bolivien: Kindheit unter Tage - Minenkinder in Potosí
KATHARINA NICKOLEIT
[art. 1]
brasilien: Rios unsichtbare Seite
THOMAS MILZ
[art. 2]
kuba: Studieren in Havanna und Rum-Reisen auf Kuba
SARAH LINDNER
[art. 3]
argentinien: Fünf Stunden Schlaf
ANDREAS DAUERER
[art. 4]
macht laune: Literatur von der Leine
NICO CZAJA
[kol. 1]
grenzfall: Stürmische Zeiten in São Paulo
THOMAS MILZ
[kol. 2]
pancho: Farbenschmaus
CAMILA UZQUIANO
[kol. 3]
lauschrausch: Afro-Latin trifft Brazil
TORSTEN EßER
[kol. 4]




[art_1] Bolivien: Kindheit unter Tage - Minenkinder in Potosí

Der kleine Krämerladen am Fuße des Cerro Rico in Potosí hat alles, was man für den täglichen Bedarf braucht: Kekse, Tee, Dynamit und Zündschnüre. Genau das richtige Gastgeschenk für die Kinder. Das die Jungs damit Unfug treiben könnten, steht nicht zu befürchten. Dynamit ist ihr wichtigstes Werkzeug bei der Arbeit in den Minen.

Die Stadt Potosí in Bolivien war einst die reichste Stadt der Welt. Ihr kegelförmiger Cerro Rico, zu Deutsch Reicher Berg, steckte voller Silber, mit dem die Spanier Jahrhunderte lang ihre Staatskasse füllten. Nach 500 Jahren ist das Silber ausgebeutet und der Reichtum der Stadt verblichen. Zurück geblieben ist eine verarmte Bevölkerung, die in dieser unwirtlichen Gegend auf einer Höhe von über 4000 Meter nur ein Auskommen hat: Die Minen, in denen noch spärliche Reste von Zinn und Zink zu finden sind.

"Achtung Kopf!", ruft Jhonnig und geht vor. Der Stollen ist nichts anderes als ein Loch im Berg. Er ist eng und so niedrig, dass man nur gebückt darin laufen kann. Die Luft ist hier nicht nur dünn, sondern auch voller Staub. Jhonnig scheint das alles nichts auszumachen. Seit einem Jahr arbeitet der 14-jährige unter Tage.

Minenarbeit, das heißt jeden Tag mindestens acht Stunden in einem engen Schacht zu schuften, in dem es keine Abstützung, keine Frischluft und kein Licht gibt. Es ist kalt und feucht, der Staub zerfrisst die Lungen. Männer werden in dieser Stadt durchschnittlich 39 Jahre alt. So müssen die Söhne in den Berg, wenn die Väter zu krank sind um ihre Familien zu ernähren.

Heute geht Jhonnig Edwin und Rodrigo zur Hand. Den dreien kommt das Gastgeschenk gerade recht, denn sie wollen eine Erzader frei sprengen. Mit dem Kennerblick dreijähriger Bergbauerfahrung sucht der 16-jährige Edwin die richtige Stelle für die Sprengladung. Mit Stemmeisen und Hammer treibt er ein Loch in den Fels. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen zugekniffen, damit kein Staub hinein rieselt, beisst er die Zähne zusammen und schlägt ein ums andere Mal zu. Millimeterweise kommt er voran. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß, immer wieder muss er absetzen und sich von Rodrigo und Jhonnig ablösen lassen. Zu ertragen ist die Arbeit im Berg nur durch unablässiges Coca kauen. Das vertreibt Hunger und Durst und hält wach.



Sie bereiten die Sprengladung vor: Dynamit, Zünder, Zündschnur und Amoniumnitrat "damit es richtig kracht". Die Lunte wird gezündet, stolpernd geht es gebückt den Gang hinunter. Es knallt ohrenbetäubend, der Berg erzittert und ächzt, Steine und kleine Felsbrocken lösen sich. Mit der Druckwelle schießt eine Ladung dichter Staub durch den Schacht. Ein bisschen aufgeregt gehen die drei zurück. Vor lauter Staub ist kaum etwas zu erkennen. Die Jungs halten sich die T-Shirts vor Nase und Mund. Und da liegt sie, die Ader, anderthalb Meter lang, die Erzkristalle funkeln im Licht der Grubenlampe. Edwin strahlt: "Wir haben in der Lotterie gewonnen."

Rund 6500 Kinder arbeiten in den Minen oder in der Weiterverarbeitung des Erzes. Kinderarbeit ist in der Dritten Welt selbstverständlich, auch wenn in Bolivien offiziell, so wie in den meisten Ländern, nur Jugendliche ab 14 Jahren arbeiten dürfen.

"Kinder müssen mitarbeiten um die Familien zu ernähren. Es hat keinen Sinn gegen diese Realität anzukämpfen. Aber wir können helfen ihr Leben erträglicher zu machen." Eloy Oporto von der bolivianischen Hilfsorganisation CDR leitet in Potosí ein Projekt für die Minenkinder, das von der Deutschen Kindernothilfe unterstützt wird. Täglich kommen 250 Kinder hierher. Siebenjährige, die nach der Schule ihren Müttern helfen das Erz aus den Steinen zu klopfen. Elfjährige, die bereits in den Stollen arbeiten.

Ihr Leben erträglicher zu machen, dazu braucht es nicht viel. Das Zentrum ist denkbar einfach eingerichtet, aber es ist sauber, es gibt Tische und Stühle, im Vergleich zu den elenden Hütten ist es ein Paradies.

Nichts lieben die Kinder mehr, als sich unter dem eiskalten Wasserstrahl die Hände zu waschen. Hier bekommen sie die einzige richtige Mahlzeit des Tages. Es gibt eine Ärztin, die die Kinder auf Parasiten untersucht und Verletzungen behandelt. Und es gibt Lehrer, die ihnen bei den Hausaufgaben helfen. "Wir bestehen darauf, dass jedes Kind, das zu uns in das Projekt kommt, zur Schule geht. Denn nur, wer gut ausgebildet ist, hat überhaupt eine Chance Potosí und die Minen jemals zu verlassen", erklärt Eloy. Er weiß, wovon er spricht, der Sozialpädagoge war selber einmal Minenarbeiterkind. Dass Schule wichtig ist, das muss man diesen Kindern nicht erklären. Ernsthaft und konzentriert sitzen sie über ihren Hausaufgaben, fragen nach, freuen sich über alles, was sie verstehen. Dabei haben viele von ihnen nicht nur die Schulstunden, sondern auch schon eine Nachtschicht hinter sich.

Wie alle Kinder hier haben sie Träume: Rodrigo würde gerne Schreiner werden, Edwin Schneider und Jhonnig will etwas mit Computern machen. Alle Generationen, an die man sich in ihren Familien erinnern kann, waren Minenarbeiter.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen werden sie heute Abend in die Schule gehen. Doch vorher geht es noch mal in die Mine; die Erzader muss von der Höhlendecke geschlagen und aus dem Stollen gebracht werden.

Insgesamt zwölf Stunden dreckige, staubige Knochenarbeit und zum Schluss ein Verdienst von vier Euro für jeden von ihnen. In Potosí ist das ein richtig guter Tag.

Text: Katharina Nickoleit
Fotos: Christian Nusch

Tipp: Katharina Nickoleit hat einen Reiseführer über Bolivien verfasst, den ihr im Reise Know-How Verlag erhaltet.

Titel: Bolivien Kompakt
Autorin: Katharina Nickoleit
139 Seiten; broschiert
ISBN-10: 3896623648
ISBN-13: 978-3896623645
Verlag: Reise Know-How Verlag Hermann
2. Auflage (01.09.2009)






[art_2] Brasilien: Rios unsichtbare Seite

"Ich bin traurig. Wir verlassen jetzt Rio!"
"Ja, aber wir fahren doch nur kurz über die Brücke auf die andere Seite der Stadt ..." Ich komme nicht dazu, den Satz zu beenden. "Junger Mann! Eines sollte klar sein: das da drüben ist nicht die andere Seite von Rio. Rio liegt hinter uns.", sagt sie mit energischer Stimme und fügt nach einer kurzen Pause in traurigem Ton und mit melancholischen Augen hinzu: "Das da vor uns ist ganz was anderes!"


Rios Bewohner, die Cariocas, sind sehr eigen, wenn es um ihre Stadt geht oder man ihnen gegenüber erwähnt, dass eine Welt jenseits von Rio existiert. "Du wohnst in São Paulo, was verstehst Du also von Rio." Immerhin, São Paulo mögen sie nicht. Die andere Seite der Guanabara-Bucht scheint für sie allerdings gar nicht erst zu existieren.

Wir überqueren die Bucht über die 13 Kilometer lange Brücke Pres. Costa e Silva. "Ich finde es nett hier, hat so eine angenehme bohemisch dekadente Athmosphäre." Meine Unbekümmertheit zieht sofort strafende Blicke nach sich. "Das ganze erinnert mich sogar an Guarujá, ist ähnlich nett." Das ging jetzt allerdings zu weit. "Guarujá, dieser hässlich zubetonierte Hausstrand von São Paulo, hat nichts mit Niterói zu tun, überhaupt nicht vergleichbar!"

Niterói also. So heißt dieser gemütliche Flecken Erde. Kleine sympathische Strände gibt es hier, gemütliche Uferpromenaden, und – dem Atlantik zugewandt - kleine verträumte Strandsiedlungen mit Seeblick, wo ein paar Jungs in der Abendsonne eine Runde kicken.


"Von hier hat man einen ganz tollen Blick auf Rio," sagt die Carioca neben mir. Wir stehen vor dem MAC, Oscar Niemeyer`s weltberühmtes Museum der zeitgenössischen Kunst, das seit 1996 auf dem von Stränden eingerahmten malerischen Hügel von Boa Viagem thront. Von außen erinnert es an ein UFO, drinnen gibt es einiges an moderner Kunst zu bestaunen, auch wenn die Ausstellung mit dem Titel "Wo die Kunstwerke schlafen" nicht jeden direkt begeistern mag.

Es soll Besucher geben, die erst gar nicht merken, dass es sich bei diesem etwas anderen Kreißsaal mit den hoch gestapelten Holzkisten und der Aufschrift "Vorsicht, Kunstwerke" und all den zugedeckten und eingepackten Objekten nicht etwa um eine Abstellkammer handelt, sondern dass diese gerade die eigentliche Ausstellung ausmachen sollen.


Irgendwie tragisch, aber vielleicht auch symbolisch für diesen Ort, der selbst so unsichtbar scheint. Immer nur schaut man auf sein wunderschönes Gegenüber, welches majestätisch in sein unvergleichliches Hügelszenario eingebettet vor sich hin strahlt. "Niterói kommt aus dem Tupi, Nheteroia, was soviel wie Sich schlängelnde Bucht oder auch Verstecktes Wasser heißt", werde ich von der Frau aus Rio belehrt. Verstecktes Wasser, unsichtbarer Ort. Schon die Eingeborenen ahnten es also.

Ein abendliches Bier am Atlantikstrand von Camboinhas. Obwohl es Samstag ist und 25 Grad hat, sind nur wenige Menschen am Strand. "Die Cariocas von Niterói gehen wohl nicht so gerne an den Strand, oder?" In den Augen meines Gegenübers zeichnet sich Entsetzen ab: "Cariocas sind nur wir, die in Rio geboren wurden, verstanden! Der Rest nennt sich Fluminense!"

Hinter uns tauchen die Hügel Rio de Janeiros aus dem Abenddunst auf, der aus der Gischt emporsteigt und den Strand hinaufzieht. Die Carioca hebt ihr Glas und prostet sehnsüchtig den fernen Hügeln zu. "Rio ist so unvergleichlich schön!" Die Rückfahrt dorthin führt uns kreuz und quer über unbekannte Straßen, nirgends ein Schild, das uns zur Brücke hin führt, hinüber auf die richtige Seite.


Dann finden wir sie doch noch, und während wir die Brücke entlang auf die bunten Lichter der "wunderbaren Stadt" zusteueren und ein faulig-öliger Gestank uns aus Rios Hafenanlagen entgegenströmt, zeigt die Carioca doch noch ihre verständnisvolle Art: "Ist doch eigentlich ganz nett auf der anderen Seite." Ich schaue sie erstaunt an, verblüfft ob dieses Eingeständnisses an Bescheidenheit und Weltoffenheit. "Ja, weisst Du, von dort sieht man erst mal richtig, wie einzigartig schön Rio de Janeiro ist."

Text + Fotos: Thomas Milz






[art_3] Kuba: Studieren in Havanna und Rum-Reisen auf Kuba

Die Idee eines Auslandsaufenthaltes hatte ich schon zu Beginn meines Studiums: andere Kursinhalte kennen lernen, eine fremde Kultur erleben, die Sprache aufbessern und weitere Erfahrungen sammeln. Eine sorgfältige Planung vorab erleichtert natürlich den Start im Ausland. Dennoch gerät man immer wieder in Situationen, über die man vorher weder gelesen noch gehört hat.

Bereits die Planung der Reise und des Aufenthaltes gerieten zum Test, die Fähigkeit zu entwickeln, einerseits ein halbes Jahr auf einer Insel voller Temperament auszuharren und andererseits auch in nervenaufreibenden Situationen gelassen zu bleiben: Den Anstoß zu der Idee gab mir meine kubanische Spanischlehrerin an meiner damaligen Universität, der Martin-Luther-Universität in Halle/Saale. Sie versicherte mir, dass ich dort studieren könne, wenn ich das wolle.

Gut, dachte ich mir, dann werde ich mal alle Papiere, Flugunterlagen, Informationen über die Unterkunft etc. besorgen - aber nichts da. Weder die Universität noch meine Dozentin konnten mir wirklich verbindliche Immatrikulationsunterlagen etc. geben, noch hatte ich eine feste Zusage von einer Unterkunft vorort. Das einzige, was ich zwei Wochen vor Abflug in der Hand hielt, war mein Flugticket. Und so stand ich nun aufgeregt in Havanna am Flughafen, glücklich, dass ich nach gründlicher Gepäckkontrolle meinen 23-Kilo-Koffer wieder zu bekam, und wartend, ob mich denn jemand von meiner kubanischen Gastfamilie, mit der ich wenige Tage vorher Email-Kontakt hatte, abholen würde. Tatsächlich: Alles funktionierte, der Sohn meiner "kubanischen Mutter" stand mit einem Lächeln im Gesicht und ein Pappschild (mit meinem falsch geschriebenen Namen) hoch haltend in der wartenden Masse.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, mich zuerst mal an die äußeren Umstände - das Klima, die Geräusche und den Geruch - zu gewöhnen; und daran, dass irgendwie alle zwei bis drei Tage der Strom ausfiel. Schnell merkte ich, dass meine Gastmutter eine der reicheren Kubanerinnen war, genoss sie schließlich als eine der wenigen im Land den Vorteil, Geschäfte mit Ausländern machen zu dürfen, wofür sie jedoch monatlich eine saftige Gebühr an den Staat zu entrichten hat.

Allerdings gab ich in Kuba mehr Geld für die Miete aus als in Deutschland. Aber dafür brauchte ich mir auch keine Sorgen um Verpflegung oder Wäsche-Waschen machen, denn beides war im Preis von 350 US-Dollar inbegriffen.

Für weitere Dinge muss man dann nicht mehr viel ausgeben: Kino, Theater und Essen sind in der Nationalwährung (Peso) sehr günstig.

Bis vor Kurzem waren auf Kuba noch drei Währungen im Umlauf: der Peso (moneda nacional), der Peso convertible und der diesem gleichwertige US-Dollar, der einem alle Türen öffnen konnte. Nun hat Fidel Castro den US-Dollar abgeschafft und der Peso convertible (umgangssprachlich auch "Fula" genannt) gilt neben der Nationalwährung Peso als alleiniges Zahlungsmittel - besonders in den vielen Shops, in denen ausländische Waren angeboten werden. Touristen werden angehalten in dieser Währung zu zahlen, während bei ausländischen Studenten gegen Vorlage des Studentenausweises die umgerechnet lohnenswertere Nationalwährung akzeptiert wird.

Das Studium auf Kuba läuft in dem deutschen Schulwesen ähnelnden Klassenverbänden ab. Zum Pflichtprogramm gehören systemnahe Kurse in Philosophie und Geschichte. Außerdem sind sehr viele Studenten in der sozialistischen Partei aktiv. Die Betrachtung und Reflexion verschiedener Sichtweisen ist im Vergleich zu deutschen Universitäten nicht so ausgeprägt – sicher durch die politischen Machtverhältnisse bedingt. Aber gerade ein anderes System kennen zu lernen, hat mich sehr interessiert. Hierzu zählt auch die Bürokratie. Meinen Studentenausweis beispielsweise erhielt ich erst nach zwei Monaten.

Die Bibliotheken sind in der Regel schlecht ausgestattet. Es gibt wenig aktuelle oder ausländische Literatur. Dadurch wird es schwierig, für Hausarbeiten zu recherchieren. Außerdem dürfen die Bücher meistens nicht ausgeliehen, sondern nur in der Bibliothek gelesen werden. Kopierer habe ich, wenn überhaupt, oft nur defekt vorgefunden. Hausarbeiten schreiben die Studierenden an den wenigen Computern der Uni oder aber, wie ich es konnte, am eigenen Laptop.



Da nach Weihnachten keine Unikurse mehr stattfanden, war für mich zunächst Rum-Trinken auf Studentenpartys, zu denen man als Ausländer gerne eingeladen wird, angesagt. Auf diesen Partys wird Domino gespielt und viel mehr getanzt als bei uns, oft auch paarweise. Die Kubaner versuchten immer wieder, mich zum Tanzen zu animieren. Anfangs war ich wenig überzeugt, habe mich sogar geschämt, weil ich nicht so gut tanzen konnte, wie die Kubanerinnen. Aber nach und nach wurde es mir egal, und ich glaube, das ist auch die richtige Einstellung.

Nachdem ich ausgiebig gefeiert hatte, entschied ich mich fürs Rum-Reisen. Dabei habe ich viel über Land und Leute erfahren, vor allem über das ruhigere Leben abseits der vom Denken europäisch geprägten Metropole Havanna.

Zunächst bin ich in den Osten geflogen nach Santiago de Cuba und anschließend über die Mitte Kubas (Santa Clara, Santi Spiritus, Trinidad) bis in den Westen (Viñales, Pinar del Rio) gereist. Auch die im Süden gelegene Isla de la Juventud habe ich besucht. Der Flug von Havanna dauert knapp 20 Minuten, die Rückreise mit dem Schiff dafür mehrere Stunden. Und so habe ich recht unterschiedliche Orte, Menschen und natürlich auch Strände gesehen.

Reisen auf Kuba kann entweder bequem und teuer oder anstrengend und billig sein. Entweder zahlt man etwas mehr dafür, dass man touristischen Service genießen kann, mit anderen Ausländern in leider oft unterkühlt klimatisierten Bussen unterwegs ist, weniger Kubaner kennen lernt, aber auch nicht so lange anstehen muss und pünktlich ankommt, oder man fährt mit so genannten Camiones. Das sind Transporter oder Lastwagen, die meistens Sitzplätze haben und die Kubaner von einem Ort zum anderen bringen. Das große Manko der Camiones ist jedoch, dass sie nur unregelmäßig fahren und auch nicht besonders komfortabel sind. Dafür kommt man aber für ein paar Dollar oder sogar wenige Cent zum Ziel.

Auf meinen Reisen habe ich die Menschen auf Kuba als sehr offen und hilfsbereit erlebt. So bat ich beispielsweise einmal eine junge Kubanerin, mir zu sagen, wo ich am besten aussteigen sollte, die, da sie es nicht wusste, wiederum einen älteren Herrn ansprach. Nach drei Minuten beratschlagte der ganze Bus.

Manchmal fuhr ich per Anhalter. Das ist in Kuba normal und auch als Frau äußerst sicher. Aufpassen muss man jedoch vor Dieben, vor allem in den typischen Touristenorten. In Trinidad wurden mir sogar meine Schuhe gestohlen. Ich war aber selber schuld, denn ich stellte sie zum Auslüften auf das Fensterbrett und verließ kurz den Raum, während draußen wohl jemand die Schuhe sah und mitnahm.

Rückblickend war das halbe Jahr auf Kuba meine bislang wichtigste Lebenserfahrung, geprägt durch viele schöne Erlebnisse. Ich habe einiges an Menschenkenntnis dazu gewinnen können. In Kuba lebt, liebt und leidet man auf der Straße: Dort wird getanzt, sich von Balkon zu Balkon unterhalten, Fleisch und Gemüse verkauft (manchmal auch an für mich ungewohnt unhygienischen Stellen wie Müllcontainer), es werden Autos repariert, sich gestritten - kurz, das gesamte Leben spielt sich auf der Straße ab. Ich habe während des Studiums in Havanna die deutsche Ausbildung und den Komfort, den wir beim Studieren genießen, richtig schätzen gelernt. Natürlich war nicht immer alles so schön, aber ist es das hier bei uns? Wer sich richtig informiert, in Kuba aufpasst und nicht jedem sofort vertraut, der wird das Land nicht nur aus der touristischen Perspektive, sondern auch von innen heraus schätzen lernen.

Text + Fotos: Sarah Lindner






[art_4] Argentinien: Fünf Stunden Schlaf

Ein gewöhnlicher Tag bricht an. Sie steht gegen halb sechs auf, weil der Kleine schreit. Seit ein paar Tagen fühlt er sich nicht wohl. Er hat Fieber und muss sich von Zeit zu Zeit übergeben. Sie hat ein hübsches Kind, wenn es auch nicht so ist, wie andere Kinder in seinem Alter. Nach einem alten argentinischen Helden nannte sie ihren Sohn damals. Es war jene Zeit, als sie noch glücklich mit ihrem Mann zusammen war.

Ab und an kommt der Vater dort vorbei, wo die beiden jetzt wohnen. Finanzielle Unterstützung kann oder will er nicht leisten. Wahrscheinlich hat er genug damit zu tun, sich selbst über Wasser zu halten. Das Gesicht hat der Kleine von seinem Vater geerbt und einiges andere auch.

Tagesmutter Mucama

Die Augen sind groß, wenn sie nicht gerade geschwollen sind vom Weinen oder jetzt eben von der Krankheit. Die Nase ist noch klein, wie auch der Mund und das Kinn. Er geht auf seinen kleinen O-Beinen oder rutscht auf allen Vieren durch die Wohnung. Die Kleidung ist zerschlissen, aber es geht einigermaßen im Vergleich zu anderen Kindern, die man auf der Straße sieht. Reden mag der Kleine gar nicht und wenn er etwas von sich gibt, dann sind es nur Laute und keine wirklichen Wörter. Nur Namen scheint er sich gut einprägen zu können. Er ist zwei Jahre alt. Er scheint nachhaltig unter der Situation zu leiden. Die Mutter muss zusehen, dass sie genug Geld für sich und ihr Kind nach Hause bringt. Das geht nur mithilfe mehrerer Jobs. Zum einen hat sie das Haus Don Albertos zu putzen, zum anderen arbeitet sie in einem Hotel. Wenn sie arbeitet, kümmert sich eine Verwandte um das Kind, bis die Mutter gegen elf Uhr nachts nach Hause kommt. Ihr Blick ist trüb,  ausdruckslos und hat den Glanz früherer Tage verloren. Um die Augen haben sich dunkle Ränder gebildet und Falten prägen das eigentlich recht jugendliche Gesicht.

Die Nase ist flach; ebenso der Mund. Ihre Haare scheinen trotz aller widrigen Umständen immer frisch gewaschen zu sein, was man von ihrer Kleidung, zumindest zu Hause, nicht behaupten kann, obgleich sie nicht komplett zerschlissen ist. Die Hüfte ist ein wenig ausladend, wahrscheinlich ein Resultat der Geburt.

Wenn sie sich für die Arbeit im Hotel zurecht macht, kann man ihre Schönheit sehen, aber viel mehr noch ihre einstige Schönheit erahnen. Ihre Beine sind durch die tägliche Arbeit angeschwollen und es zeigen sich erste große Adern an den Waden. Mit diesem Körper steht sie also täglich gegen halb sechs Uhr morgens auf, nimmt ihren Sohn auf den Arm und geht in die Küche. Dort wird schnell ein wenig Milch aufgewärmt, ehe sie sich an das Putzen der Wohnung macht. Für einen Hungerlohn! Hier in der "Residencia" wird gemunkelt, dass ihr Dueño Alberto nicht einmal das kleine Zimmer komplett ohne Bezahlung überlässt. Auf zwölf Quadratmetern lebt sie und schläft in einem Bett mit ihrem Sohn. Zwei Bäder, die Küche, ein Wohnzimmer und der Flur sind täglich zu reinigen. Nach Feierlichkeiten auch mal die Dachterrasse.

Ihr Sohn bereitet ihr Sorgen. Er hustet, ringt immer wieder nach Luft und sein kleiner Körper wirkt ausgezehrt. Beim Arzt war sie viel zu spät und er hat ihr nur ein paar Medikamente gegen allgemeine Grippe verschrieben. Diese gibt sie ihrem Sohn auch regelmäßig und hoffentlich wird sich bald eine Besserung einstellen. Sie macht einen verzweifelten Eindruck, auch wenn sie noch sehr viel Energie und Mut zu haben scheint. Das Schicksal ist manches Mal gnadenlos und von Gerechtigkeit sollte hier auch nicht gesprochen werden. Sie scheint überfordert mit der Erziehung ihres Sohnes, ihren beiden Arbeitsstellen und vielleicht mit ihrem gesamten Leben. Den Weg zu einer Behörde hat sie noch nicht auf sich genommen, um den Vater dazu zu bewegen, endlich auch Geld für das gemeinsame Kind aufzubringen. Dies ist allerdings der einzig wirkliche Vorwurf, den man ihr machen kann.

Es klingelt an der Tür. Es ist die Tagesmutter und es ist höchste Zeit für die Arbeit. Bis spät in die Nacht wird sie ihren Sohn nicht sehen können, aber es geht nun mal nicht anders. Scheinbar klaglos ergibt sie sich in ihr Schicksal. Wie jeden Tag. Wenn sie nach Hause kommt, dann beginnt das gleiche Spiel wie am Morgen. Sie wird ihren Sohn kurz in den Arm nehmen, anschließend in die Küche gehen und noch schnell etwas für ihn kochen. Viel steht ohnehin nicht auf dem Speiseplan. Nudeln oder gedünstetes Gemüse, nur selten Fleisch. Es scheint zum Überleben zu reichen und wahrscheinlich deckt es auch den Bedarf. Wenn der Kleine freudig mit seiner Mutter spielen will, bekommt er sehr oft ein Nein zu hören, weil sie komplett erschöpft ist. Die Wäsche sollte ja heute auch noch gewaschen werden und so lässt sie den Kleinen alleine essen, während sie auf die Terrasse geht und im Dunkeln versucht, die schmutzige Wäsche der Woche sauber zu bekommen. Sie packt die Wäsche in einen Eimer und füllt Wasser dazu. Bis diese eingeweicht ist, überbrückt sie die Zeit mit Putzarbeiten. Dann kehrt sie zurück und schrubbt jedes Kleidungsstück einzeln per Hand und hängt es auf die Leine. Den Müll hat heute ausnahmsweise ein anderer aus dem Haus gebracht. Ein schwacher Trost. In der Zwischenzeit ist es im Wohnraum laut geworden. Eine Gruppe von zehn Leuten hat sich versammelt, um den Abend ausklingen zu lassen. Als das letzte Klo geputzt ist, lässt auch sie sich matt auf einen Stuhl fallen, nimmt ein Glas von dem Rotwein und schließt die Augen. Die Musik die aus dem Wohnraum herüber dringt, macht sie auf eine seltsame Weise glücklich und sie versucht an etwas anderes als ihr Leben zu denken. Ihr Sohn sitzt auf ihrem Schoß, schmiegt sich an ihre kleine Brust und sie spürt seinen Atem. Es ist Mitternacht und allmählich wird es Zeit zu Bett zu gehen, auch wenn sie noch gerne weiter der Musik gelauscht hätte. Es bleiben nur etwa fünf Stunden, ehe sie wieder aufstehen wird. Fünf Stunden.

Text + Fotos: Andreas Dauerer






[kol_1] Macht Laune: Literatur von der Leine

In Bezerros, Pernambuco, wo sich heiße Luft aus dem Sertão mit kalter aus den Bergen mischt, atmet sich der Wind, wie sich ein Kakao trinkt, der nur ganz kurz in der Mikrowelle war. Der arme Mensch, der noch nie einen Kakao nur ganz kurz in die Mikrowelle gestellt hat, kann mit diesem Vergleich nichts anfangen. Die anderen aber müssen jedenfalls des Windes wegen nicht mehr nach Bezerros fahren, weil sie das Gefühl ja schon kennen.

Warum dann die Reise auf sich nehmen? Der Ort ist alles andere als beschaulich, auch wenn einem die eine oder andere touristische Broschüre etwas anderes glauben machen will. Ein paar Häuser links und rechts der vielspurigen Bundesstraße, keine Bäume, kein Schatten, viel Asphalt - auch die hier und da zaghaft vertretene koloniale Architektur kann da nicht mehr viel rausreißen.


Aber ein zweiter Blick lohnt sich. Zum Beispiel - wenn es ein Blick ist, der absurde Momente zu schätzen weiß - auf den aus Werbungsgründen auf vier Metern Höhe zur Hälfte in der Wand einer Autowerkstatt versenkten gelben VW-Käfer. Oder aber - wenn es Kulturgeschichte ist, die er sucht - in die Werkstatt von José Borges, seines Zeichens cordelista von Rang und Namen.

Es ist kühl und schattig in dem luftigen alten Haus in den Ausläufern der Stadt, es riecht nach feuchter Farbe und trockenem Holz. Und die Werkstatt ist bevölkert mit Fabeltieren, Banditen, Teufeln, mit bauernschlauen Trotteln, dummen Politikern und sprechenden Eseln - mit Geschichten. Unter der Decke sind kreuz und quer Schnüre gespannt, an denen sie in frischen Drucken trocknen, die Wände sind mit unzähligen Druckstöcken behängt, von denen sie herunterschauen. Dazwischen sitzt ihr Vater José. Eduardo Galeano schreibt über ihn, dass er selbst wie einer seiner Holzschnitte aussieht. Das wäre natürlich irgendwie schön; ich kann das nicht wirklich bestätigen, aber der geneigte Leser kann sich das ja der Poesie halber gerne so vorstellen. José Borges ist Geschichtenerzähler und ein Vertreter eines Handwerks, von dem man vermutet, dass es sich um die Fortsetzung der Tradition der reisenden Troubadoure des feudalen Europa handelt; die literatura do cordel, die Literatur von der Leine.

In jüngeren Jahren machte José alles alleine: Er schrieb die gereimten Texte und setzte sie mühsam von Hand, aus bleiernen Buchstaben, die zusammen mit der 150-jährigen Druckerpresse vor langer Zeit aus Deutschland kamen. Er schnitzte die Holzschnitte für die Titelbilder, druckte und band seine Heftchen, schulterte ein paar Stapel und zog von Markflecken zu Markflecken, wo er seine Geschichten an Schnüren aufgereiht feilbot.


Die Poesie von der Leine erzählt die großen Mythen des Sertão in alten und neuen Variationen, kommentiert aber auch mit spitzer Zunge die Tagespolitik und nötigenfalls Fußballspiele, stets in Reimen: "Der Mann, der eine Eselin heiratete", "Die Rückkehr des Banditen Lampião übers Internet", "Bundesstaaten und Hauptstädte", "Brasil sil sil, fünffacher Weltmeister 2003" und "Der schmerzensreiche Streit des Osama Bin gegen Bush".

Der Krieg von Canudos an der Wende zum 20. Jahrhundert, in dem die brasilianische Regierung ganze Regimenter gegen den Wanderprediger Antônio Conselheiro und seine völlig verarmten Anhänger im tiefsten bahianischen Hinterland schickte und diese erst nach mehreren Anläufen erfolgreich restlos niedermetzeln konnte, war das erste große Ereignis brasilianischer Geschichte, das seinen Niederschlag in den Cordel-Heftchen fand - und zwar lang bevor diese wenig ruhmreiche Episode in den Geschichtsbüchern auftauchte.

In Zeiten, in denen Nachrichten noch nicht durch Fernseher ins Hinterland kamen und die wenigsten Menschen Zeitungen lesen konnten, boten die cordelistas, die in einem auf- und abschwellenden Singsang ihre Verse rezitierend auf den Märkten zu finden waren, eine wichtige Quelle von Informationen über das Geschehen im Lande ebensosehr wie willkommene Unterhaltung.

Heute werden sie manchmal zu renommierten Künstlern. Der inzwischen in Ehren ergraute José Borges ist unter Folklore-Forschern an Universitäten oder unter Besuchern von Volkskunst-Ausstellungen in Brasília und gar New York und Paris bekannter als unter den Bewohnern des Hinterlandes, von denen nicht wenige zwar immer noch nicht lesen können, denen aber heute Fernseher dabei helfen, über Fußballspiele und Osama Bin informiert zu sein.

Die Themen der Heftchen sind im Laufe der Zeit urbaner geworden - es ist jetzt ein eher städtisches, gebildeteres und kein besonders großes Publikum auf der Suche nach einer brasilianischen Identität, das sich für die literatura do cordel interessiert.

Mit großer Nonchalance erzählt Borges, wie man ihn in Paris mittelmäßig behandelt hat, in New York gut und in Texas am allerbesten, wie er die Amerikaner mag und die Franzosen nicht; wie der als Musiker mindestens genauso sehr wie als Kulturminister bekannte Gilberto Gil und der weltberühmte Autor Eduardo Galeano ihn zu seinen Freunden zählen. Borges erzählt immer noch gerne, mit einer Art von großväterlicher, kauziger Großspurigkeit, die man ihm gar nicht übel nehmen kann, und man möchte ihm stundenlang zuhören.

Seine Söhne - waren es sechs oder sieben? - sind ihm allesamt in seinem Handwerk gefolgt und haben erfolgreiche eigene Versionen des borgesianischen Stils entwickelt. Von Marktflecken zu Marktflecken wandern die Borges heute allerdings nicht mehr. Die Bilder und die Heftchen, die sich in der Werkstatt stapeln, verkauft José nun vor allem an Sammler, Touristen und nicht zuletzt an halbseriöse Reiseschreiber wie mich. Die Literatur von der Leine ist eine Volkskunst geworden, für die sich das Volk nicht mehr recht interessiert.

Ob deswegen aber Wehmut angebracht ist, ist eine andere Frage. José jedenfalls fühlt sich sichtlich wohl in seiner Rolle als internationaler Botschafter brasilianischer Volkskultur und scheint den alten Zeiten nicht großartig nachzutrauern. Und Traditionen, die sich nicht verändern und an neue Zeiten anpassen, sind vielleicht von vornherein zum Scheitern verurteilt - und mit Sicherheit weniger interessant, finde ich jedenfalls.


Wer sich nun weder des kaltwarmen Windes, noch des halben VW-Käfers, noch der hübschen kleinen Heftchen wegen auf den Weg nach Bezerros machen, aber doch einen Blick auf die Bilderwelt von José Borges werfen möchte, dem sei die Geschichtensammlung "Wandelnde Worte" von Eduardo Galeano ans Herz gelegt - ein wunderschön gemachtes Buch, das vom Meister illustriert wurde und darüber hinaus von fast so vielen Fabelwesen und Banditen, Helden und Schurken handelt, wie sie in der Werkstatt im brasilianischen Hinterland von Wand und Decke hängen.

Text: Nico Czaja
Fotos: Ronaldo Moura + Nico Czaja






[kol_2] Grenzfall: Stürmische Zeiten in São Paulo

Das sind wirklich stürmische Zeiten. Ein lausig kalter Südwind umweht die Wolkenkratzer-Appartements, dringt zischend durch die feinen Spalten der einfach verglasten Großflächenfenster und lässt die Menschen im Innern erfrieren. Winter, Kaltfront, mal wieder. Und keine Heizung in der guten Stube.

Allgemein trübe Stimmung. Das Land erzittert unter den immer lauter werdenden Korruptionsvorwürfen gegen die politische Klasse. Viele Menschen sind enttäuscht, fühlen sich von den geldgierigen Politikern verraten. Da hilft nur eins: sich warm anziehen und körperlicher Ertüchtigung frönen.



Schlange stehen ist bei diesem Wetter grausam. Einen Tequila zum Aufwärmen. Dann wieder angestellt. Nach einer halben Stunde bibbern auf der Strasse finden wir Einlass in die Disco. "Strickt 80er Jahre-Musik. Und Gay. Aber nicht wirklich strickt."

Die wärmenden Jacken abgegeben, dann hinein in den Trubel. Dicht gedrängt tanzt man, während die Kumpels von der Tribüne Bierdosen runter schmeißen. "Ob die Mädels hier wohl auch alle vom anderen Ufer sind?", tuschelt man untereinander.

Zum zweiten Mal drückt sich die Frau mit der engen Jeans vorbei, lächelt dabei stets freundlich in unsere Richtung. Neben der Theke wartet sie dann auch schon. "Kann Dein Kumpel ein Foto von mir und Dir machen?" Schon liegt sie in meinen Armen, und der grelle Kamerablitz zerschneidet die Szene. "Mann, Dein Kumpel hat unsere Köpfe abgeschnitten – wir müssen noch eins machen." Fest umklammert hängt sie an mir, während der Kumpel verzweifelt mit ihrer Kamera kämpft.

Ich sehe sie erst nach zwei Stunden Tanzen und einigen Dosen Bier, unterbrochen von angenehm wärmendem Tequila, wieder. Sie greift nach mir und knutscht mich ab. Stürmische Zeiten.

Dann sind der Kumpel und ich plötzlich auf der Straße, unterwegs in die nächste Disco. Es ist unglaublich kalt, meine Jacke ist verloren gegangen. Ich merke es zu spät. Da zittere ich schon in meinem durch geschwitzten Hemd. "Das soll Brasilien sein – wie ist dann wohl erst der Nordpol?"

Der Taxifahrer berichtet erbost von seiner Enttäuschung über die Herrschenden. Wir steigen aus und auf Caipirinhas um. Man soll sich ja allgemein im Alkoholgehalt steigern. Das Mädel an meiner Seite will unbedingt, dass ich ihre Telefonnummer in meinem Handy speichere. "Kein Problem, das bekomme ich jetzt auch noch hin", versichere ich ihr, während ich verzweifelt versuche, die Tastatursperre zu lösen. Das ging wohl dann doch leichter als ich es mir eigentlich im dämmrigen Zwielicht des Tanzetablissements gedacht hatte.

Zumindest schließe ich dies aus den Entdeckungen des nächsten Nachmittags, als ich insgesamt drei neue auf meinem Handy gespeicherte Kontakte vorfinde: Die einer (oder eines) gewissen "J#" mit der Nummer "5528###9999jj0072", eine namenlose Person mit der Nummer "aa433###" und eine gewisse "Andr" mit der erstaunlich kurzen Kurzwahlnummer "j#3". Keine schlechte Ausbeute für einen angebrochenen Abend, meine ich wohl nicht ganz zu Unrecht.

Als wir aus Disco Nummer drei oder vier heraustorkeln, hat das Morgengrauen die Betonwüste bereits in grau-lila Licht getaucht. Der Kumpel pennt auf der Rückbank, während der Taxifahrer seinem berechtigten Ärger über die Skrupellosigkeit der herrschenden Klasse lautstark zum Ausdruck bringt. "Komm, wir frühstücken erstmal richtig", meint der Wiedererwachte als ich ihn an seinem Hotel absetzen will. "Merkt schon keiner, dass Du kein Gast bist. So früh ist auch bestimmt noch keiner auf."

Die dicken Perserimitate strahlen eine in diesen stürmischen Zeiten so sehr vermisste Wärme aus und dämpfen unsere schlingernden Schritte auf dem Weg zum Frühstücksbuffet. Ich habe lange genug nachts in 4-Sternehotels rumgejobbt, um gewisse Ekelgefühle für Frühstücksaufschnitt, gepaart mit Vorsicht vor den Cornflakes, zu entwickeln.

Außer uns gibt es nur einen Gast, der bereits eingehend den "Estado de São Paulo" studiert.

"Guten Morgen, Herr Minister!", begrüßen wir ihn. "Guten Morgen!", grüßt der Erziehungsminister zurück.

Ein für die derzeit äußerst missliche Lager seiner Regierung eigentlich unangebrachtes Lächeln liegt dabei auf seinen Lippen.

Dass dem wirklich so sei, bestätigt mir wenig später der Taxifahrer, der mich nach dem opulenten Frühstück nach Hause fährt. "Die Regierung und vor allem die regierende Arbeiterpartei hat zurzeit nichts zu lachen!", versichert er mir.

Mein Handy weckt mich wenig später. "Wollte nur wissen, warum Du mich heute Morgen um 5.30 Uhr angerufen hast. Außer ausgelassenen Stimmen und wilder Tanzmusik habe ich übrigens nichts gehört." Meine Spanischlehrerin scheint es zum Glück sportlich zu nehmen. "Hat sich zudem so angehört, als ob Du wild auf den Tasten Deines Handys rumgedrückt hast. Alles ok?"

"Alles ok!", versichere ich ihr, drehe mich auf die Seite und schlafe weiter. Währenddessen wird nur einige Kilometer weiter der immerzu lächelnde Erziehungsminister zum neuen Präsidenten der regierenden Arbeiterpartei gewählt. "Ich übernehme die Partei in stürmischen Zeiten", sagt er in die laufenden Kameras.

Die Welt vor meinem Fenster ist grau und kalt, Nieselregen fällt auf die Betonwüste hernieder. "Stürmische Zeiten", denke ich und schlaf einfach weiter.

Text + Fotos: Thomas Milz






[kol_3] Pancho: Farbenschmaus

Mittelamerika, Mexiko, Yucatán, Karibikküste, kleines Dorf, Marktplatz. Die Farben springen mich an: Orange, Grün, Gelb, Rot, Rosa; ein wildes Farbenmeer. Hier sieht man die Frucht-Kollegen in ihrer nativen Umgebung. Heute Morgen noch beim Frühstück habe ich gedacht, wie lecker sie hier alle schmecken, unglaublich! Zwar wird jeder Europäer sagen, dass er sie täglich in einem gut sortierten Supermarkt sehen und sogar kaufen kann, aber es ist nicht das gleiche, sie schmecken anders. Hier passen sie hin, hier reifen sie auf natürliche Art und Weise und werden zu Leckereien verarbeitet oder im Original verspeist.


Es erzeugt in mir ein Glücksgefühl, sie einfach so daliegen zu sehen: ohne Preisetikett, Papiereinbettung oder Schutzfolie. Kiloweise werden sie verkauft, so wie es sich gehört und zu vernünftigen Preisen. Glaubt nicht, sie wären nichts besonderes, sie schmecken alle einzigartig. Sie lachen mich an und ich fange sie ein.

Text + Fotos: Camila Uzquiano

Links:
pepperworld.com
Das Schärfste aus der Welt der Chili Peppers

fruitlife.de
Obstportal mit ausführlicher Früchteliste

igelfisch.com/nationalgerichte
Eine Auswahl mittelamerikanischer und karibischer Nationalgerichte (Kochrezepte)

wikipedia.org
Wissenswertes über die Ananas





[kol_4] Lauschrausch: Afro-Latin vs Brazil

Diverse
Afro - Latin Party
Putumayo / Exil 5726 - 2

Die meisten ihrer Rhythmen verdanken die karibischen Inseln "Mutter" Afrika. Da scheint es nur natürlich, dass in globalisierten Zeiten Mutter und Kinder wieder zusammenfinden. So wie es bei der Gruppe "Africando" der Fall ist, die gleich dreimal auf dieser Kollektion vertreten ist: Mastermind Boncana Maiga aus Mali lebte zehn Jahre in Kuba bevor er mit weiteren Afrikanern und einigen Salseros in New York sein Projekt verwirklichte.

Fünf Alben haben sie seither eingespielt, deren Mischung aus tanzbaren karibischen Rhythmen und afrikanischen Texten - hier zum Beispiel von Nicolas Menheim aus dem Senegal oder Amadou Ballake aus Burkina Faso – großen Erfolg hatten.

Aber nicht nur die Brücke Afrika-Karibik wird hier präsentiert: auch die Gruppe "Cubismo", aus Kroatien (allerdings mit einem venezolanischen Sänger) oder das britisch-jamaikanisch-kubanische Projekt "Ska Cubano" mit dem Ska "Babalu" steuern afro-lateinamerikanische Partyatmosphäre bei, die spätestens dann überkocht, wenn "Pepe & the Bottle Blondes" den alten Ohrwurm "Cuéntame que te pasó" anstimmen.


Diverse
Acoustic Brazil
Putumayo / Exil 5680 - 2

Der afrikanische Einfluß ist auch in der brasilianischen Musik allgegenwärtig: Stile wie coco, xaxado, samba oder choro wären ohne ihn undenkbar und finden sich auch auf dieser Unplugged - CD, auf der sich Altstars und Newcomer der brasilianischen Sängerszene ein Stelldichein geben.

Über Gal Costa, Caetano Veloso oder Chico Buarque, die hier mit Bossas oder Sambas vertreten sind, muss nichts mehr geschrieben werden.

Aber neue(re) Stimmen wie Rita Riberiro, die schon mal nördliche Rhythmen mit Reggae oder Funk kombiniert, Monica Salmaso, Glaucia Nasser oder Lucas Santtana tragen auf ebenso hohem Gesangsniveau zum relaxten Sound dieser Kompilation bei.

Als Abschlussstück gibt es dann noch die etwas "kantigere" Stimme von Lula Queiroga. Testurteil: Sehr gut! In lauen Sommernächten auf dem Balkon oder im Park zurücklehnen und lauschen.

Text: Torsten Eßer
Fotos: amazon.de






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