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[kol_2] Grenzfall: Stürmische Zeiten in São Paulo

Das sind wirklich stürmische Zeiten. Ein lausig kalter Südwind umweht die Wolkenkratzer-Appartements, dringt zischend durch die feinen Spalten der einfach verglasten Großflächenfenster und lässt die Menschen im Innern erfrieren. Winter, Kaltfront, mal wieder. Und keine Heizung in der guten Stube.

Allgemein trübe Stimmung. Das Land erzittert unter den immer lauter werdenden Korruptionsvorwürfen gegen die politische Klasse. Viele Menschen sind enttäuscht, fühlen sich von den geldgierigen Politikern verraten. Da hilft nur eins: sich warm anziehen und körperlicher Ertüchtigung frönen.



Schlange stehen ist bei diesem Wetter grausam. Einen Tequila zum Aufwärmen. Dann wieder angestellt. Nach einer halben Stunde bibbern auf der Strasse finden wir Einlass in die Disco. "Strickt 80er Jahre-Musik. Und Gay. Aber nicht wirklich strickt."

Die wärmenden Jacken abgegeben, dann hinein in den Trubel. Dicht gedrängt tanzt man, während die Kumpels von der Tribüne Bierdosen runter schmeißen. "Ob die Mädels hier wohl auch alle vom anderen Ufer sind?", tuschelt man untereinander.

Zum zweiten Mal drückt sich die Frau mit der engen Jeans vorbei, lächelt dabei stets freundlich in unsere Richtung. Neben der Theke wartet sie dann auch schon. "Kann Dein Kumpel ein Foto von mir und Dir machen?" Schon liegt sie in meinen Armen, und der grelle Kamerablitz zerschneidet die Szene. "Mann, Dein Kumpel hat unsere Köpfe abgeschnitten – wir müssen noch eins machen." Fest umklammert hängt sie an mir, während der Kumpel verzweifelt mit ihrer Kamera kämpft.

Ich sehe sie erst nach zwei Stunden Tanzen und einigen Dosen Bier, unterbrochen von angenehm wärmendem Tequila, wieder. Sie greift nach mir und knutscht mich ab. Stürmische Zeiten.

Dann sind der Kumpel und ich plötzlich auf der Straße, unterwegs in die nächste Disco. Es ist unglaublich kalt, meine Jacke ist verloren gegangen. Ich merke es zu spät. Da zittere ich schon in meinem durch geschwitzten Hemd. "Das soll Brasilien sein – wie ist dann wohl erst der Nordpol?"

Der Taxifahrer berichtet erbost von seiner Enttäuschung über die Herrschenden. Wir steigen aus und auf Caipirinhas um. Man soll sich ja allgemein im Alkoholgehalt steigern. Das Mädel an meiner Seite will unbedingt, dass ich ihre Telefonnummer in meinem Handy speichere. "Kein Problem, das bekomme ich jetzt auch noch hin", versichere ich ihr, während ich verzweifelt versuche, die Tastatursperre zu lösen. Das ging wohl dann doch leichter als ich es mir eigentlich im dämmrigen Zwielicht des Tanzetablissements gedacht hatte.

Zumindest schließe ich dies aus den Entdeckungen des nächsten Nachmittags, als ich insgesamt drei neue auf meinem Handy gespeicherte Kontakte vorfinde: Die einer (oder eines) gewissen "J#" mit der Nummer "5528###9999jj0072", eine namenlose Person mit der Nummer "aa433###" und eine gewisse "Andr" mit der erstaunlich kurzen Kurzwahlnummer "j#3". Keine schlechte Ausbeute für einen angebrochenen Abend, meine ich wohl nicht ganz zu Unrecht.

Als wir aus Disco Nummer drei oder vier heraustorkeln, hat das Morgengrauen die Betonwüste bereits in grau-lila Licht getaucht. Der Kumpel pennt auf der Rückbank, während der Taxifahrer seinem berechtigten Ärger über die Skrupellosigkeit der herrschenden Klasse lautstark zum Ausdruck bringt. "Komm, wir frühstücken erstmal richtig", meint der Wiedererwachte als ich ihn an seinem Hotel absetzen will. "Merkt schon keiner, dass Du kein Gast bist. So früh ist auch bestimmt noch keiner auf."

Die dicken Perserimitate strahlen eine in diesen stürmischen Zeiten so sehr vermisste Wärme aus und dämpfen unsere schlingernden Schritte auf dem Weg zum Frühstücksbuffet. Ich habe lange genug nachts in 4-Sternehotels rumgejobbt, um gewisse Ekelgefühle für Frühstücksaufschnitt, gepaart mit Vorsicht vor den Cornflakes, zu entwickeln.

Außer uns gibt es nur einen Gast, der bereits eingehend den "Estado de São Paulo" studiert.

"Guten Morgen, Herr Minister!", begrüßen wir ihn. "Guten Morgen!", grüßt der Erziehungsminister zurück.

Ein für die derzeit äußerst missliche Lager seiner Regierung eigentlich unangebrachtes Lächeln liegt dabei auf seinen Lippen.

Dass dem wirklich so sei, bestätigt mir wenig später der Taxifahrer, der mich nach dem opulenten Frühstück nach Hause fährt. "Die Regierung und vor allem die regierende Arbeiterpartei hat zurzeit nichts zu lachen!", versichert er mir.

Mein Handy weckt mich wenig später. "Wollte nur wissen, warum Du mich heute Morgen um 5.30 Uhr angerufen hast. Außer ausgelassenen Stimmen und wilder Tanzmusik habe ich übrigens nichts gehört." Meine Spanischlehrerin scheint es zum Glück sportlich zu nehmen. "Hat sich zudem so angehört, als ob Du wild auf den Tasten Deines Handys rumgedrückt hast. Alles ok?"

"Alles ok!", versichere ich ihr, drehe mich auf die Seite und schlafe weiter. Währenddessen wird nur einige Kilometer weiter der immerzu lächelnde Erziehungsminister zum neuen Präsidenten der regierenden Arbeiterpartei gewählt. "Ich übernehme die Partei in stürmischen Zeiten", sagt er in die laufenden Kameras.

Die Welt vor meinem Fenster ist grau und kalt, Nieselregen fällt auf die Betonwüste hernieder. "Stürmische Zeiten", denke ich und schlaf einfach weiter.

Text + Fotos: Thomas Milz