärischer und ideologischer Ziehsohn Hugo Chávez, Venezuelas populistischer Präsident, steht ihm spätestens ab 2004 tatkräftig zur Seite. Die beiden heben das lateinamerikanische Integrationsbündnis "Alternativa Bolivariana para las Américanas" (ALBA, was soviel wie Morgendämmerung bedeutet) aus der Taufe, um ihre Unabhängigkeit zu stärken. Zu diesem Bündnis gesellt sich Anfang 2006 auch Boliviens neuer Präsident Evo Morales.

Castro privat - eines der am besten gehüteten Geheimnisse
Sein Privatleben hat der Máximo Líder stets wie ein Staatsgeheimnis gehütet: Aus seiner geschiedenen Ehe mit Mirta Diaz-Balart hat er einen Sohn Felix Fidelito, der 1984 Direktor der kubanischen Atomenergiekommission wird. 1992 setzt er ihn aber wieder ab - angeblich wegen Unfähigkeit. Seine langjährige Revolutions- und Lebensgefährtin Celia Sanchez stirbt im Januar 1980. Zwanzig Jahre sollen sie zusammen gewesen sein. Aus einer kurzen, aber leidenschaftlichen Episode mit der angesehenen Arztfrau Natalie Fernández geht Castros uneheliche Tochter Alina Fernández Revuelta hervor, die in ihrer 1999 erschienenen Autobiographie mit dem ungeliebten Vater abrechnet. Erst Anfang der 90er Jahre wird bekannt, dass Fidel mit Dalia Soto del Valle - mit der er 35 Jahre verbracht haben soll - fünf Söhne hat. Deren Namen sollen alle mit A beginnen. Außerdem werden ihm sechs bis acht weitere uneheliche Kinder nachgesagt. Unbestätigten Presseberichten zufolge stehen dem Máximo Líder 32 Häuser in allen Regionen der Insel ständig zur Verfügung, dazu ein Heer von fast 10.000 Leibwächtern und zwei unterirdische Bunker.

Am 13. August nun wird Castro 80 Jahre alt - offiziell. Der kubanische Revolutionär ist länger als jeder andere Staats- oder Regierungschef an der Macht, und die Weltöffentlichkeit beobachtet seinen Gesundheitszustand aufmerksam, da nach seiner Ära mit grundlegenden Veränderungen zu rechnen ist. Ein Rücktritt als Staatschef steht nicht zu erwarten und seine Nachfolge ist heute noch offen: Sein Bruder Raúl galt zwar lange Zeit als Kronprinz.

Jedoch scheint in Kuba - insbesondere innerhalb der jüngeren Garde der Kommunistischen Partei - der Wunsch nach einem gemäßigten Neuanfang zuzunehmen. Raúl ist ein Hardliner und hat zu wenig Rückhalt in Staatsführung und Volk, um sich zu behaupten. Der große Bruder hat ihm zwar vorsorglich die Kontrolle über die Armee übertragen, die "Straßenmeinung" auf Kuba sieht allerdings allemal einen blassen Funktionär in ihm, der ohne Protektion rasch entmachtet würde. Zwei Wochen vor seinem Geburtstag legt Fidel Castro - der einmal gesagt haben soll: "Revolutionäre gehen nie in Pension" - vor seinen Landsleuten seine Zukunftspläne dar. Er wolle bis an sein Lebensende dafür kämpfen, "Gutes und Nützliches" zu tun. Die Nachwelt des Máximo Líder wird entscheiden müssen, ob die Geschichte ihn freisprechen kann.

Text: Lars Borchert
Foto: Thomas Milz
Buchcover: amazon.de
[Fidel Castro]
[Die Autobiographie des Fidel Castro]





[kol_1] Grenzfall: Königlich Nebel saufen
Kleine Geschichte des Tabaks

Die Suche nach Handelswegen und allerlei Gütern wie Gewürzen und vor allem Gold trieb im späten 15. Jahrhundert eine Menge so genannter Entdecker übers Meer gen Westen. Im Verlauf diverser Atlantiküberquerungen fanden daher so einige nützliche Dinge wie Tomaten, Mais und Kartoffeln ihren Weg nach Europa. Im Rückblick betrachtet echte Exportschlager, auch wenn ihr Wert in Europa erst im Laufe der nachfolgenden Jahrhunderte erkannt werden sollte.

In Bezug auf ihren Nutzen umstritten, damals wie heute, war und ist eine weitere Kulturpflanze aus der Karibik, die Tabakpflanze. "Ein Geschenk der Götter", meinten die recht entspannten Inselbewohner, die ihre Blätter rauchten. "Stinkendes Teufelszeug", wetterten dagegen von Beginn an die moralischen Autoritäten der Spanier.
Columbus jedenfalls schickte zur Erkundung der Insel Kuba zwei Weggefährten ins Landesinnere und diese berichteten von "Schornsteinleuten", Menschen, die riesige, gerollte Tabakblätter entzündeten, den "Rauch tranken" und dabei höchst vergnüglich ausschauten. Columbus allerdings war von dieser Sitte bei weitem nicht so angetan wie eben einer jener Reisegefährten, Rodrigo de Xerez, der sich das Rauchen bei der Gelegenheit gleich angewöhnt hatte. Zurück in Spanien wurde er dafür von der Inquisition in den Kerker gesteckt, denn wer Rauch aus Mund und Nase blies, konnte ja nur mit dem Teufel im Bunde stehen.

Zehn Jahre später, als sich das Rauchen auf der Halbinsel bereits fast so schnell verbreitet hatte wie ein weiterer Exportschlager aus der Neuen Welt, die Syphilis, kam de Xerez wieder frei und die Rauchgegner hatten für diesmal das Nachsehen.

Inzwischen war auch die Tabakpflanze selbst, importiert von einem weiteren forschungseifrigen Weggefährten Columbus`, dem Mönch Ramón Pane, bis nach Europa vorgedrungen. Mit ihren schönen kleinen und durchaus wohlriechenden Blüten wurde sie jedoch nur als Zierpflanze geschätzt, denn die Sitte des Rauchens, vor allem unter Matrosen verbreitet, galt weiterhin als verrucht und spaltete die Geister.

Gleichzeitig jedoch wollte man den angeblichen Heilwirkungen des Krautes auf den Grund gehen, womöglich hatte man ja "Braunes Gold" entdeckt! Während des Eroberungsfeldzuges von Mexiko wurde beobachtet, dass offene Wunden und Schwellungen mit Tabak behandelt wurden. Und Pane hatte schon früher berichtet, dass die einheimischen Kaziken manchen Kranken einen Brei aus Tabak verabreichten und das Erbrechen desselben die Krankheiten aus dem Körper vertreibe. Der spanische Historiker Oviedo y Valdés schrieb Anfang des 16. Jahrhunderts in seinem Buch über das Tabakrauchen: "Ich weiss, dass einige cristianos es schon gebrauchen, besonders einige, welche von der Lues (Syphilis) betroffen sind, denn sie sagen sich, dass sie in jenem verzückten Zustand die Schmerzen ihrer Krankheit nicht fühlen."

Die Ärzte in Europa waren natürlich begeistert und experimentierten freudig mit der Pflanze. Die moralischen Autoritäten jedoch, allen voran Bartolomé de las Casas, der erste Bischof in der so genannten Neuen Welt, wurden nicht müde, die Pflanze anzuprangern:

"Die Pflanze, deren Rauch die Indianer einziehen, ist wie eine Art Stutzen oder Fackel in ein trockenes Blatt hineingestopft [...]. Die Indianer zünden es auf der einen Seite an und saugen oder schlurfen am anderen Ende, indem sie den Rauch beim Atmen innerlich einziehen, was ihren ganzen Körper in gewissem Sinne einschläfert und eine Art Trunkenheit hervorruft. Sie behaupten, dass sie dann keine Müdigkeit mehr empfänden. Diese "mousquetons", diese Tabaccos, wie sie sie selbst nennen, sind auch schon bei den Ansiedlern in Gebrauch. Ich habe mehrere Spanier auf der Insel Hispaniola gesehen, die sich dieser Dinge bedienten und, als man sie wegen solch hässlicher Gewohnheit tadelte, antworteten, dass es ihnen nunmehr unmöglich sei, diese wieder abzulegen."

Zurück nach Europa. 1559 hörte Jean Nicot, ein französischer Gesandter am portugiesischen Hof von der Heilkraft des Tabaks. Das Geschwür eines Dieners heilte nach der Behandlung mit Tabak in nur wenigen Tagen ab und Jean Nicot, überzeugt, dass die mittlerweile sagenumwobenen Kräfte der Pflanze ihre Richtigkeit hatten, berichtete in aller Ausführlichkeit an Katharina von Medici. Und diese, nachdem ihr Sohn, der später unter dem Namen Karl IX in die Geschichte eingehen sollte, per Schnupftabak Erleichterung für seine Kopfschmerzen fand, machte den Tabak salonfähig. Daraufhin wurde das Kraut auch einige Zeit "herbe de la médicée", Kraut der Medici, oder auch Kraut der Königin genannt. Nicot selbst war nur an den Heilkräften, und nicht am Rauchen interessiert. Dennoch wurde ihm und seiner überzeugenden Öffentlichkeitsarbeit zu Ehren das im Kraut enthaltene spezifische Alkaloid später Nikotin genannt und der botanische Name dieses Nachtschattengewächses lautet bis heute nicotiana.

Und so wurde nicotiana in Gelehrtenkreisen bald als Heilpflanze gegen Würmer, Krätze, Zahnfleischschwellungen, Kopfschmerzen und Hühneraugen, gegen Kurzatmigkeit, Husten und Wassersucht und sogar gegen die Pest gepriesen und in ganz Europa verbreitet. Gleichzeitig fand das Rauchen, von den Hafenstädten ausgehend, immer mehr Anhänger und natürlich Feinde. Aber ihre Verbotsversuche setzten sich nicht durch. Wo immer man Menschen das erste Mal rauchen sah, war das Erstaunen groß und ebenso die Unbeholfenheit, auszudrücken, was das eigentlich sei. Man behalf sich bis zur Erfindung des Wortes "rauchen" im 17. Jahrhundert mit "Tabak trinken", oder, wie ein eifriger Gegner im deutschen Sprachraum wetterte, mit "elenden Nebel saufen". Sir Walter Raleigh wurde, als er von seinem Diener zum ersten Mal schmauchend mit seiner Pfeife gesehen wurde, mit einer großen Bierkanne über den Kopf gegossen, weil der Diener glaubte, sein Herr sei in Brand geraten.

In Deutschland breitete sich die Gewohnheit des Rauchens übrigens durch die Soldaten im 30-jährigen Krieg aus: In einem kleinen Büchlein von 1667 schreibt Jacob Christoph von Grimmelshausen über die Soldaten: "Teils saufen sie den Tabak, andere fressen ihn, und von etlichen wird er geschnupft, also dass
mich wundert, warum ich keinen gefunden, der ihn auch in die Ohren steckt."

Aber noch mal zurück nach England. Traditionell auf Distanz zu den Errungenschaften auf dem Kontinent blieb das Land gegenüber den Gelehrtenschriften und neumodischen Erscheinungen am französischen Hof zunächst ungerührt. Umso lebhafter aber war die Begeisterung, mit der die Engländer zwei Jahrzehnte später den Rauchgenuß aufnahmen, als sie ihn durch ihre eigenen Kolonien in Amerika kennen lernten.

Der erwähnte Sir Walter Raleigh, seines Zeichens bekannter englischer Seefahrer wurde 1586 von Freunden mit Tabak aus Virginia beschenkt. Er steht in der Literatur dafür, dass er das Tabakrauchen in die englische Öffentlichkeit trug und hoffähig machte, was schließlich zum gewerblichen Tabakanbau auf der ganzen Welt führte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt waren Verbotsversuche aller moralischen Autoritäten zum Scheitern verurteilt. Sogar die hohe Geistlichkeit und Landesfürsten in Europa brachen die Verbote, aber die wachsenden Steuererträge trösteten durchaus über die moralische Niederlage hinweg.

Raleigh selbst war übrigens nicht im Mindesten an den Medizinalkräften des königlichen Krautes interessiert. Er war schlicht in seine Pfeife vernarrt - so vernarrt, dass er sie auch nicht aus dem Mund nahm, als er im Londoner Tower das Schafott bestieg.

Das spätere kleine Loblied von Johann Sebastian Bach hätte ihm sicher gefallen:

Wenn Du die Pfeife angezündet,
so sieht man, wie im Augenblick,
der Rauch in freier Luft verschwindet
nichts als die Asche bleibt zurück,
so wird des Menschen Ruhm verzehrt
und dessen Leib in Staub verkehrt.

Ich kann bei so gestalten Sachen
mir bei dem Tabak jederzeit
erbauliche Gedanken machen.
Drum schmauch ich voll Zufriedenheit
Zu Land, zu Wasser und zu Haus
Mein Pfeifchen stets in Andacht aus.

(aus: Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach, 1725)

Text: Alexandra Geiser





[kol_2] Macht Laune: Tigre Delta - das etwas andere Buenos Aires

Anlässe zum Feiern gibt's in Argentinien - wie sonst auch auf dieser Welt - ja genügend. Diesmal war es allerdings ein besonders angenehmer: Nach einem schweren Motorradunfall und der damit verbundenen zweiwöchigen Pause im Krankenhaus, hatte mein Freund Rodrigo in sein elterliches Haus zum Asado eingeladen. Der einzige Haken an der Sache: das elterliche Häuschen liegt im beschaulichen Tigre Delta und man muss mit einem kleinen Boot durch die unzähligen verzweigten Flussarme des Rio de la Plata.

Das Haus befindet sich dann irgendwo auf einer der kleinen Inseln. "Du sagst einfach dem Bootsführer, dass Du zwei Haltestellen nach der Apotheke an Land gehen möchtest."

Ich habe Rodrigos Worte noch genau im Ohren, aber ich war schon mal im Tigre Delta und hab da so meine Befürchtungen.

Ich breche also extra ein bisschen früher ins Delta auf. Die einfachste und schnellste Möglichkeit ist der Zug vom Plaza San Martin aus. Sehr angenehm, denn zum einen kann man da ein wenig lesen oder einfach nur die Leute beobachten. Und zum anderen geht das wirklich fix. Irgendwo besteht noch die Möglichkeit in eine grüne Touristengondel einzusteigen, aber dazu habe ich nun absolut gar keine Lust. Das wirklich Schöne am Zugfahren in Buenos Aires ist, dass tatsächlich jeder mit diesem Transportmittel unterwegs ist. Der Banker, die Putzfrau, der Arbeitslose, der Yuppie, das schulpflichtige Kind. Hier treffen sie sich alle.

Einer der berühmtesten Züge ist der tren blanco, der weiße Zug. Das hat aber nichts mit irgendwelchen Rassenzugehörigkeiten zu tun - in Argentinien weist die indigene Bevölkerung ohnehin nur einen Prozentsatz von kleiner gleich einem Prozent auf - sondern es ist der Zug der cartoneros, die in Buenos Aires für kleines Geld die Kartons von den Straßen sammeln und weiter verkaufen. Ich habe mal eine Dokumentation, in die ich zufälliger Weise hineingeschlittert bin, über diesen Zug gesehen. Die suchten da nach Ausländern, denen sie diese "etwas andere Attraktion" der Stadt zeigten und dann deren Reaktionen filmten. Nun ja, den tren blanco hab ich nicht genommen. Da fährt auch kein Normalbürger mit. Ich hab stattdessen die ganz normale Bummelbahn nach Tigre genommen, allerdings weder gelesen noch irgendwen beobachtet, sondern einfach geschlafen.

Die Sonne ist noch relativ stark um fünf Uhr nachmittags und ich schlendere gemächlich zur Ablegestelle der lanchas, der kleinen Boote, die uns zu den einzelnen Inseln bringen.

Vorher esse ich noch eine kleine enchilada bei einem der Kioske um die Ecke, wo am Wochenende normalerweise der Markt stattfindet. Jetzt ist nicht mehr viel los. Die Touristen sind schon nach Hause gegangen und nur ein paar Hunde dösen in der Abendsonne. Die Bootsanlegestelle selber kann man nicht verpassen. Man folgt einfach dem Geruch. Es ist nicht bösartig, wenn man sagt, dass es im Tigre Delta stinkt. Es ist einfach die Wahrheit. Gerade da, wo sich die Hauptanlegestelle befindet, steht das Wasser scheinbar schon seit dreißig Jahren, ist richtig braun und mit viel gutem Willen, schenkt man den Einheimischen auch Glauben, dass das vom eisenhaltigen Erdreich kommt. Bisweilen zweifle ich daran.

Mein Fahrschein ist gelöst und ich habe Glück, weil das nächste Schiff schon in ein paar Minuten aufbricht. Zusammen mit den Porteños geht es an Deck des überdachten Schiffchens. Vorwiegend Frauen sehe ich, die die Hände voller Einkaufstüten haben und den täglichen Klatsch und Tratsch austauschen. Ein paar Arbeiter in ihrer Arbeitskleidung und ich mittendrin. Ich gehe zum Kapitän und erkläre ihm, wo ich ungefähr hin will. "Na klar, kein Problem, setz Dich hin und genieße die Fahrt."

Von Genuss kann allerdings keine Rede sein, als wir in Richtung Hauptarm des Rio de la Plata fahren, vorbei an alten rostigen Schiffen und hinein ins Wasserlabyrinth.

Zumindest der Gestank verflüchtigt sich und ich sehe den Ruderern zu, wie sie gegen die Wellen unseres Schiffes ankämpfen. Ich erinnere mich an einen alten Zeitungsartikel über einen tragischen Unfall. So ein dreiviertel Jahr wird es wohl her sein. Eine der lanchas hat ein mit Jugendlichen voll besetztes Ruderboot in der Dämmerung gerammt. Vielleicht war es auch schon Nacht. Von den acht Personen haben drei dabei ihr Leben gelassen. Im Anschluss daran gab es heftige Debatten darüber, wie man in Zukunft solche Unfälle vermeiden könne. Später stellte sich heraus, dass der Bootsführer der lancha ein paar Bier zuviel hatte. Damit war die Sache abgehakt. An den Booten selber hat sich jedenfalls nichts geändert, ich sehe weder ein aufgestecktes Fähnchen, noch Lämpchen oder Reflektoren, die die Boote besser sichtbar machen würden.

Noch immer umgibt uns braunes Wasser und zu meiner Überraschung stinkt es nicht - vielleicht doch eisenhaltig. Wir passieren allerhand Geschäfte: da ist der Eisenwarenhändler, die Tankstelle, der Bäcker, verschiedene Restaurants.

Und alles auf Stelzen. Ich komme mir ein klein wenig vor wie in Venedig. Nur nicht so vornehm und edel, aber auf diese rustikal ehrliche Art einfach toll. Und es ist ruhig geworden. Sowohl draußen als auch auf dem Schiff. Vielleicht ist es auch der Motor, der eintönig alles übertönt. An den einzelnen Haltestellen steigen Leute ein und aus. Wie beim Busfahren genügt ein Handzeichen, um den Bootsführer zum Stoppen zu bewegen. Schließlich kommt meine Apotheke in Sicht und fünf Minuten später stehe auch ich auf einem wackeligen Stelzen-Steg und bin froh, als ich festen Inselboden unter meinen Füßen habe.

Fahrzeuge gibts hier nicht mehr und man braucht sie auch nicht. Die Inseln sind relativ klein und wenn überhaupt, dann fährt man auf den Wegen mit dem Rad. Ansonsten haben die Familien natürlich Ruder- oder Motorboote, die sich in der Regel mehrere Familien teilen.

Ich frage mich durch, wo die Familie Rey wohnt und habe das Gefühl, dass die Leute hier ein bisschen weniger gestresst sind als in der Stadt. Ein kleiner Junge begleitet mich bis zu Rodrigos elterlichem Haus.

Mit einem "tempranito, no?" werde ich vom Hausherrn begrüßt. "Rodo müsste jeden Augenblick kommen". Es kann sich also nur um Stunden handeln. Gut, dass ich an die zwei Flaschen Wein gedacht habe.

Text + Fotos: Andreas Dauerer





[kol_3] Helden Brasiliens: Fazit WM 2006 [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3]

Teil 1: Fall der Helden - Brasiliens zweites 1966
Er lächelt immer noch. Von der Kühlbox mit dem Softeis, von den Chipstüten an der Kasse. Die zahlreichen TV-Clips hat man allerdings mittlerweile eingestellt. Keine Deodorant-Werbung mehr, keine Klingelton-, Sportschuh-, Softdrink- oder Bankspots mehr. Dabei hatte man sich so sehr an jenes "Siegerlächeln" gewöhnt. Ronaldinho war als die große Hoffnung zur Rettung des "jogo bonito", des "schönen Spiels", nach Deutschland gereist. Als Idol der Jugend, der kleinen blonden deutschen Kinder, die man ständig im brasilianischen Fernsehen "Ronaldinho" schreien hören konnte.


Doch was er und seine Mannschaftskollegen in deutschen Landen so zusammen spielten, entsetzte Brasiliens Fußballfans und Gleichgesinnte rund um den Globus. Auf dem Platz verstanden sich die Spieler überhaupt nicht. Wussten nicht mehr, ob man nun auf Abseits spielen sollte oder nicht (was zu Henrys Siegtor im Spiel gegen Frankreich führte). Einzelne Protagonisten wie etwa Kaká liefen über den Platz, ohne eine Ahnung von ihrer Funktion zu haben. Und die einzige Form, zu der Ronaldo fand, war die eines kugelrunden Medizinballs. Was war bloß schief gelaufen?

In den öffentlichen Trainingseinheiten im schweizerischen Weggis konnten sich zwar täglich 5.000 Live-Zuschauer plus Millionen an den heimischen Fernsehern davon überzeugen, wie die Stars miteinander flachsten. Wie entspannt man miteinander umging. Doch unter der netten Oberfläche rumorte es. Auf Präsident Lulas per Videokonferenz gestellte Frage, ob Ronaldo denn jetzt zu dick sei oder nicht, antwortete der genervte Superstar, dass er genau so wenig zu dick sei wie Lula zu betrunken.

Die Nerven lagen blank. Eine düstere Vorahnung beschlich Brasiliens Sportreporter. Von der langen europäischen Saison ausgelaugte Spieler, Stars im Formtief. Und ein Trainer, der eigentlich nicht wusste, wie er seine zahlreichen Superstars alle gleichzeitig in einem Team unterbringen sollte. Ein zweites 1966 lag in der Luft. Damals war Brasilien als großer Favorit und Titelverteidiger nach England gereist. Und viele verdiente, aber bereits eigentlich zu alte Spieler waren aus Dankbarkeit mit dabei. Wie Garrincha, der nur noch müde über den Platz trotten konnte. 1966 schied Brasilien bereits in der Vorrunde aus. Dieses Mal retteten sich die müden Ronaldos noch bis ins Viertelfinale.

Dabei hatte es nicht an Warnungen gefehlt. Brasiliens gesamte Sportpresse hatte vor der WM die Absetzung von Kapitän Cafu und Linksaußen Roberto Carlos gefordert. "So können sie nicht spielen", urteilte die Fachzeitschrift "Placar" zudem über das "magische Viereck", das angeblich jeden Gegner schwindelig spielen würde. Doch Nationalcoach Parreira glaubte an sein Offensivquartett. Ronaldo, Adriano, Kaká und Ronaldinho – was sollte da schief laufen?


Nach den schwachen Vorrundenspielen schienen Parreira allerdings Zweifel zu beschleichen. Gegen Frankreich stellte er für den schwerfälligen Adriano den leichtfüßigen Juninho Pernambucano neben Kaká ins Mittelfeld. Dazu durfte Ronaldinho nun neben seinem erklärten Idol Ronaldo stürmen. Noch nie zuvor hatte man so gespielt, geschweige denn diese Formation im Training geprobt. Jetzt rächte sich, dass das Training eine reine Show für die zahlenden Zuschauer gewesen war. Als gegen Ende des Spiels gar nichts mehr lief, nahm der Coach Adriano für Juninho ins Team, kam zurück zu seinem "magischen Viereck". Und einander fest umschlingend ging man gemeinsam unter.

Was bleibt, meint so mancher Experte, sei wieder einmal die Erkenntnis, dass sich der angeblich effizientere und diszipliniertere europäische Fußball gegen den ebenso angeblich verspielten südamerikanischen durchgesetzt habe. Dasselbe hatte man schon 1982 gehört, als Brasiliens Wundertruppe um Kapitän Sócrates gegen Italien unterging. "Jogo bonito" und "futebol arte", das schöne Spiel und Fußball als Kunstform, so Japans Ex-Trainer Zico nach der WM 2006, gebe es jetzt nur noch in der Fernsehwerbung. Gesiegt habe die europäische Rationalität.

Eigentlich sah es aber eher so aus, als ob die Brasilianer einfach gar keinen Bock auf Fußball gehabt hätten.


Teil 2: Kollektives Südamerika-Desaster
Man muss lange zurückgehen, um auf ein ähnlich schlechtes Abschneiden südamerikanischer Teams bei Weltmeisterschaften zu treffen. 1982 war die letzte WM, die ohne einen Halbfinalisten aus Südamerika auskommen musste. 1986 und 1990 stand Maradonas Argentinien im Finale, 1994, 1998 und 2002 vertraten die Brasilianer den Kontinent im Endspiel. 2006 traten neben diesen beiden "Großen" noch Ekuador und Paraguay an. Der zweimalige Weltmeister Uruguay (1930 und 1950) war in der Relegation knapp an Australien gescheitert.


Vielleicht war Uruguays vorzeitiges Aus ja ein schlechtes Omen für die restlichen Repräsentanten des Kontinents. Paraguay spielte eine grottenschlechte WM und verabschiedete sch bereits in der Gruppenphase. Dagegen überraschte Ekuador, das bis ins Achtelfinale vordrang. Doch gegen die harmlosen Engländer bekam man plötzlich Angst vor der eigenen Courage und schied dann lieber aus.

Dagegen war Argentinien bravourös in die WM gestartet. Zwei Auftaktsiege gegen die Elfenbeinküste und Serbien-Montenegro ließen die Fachwelt aufhorchen. Doch schon im Achtelfinale bedurfte es eines Sonntagsschusses, um sich gegen Mexiko durchzusetzen. Und gegen Deutschland besiegte sich Argentiniens Trainer José Pekermann selbst. Frühzeitig nahm er sein offensives Kreativzentrum Riquelme-Crespo vom Platz, um das dünne 1:0 gegen die Deutschen über die Zeit zu retten. Mit bekanntem Ausgang. Zum Schluss gab es dann noch die obligatorische Schlägerei, wie man sie in der Copa Libertadores bei Spielen zwischen argentinischen und brasilianischen Teams ständig zu sehen bekommt.


Richtig enttäuscht haben dafür aber die Brasilianer. Von ihnen hatte man eigentlich einen Siegeszug durch Deutschland erwartet. Doch zu sehr hatten Ronaldinho und Co. wohl an die eigene Unfehlbarkeit geglaubt und sich auf ihre durch Werbefilmchen weltbekannten Kunststücke verlassen. Als es jedoch ernst wurde, halfen die ihnen auch nicht mehr weiter. Bemüht habe man sich, so die Spieler, doch gegen Zidanes Seniorenkicker habe man halt nicht bestehen können.

So bleibt Südamerika nur der Platz des moralischen Siegers: "Keine Mannschaft hat bei dieser WM besser gespielt als Argentinien", meinte Jungstar Messi, der zwar in Deutschland nicht groß geglänzt hat, dafür aber in jungen Jahren bereits über die typische argentinische Bescheidenheit verfügt.


Teil 3: Willkommen im Fußballland
Wer hat eigentlich behauptet, dass Brasilien das Land des Fußballs sei? Vielleicht Nelson Rodrigues, Theatergenie und Fußballfanatiker aus Rio de Janeiros goldenen Jahren. Vielleicht aber auch nicht.


Für den durchschnittlichen Brasilianer (wer oder was auch immer das sein könnte) würde es wohl vollkommen ausreichen, wenn bei der WM zehn brasilianische Nationalteams gleichzeitig antreten würden. Genug gute Spieler, so meint man am Zuckerhut, habe man auf jeden Fall dafür. Zudem blieben ihnen dann Spiele ohne brasilianische Beteiligung erspart.

Das brasilianische Fernsehen, also TV Globo, trägt diesem Wunsch natürlich gerne Rechnung. Mitten in der hart umkämpften Viertelfinal-Verlängerung zwischen Deutschland und Argentinien schaltete man ins Trainingscamp der Seleção, um die Ankunft des Mannschaftsbusses zu zeigen.

Und vor dem Elfmeterschießen wurden schnell noch einmal die ersten Aufwärmübungen der brasilianischen "Superstars" übertragen. Nach dem Ausscheiden der Seleção sank die WM-Begeisterungskurve dann auch Richtung Null.

So kehrte das Land unsanft zurück in den grauen Fußballalltag. Cruzeiro gegen Corinthians statt Brasilien gegen den Rest der Welt. "Brasilien spielt natürlich weiterhin den besten Fußball der Welt", meint man bescheiden. "Schließlich sind wir das Fußballland."

"Das traurige an der WM 2006 ist nur", so ein rundlicher TV-Fußballexperte, "dass sie so einfach zu gewinnen gewesen wäre."

Text + Fotos: Thomas Milz





[kol_4] Lauschrausch: Putumayos Sommerparty

Mit dem fröhlich klingenden, aber inhaltlich traurigen Stück "Aline Volé" ("ah-leen voh-lay": Lautschrift von Putumayo) von Kali beginnt der neue "Caribbean"-Sampler (3) von Putumayo, der, wie auch seine Vorgänger, eine Rundreise durch die karibische Inselwelt und ihre Rhythmen präsentiert: Mento, Biguine, Reggae und Calypso aus Jamaika, Martinique, Aruba und Kuba etc., gespielt auf traditionellen und modernen Instrumenten. Nicht umsonst gilt die Karibik seit 80 Jahren als zuverlässiger Rhythmuslieferant für die internationale Musikmaschinerie. Sehr originell: die Mischung von Ska und Son der Formation Ska Cubano. Eine gelungene Einstimmung für jede Sommerparty!


Fortgesetzt wird die Fete mit "¡Baila! A Latin Dance Party" (4). Bei Salsa, Cumbia, Son, Boogaloo etc. teils gemischt mit Elementen aus Funk und Rock fährt den Gästen der Groove erst Recht in die Beine, vor allem wenn so renommierte Interpreten wie NG La Banda, Africando All Stars oder das Spanish Harlem Orchestra aufspielen.

Sollten sich - wie bei fast jeder karibischen oder lateinamerikanischen Party - Kinder unter den Gästen befinden, kann der DJ zwischendurch "Reggae Playground" (1) einwerfen, die neuste Scheibe aus der Putumayo-Reihe für "kleine Menschen", die sich auch für Erwachsene eignet: Neben karibischen Künstlern finden sich hier auch Reggae-Musiker aus Marokko und Indonesien sowie zwei gelungene Coverversionen: "Here comes the sun" von den Beatles und "Take me home country roads" von John Denver.


Wenn die Party dann in den frühen Morgenstunden ausklingt wird es Zeit für "Brazilian Lounge" (2) mit dem Evergreen "Brigas nunca mais" im Drum ‚n’ Bossa-Stil von Paula Morelenbaum. Die jazzigen und elektronischen Klänge von u.a. BossaCucaNova, Marcos Valle, Bebel Gilberto oder BiD sind hervorragend geeignet zum Chillen und Träumen. Der beste Chillout-Sampler mit brasilianischer Musik seit langer Zeit!

Übrigens: Vom Verkauf der meisten Putumayo-CD’s geht ein bestimmter Betrag an die jeweils auf der letzten Seite des Booklets genannte NGO!

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de

Diverse
Reggae Playground (1)
Putumayo/ Exil 6395-2

Diverse
Brazilian Lounge (2)
Putumayo/ Exil 6637-2

Diverse
The Caribbean (3)
Putumayo/ Exil 6490-2

Diverse
¡Baila! A Latin Dance Party (4)
Putumayo/ Exil 6951-2






.lig; § 6 MDStV: Sönke Schönauer und Dirk Klaiber

Redaktion Deutsch: Sönke Schönauer und Dirk Klaiber
Redaktion Spanisch: Dr. Berthold Volberg
Redaktion Portugiesisch: Thomas Milz
Gestaltung: Sönke Schönauer und Dirk Klaiber
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