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[kol_3] Helden Brasiliens: Fazit WM 2006 [Teil 1] [Teil 2] [Teil 3]

Teil 1: Fall der Helden - Brasiliens zweites 1966
Er lächelt immer noch. Von der Kühlbox mit dem Softeis, von den Chipstüten an der Kasse. Die zahlreichen TV-Clips hat man allerdings mittlerweile eingestellt. Keine Deodorant-Werbung mehr, keine Klingelton-, Sportschuh-, Softdrink- oder Bankspots mehr. Dabei hatte man sich so sehr an jenes "Siegerlächeln" gewöhnt. Ronaldinho war als die große Hoffnung zur Rettung des "jogo bonito", des "schönen Spiels", nach Deutschland gereist. Als Idol der Jugend, der kleinen blonden deutschen Kinder, die man ständig im brasilianischen Fernsehen "Ronaldinho" schreien hören konnte.


Doch was er und seine Mannschaftskollegen in deutschen Landen so zusammen spielten, entsetzte Brasiliens Fußballfans und Gleichgesinnte rund um den Globus. Auf dem Platz verstanden sich die Spieler überhaupt nicht. Wussten nicht mehr, ob man nun auf Abseits spielen sollte oder nicht (was zu Henrys Siegtor im Spiel gegen Frankreich führte). Einzelne Protagonisten wie etwa Kaká liefen über den Platz, ohne eine Ahnung von ihrer Funktion zu haben. Und die einzige Form, zu der Ronaldo fand, war die eines kugelrunden Medizinballs. Was war bloß schief gelaufen?

In den öffentlichen Trainingseinheiten im schweizerischen Weggis konnten sich zwar täglich 5.000 Live-Zuschauer plus Millionen an den heimischen Fernsehern davon überzeugen, wie die Stars miteinander flachsten. Wie entspannt man miteinander umging. Doch unter der netten Oberfläche rumorte es. Auf Präsident Lulas per Videokonferenz gestellte Frage, ob Ronaldo denn jetzt zu dick sei oder nicht, antwortete der genervte Superstar, dass er genau so wenig zu dick sei wie Lula zu betrunken.

Die Nerven lagen blank. Eine düstere Vorahnung beschlich Brasiliens Sportreporter. Von der langen europäischen Saison ausgelaugte Spieler, Stars im Formtief. Und ein Trainer, der eigentlich nicht wusste, wie er seine zahlreichen Superstars alle gleichzeitig in einem Team unterbringen sollte. Ein zweites 1966 lag in der Luft. Damals war Brasilien als großer Favorit und Titelverteidiger nach England gereist. Und viele verdiente, aber bereits eigentlich zu alte Spieler waren aus Dankbarkeit mit dabei. Wie Garrincha, der nur noch müde über den Platz trotten konnte. 1966 schied Brasilien bereits in der Vorrunde aus. Dieses Mal retteten sich die müden Ronaldos noch bis ins Viertelfinale.

Dabei hatte es nicht an Warnungen gefehlt. Brasiliens gesamte Sportpresse hatte vor der WM die Absetzung von Kapitän Cafu und Linksaußen Roberto Carlos gefordert. "So können sie nicht spielen", urteilte die Fachzeitschrift "Placar" zudem über das "magische Viereck", das angeblich jeden Gegner schwindelig spielen würde. Doch Nationalcoach Parreira glaubte an sein Offensivquartett. Ronaldo, Adriano, Kaká und Ronaldinho – was sollte da schief laufen?


Nach den schwachen Vorrundenspielen schienen Parreira allerdings Zweifel zu beschleichen. Gegen Frankreich stellte er für den schwerfälligen Adriano den leichtfüßigen Juninho Pernambucano neben Kaká ins Mittelfeld. Dazu durfte Ronaldinho nun neben seinem erklärten Idol Ronaldo stürmen. Noch nie zuvor hatte man so gespielt, geschweige denn diese Formation im Training geprobt. Jetzt rächte sich, dass das Training eine reine Show für die zahlenden Zuschauer gewesen war. Als gegen Ende des Spiels gar nichts mehr lief, nahm der Coach Adriano für Juninho ins Team, kam zurück zu seinem "magischen Viereck". Und einander fest umschlingend ging man gemeinsam unter.

Was bleibt, meint so mancher Experte, sei wieder einmal die Erkenntnis, dass sich der angeblich effizientere und diszipliniertere europäische Fußball gegen den ebenso angeblich verspielten südamerikanischen durchgesetzt habe. Dasselbe hatte man schon 1982 gehört, als Brasiliens Wundertruppe um Kapitän Sócrates gegen Italien unterging. "Jogo bonito" und "futebol arte", das schöne Spiel und Fußball als Kunstform, so Japans Ex-Trainer Zico nach der WM 2006, gebe es jetzt nur noch in der Fernsehwerbung. Gesiegt habe die europäische Rationalität.

Eigentlich sah es aber eher so aus, als ob die Brasilianer einfach gar keinen Bock auf Fußball gehabt hätten.


Teil 2: Kollektives Südamerika-Desaster
Man muss lange zurückgehen, um auf ein ähnlich schlechtes Abschneiden südamerikanischer Teams bei Weltmeisterschaften zu treffen. 1982 war die letzte WM, die ohne einen Halbfinalisten aus Südamerika auskommen musste. 1986 und 1990 stand Maradonas Argentinien im Finale, 1994, 1998 und 2002 vertraten die Brasilianer den Kontinent im Endspiel. 2006 traten neben diesen beiden "Großen" noch Ekuador und Paraguay an. Der zweimalige Weltmeister Uruguay (1930 und 1950) war in der Relegation knapp an Australien gescheitert.


Vielleicht war Uruguays vorzeitiges Aus ja ein schlechtes Omen für die restlichen Repräsentanten des Kontinents. Paraguay spielte eine grottenschlechte WM und verabschiedete sch bereits in der Gruppenphase. Dagegen überraschte Ekuador, das bis ins Achtelfinale vordrang. Doch gegen die harmlosen Engländer bekam man plötzlich Angst vor der eigenen Courage und schied dann lieber aus.

Dagegen war Argentinien bravourös in die WM gestartet. Zwei Auftaktsiege gegen die Elfenbeinküste und Serbien-Montenegro ließen die Fachwelt aufhorchen. Doch schon im Achtelfinale bedurfte es eines Sonntagsschusses, um sich gegen Mexiko durchzusetzen. Und gegen Deutschland besiegte sich Argentiniens Trainer José Pekermann selbst. Frühzeitig nahm er sein offensives Kreativzentrum Riquelme-Crespo vom Platz, um das dünne 1:0 gegen die Deutschen über die Zeit zu retten. Mit bekanntem Ausgang. Zum Schluss gab es dann noch die obligatorische Schlägerei, wie man sie in der Copa Libertadores bei Spielen zwischen argentinischen und brasilianischen Teams ständig zu sehen bekommt.


Richtig enttäuscht haben dafür aber die Brasilianer. Von ihnen hatte man eigentlich einen Siegeszug durch Deutschland erwartet. Doch zu sehr hatten Ronaldinho und Co. wohl an die eigene Unfehlbarkeit geglaubt und sich auf ihre durch Werbefilmchen weltbekannten Kunststücke verlassen. Als es jedoch ernst wurde, halfen die ihnen auch nicht mehr weiter. Bemüht habe man sich, so die Spieler, doch gegen Zidanes Seniorenkicker habe man halt nicht bestehen können.

So bleibt Südamerika nur der Platz des moralischen Siegers: "Keine Mannschaft hat bei dieser WM besser gespielt als Argentinien", meinte Jungstar Messi, der zwar in Deutschland nicht groß geglänzt hat, dafür aber in jungen Jahren bereits über die typische argentinische Bescheidenheit verfügt.


Teil 3: Willkommen im Fußballland
Wer hat eigentlich behauptet, dass Brasilien das Land des Fußballs sei? Vielleicht Nelson Rodrigues, Theatergenie und Fußballfanatiker aus Rio de Janeiros goldenen Jahren. Vielleicht aber auch nicht.


Für den durchschnittlichen Brasilianer (wer oder was auch immer das sein könnte) würde es wohl vollkommen ausreichen, wenn bei der WM zehn brasilianische Nationalteams gleichzeitig antreten würden. Genug gute Spieler, so meint man am Zuckerhut, habe man auf jeden Fall dafür. Zudem blieben ihnen dann Spiele ohne brasilianische Beteiligung erspart.

Das brasilianische Fernsehen, also TV Globo, trägt diesem Wunsch natürlich gerne Rechnung. Mitten in der hart umkämpften Viertelfinal-Verlängerung zwischen Deutschland und Argentinien schaltete man ins Trainingscamp der Seleção, um die Ankunft des Mannschaftsbusses zu zeigen.

Und vor dem Elfmeterschießen wurden schnell noch einmal die ersten Aufwärmübungen der brasilianischen "Superstars" übertragen. Nach dem Ausscheiden der Seleção sank die WM-Begeisterungskurve dann auch Richtung Null.

So kehrte das Land unsanft zurück in den grauen Fußballalltag. Cruzeiro gegen Corinthians statt Brasilien gegen den Rest der Welt. "Brasilien spielt natürlich weiterhin den besten Fußball der Welt", meint man bescheiden. "Schließlich sind wir das Fußballland."

"Das traurige an der WM 2006 ist nur", so ein rundlicher TV-Fußballexperte, "dass sie so einfach zu gewinnen gewesen wäre."

Text + Fotos: Thomas Milz