suche



 



[art_2] Brasilien: Rios unsichtbare Seite

"Ich bin traurig. Wir verlassen jetzt Rio!"
"Ja, aber wir fahren doch nur kurz über die Brücke auf die andere Seite der Stadt ..." Ich komme nicht dazu, den Satz zu beenden. "Junger Mann! Eines sollte klar sein: das da drüben ist nicht die andere Seite von Rio. Rio liegt hinter uns.", sagt sie mit energischer Stimme und fügt nach einer kurzen Pause in traurigem Ton und mit melancholischen Augen hinzu: "Das da vor uns ist ganz was anderes!"


Rios Bewohner, die Cariocas, sind sehr eigen, wenn es um ihre Stadt geht oder man ihnen gegenüber erwähnt, dass eine Welt jenseits von Rio existiert. "Du wohnst in São Paulo, was verstehst Du also von Rio." Immerhin, São Paulo mögen sie nicht. Die andere Seite der Guanabara-Bucht scheint für sie allerdings gar nicht erst zu existieren.

Wir überqueren die Bucht über die 13 Kilometer lange Brücke Pres. Costa e Silva. "Ich finde es nett hier, hat so eine angenehme bohemisch dekadente Athmosphäre." Meine Unbekümmertheit zieht sofort strafende Blicke nach sich. "Das ganze erinnert mich sogar an Guarujá, ist ähnlich nett." Das ging jetzt allerdings zu weit. "Guarujá, dieser hässlich zubetonierte Hausstrand von São Paulo, hat nichts mit Niterói zu tun, überhaupt nicht vergleichbar!"

Niterói also. So heißt dieser gemütliche Flecken Erde. Kleine sympathische Strände gibt es hier, gemütliche Uferpromenaden, und – dem Atlantik zugewandt - kleine verträumte Strandsiedlungen mit Seeblick, wo ein paar Jungs in der Abendsonne eine Runde kicken.


"Von hier hat man einen ganz tollen Blick auf Rio," sagt die Carioca neben mir. Wir stehen vor dem MAC, Oscar Niemeyer`s weltberühmtes Museum der zeitgenössischen Kunst, das seit 1996 auf dem von Stränden eingerahmten malerischen Hügel von Boa Viagem thront. Von außen erinnert es an ein UFO, drinnen gibt es einiges an moderner Kunst zu bestaunen, auch wenn die Ausstellung mit dem Titel "Wo die Kunstwerke schlafen" nicht jeden direkt begeistern mag.

Es soll Besucher geben, die erst gar nicht merken, dass es sich bei diesem etwas anderen Kreißsaal mit den hoch gestapelten Holzkisten und der Aufschrift "Vorsicht, Kunstwerke" und all den zugedeckten und eingepackten Objekten nicht etwa um eine Abstellkammer handelt, sondern dass diese gerade die eigentliche Ausstellung ausmachen sollen.


Irgendwie tragisch, aber vielleicht auch symbolisch für diesen Ort, der selbst so unsichtbar scheint. Immer nur schaut man auf sein wunderschönes Gegenüber, welches majestätisch in sein unvergleichliches Hügelszenario eingebettet vor sich hin strahlt. "Niterói kommt aus dem Tupi, Nheteroia, was soviel wie Sich schlängelnde Bucht oder auch Verstecktes Wasser heißt", werde ich von der Frau aus Rio belehrt. Verstecktes Wasser, unsichtbarer Ort. Schon die Eingeborenen ahnten es also.

Ein abendliches Bier am Atlantikstrand von Camboinhas. Obwohl es Samstag ist und 25 Grad hat, sind nur wenige Menschen am Strand. "Die Cariocas von Niterói gehen wohl nicht so gerne an den Strand, oder?" In den Augen meines Gegenübers zeichnet sich Entsetzen ab: "Cariocas sind nur wir, die in Rio geboren wurden, verstanden! Der Rest nennt sich Fluminense!"

Hinter uns tauchen die Hügel Rio de Janeiros aus dem Abenddunst auf, der aus der Gischt emporsteigt und den Strand hinaufzieht. Die Carioca hebt ihr Glas und prostet sehnsüchtig den fernen Hügeln zu. "Rio ist so unvergleichlich schön!" Die Rückfahrt dorthin führt uns kreuz und quer über unbekannte Straßen, nirgends ein Schild, das uns zur Brücke hin führt, hinüber auf die richtige Seite.


Dann finden wir sie doch noch, und während wir die Brücke entlang auf die bunten Lichter der "wunderbaren Stadt" zusteueren und ein faulig-öliger Gestank uns aus Rios Hafenanlagen entgegenströmt, zeigt die Carioca doch noch ihre verständnisvolle Art: "Ist doch eigentlich ganz nett auf der anderen Seite." Ich schaue sie erstaunt an, verblüfft ob dieses Eingeständnisses an Bescheidenheit und Weltoffenheit. "Ja, weisst Du, von dort sieht man erst mal richtig, wie einzigartig schön Rio de Janeiro ist."

Text + Fotos: Thomas Milz